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Klaus Erfmeyer

Irrliebe

Knobels sechster Fall

 

 

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

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Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von suze / photocase.com

ISBN 978-3-8392-3720-5

 

 

 

 

Für Lendita

1

 

Marie kannte Franziska Bellgardt aus der Schule. Sie waren sich während ihrer ersten gemeinsamen Jahre auf dem Gymnasium in der Dortmunder Nordstadt nur zufällig auf den Fluren oder dem Schulhof begegnet. Ohne bis dahin jemals ein Wort miteinander gesprochen zu haben, nahmen sie sich stets wahr und mochten einander. Der Eintritt in die Oberstufe – Marie war damals 17 und Franziska, die ein Schuljahr wiederholen musste, bereits volljährig – führte sie schließlich zusammen, weil beide den Grundkurs in Philosophie belegt hatten. Sie wählten nun beinahe zwangsläufig im Klassenraum die Plätze nebeneinander, als vollziehe sich damit äußerlich die unausgesprochene Verbundenheit. Den gemeinsamen Schulstunden folgten schnell Café-Besuche am Nachmittag, bald auch längere Spaziergänge in nahe gelegenen Parks, schließlich abendliche Treffen in einigen der damals populären Szene-Lokale. Es schien, als sei es an der Zeit, nach den langjährigen flüchtigen und zufälligen Begegnungen längst Überfälliges nachzuholen und im Schoß einer im Geborgenen gewachsenen Vertrautheit Einblick in das eigene Leben zu gestatten und Teil des anderen Lebens zu werden.

 

Franziska und Marie blieben keine Freundinnen. Als sie nichts Neues mehr voneinander erfuhren und ihre Gespräche sich um dieselben Themen zu drehen begannen, spürten sie, dass das Leben sie in unterschiedliche Richtungen treiben und die viel zu schnell beschworene Innigkeit zwischen ihnen keinen Bestand haben würde. Franziska offenbarte ihre Scheu und ihren Schwermut. Sie klammerte sich eine Zeit lang umso mehr an Marie, in der sie eine Vertraute finden wollte, die ihr in einer sie überfordernden Welt Orientierung versprach. Franziska war von Ängsten und Enttäuschungen geprägt, die den Blick in ihre Zukunft trübten. Marie waren solche Empfindungen nicht fremd, aber sie sah mit Neugier und Optimismus nach vorn. Es gelang nicht, zwischen diesen Welten Brücken zu schlagen. Je nachdrücklicher Franziska in ihre als unglückselig empfundene Vergangenheit vorstieß und Maries Interesse für alles einforderte, was ihr wiederkehrendes Scheitern auszulösen schien, desto mehr entzog sich Marie. Sie erkannte, dass der naiv und überstürzt eingegangenen Verbindung zu Franziska keine Zukunft beschieden war und aus der letztlich nur an flüchtigen Empfindungen festzumachenden wechselseitigen Sympathie keine Freundschaft wachsen konnte. Franziska und Marie lebten und dachten in unterschiedlichen Strukturen, und das Unheilvolle war, dass diese Erkenntnis Marie die Begegnungen mit Franziska zur Last werden ließen, während Franziska in Maries Lebensmodell ein therapeutisches Konzept für sich zu erblicken begann. Ohne es selbst leben zu können, wollte sie es von Marie vorgelebt sehen und forderte ihre ständige Präsenz ein.

Marie ging zu Franziska auf Distanz und sagte Treffen mit ihr immer häufiger aus vorgeschobenen Gründen ab, weil sie nicht wagte, offen mit Franziska zu brechen. Sie hatte für Franziska Verantwortung übernommen, der sie sich nur deshalb verpflichtet fühlte, weil sie mit ihrer voreiligen Offenheit Franziska eine vorauseilende Verbundenheit geschenkt hatte. Marie entfernte sich von Franziska, soweit sie es konnte, und kommentierte auch deren Vorhalte nicht, mit denen sie – gespielt vorwurfsvoll und deshalb umso ernster – Maries Engagement anmahnte und ihre Enttäuschung demonstrierte.

Marie kam schließlich auf die Idee, gemeinsam mit Franziska im örtlichen Magazin Kult-Mund eine Kontaktanzeige aufzugeben. Franziska mutmaßte nicht zu Unrecht, dass Marie eine Gelegenheit suchte, ihr einen Partner zu vermitteln, an den sie die Stafette der Verantwortung übergeben konnte, doch Marie überging diesen Einwand. Damals wie Franziska ohne festen Freund, hatte Marie die andere überzeugen können, über die Anzeige den wahren Mann zu finden. Franziska hatte schließlich eingewilligt, und beide hatten in einer einander fremdgewordenen Unbeschwertheit den Text des Inserats verfasst: 18-jährige sinnliche Frau, fröhlich, offen und zugleich tiefsinnig, 172 cm, schlank, dunkle lange Haare, sucht Mann bis 25, der sie verzaubert und mit ihr die Welt erobert.

Franziska fand sich in dieser Anzeige, die bis auf das Alter im Wesentlichen auf Marie zutraf, gut beschrieben. Marie begriff, dass es Franziskas scheinbare Fröhlichkeit und Offenheit waren, die sie auf den ersten Blick anziehend machten. Diese wie eine Monstranz dargebotenen Eigenschaften waren es gewesen, die Marie aufmerksam werden ließen und die Franziska wie ein Netz über andere zu werfen verstand. Sie suggerierten zusammen mit ihrer noch mädchenhaften, etwas wie verpuppt wirkenden Schönheit ein Idealbild, hinter dessen Fassade sich eine erwachsen werdende Frau verbarg, die mit dem haderte, dem sie sich auf den ersten Blick bejahend zuwandte: dem Leben. Marie hatte schlagartig verstanden, warum Franziska letztlich immer wieder allein blieb und Menschen nicht an sich binden konnte: Sie erdrückte die anderen, und die anfänglich fesselnde Fröhlichkeit und Offenheit wich bald den Ketten, die sie den anderen anlegte, um sie an der Flucht zu hindern, wenn sie die Bürden erkannten, die ihnen Franziska auferlegte.

 

Sie hatten über 20 Zuschriften auf die Anzeige erhalten, manche unverhohlen sexistisch, einige ungelenk schüchtern, andere langweilig und altbacken. Franziska warf die Briefe nach einmaligem Lesen enttäuscht auf den Boden.

»Mr. Chiffre ist nicht dabei«, beschied sie.

Marie sammelte die Briefe auf und studierte sie ein zweites Mal.

»Der hier macht einen netten Eindruck«. Sie reichte Franziska die Antwort eines René.

»Das erste Lesen reicht«, erwiderte Franziska schroff. »Ich brauche nicht irgendjemanden. Ein Mann muss mich auf Anhieb verzaubern – und sei es nur mit seinen ersten Zeilen.«

»Du erwartest ziemlich viel«, stellte Marie lakonisch fest.

»Und warum springst du auf keinen dieser Supermänner an?«, fragte Franziska spitz. »Es war doch unsere gemeinsame Anzeige.« Sie blinzelte Marie fordernd an und erhielt keine Antwort.

»Na, siehst du … Ich bleibe dir also noch erhalten.« Franziska grinste spöttisch.

Drei Monate später feierten sie mit ihrer Jahrgangsstufe das bestandene Abitur. Die Absolventen umarmten einander und schworen sich ewige Treue. Das Ende der Schulzeit sollte und durfte kein Abschied sein. Ein Fotograf hielt den Augenblick fest, in dem die Freude über das Geschaffte zur trügerischen Euphorie verleitete, dass man die wesentlichste Prüfung im Leben überhaupt erfolgreich hinter sich gelassen hatte und die Leichtigkeit des heutigen Tages in eine rosige Zukunft tragen würde. Als Franziska nur mit Marie auf einem Foto abgelichtet werden wollte, griff sie Marie fest um die Taille und zog sie eng an sich heran.

»Auf ewig!«, rief sie und formte die Finger der freien rechten Hand zum Victory-Zeichen, während sie sich mit flüchtigem Seitenblick davon überzeugte, dass Marie ihren provozierenden Unterton wahrgenommen haben musste.

Marie lächelte verkrampft, als der Blitz auslöste. Danach ließ Franziska Marie abrupt los, stieß sie fast von sich und ergriff ein letztes Mal ihre Hand.

»Ich halte dich nicht fest. Du entfernst dich von mir. Sag mir bitte nicht, dass ich mich täusche! Ich weiß es.«

Franziska sah Marie eigentümlich sanft und zugleich vorwurfsvoll an.

Marie schluckte, war verstört, fühlte sich erlöst und zugleich schuldig. Sie war zu überrascht, um etwas erwidern zu können. In diesem Moment ließ Franziska Maries Hand los, taumelte ein paar Schritte zurück, als befinde sie sich im Fall und fing sich. Dann tauchte sie in die beginnende Feier ein, ließ sich treiben und tanzte, als die Musik unter den blitzenden Lichtern des Stroboskops zu spielen begann, bis sie spät abends erschöpft und ohne weiteres Wort die Feier verließ. Erst jetzt fiel Marie auf, wie isoliert Franziska stets gewesen war.

Marie hatte ihr nach der Feier einen langen Brief geschrieben. Sie versuchte, ihr Denken und Handeln zu erklären, und entschuldigte sich letztlich dafür, Franziska nicht die Freundin gewesen zu sein, die diese sich erhofft hatte. Sie korrigierte den Brief mehrmals, bevor sie ihn mit zittriger Hand beim Hauptpostamt einwarf. Marie spürte, dass Franziska sie noch gefangen hielt und dass nur Franziska sie befreien konnte. Doch Marie erhielt auf ihren Brief nie eine Antwort.

2

 

Fast genau neun Jahre später sahen sich Marie und Franziska an einem heißen Juniabend bei ihrem ersten Klassentreffen wieder. Marie Schwarz hatte zwischenzeitlich ihr Germanistikstudium abgeschlossen, ihr Referendariat absolviert und nach einem Jahr Arbeitslosigkeit eine Anstellung als Lehrerin an einem Gymnasium im Dortmunder Westen gefunden. Franziska Bellgardt hatte sich zu dem Treffen nicht angemeldet. Dass ihr Name auf der Anmeldeliste fehlte, fiel erst durch einen Abgleich mit der Abiturientenliste auf. Sie war Außenseiterin geblieben. Marie hatte inzwischen Abstand zu Franziska gewonnen. Ihr unbeantworteter Brief war unwichtig geworden. Das Foto, das Marie und Franziska mit Victory-Zeichen zeigte und von Marie abseits der sonstigen Erinnerungsfotos aus der Schulzeit in einer Schublade vergraben worden war, hatte sie erstmals wieder in die Hand genommen, als sie ihre Wohnung in der Brunnenstraße auflöste, um mit Stephan, ihrem Freund, zusammenzuziehen.

Marie hatte sich auf das Klassentreffen gefreut und dann ernüchtert feststellen müssen, dass die gemeinsame Schulzeit nur noch eine sich verflüchtigende Basis verklärender Erinnerungen war und häufig zugleich das schnelle Ende vieler Gespräche bedeutete. Das Leben hatte die frühere Gemeinschaft geteilt; die eigenen Karrieren und erste Familiengründungen wurden stolz präsentiert und bewundert. Aus den Schülerinnen und Schülern waren erste Verlierer und Gewinner hervorgegangen. Man war einander nicht mehr gleich; nunmehr konnte man vergleichen.

Franziska erschien spät am Abend, als sich die ersten bereits verabschiedeten. Sie war fülliger als früher, ihr Gesicht unreiner und grobporiger geworden. Sie trug eine straff sitzende Jeanshose und ein enges Shirt, wodurch ihre dicker gewordenen Oberschenkel und ihre gewachsene Oberweite deutlich konturiert wurden.

»Meine Freundin Marie!«

Franziska drückte Marie an sich, und Marie fühlte sich an den festen Griff um ihre Taille am Tag der Abiturfeier erinnert.

»Du hast nicht geantwortet«, begann Marie und löste sich.

Franziska wehrte ab und schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber du hast mich doch verlassen, Marie, was sollte ich dir dazu schreiben?«

Marie gelang, was sie früher nicht geschafft hatte: Sie hielt Franziska den Spiegel vor, gab Verantwortung zurück, bemitleidete sie und wollte sich gerade von ihr trennen, als Franziska sie erneut umarmte. Jetzt tat sie es ohne Druck, fast zärtlich, scheu und beinahe demütig.

»Ich habe an mir gearbeitet«, erklärte sie stolz, »und es ist viel passiert in den letzten Jahren.«

Sie berichtete, dass sie Krankenschwester geworden sei und nun im Marien-Hospital in Dortmund-Kurl arbeite, nachdem sie sich unglücklich in einen Pfleger verliebt hatte, den sie auf ihrer letzten Arbeitsstelle im Klinikum Nord kennengelernt hatte. Nun wohnte sie schon seit drei Jahren mit Daniel zusammen, einem Informatiker, den sie über das Internet kennengelernt hatte.

Franziska hielt inne und sah Marie mit weichem Blick ins Gesicht.

»Bist du liiert?«, fragte sie schließlich und stellte die Frage, die vertraut schien und zugleich zeigte, wie fremd man einander geworden war.

Marie erzählte von Stephan Knobel, mit dem sie seit vier Jahren zusammen war und seit einiger Zeit in einer Mietwohnung in Dortmund-Asseln wohnte.

»Anwalt«, wiederholte Franziska staunend, als Marie ihre Frage nach Stephans Beruf beantwortet hatte. »In deinem Leben läuft alles glatter als bei mir. Ich bewundere dich, Marie. – Nein, ich beneide dich! Ehrlich!« Sie streichelte Marie über den Arm wie eine Mutter ihr Kind, das sie für eine gute Leistung loben wollte.

Und bevor Marie entgegnen konnte, wie fragwürdig ihr es erschien, den Wert des Lebens an Äußerlichkeiten festzumachen, fuhr Franziska fort: »Daniel ist nicht der Richtige. Ich spüre es seit vielen Monaten. Er hängt an mir, ich weiß nicht, warum, aber es ist so. Er hilft mir immer und überall. Er bemuttert mich förmlich. Es gibt nichts, worum er sich nicht bei uns kümmert. Und weißt du was: Genau das, was ich mir eigentlich wünsche, kotzt mich an. Er hängt wie eine Klette an mir, kocht, putzt und bedient mich wie eine Herrin. Und genau dafür könnte ich ihn treten.«

Franziska präsentierte ihren Überdruss, opferte den Marie unbekannten Daniel und bewegte sich scheinbar sicher auf dem Parkett einer zwischen den beiden Frauen nie da gewesenen Vertrautheit.

»Sag mir, dass ich bescheuert bin, Marie, aber ich muss wieder auf die Suche gehen. Vielleicht gibt es ihn doch, den Mr. Chiffre.«

Sie zwinkerte vertraulich mit den Augen. »Erinnerst du dich, Marie? Wir haben es damals nicht ernsthaft betrieben. Es war nur ein Spaß. Aber jetzt will ich es wirklich versuchen. Ich will meinen Mr. Chiffre finden!«

»Franziska …!«

»Nein, Marie, ich will es so. Ich muss den Weg selbst gehen, ich muss für mich Verantwortung übernehmen. Ich muss Geduld haben, bis ich den Richtigen finde. Du hattest recht: Man muss sich Zeit nehmen, in den Menschen hineinschauen. Diamanten wollen behutsam entdeckt werden. Daniel war nicht die erste Wahl.«

»Aber du hast ihn dir ausgesucht«, erinnerte Marie.

»Im Internet, ich weiß«, nickte Franziska. »Es ging zu schnell. Ich war unüberlegt. Nun werde ich es nicht mehr über das Internet machen. Schon deswegen nicht, weil Daniel ständig am Computer sitzt und ihm dort nichts verborgen bleibt. – Nein, ich werde den klassischen Weg gehen: Kontaktanzeige und Antwortbrief. Da sieht man Handschriften mit ihren Schwingungen, Haken und Flüchtigkeiten, teure Tusche, die phantasielos vergeudet wird, und einfache Kugelschreiberschrift, mit denen sinnliche Worte wie Wolken auf das Papier gezaubert werden. Karierte DIN-A4-Blätter aus den Rechenblöcken oder stilvolles duftendes Briefpapier. Es sollen Sternenmeere aufs Papier fließen, die mein Innerstes berühren. Ich erwarte ernsthafte Bewerbungen, Marie!« Sie lächelte kindlich.

»Franziska …«, hob Marie wieder an.

»Du selbst hast damals gesagt, dass ich zu schnell aufgegeben habe«, unterbrach Franziska. »Ich habe mich geändert, Marie. Ich bin geduldig geworden, verzweifle nicht, wenn etwas nicht sofort klappt. Du würdest dich wundern, wenn du mich heute kennenlerntest.« Franziska stemmte ihre Hände in die Hüften. »Eine neue Franziska Bellgardt!«, versicherte sie. »Ich brauche nur einen Briefkasten, Marie, das ist das Einzige, worum ich dich bitten möchte.«

Marie schüttelte den Kopf.

»Ich kann die Antworten auf die Anzeige nicht zu mir nach Hause kommen lassen«, erklärte Franziska vorauseilend. »Du weißt schon: Daniel …«

»Warum trennst du dich nicht von ihm, nimmst dir eine neue Wohnung und lässt die Post dorthin kommen?«, fragte Marie.

»Schulden«, antwortete Franziska knapp. »Daniel hat derzeit nur einen 400-Euro-Job. Ich verdiene auch nicht viel. Eine eigene Wohnung geht jetzt wirklich nicht. – Ich würde dich nicht bitten, wenn es anders ginge! Es gibt keinen Menschen außer dir, dem ich mich anvertraue, und ich glaube, du kennst mich mit allen Stärken und Schwächen, Marie. Für dich besteht kein Risiko. Ich gebe die Anzeige unter deinem Namen bei Kult-Mund auf. Sie erscheint als Chiffre-Inserat. Die Zuschriften gehen an deine Adresse, und ich hole sie mir bei dir ab. Selbstverständlich bezahle ich das Inserat.«

Marie schüttelte den Kopf.

»Es gibt sonst niemanden, den ich um diesen Gefallen bitten könnte«, fuhr Franziska unbeirrt fort. »Meine Eltern wohnen seit einiger Zeit in Osnabrück. Es wäre zu umständlich. Außerdem sollen sie noch nicht wissen, dass ich jemanden suche. Sie mögen Daniel sehr. Es gibt niemanden, dem ich sonst vertraue. Ich suche nur das Glück, Marie!« Franziska hielt prüfend inne. »Ich schwöre, dass ich dir und deinem Stephan nicht zur Last fallen werde«, setzte sie nach. »Wenn Post kommt, meldest du dich einfach per SMS und schreibst mir, wann ich sie abholen kann. Kein Treffen, kein Reden, versprochen! Ganz unkompliziert! Ich will nur endlich mein Leben in die Hand nehmen, Marie. Sei froh, dass du deinen Prinzen gefunden hast. Ich leider noch nicht. Man findet ihn nicht auf der Straße oder auf der Arbeitsstelle. Aber irgendwo gibt es den, mit dem es funktioniert. Meinen Mr. Chiffre. – Oder gönnst du mir kein Glück?«

»Franziska!« Marie lief rot an.

»Du musst dich nicht sofort erregen, Marie! Es ist nur ein kleiner Gefallen, um den ich dich bitte. Ist es nicht letztlich ein Dienst, den du mir irgendwie schuldest? Hast du dir jemals darüber Gedanken gemacht, wie sehr ich darunter gelitten habe, als du dich zurückgezogen und mir aus dem Weg gegangen bist?« Franziska standen plötzlich Tränen in den Augen. »Meinst du nicht, dass ein ehrliches Wort besser gewesen wäre als dein Abschlussbrief, in dem du alles geschrieben hast, was du mir nicht direkt ins Gesicht zu sagen wagtest? Briefe sind einfach, Marie. Man bekommt keine Widerworte.«

»Ich wollte dich nicht verletzen, Franziska«, verteidigte sich Marie matt.

»Das sagt sich leicht«, rügte Franziska spitz. »Ich habe auf dich gebaut. Du wusstest, dass ich Hilfe brauche. Hilfe, Marie. Aber du weißt nicht, wie es ist, auf Hilfe angewiesen zu sein. Du musstest nie Kämpfe austragen. Aber ich möchte nicht alte Wunden aufreißen. Vielleicht habe ich dich zu sehr bedrängt. Das tut mir leid, wirklich. Ich vertraue dir noch immer, Marie, ganz gleich, welche Fehler du gemacht hast. Vielleicht hänge ich so an dir, weil du mich in die Schranken weist.«

Marie mied es, auf Franziska einzugehen. Sie merkte, wie sich Franziska erneut ihrer bemächtigte, und schaffte es dennoch wieder nicht, sich von ihr zu lösen. Marie wollte dem Netz entgehen, das Franziska abermals über sie zu werfen suchte, doch sie scheute die Konfrontation und gab ihrem Drängen nach. Sie würde Franziskas Briefkasten sein, ihr noch diesen einen Gefallen tun, abgelten, was sie Franziska angetan haben könnte und wofür sie sich wieder verantwortlich fühlte. Sie schaffte es nur, sich für diesen Moment Franziska zu entziehen und durch Nachgeben einer bohrenden Diskussion zu entgehen. Der Kontakt zu Franziska würde sich nicht verlieren, er konnte nicht einschlafen, sondern musste wie ein Geschäft abgewickelt und übernommener Verantwortung Rechnung getragen werden. Marie half sich mit der Erklärung, dass ihr Franziska leidtat.

Nach ihrer Rückkehr von dem Klassentreffen erzählte Marie erstmals Stephan von Franziska. Sie berichtete im Detail von einem Menschen, dem sie sich nicht gewachsen fühlte.

»Du musst nur Nein sagen«, meinte Stephan, als sie geendet hatte.

Marie lächelte. Sie wussten beide, dass Stephan an ihrer Stelle noch weniger hätte widerstehen können. In der Zeit ihres Zusammenseins hatte sich Marie oft als die Stärkere und Konsequentere erwiesen. Stephan schleppte aus vergangenen Zeiten noch manche Freundschaften und Bekanntschaften weiter, deren Substanz sich verflüchtigte, weil die Wege, die man einst gemeinsam beschritt, sich unbemerkt geteilt und voneinander entfernt hatten, ohne dass jemand schuldig war. Während Marie dies für sich akzeptierte und sich neu orientierte, überspielte Stephan die Veränderungen, die er nicht wahrhaben wollte. Der Unterschied war, dass zwischen Marie und Franziska keine Nähe verloren gegangen, sondern das Fremde und auch eine heimliche Rivalität die Basis geblieben war, aus der heraus Franziska Marie geschickt in die Pflicht zu nehmen verstand.

 

Anfang August erhielt Marie im Abstand von wenigen Tagen einige großformatige Briefsendungen aus der Redaktion von Kult-Mund. Es waren drei oder vier prall gefüllte DIN-A4-Umschläge, in denen Marie eine Vielzahl von Briefen kleineren Formats erfühlte. Es mussten die Zuschriften auf das Inserat sein, das Franziska unter einer Chiffrenummer bei Kult-Mund veröffentlicht hatte. Marie unterrichtete Franziska wie verabredet per SMS, und sie holte sich die ungeöffneten Umschläge bei Marie ab. Franziska, die keinen Führerschein besaß, kam mit der Straßenbahn und nahm die Post von Marie an der Wohnungstür entgegen. Sie wog die Umschläge abschätzend in der Hand, ertastete den Inhalt und verschwand wieder, ohne dass sie mit Marie bei diesen Gelegenheiten viele Worte wechselte.

»Ich halte mich an unsere Absprache«, sagte Franziska bei ihrem letzten Besuch, als wollte sie die Einhaltung eines Vertrages bestätigen, der ihr lästig und unvernünftig erschien, rannte die Treppen hinunter und winkte flüchtig zurück.

Marie hörte nie wieder etwas von Franziska.

Als Marie am 17. Oktober von Kult-Mund einen weiteren Brief mit einer Zuschrift erhielt, reagierte Franziska auf Maries Nachricht nicht. Sie legte den Brief ungeöffnet in einer Schublade zwischen ihren Schreibutensilien ab.

3

 

Franziska Bellgardt starb am späten Abend des 23. Oktober. Es war ein Freitag. Marie und Stephan erfuhren am Nachmittag des 25. Oktober davon, als sie unangemeldeten Besuch von einem Staatsanwalt erhielten. Es war ein Mann Anfang 40 mit schmalem Gesicht und dünnem Oberlippenbart, stilvoll gekleidet, höflich und mit guten Umgangsformen. Staatsanwalt Bekim Ylberi fasste die bekannten Fakten nüchtern wie einen Sachbericht zusammen: »Frau Bellgardt ist im Bahnhof Dortmund-Kurl auf dem Richtung Hauptbahnhof führenden Gleis von einem dort durchfahrenden Regionalexpress erfasst und rund 300 Meter mitgeschleift worden. Das war gegen 22.30 Uhr. Sie muss sofort tot gewesen sein.« Er zückte ein Notizbuch aus seinem Sakko und sah prüfend auf.

Marie und Stephan saßen starr auf ihrer Couch und hielten sich still an der Hand. Die Worte des Beamten wirkten bleiern und unwirklich nach.

»Nach Aussage des Lebensgefährten von Frau Bellgardt sind Sie ihre Freundin gewesen«, fasste Ylberi vorsichtig nach.

»Wir kannten uns aus der Schule«, relativierte Marie leise.

»Sie standen jedenfalls mit ihr in Kontakt«, stellte Ylberi fest. »Auf dem Handy von Frau Bellgardt, das wir am Unglücksort in ihrer unversehrt gebliebenen Umhängetasche gefunden haben, sind Nachrichten von einem Handy eingegangen, das nach unseren Feststellungen Ihnen gehört.« Er nahm ein Blatt aus einer dünnen Mappe, die auf seinem Schoß lag, und las vor: »5. August, 16.36 Uhr: Hallo F., es ist ein großer Brief für dich da. Abholung heute gegen 19 Uhr? Gruß, Marie. Frau Bellgardt antwortete etwa zwei Stunden später: Okay, bin pünktlich. Dann eine wortgleiche Nachricht von Ihnen, Frau Schwarz, vom 11. August, nur mit einer anderen vorgeschlagenen Uhrzeit für die Abholung. Frau Bellgardt antwortete 15 Minuten später und bestätigte. Schließlich nochmals eine, bis auf die Uhrzeit identische, SMS von Ihnen am 14. August mit prompter Bestätigung von Frau Bellgardt. Danach herrschte lange Schweigen. In einer letzten Nachricht vom 17. Oktober haben Sie Frau Bellgardt darüber informiert, dass wieder ein Brief eingegangen sei.« Staatsanwalt Ylberi legte das Papier zur Seite und sah Marie an.

»Sie hat eine Kontaktanzeige per Chiffre bei Kult-Mund geschaltet«, erklärte Marie. »Offizieller Auftraggeber war ich, sodass die Zuschriften an meine Adresse gingen. Ich habe sie dann an Franziska weitergeleitet.« Marie erklärte Franziskas Motivation und sah den Beamten fragend an.

»Frau Bellgardts Freund wusste davon offensichtlich nichts. Er hat nichts in dieser Hinsicht erwähnt. Wir haben in der Wohnung, die Frau Bellgardt mit ihm bewohnte, nach Schriftstücken, insbesondere Briefen, gesucht, die uns bei den Ermittlungen weiterhelfen könnten. Aber wir haben nichts Persönliches gefunden, erst recht keine Briefe, die für Franziska Bellgardt bestimmt waren.«

»Sie wird sie versteckt haben«, vermutete Marie. »Sie wollte ja gerade verhindern, dass Daniel etwas davon erfährt.«

»Haben Sie eine Vorstellung davon, wo sie sie versteckt hat?«, fragte Ylberi.

Marie schüttelte den Kopf. »Ich war niemals in ihrer Wohnung.«

Es war ihr unangenehm, von Franziska so wenig zu wissen.

»Darf ich den Anzeigentext sehen?«, fragte er weiter.

»Ich kenne ihn nicht«, antwortete Marie und kam der zu erwartenden Frage zuvor: »Ich habe mich nicht darum gekümmert. Es war allein Franziskas Sache und auch allein ihre Idee. Ich habe die Briefsendungen ungeöffnet an sie weitergegeben.«

»Franziska und Marie waren nicht so enge Freundinnen, wie Sie vielleicht denken«, sprang Stephan ein.

»Kannten Sie Frau Bellgardt?«, wandte sich Ylberi an Stephan Knobel.

Stephan schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe sie nur einmal flüchtig gesehen, als sie sich hier einen Brief von Kult-Mund abgeholt hat.«

»Sie sind Rechtsanwalt und haben Ihre Kanzlei in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße«, sagte Ylberi. »Seit einiger Zeit in Bürogemeinschaft mit Ihren Kollegen Hübenthal und Löffke, mit denen Sie früher eine Sozietät gebildet haben. Also arbeiten Sie nun für sich und teilen sich mit den anderen nur die Bürokosten«, rekapitulierte er seine Recherche. »Ihren Worten entnehme ich, dass sich Frau Bellgardt auch nicht aus beruflichen Gründen an Sie gewandt hat oder vielleicht wenden wollte.«

Stephan verneinte.

»War es Selbstmord?« Maries Frage hatte einen bangen Unterton. Ihre schicksalhafte Verantwortung lastete schwer.

Ylberi hob unschlüssig die Schultern. »Wir wissen es nicht. Frau Bellgardt befand sich auf dem Weg nach Hause. Sie hatte bis 22.15 Uhr im Hospital gearbeitet. Der Dienst verlief normal. Niemand hat bei ihr Verhaltensauffälligkeiten oder Missstimmungen bemerkt. Nach ihrer Schicht ist sie, wie offensichtlich sonst auch, zum Bahnhof gegangen und wollte mit dem Zug in die Stadt fahren. Bis jetzt haben wir niemanden ermitteln können, der sich mit Frau Bellgardt zur fraglichen Zeit auf dem Bahnsteig befand. Es ist ein ziemlich einsamer Haltepunkt. Der Lokführer hat Frau Bellgardt erst spät und nur schemenhaft wahrgenommen. Es war dunkel, und es regnete stark. Wir können nicht ausschließen, dass sie bereits vorher auf dem Gleis lag. Als der Lokführer sie sah, war es jedenfalls zu spät. Ihn traf keine Schuld.«

Der Staatsanwalt ordnete umständlich seine Mappe und sah wieder zu Marie.

»Halten Sie denn einen Selbstmord für möglich?«

Marie überlegte einen Augenblick. Im Zeitraffer durchlebte sie ihre Zeit mit Franziska, die häufig schwermütigen Begegnungen, die Vorwürfe, die unbeantwortet gebliebenen Fragen, schließlich ihre letzte Begegnung mit Franziska, als sie eine Sendung von Kult-Mund abholte.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie schließlich. »Franziska war ein schwieriger Mensch.«

»Schwierig? Wie meinen Sie das?« Ylberi schrieb etwas in das Notizbuch.

»Ich glaube, dass sie das Leben oft überfordert hat«, antwortete Marie unbestimmt nach einigem Zögern.

»Eigenartigerweise sagte ihr Lebensgefährte das Gegenteil. Er bewunderte Franziska für ihre Stärke.« Staatsanwalt Ylberi fixierte Marie.

Sie schüttelte ungläubig den Kopf.

»Sie wissen offensichtlich wirklich nicht viel von ihr«, schloss er verwundert.

Stephan und der Staatsanwalt tauschten ihre Visitenkarten und die Handynummern aus. Dann verabschiedete sich Bekim Ylberi. Er lächelte schüchtern und machte seinen Besuch damit noch unwirklicher, als er ohnehin schon schien.

 

Marie blieb regungslos sitzen, als Ylberi die Wohnung verlassen hatte.

»Du bist nicht verantwortlich«, beruhigte Stephan und spürte, wie plattitüdenhaft er jene Worte wiederholte, die er Marie stets dann gesagt hatte, wenn sie glaubte, an Franziskas Schicksal Schuld zu sein. »Selbst dann nicht, wenn sie sich das Leben genommen haben sollte«, fügte er an und merkte zugleich, dass Franziskas unglückliches Leben ein Ende gefunden hatte, das irgendwie zwangsläufig erschien.

»Wenn es so wäre, würde ich es nicht ertragen«, erwiderte Marie leise. »Du hast es gehört: Sie hat mich Daniel gegenüber als Freundin bezeichnet.«

»Freundschaften entstehen nicht dadurch, dass einer dies einseitig bestimmt«, hielt Stephan nüchtern dagegen. »Es ist nicht so wichtig, was sie Daniel erzählt hat oder nicht. Vergiss nicht, dass sie ihn verlassen wollte, ihm aber noch die Partnerin vorgespielt hat.«

»Daniel hat sie als starke Frau bezeichnet«, sinnierte Marie.

»Vielleicht war sie das in Wirklichkeit«, mutmaßte Stephan. »Sie hatte jedenfalls Stärke und Macht, dich zu vereinnahmen. Nach meiner Auffassung ist sie ein Mensch mit einem sehr dunklen Charakter gewesen.«

»Eher krank, Stephan«, bezog Marie Position. »Sie hat selbst gesagt, dass sie Hilfe gebraucht hat. Ich bin damals leider nicht darauf eingegangen.«

»Was gut ist«, kommentierte Stephan.

»Ich möchte trotzdem mehr erfahren. Kannst du das verstehen?«

»Marie!« Er winkte seufzend ab.

»Ja, genau in diesem Ton habe ich immer Franziska! gesagt. Wir können doch nicht so tun, als sei nichts passiert.«

Marie stand auf, ging zu der Schublade, in der ihre Schreibutensilien waren, und kramte den Brief hervor, den sie am 17. Oktober von Kult-Mund erhalten hatte. Sie hielt den Umschlag in die Höhe.

»Wir hätten ihn gerade dem Staatsanwalt geben sollen«, meinte Stephan, doch Marie hatte das braune Kuvert bereits geöffnet. Innen befand sich ein zweiter, ebenfalls verschlossener, weißer Briefumschlag. 0829 stand mit schwarzem Filzstift darauf.

Sie zuckte mit den Schultern und riss den Umschlag auf. Darin befand sich ein mit kantiger Schrift geschriebener kurzer Brief:

Hallo! Ich bin traurig, dass Du Dich bei mir nicht gemeldet hast. Habe ich Dich mit meinen Worten nicht berührt? Habe ich in Dir nicht die Lust auf den geheimen Zauber geweckt? Ich erwarte Dich noch immer. Lies meinen Brief ein zweites Mal. Vielleicht hast Du ihn nicht sofort verstanden. Es werden Dir viele geantwortet haben, ohne dass sie Deine Hoffnungen erfüllen können. Fass Mut und Vertrauen! Du wirst sehen, dass ich der Richtige für Dich sein kann. Suche Dein Glück bei mir, und Du wirst es finden können.

Es folgte eine Handynummer.

»Dieser Mann wird von Franziska nie eine Antwort erhalten«, sagte Marie bedrückt und legte den Brief zur Seite.

4

 

Am Abend des nächsten Tages trafen sich Stephan und Marie mit Alexander Hilbig, dem zuständigen Redakteur für den Anzeigenteil des Magazins Kult-Mund. Bei der vorherigen telefonischen Vereinbarung des Termins hatte Marie von der festen klaren Stimme Hilbigs auf einen Mann mittleren Alters geschlossen, der bürokratisch korrekt die ihm unterstehende Abteilung bei Kult-Mund leitete. Tatsächlich war Alexander Hilbig erst ungefähr Mitte 20, hatte gepflegte längere Haare und einen zotteligen Vollbart, der seinen auffallend schmalen Mund umschloss. Sein ausgewaschenes Flanellhemd hing lässig über der ausgeblichenen Jeanshose.

»Sie sind also die 0829«, eröffnete er, als er Stephan und Marie im Erdgeschoss der Redaktion begrüßte.

»Eben nicht«, korrigierte Marie.

Hilbig winkte ab. »Weiß schon. Es war schon einer von der Staatsanwaltschaft da, der mir die Story erzählt hat. Kommen Sie!«

Er ging schlurfend voran, stieß eine Zwischentür auf, drückte den Fahrstuhlknopf und musterte Marie und Stephan, während sie warteten.

»Es ist nicht so selten, dass der Inserent nicht mit dem Auftraggeber identisch ist«, wusste er. »Manche wollen doch lieber anonym bleiben und schämen sich ein bisschen. Die schieben dann jemand anderen vor. Wir bedienen das. Man kann ja auch bar bezahlen und das Geld für das Inserat gleich dem schriftlichen Auftrag beifügen. Wir brauchen also keine wirklichen Adressen und keine Bankverbindungen. Manche lassen sich die Zuschriften auch an eine leer stehende Wohnung in Papas Mietshaus schicken, an deren Briefkasten noch schnell ein Name angebracht wird. Ist uns alles egal. Alle sollen ihre Nische haben, in der sie unerkannt bleiben. Je perfekter unsere Gesellschaft nach außen wird, desto mehr braucht sie Schlupfwinkel. In Deutschland entwickelt sich eine Subkultur der Schlupfwinkel. Wir leben von diesen Winkeln.« Er kicherte albern.

Der Aufzug kam. Hilbig presste sich mit Marie und Stephan in den engen Fahrkorb. Im Lift roch es nach ätzenden Putzmitteln.

»Sie werden gleich sehen, was ich meine«, sagte er.

 

Die Redaktion des Anzeigenteils befand sich im dritten Obergeschoss des schmalen Gebäudes und bestand aus zwei Büros, von denen Hilbig das deutlich kleinere belegte. Auf der schmucklosen Schreibtischplatte, die mit einem robusten, stählernen Untergestell versehen war, standen ein moderner Flachbildschirm und die zugehörige Computertastatur. Ansonsten war die Platte übersät mit Verlagspost, insbesondere mit Inseraten, die der Verlag der Einfachheit halber auf Formularen präsentiert haben wollte, die jeder Ausgabe von Kult-Mund beigeheftet waren. Die Vordrucke gaben die Breite der Anzeige und die maximale Zeilenanzahl vor. Der Inserent musste nur den gewünschten Text eintragen und die Schriftart ankreuzen.

»Heute ist Redaktionsschluss für die Novemberausgabe«, erklärte Hilbig, während er sich lässig schnaufend in seinen ausgeleierten Chefsessel warf, »deshalb herrscht hier ein gewisses Chaos.«

Er wühlte kurz durch einen Papierstapel in einem rechts stehenden Plastikkörbchen, dann zog er ein ausgefülltes Anzeigenformular hervor.

»Da!«, präsentierte er mit eigenartiger Genugtuung und las vor: »36-Jährige, tageslichttauglich, vielseitig, Hobby Salsa-Tanz, will Weihnachten nicht allein unter dem Tannenbaum sitzen. Suche dich. Alles kann, nichts muss.«

»Das ist doch nicht 0829?«, fragte Stephan unsicher.

Hilbig grinste. »Na, Herr Knobel, wen stellen Sie sich darunter vor? Würden Sie auf diese Anzeige antworten? – Nun los: Alles kann, nichts muss …, das turnt doch an, oder?«

Stephan zögerte.

»Nein, das ist nicht 0829«, erklärte Hilbig und verdrehte überdrüssig die Augen. Dann legte er das Formular eigentümlich behutsam in das Körbchen zurück.

»Das ist eine traurige Frau, die sitzen gelassen wurde oder noch nie einen Kerl hatte«, erklärte er. »Sie hat kein Selbstbewusstsein. Entweder ist sie hässlich oder sie empfindet sich so. Tageslichttauglich schreibt mindestens jede zehnte. Mit Salsa-Tanz schmeißt sie einen Hingucker in die Anzeige. – Nicht wahr, Herr Knobel, da haben Sie gleich eine rassige Schönheit vor Augen. – Aber keine Sorge, sie hat es nur als Hobby. Vielleicht guckt sie sich Salsa auch nur mal im Fernsehen an. Vermutlich kann sie mit Salsa gar nicht viel anfangen. Sie weiß, dass sie langweilig ist. Sie darf nicht zu hohe Erwartungen wecken, schon weil sie selbst unsicher ist. Also muss sie einen kleinen Appetizer setzen: Salsa. – Jede Wette, da ist nichts dahinter. Weihnachten will sie nicht allein unter dem Baum sitzen. Und warum nicht? Weil sie völlig unselbständig ist und nicht allein sein kann. Wahrscheinlich weiß sie, wie es ist, allein unter dem Baum zu sitzen. Sie kennt das seit Jahren. Jedes Jahr um diese Zeit kommen solche verzweifelten Appelle in unsere Redaktion. Für mich sind sie die absoluten Killer. Nur der letzte Satz sagt verklausuliert, was diese Frau will: Sie will endlich richtig rangenommen werden. Sie will Sex. Sie will sich ausleben und geliebt werden. Darum geht es. Alles andere ist egal. Sie ist vielseitig, schreibt sie. Das heißt: Sie ist beliebig. Sie hat keine Persönlichkeit. Sie lässt alles mit sich machen, will sich einem Kerl unterordnen, der sie endlich mal als Frau wahrnimmt. Arme Socke. Klar?«

Marie und Stephan merkten, dass sich der Laienpsychologe Alexander Hilbig selbstgefällig und überheblich in den Anzeigentexten suhlte, die tagtäglich über seinen Schreibtisch gingen.

»Erscheint nächste Woche unter 1171«, fügte Hilbig an. »Sie hat Bargeld beigelegt. Ich wette, die Anzeige wird vergeblich sein. Verschenktes Geld.«

»Und Sie schauen wirklich nie in die Antwortbriefe?«, fasste Stephan ungläubig nach.

»Sie stellen merkwürdige Fragen«, antwortete Hilbig und schaukelte behaglich in seinem Sessel. »Dass Sie das fragen, zeigt, dass Sie es für möglich halten. Also wird Ihnen mein Schwur, dass ich es nicht tue, keine Befriedigung verschaffen. Es ist tatsächlich so, dass ich nicht reinschaue. Aber ich weiß aus der Anzahl der eingehenden Briefe, welche Anzeigen beim Leser ziehen und welche nicht. 1171 wird ein Rohrkrepierer. Vielleicht antworten ihr zwei oder drei Loser, die selbst seit Jahren mit dem von Mama gestrickten Pullunder unter dem Tannenbaum sitzen.« Er kicherte.

»0829«, brachte Marie in Erinnerung zurück.

»Wunderschön«, parierte Hilbig urteilssicher. »Schätze mal, es gab um die 50 Zuschriften. Das ist viel, glauben Sie mir. 0829 liegt in meinem Ranking ganz weit vorn.« Er schnalzte mit der Zunge.

»Also …«, drängte Marie.

»Die ersten beiden Ziffern stehen stets für den jeweiligen Erscheinungsmonat. Es geht also um die Augustausgabe.«

Hilbig beugte sich vor und rief im Computer Franziskas Anzeigentext auf. Dann las er ihn fast feierlich vor: »Wenn ich mich hingebe, dann dem einen, der mich fesselt, verspielt das Dunkle liebt und vor dem Lichte flieht, Grenzen sprengt und in die Weite sieht, mich verehrt und mich durchs Leben lenkt, mit mir sich an der Lust betrinkt, Seele und Gedanken mit Erregung tränkt, mich vor Glück erschauern und erzittern lässt, bedingungslos mit mir das Glück einfängt.«

Alexander Hilbig hatte den Reim fast andächtig vorgetragen. Er blickte verzückt auf, als er geendet hatte.

»Und?«, fragte er.

»Sehr devot«, fand Stephan.

»Aber es ist keine Sado-Maso-Anzeige«, war sich Hilbig sicher. »Die Frau hat Mut. Sie hätte sich direkter ausgedrückt, wenn sie so etwas gewollt hätte.« Er blickte wieder auf den Bildschirm.

»Es ist eines der wenigen Inserate, das keine Hinweise auf das Alter, das Aussehen, den Wohnort oder irgendwelche ohnehin meist belanglosen Interessen der Verfasserin gibt. Und trotzdem hat der Leser eine recht genaue Vorstellung von der Frau, die allein der Fantasie entspringt.«

»Welche Vorstellung haben Sie denn von ihr?«, fragte Marie.

Hilbig dachte nicht lange nach.