OLIVER SCHERZ
Wir sind nachher
wieder da,
wir müssen kurz
nach Afrika
Thienemann
ILLUSTRIERT VON
BARBARA SCHOLZ
Für Angela, Juli und Michel
5
Inhalt
Einem Riesen in Not muss man helfen
7
Abuu
20
Geschwister in den Bergen
28
Ein Gebirge hat zwei Seiten
39
Ein Fluss ist lang genug für
Elefanten-Familiengeschichten
46
Meere sind so tief wie Berge hoch
57
Zwei schwere Herzen zusammen
schlagen leichter als eines alleine
66
Einer Wüste kann man nicht trauen
73
Im Dschungel spricht sich schnell herum,
wenn etwas Sonderbares passiert
82
Der König von Afrika
90
Jeder braucht seine Familie
97
7
Einem Riesen in Not
muss man helfen
Es stürmt hinter dem Fenster. Der Wind weht Blätter
und Wolken vor den Mond. So kann man gut schlafen,
denkt Joscha in seiner Federburg auf seinem Bett. Nur
sein Kopf schaut aus der Decke zwischen weichen, gro-
ßen Kissen heraus.
An der Wand sind Schatten von Ästen, die sich biegen
und beugen. Manchmal krümmt sich der ganze Baum
im Mondlicht hinter dem Fenster.
»Schläfst du schon?«, flüstert Joscha.
»Nein«, flüstert Marie. Sie sieht nichts von den Schat-
ten an der Wand. Sie hört nur ihren Atem unter der
Bettdecke. Auf der Bettdecke blühen bunte Blumen. Sie
ist ein Maulwurf und über ihr duftet eine Sommerwiese.
»Wann kommen Mama und Papa wieder?«, fragt sie
und gräbt ihre Nase aus der Wiese.
»Nachher«, sagt Joscha.
»Das ist zu spät«, flüstert Marie.
An Eltern, die weg sind, hat sie sich noch nicht ge-
wöhnt. Joscha schon. Er ist ein ziemlich großer Bruder
unter seiner Decke, allein mit der Schwester, ganz ohne
die Eltern.
Über die Wand mit den Schatten fliegt eine Wolke oder
ein windiger Tiger. Joscha pustet ihn einfach davon.
»Ich kann nicht schlafen«, sagt Marie. »So alleine.«
»Alleine?«, fragt Joscha. »Du musst nur auf die
Wand gucken. Da fliegt zum Beispiel ein Schna-
beltier. Und da kriecht eine Astschlange. Pass auf!
Dich beißt ein Nagelbeißer!«
»Was?!«, kreischt Marie und verschwindet in
ihrer Höhle.
Selbst Joscha kriegt vor lauter Schatten plötzlich
eine Gänsehaut, auch wenn er findet, dass er für
Gänsehaut schon viel zu alt ist. Er lacht ein bisschen
über Marie, damit das Heulen
des Windes lustiger klingt.
»Marie ist ein ängstlicher
Maulwurf«, sagt er und zuckt bis zu den Zehen zu-
sammen, als es plötzlich ans Fenster klopft.
Hat es da wirklich ans Fenster geklopft?
Joscha hört auf zu atmen. Marie atmet
auch nicht mehr.
10
Da klopft es wieder!
»Joscha!«, flüstert Marie so leise,
dass man sie kaum hört. »Klopft da
jemand ans Fenster?!«
Joscha schielt zur Wand mit den Schat-
ten: Sie ist so dunkel, als hätte ein schwarzer
Riese seinen Kopf vor den Mond geschoben.
»Beweg dich nicht, Marie!«
»Wer ist das, Joscha?«
»Das muss ein Riese sein.«
»Ein Riese?!«, stammelt Marie.
»Sonst kann hier keiner ans Fenster klopfen. Wir sind
doch viel zu hoch«, flüstert Joscha.
Und in der Tat: Wenn Joscha den Stoffhund durchs
Fenster zu Marie in den Garten abseilt, braucht er den
Schal seines Vaters, geknotet an den Schal seiner Mut-
ter, und den von sich selbst und den von Marie.
»Was will der Riese von uns?«, zischt Marie.
Da klopft es schon wieder.
»Hilfe!«, ruft eine Stimme so tief, dass die Fenster-
scheibe erzittert.
»Was machen wir jetzt?!«, schreit Marie unter der
Decke.
»Ich weiß nicht!«, stammelt Joscha.
»Hilfe!«, ruft es wieder vor dem Fenster.
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»Vielleicht ist ihm ein Ast auf den Kopf gefallen!«,
flüstert Marie.
»Riesen fällt nichts auf den Kopf. Sie sind größer als
alles andere«, sagt Joscha tonlos.
Größer als alles andere …, denkt Marie und versucht,
sich das vorzustellen.
Joscha blinzelt heimlich zum Fenster. Statt Mondlicht
und dem Baum wie sonst sieht er nichts als graues Grau.
Und mitten aus dem grauen Grau schaut ein kleines
Auge direkt zu ihm aufs Bett.
»Rieriese!«, stottert Joscha.
»Siehst du ihn?!«, fragt Marie.
»Er siesieht uns!« Das Auge behält Joscha fest im Blick.
»Helft mir! Ich muss mich verstecken!«, ruft die tie-
fe Stimme. Verstecken? Hier? Joscha traut seinen Ohren
nicht. Aber wie widerspricht man einem Riesen?
»Rieriese, ich kakann dir nur einen Bademantel geben.
Gegen den Sturm«, ruft Joscha dem Auge entgegen. »Da-
für tust du uns nichts.« Joscha steht zitternd auf. »Ma-
rie, wir schenken ihm deinen Bademantel. Wir legen ihn
unten vor die Tür.«
»Du kannst ihm doch nicht die Tür aufmachen?!«,
schreit Marie.
»Wenn man Riesen nicht hilft, wird ihre Wut noch
größer als sie selbst. Außerdem ist die Tür längst wie-
der zu, bis er sich gebückt hat.« Joscha rennt zum Bade-
zimmer.
»Lass mich nicht mit ihm alleine!«, schreit Marie. Sie
wirft ihre Bettdecke zur Seite und springt Joscha hin-
terher.
Mit Maries Bademantel laufen sie die Treppe hinab.
Das Wohnzimmer wirkt gar nicht gemütlich ohne Licht
in der Nacht. Der Sessel hockt dunkel in der Ecke, die
Bücherregale stehen wie schwarze Türme an der Wand.
»Du machst die Tür zum Garten auf. Ich werf den Ba-
demantel raus. Dann schmeißt du die Tür wieder
zu!«, schärft Joscha Marie ein. »Verstehst du?!«
»Ja!«, flüstert Marie und fragt sich, ob das eine
gute Idee ist.
»Jetzt!«, schreit Joscha.
Marie reißt die Tür auf: Der Sturm stürmt herein
und bläst mit all seiner Kraft den Bademantel in
Joschas Gesicht.
»Tüüüüür soofooort wiiiiieder zuuuuu!«, brüllt Jo-
scha, dem der Bademantel laut um die Ohren flattert.
Marie schiebt und drückt gegen die Tür, aber ihre
Arme sind schwächer als der Wind. »Ich kaaaann
niiicht!«, schreit sie.
Vor der Tür sieht Marie zwei riesige Füße. Oder sind
es vier?! »Joschaaaa! Er hat vieer Füße! Und er bückt
sich!«
Der Sturm fegt stürmisch durchs Wohnzimmer und
schiebt Zeitungen und Blumenvasen, sogar Stühle vor
sich her. Joscha kämpft mit dem Bademantel.
»Joschaaaa! Der Riiiese … er … er will reinkommen!«,
schreit Marie.
Und plötzlich ist der Sturm vorbei. Joscha wirft den
Bademantel zu Boden und glaubt nicht, was er sieht:
In der Tür steckt wie ein Flaschenkorken ein dicker,
grauer Kopf. Und aus dem Kopf wächst lang und breit
ein riesenhafter Rüssel.
Wenn Joscha sich nicht
täuscht, ist das, was
in der Tür steckt, ein
wahrer Elefantenriese.
»Bist du ein echter Elefant?!«, ruft Joscha.
»Ja«, brummt der Elefant mit seiner tiefen Stimme.
»Elefanten gibt’s im Zoo. Sonst nicht«, behauptet
Marie, die Elefanten lieber hat als Riesen.
»Das ist ja das Problem!«, sagt der Ele-
fant. »Im Zoo gibt’s mich nicht mehr.«
Er wischt sich mit dem Rüssel
Blätter und Regen aus der Stirn.
»Der Sturm hat meinen Zaun ein-
gerissen. Ich habe etwas nach-
geholfen. Jetzt bin ich auf der
Flucht. Die Feuerwehr sucht
mich, die Polizei sucht mich.
Alle suchen sie mich. Ihr
müsst mich verstecken!«
Joscha schaut fragend
zu Marie. Einem Ele-
fanten in Not muss
man helfen, denkt
er. Aber wie?
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»Wir könnten ihm die Schiebetür zur Terrasse auf-
machen«, schlägt Joscha vor. »Hier drinnen sieht ihn
keiner.«
»Vielleicht ist das eine gute Idee«, flüstert Marie.
So kommt es, dass sich der Elefant durch die große
Schiebetür in das Wohnzimmer zwängt. Erst den Kopf,
dann Rücken und Bauch und ganz zuletzt den breiten
Hintern. Da steht er nun, der Elefant. Sein Kopf stößt an
die Decke, sein Po an die Wand, sein Rüssel biegt und
krümmt sich. Joscha und Marie wird flau zumute. Was
kann man einem Elefanten anbieten, der heimlich bei
einem zu Gast ist?
»Möchtest du einen heißen Kakao trinken?«, fragt
Marie.
»Nein danke«, sagt der Elefant. »Aber darf ich mich
setzen? Es ist ein wenig niedrig hier.«
Joscha nickt langsam. Also lässt der Elefant seinen
Elefantenhintern auf dem Sofa nieder, dass es nur so
kracht.