Du & ich und das Leuchten des Sommers

Lily Oliver

Du & ich
und das Leuchten
des Sommers

Roman

Knaur eBooks

Inhaltsübersicht

Über Lily Oliver

Lily Oliver ist das Pseudonym der Autorin Alana Falk, die mit sechzehn einige Monate eine Highschool besuchte und dabei ihre Liebe für die USA entdeckte. Ihre Reisen an Sehnsuchtsorte wie New York und Neuseeland bereichern ihr Schreiben. Mit ihrem Roman Cursed Kiss erreichte sie die SPIEGEL-Bestsellerliste.

Mehr über die Autorin unter www.alanafalk.net und @alanafalk.lilyoliver

Prolog

AVA

Applaus.

Ich dachte immer, dass man dafür lebt.

Ich hielt es für die ultimative Belohnung, auf einer Bühne zu stehen, schweißnass, erschöpft bis ins Mark, die Seele aus dem Körper getanzt – umwogt und berauscht von der Begeisterung der Menschen, für die man alles gegeben hat. Ich dachte, dass der Beifall der Menge der Höhepunkt ist, für den man alles andere in Kauf nimmt.

Aber ich hasse den Beifall. Ich hasse den Höhepunkt.

Er macht mir Angst.

Ich drehe die letzte Pirouette des Abends, ich gebe noch einmal alles für das furiose Finale. Und wahrscheinlich kann nur Alvaro, mein Partner, mein Prinz, sehen, dass etwas nicht stimmt.

Die Angst vor dem Ende, sie übernimmt mich, heute früher als sonst, und lässt mich schwanken.

Alvaro steht mit dem Rücken zum Publikum, nur deswegen erlaubt er sich ein besorgtes Stirnrunzeln, das sofort mit dem Gesichtsausdruck des Prinzen verschmilzt.

Ich reiße mich zusammen. Für ihn. Für mich.

Ich darf nicht schwanken.

Ich bin Giselle, und das Leben meines Prinzen hängt von mir ab.

Ich tanze für ihn auf meinem Grab, ich schütze ihn vor dem Tod, bis der Morgen graut und ich zurücksinke in die kalte Erde, die mich jetzt für immer umfängt.

Ich bin erlöst. Und mein Prinz darf leben.

Schwer atmend liege ich auf der Bühne. Das Publikum schweigt.

So ist es immer bei Giselle, wenn Alvaro und ich tanzen.

Atemloses, tausendfaches Schweigen.

Dann bricht plötzlich der Applaus los.

Er fegt über mich hinweg wie eine Sturmflut und offenbart mir meine Lüge: Es ist nicht wahr, dass ich den Applaus hasse. Ich liebe ihn, ich brauche ihn, ich lechze danach, und für einen Moment trägt mich die Euphorie davon. Sie spült meine Angst einfach weg. Es ist dieser eine wunderbare Augenblick, in dem mein Körper sich vollkommen anfühlt.

Vollkommen losgelöst.

Vollkommen frei.

Was mir Angst macht, ist das Danach.

Wenn es aufhört.

Und ich falle.

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What a Shit-Show!

 

Hey, ihr Ballettratten! Wusstet ihr, dass Balletttänzer vor der Vorstellung durch die Gänge laufen und jedem, dem sie begegnen, »Scheiße« ins Ohr flüstern? Ja, wirklich, das ist wahr! Aber natürlich machen wir es mit Eleganz und Stil – wir benutzen, wie fast bei allem, das französische Wort »merde« dafür. Das soll Glück bringen und ist unsere Version von »toi, toi, toi« oder »Hals- und Beinbruch« – was ihr einem Tänzer niemals wünschen solltet!

 

Also – solltet ihr uns mal vor der Vorstellung begegnen, habt ihr die volle Erlaubnis, uns Scheiße zu wünschen. Wer will das jetzt? Schreibt es in die Kommentare!

 

Habt einen tollen Tag!

Eure Ava Wild

Kapitel 1

AVA

»Fuck!«

Kate, meine beste Freundin, die gerade durch den Seitengang zur Bühne auf mich zukommt, reißt die Augen auf.

Ich halte mir die Hand vor den Mund.

Wie laut hab ich geflucht? Ich hoffe, keiner von den Zuschauenden hat es gehört!

Kate grinst, noch schwitzend und euphorisch von ihrem Auftritt. Sie und Jayden haben gerade ihren Pas de deux aus Cinderella beendet, eines der vielen Stücke des heutigen Ballettabends. »Was ist? Hab ich das Memo verpasst, wo wir von Merde zu Fuck wechseln, um uns Glück zu wünschen?«

»Haha, sehr witzig«, gebe ich zurück, obwohl ich es eigentlich ganz lustig fand. Aber leider habe ich gerade andere Probleme.

Sie wird ernst. »Was ist los?«

Ich verdrehe die Augen. »Ich hab die falschen Spitzenschuhe an.«

Kate senkt den Blick. Trotz der Dunkelheit hinter der Bühne kann jeder sehen, dass meine Schuhe grün sind. Grün! Alles hätte es sein können, Rosa, Braun, Blau, Rot, Weiß – sogar Gelb. Aber nicht Grün.

»Sie müssen noch von ›Jewel‹ in meinem Schuhfach gelegen haben, und ich habe mich vergriffen«, jammere ich. Das Stück haben wir gestern aufgeführt. »So ein Mist.«

»Ich würde dir meine geben, aber …« Kate zuckt hilflos mit den Schultern.

Natürlich geht das nicht. Jede Tänzerin hat ihre eigenen Schuhe, eine ganz bestimmte Schuhmarke, eine ganz bestimmte Größe. Und bei mir mit meinen Füßen geht es natürlich erst recht nicht. Ich könnte wahrscheinlich besser barfuß tanzen als in den Schuhen einer der anderen Tänzerinnen hier.

»Kein Problem, ich laufe schnell zur Garderobe und …«

»Auftritt Alvaro!«, zischt es durch die Gänge.

Na super. Ich bin ganz kurz nach ihm dran. Keine Zeit mehr, die richtigen Schuhe zu holen. »Trotzdem danke«, sage ich zu Kate.

Sie verzieht das Gesicht. »Vielleicht fällt es ja nicht auf.«

Ich schnaube. »Glaubst du das wirklich?«

»Na gut, in der ersten Reihe könnte jemand sitzen, der das Stück schon ein paarmal gesehen hat, und der merkt es vielleicht, aber …«

»Es ist Stars and Stripes, Kate. JEDER wird es merken.«

Sie versucht, entsetzt zu schauen, aber plötzlich bricht das Kichern aus ihr heraus. »Sorry, aber … Stars and Stripes mit grünen Schuhen, das ist einfach …«

»Großer Mist.«

»Ja.«

»Nadine wird mich köpfen.«

»Ohne Zweifel.« Aber sie kichert immer noch.

Ich kann es ihr nicht verdenken. Es ist das Ballett für die amerikanische Flagge. Jeder kennt es hier. Selbst wer nicht aus den USA kommt, würde wissen, dass Rot zur Flagge passt oder Blau oder Weiß, verdammt noch mal sogar Gelb, wegen der Sterne, aber ganz sicher nicht Grün. »Fuck, fuck, fuck.« So was ist mir wirklich noch nie passiert.

»Komm schon, Ava. Du bist der Star der Kompanie. Mit mir zusammen jedenfalls.« Sie grinst. »Du wirst so genial tanzen, dass es den Leuten egal ist.«

»Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig.«

»Ava, du bist gleich dran!«, raunt es.

»Die Schande. Die Scham. Ich werde wochenlang Theatergespräch sein, jedes Mal, wenn ich irgendwo auftauche.« Ich verziehe übertrieben leidend das Gesicht, was Kates Kichern nur noch anheizt. Ich will mich bereit machen, aber gerade in diesem Moment taucht Ellie hinter uns auf. »Ava! Ich glaube, du hast deine Schuhe vergessen, kann das sein? Ich wollte dir noch schnell was auf den Tisch legen, und da habe ich die hier vor deinem Stuhl liegen sehen und dachte …« Sie hält mir nagelneue rosa Spitzenschuhe hin – meine Größe, meine Marke und perfekt vorbereitet mit Bändern, eingenähter Spitze und weich geklopfter Sohle.

»Oh mein Gott, Ellie. Dich schickt der Himmel!« Ich würde sie am liebsten umarmen, aber stattdessen reiße ich ihr die Schuhe förmlich aus der Hand. Normalerweise brauche ich ein paar Minuten, um sie sorgsam anzuziehen, die Enden der Bänder einzustecken und sie zu vernähen, wie wir es eigentlich für die Vorstellung machen. Aber das ist jetzt alles egal. Ich rupfe mir die grünen Schuhe runter, die ich – verdammte Axt! – sogar vernäht und dabei trotzdem nicht gemerkt habe, dass sie falsch sind.

Kate kichert immer noch, während ich den linken Schuh binde und sie mir den rechten anzieht.

»Ava! Jetzt!«

Ich stehe auf, während Kate und Ellie zu meinen Füßen die Enden der Bänder verstauen. Ich werfe ihnen einen dankbaren Luftkuss zu und renne los.

Im letzten Moment bin ich auf der Bühne.

Leicht aufgelöst, nicht hoch konzentriert wie sonst. Aber Hauptsache, der Einsatz ist geschafft. Zunächst denke ich, ich muss die Aktion mit den Schuhen mit einer grausam schlechten Performance bezahlen, aber dann setzt er doch wieder ein. Der Flow. Dieses wunderbare Hochgefühl, die Mischung aus Bewegung und Musik, Herzschlag und Rhythmus. Geist und Seele.

Ich bin der Tanz, ich bin die Musik. Und Alvaro ist meine Gegenmelodie. Wir vereinen uns in einer bombastischen Harmonie. Stars and Stripes ist ein gewaltiges Ballett, ein ursprünglicher, martialischer Akt, der amerikanische Traum, auf die Bühne gebracht von dem Begründer des modernen amerikanischen Balletts – George Balanchine. Und so mitreißend, dass man dem Rhythmus einfach unterliegen muss.

Und dann kommt der Moment vor dem Finale.

Heute ist das letzte Mal, der letzte große Auftritt für diese Saison. Nur noch ein Mal durchhalten, Ava. Ein Mal vor dem Sommer, der alles gerade richten wird.

Die Musik stoppt, ich bleibe schwer atmend stehen – aber da lauert schon die Angst in mir. Panik sogar.

Und der Schmerz.

Ein Pochen und Stechen in meinen Füßen, das an meinen Beinen entlang nach oben bis in meinen Magen ausstrahlt.

Atmen.

Die Vorhänge kriege ich irgendwie noch hin, der Applaus hält das Adrenalin in meinem Körper. Aber sobald der letzte Vorhang fällt, ist es, als würden Adrenalin und Glückshormone aus meinem Körper sacken, so sturzflutartig, wie die Zuschauenden nach der Vorstellung den Saal verlassen.

Der Schmerz frisst sich jetzt durch meinen ganzen Körper, erfasst meine Brust, und zum allerersten Mal weiß ich nicht, wie ich es hinkriegen soll, von der Bühne zu gehen.

Aber dann nimmt Alvaro meine Hand, und ich bin wahnsinnig dankbar, dass er da ist. Dennoch versuche ich, meine Finger nicht zu sehr um seine zu krampfen. Er soll nicht merken, wie sehr ich auf ihn angewiesen bin. Vor allem sollen es die anderen nicht merken, die mir und Alvaro bewundernd zunicken und uns auf die Schultern klopfen. Ein Mädchen – vielleicht eine der Schülerinnen der Akademie, die manchmal eine Vorstellung von den Seitengängen aus ansehen dürfen – reicht mir sogar eine Rose. Alvaro nimmt sie, ohne zu zögern, ohne Kommentar. Als wüsste er, dass ich es nicht kann.

Er spürt etwas. Lange schon. Natürlich, wie könnte er auch nicht?

Während wir durch die Seitengänge von der Bühne abgehen, sieht er mich immer wieder merkwürdig an. Ich versuche, mir jetzt schon zu überlegen, was ich ihm sagen will, aber mein Gehirn ist zu benebelt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Ich muss mich auf den Gang konzentrieren.

Dieser endlos lange Gang ist meine ganz private Hölle, jeden verdammten Abend und heute noch mehr als sonst. Am Ende irgendwo ist die Tür zu meiner Garderobe. Ich kann sie erahnen, aber es ist, als würde sie überhaupt nicht näher kommen. Irgendwann klammere ich mich doch an Alvaros Hand. Immer noch sagt er nichts, und ich bin so verdammt froh, ihn als Partner zu haben.

Viele Paare zischen sich noch in den Seitengängen der Bühne an, müssen dem anderen sofort ins Gesicht sagen, was er ihrer Meinung nach alles falsch gemacht hat. Sie breiten die Probleme ihrer Tanzpartnerschaft vor der ganzen Kompanie aus, vor allen, die bereits dort stehen und sich aufwärmen. Auch ich habe mich manchmal fast dazu hinreißen lassen, obwohl ich es hasse.

Aber nicht Alvaro. Nicht ein einziges Mal hat er auch nur so gewirkt, als würde er mir im Affekt etwas an den Kopf werfen wollen. Er bleibt immer vollkommen ruhig, und alles, was uns betrifft, bleibt unter uns. Und dafür liebe ich ihn noch mehr.

Auch jetzt schließt er erst die Tür, bevor er sich zu mir umdreht. Da ist wieder die Sorge auf seinem Gesicht. »Was ist los, Teja?«

Ich will mich von seinem forschenden Blick lösen, mich wegdrehen und mit dem Abschminken anfangen, aber ich kann mich nicht bewegen. Jetzt, da das Adrenalin fort ist, der Glücksrausch abgeflaut, und ich auf meinem Stuhl sitze, jetzt, da der Druck von meinen Füßen genommen ist, ergreift mich der Schmerz mit voller Wucht. Für einen Moment ist es, als könnte ich nicht mehr atmen. Das Stechen in meinen Füßen legt sich um mich wie ein eiserner Mantel, drückt mein Herz zusammen, meine Lungen, treibt mir die Tränen in die Augen.

Dieser dunkelste Punkt nach jeder Vorstellung, er ist es, vor dem ich mich in Wahrheit fürchte. Umso mehr, weil ich immer allein damit bin. Immer – bis heute.

»Ava?«

Alvaros sanfte Stimme treibt über den Nebel aus Qual zu mir her. Er muss neben mir stehen, vielleicht berührt er mich. Aber ich kann nicht antworten.

»Ava!« Er schüttelt mich sanft. Legt mir eine Hand auf die Stirn und dann meine dicke, warme Trainingsjacke um die Schultern. Er sorgt sich, weil er nicht weiß, was das hier ist, und weil er meine Angst bemerken muss. Die Angst, ob es je wieder aufhören wird.

Manchmal wache ich nachts schweißgebadet auf. Ich träume, dass dieser Moment nach der Vorstellung ewig anhält. Ich träume, dass der Schmerz ewig ist. Und dann weine ich, als wäre es bereits geschehen. Als hätte sich der Schmerz endlich für immer in mir festgesetzt, hineingebrannt in meinen Körper – durch jedes Training, jede Vorstellung, jeden einzelnen Schritt, den ich je gemacht habe.

Auch jetzt weine ich. Und durch die Schlieren meiner Tränen hindurch sehe ich, dass Alvaro nach meinem Handy greift.

»Nein«, würge ich hervor. »Nein, nein. Bitte. Ich brauche keinen Arzt.«

Alvaro verzieht das Gesicht. »Wenn du dich sehen könntest, würdest du das nicht sagen.«

»Es ist nur … Schmerz«, stoße ich hervor.

Er schnaubt. »Ach was.«

Schmerz ist normal für uns. Er gehört dazu, beim Training, bei der Aufführung, genauso wie es dazugehört, dass man gelegentlich ein Schmerzmittel nimmt. Aber das hier ist anders. Das hier ist kein dumpfes Pochen im Ballen, das mit einer Schmerztablette leichter wird. Keine Kleinigkeit, über die man am Anfang des Trainings die Augen verdreht, bis man warm ist und das Stechen in den Zehen vergisst, oder eine Stressfraktur, die schnell wieder heilt. Das hier, dieser Moment nach der Vorstellung, ist etwas anderes, Dunkleres, das mein Leben durchdringt wie ein Geschwür. Es fühlt sich an, als wäre dort zwischen meinen Mittelfußknochen etwas ganz und gar kaputt. Und sogar die Schmerzmittel, die Dr. Horvath mir gegeben hat, wirken schon lange nicht mehr richtig dagegen.

Alvaro hält immer noch mein Handy in der Hand, fast drohend, als würde er jederzeit den Notruf wählen wollen.

Ich schüttle den Kopf. »Ich brauche nur Eis.«

Er schweigt, dann geht er langsam vor mir in die Knie. »Teja«, sagt er, und seine dunkle, weiche Stimme rollt so wohltuend durch meinen Körper wie eine Welle aus samtiger Schokolade.

»Ich habe dir versprochen, dass ich auf dich achtgebe, beim Tanzen und auch sonst. Und genau das tue ich jetzt. Indem ich Dr. Fisher kommen lasse.« Wieder hebt er mein Handy, aber ich schüttle den Kopf.

Auf keinen Fall darf Dr. Fisher mich so sehen. Als Theaterarzt ist er von der Schweigepflicht entbunden und verpflichtet, der Theaterleitung sofort alles zu berichten.

»Ich brauche nur das Eis, Alvaro, okay?«, flüstere ich. »Bitte.«

Aber er lässt sich nicht erweichen. »Du weißt genau, dass es viele Dinge gibt, die sofort behandelt werden müssen, weil sie deine Karriere zerstören könnten. Dr. Fisher sollte lieber sofort …«

»Das ist nicht nötig«, unterbreche ich ihn. »Ich war schon bei einer Ärztin. Dr. Horvath«, füge ich hinzu.

Er pausiert kurz, überrascht. »Und?«, fragt er dann. »Was hat sie gesagt?«

»Bitte«, flüstere ich. »Das Eis.«

»Ja, natürlich«, antwortet er. Seltsam ruhig.

Ich weiß, dass er wütend ist, verletzt, irgendwo tief drinnen, weil ich ihm nicht antworten will. Und ich kann es ihm nicht verübeln. Er ist mein Partner. Wenn mit mir etwas nicht stimmt, hat er das Recht, es zu erfahren. Weil es auch seine Gesundheit gefährden könnte, wenn ich beim Tanzen Fehler mache.

»Willst du in die Kühltruhe gehen?«, fragt er.

Die Vorstellung, mich in den winzigen Raum zwischen die anderen Tänzerinnen und Tänzer zu quetschen, die auf Bänken sitzen, ihre Füße in große Wannen mit Eiswasser tauchen und schwatzen, ihre fragenden Blicke auf mir zu fühlen und immer zu fürchten, sie könnten etwas bemerken, nein, das ertrage ich jetzt nicht. Normalerweise warte ich deshalb in letzter Zeit auch, bis sie weg sind, um meine Füße zu kühlen, damit sie abschwellen. Heute muss ich das wenigstens nicht. »Kannst du es bitte herholen?«

Alvaro starrt mich durchdringend an, als würde er sich fragen, ob ich ihn loswerden will, damit ich abhauen kann, während er das Eis holt. Guter Witz. Im Moment könnte ich nicht mal aufstehen, ohne zu schreien.

Alvaro erhebt sich. »Natürlich.« Er geht zur Tür, dreht sich noch mal um. »Teja«, schiebt er hinterher. Als wollte er mir durch den Kosenamen zu erkennen geben, dass alles gut ist zwischen uns. Dann verschwindet er.

Teja.

Quinn Sanchez, ihres Zeichens Rising Star unserer Kompanie, hat sich schlappgelacht, als sie es zum ersten Mal gehört hat. »Du weißt schon, dass das Ziegel heißt?«, hat sie mich geneckt.

Alvaro hat gegrinst. »Manchmal nenne ich sie auch Tejita.«

»Ziegelchen?«, hat Quinn prustend gefragt. »Ich weiß nicht, ob es das besser macht.«

Natürlich weiß Quinn nicht, warum er mich so nennt, aber ich liebe es, dass er es nach dem ersten spaßhaften Mal beibehalten hat. Immer, wenn ich höre, wie sich der melodische Klang dieses spanischen Wortes in seine amerikanische Sprachmelodie mischt, rieche ich den Duft der Schokolade in der Küche seiner Abuela und spüre die samtige, klebrige Wärme der kleinen Chocotejas in meiner Hand, die sie mir jedes Mal zusteckt, wenn wir sie besuchen. Allein die Erinnerung daran, wie sie auf meiner Zunge zergehen, wie sich die milchige Füllung mit dem Geschmack der Nüsse und Früchte im Inneren mischt, ist ein paar Sekunden Himmel auf Erden und lindert meine Schmerzen.

Die Erinnerung verblasst, und während ich auf Alvaro warte, überlege ich, wie ich ihm sagen soll, dass meine Schmerzen immer schlimmer werden. Anfangs langsam, jetzt rapide. Jeden Abend fühle ich mich, als bestünde die Gefahr, dass ich am nächsten Tag gar nicht mehr laufen kann. Aber am Morgen geht es dann doch immer irgendwie, gut genug jedenfalls, um einen weiteren Tag durchzustehen. Selbst jetzt, so kurz vor Schluss der Saison, konnte ich mich noch durch die letzten Vorstellungen quälen. Mir wird schlecht bei dem Gedanken, was Alvaro zu mir sagen wird, wenn er die Wahrheit erfährt.

Bist du verrückt, Teja? Dein Körper ist alles, was du hast! Du darfst deine Gesundheit niemals aufs Spiel setzen.

Kurz überkommt mich doch der Drang, zu verschwinden, bevor er zurück ist. Aber ich brauche das Eis. Meine Ballen pochen inzwischen vor Hitze, dass es kaum auszuhalten ist.

Ich fluche leise. Ich hätte mir die Spitzenschuhe sofort ausziehen sollen. Jetzt sind meine Füße so angeschwollen, dass ich keinen Finger zwischen Satin und Strumpfhose kriege. Und an aufstehen und alles gemeinsam ausziehen ist gar nicht zu denken.

Als Alvaro mit zwei Eimern voller Eis zurückkommt und an dem kleinen Waschbecken in der Ecke Wasser dazugibt, bis sie randvoll sind, und einen davon vor mich hinstellt, tauche ich meine Füße so heftig hinein, dass das Wasser überschwappt. Samt Spitzenschuhen und Strumpfhose.

Alvaro hebt eine Augenbraue. Ich sehe es nur kurz, bevor ich meine Lider schließe und die herrliche Kälte genieße, die langsam, unendlich langsam den Schmerz betäubt. Das Pochen hört auf. Ich spüre Hände an meinen Beinen, zucke zusammen, aber dann lasse ich zu, dass Alvaro die Bänder löst und mir die Spitzenschuhe auszieht, bevor er sich seinen eigenen Eimer heranzieht und seine nackten Füße hineintaucht.

Er seufzt leise auf. »Das Eis ist das Beste am ganzen Abend.«

Trotz allem muss ich grinsen. »Ja.«

Es ist normal, dass wir nach der Vorstellung schwatzen, die Füße im Eis, einen Mitternachts-Snack in der Hand, und natürlich bleibt die eine oder andere Wasserschlacht nicht aus. Heute ist es anders, denn er wartet auf eine Erklärung. Aber ich kriege kein Wort heraus. Ich bin zu müde, zu erschöpft. Habe zu viel Angst vor einer weiteren Horrornacht.

Alvaro deutet auf meine Füße. »Ich wollte dir die Geheimsalbe von meiner Abuela geben, aber leider ist sie leer. Wenn ich demnächst zu ihr fahre, bringe ich dir eine Dose davon mit. Sie wirkt Wunder.«

»Danke«, sage ich mit einem warmen Gefühl im Herzen.

»Vielleicht kann ich ihr sogar ein paar Chocotejas für dich abschwatzen. Falls ein paar genügen.« Er lacht leise.

Alvaros Abuela war es, die anfing, mich Teja zu nennen, vor so vielen Jahren, als er mich zum ersten Mal zu ihr mitgenommen hat. Ich konnte einfach nicht genug von den kleinen, selbst gemachten Süßigkeiten bekommen und habe mich das ganze Wochenende davon ernährt. Aber ein kleiner Schokoladenziegel, vollgepackt mit peruanischer Großmutterliebe – wer kann da schon Nein sagen?

Ich muss grinsen. »Ein paar reichen sicher nicht.«

Alvaro mustert mich, plötzlich wieder ernst. »Du kannst immer auf mich zählen, Tejita.«

Ich nicke, und mir steigen die Tränen in die Augen. Wie dumm, ihm nicht viel früher alles anvertraut zu haben. Warum dachte ich nur, dass ich auch vor ihm geheim halten muss, wie es wirklich um mich steht? Immerhin trainieren wir seit unserer ersten Pas-de-deux-Stunde zusammen. Wir sind eines der wenigen glücklichen Paare, die gemeinsam aus der Akademie heraus an die Weltspitze tanzten. So viele Jahre absolute Hingabe, so viel Zeit Hand in Hand, das geht nur, wenn man einander vollkommen vertraut. Und dennoch. Ich kann es einfach nicht.

»Ich musste mich nur zur Sommerpause hinüberretten«, flüstere ich statt einer Erklärung.

»Ich nehme mal an, niemand weiß … davon?« Er macht eine Geste zu meinen Füßen.

Ich schüttle den Kopf. »Und das soll auch so bleiben. Bitte.«

»Weiß Nadine es?«

Ich schüttle wieder den Kopf.

Wenn Nadine davon erfährt, könnte das alles ruinieren, wofür ich so hart gearbeitet habe. Sie könnte mich suspendieren, könnte mich sogar rauswerfen dafür, dass ich ihr, meiner Intendantin, nicht gesagt habe, was mit mir los ist. Dass ich damit die ganze Produktion gefährdet habe, weil ich jederzeit hätte ausfallen können.

Mein Herz rast allein bei dem Gedanken daran. »Du kennst sie doch. Sie würde total ausrasten, mich für ein paar Monate aus dem Verkehr ziehen …«

»Wäre das denn so schlimm?«

Ich schlucke schwer. »Es würde alles auf den Kopf stellen und es wäre … unnötig«, sage ich, weil ich die Wahrheit nicht aussprechen kann.

Ein Schatten huscht über Alvaros Gesicht. »Wenn wir weiter zusammen tanzen wollen, muss ich irgendwann erfahren, was los ist, Ava, das ist dir doch klar, oder?«

»Ich will doch nur … eine Chance, es in Ordnung zu bringen, ohne dass es groß Wellen schlägt. Und die habe ich jetzt über den Sommer.«

Er nickt stumm.

»Morgen gehe ich zu Dr. Horvath. Dann kann sie endlich richtig mit der Behandlung starten, und wir kriegen das in den Griff.« Und Nadine muss nie davon erfahren. Schließlich rennen wir ja nicht mit jeder Kleinigkeit zu ihr.

Alvaro schubst mit den Zehen ein paar Eiswürfel im Eimer hin und her. »Das will ich euch auch geraten haben, denn ich möchte noch viele, viele Jahre mit dir tanzen, okay?« Er grinst dieses jungenhafte Grinsen, das mich manchmal bedauern lässt, dass wir nach ein paar kurzen, heißen Wochen vor einigen Jahren festgestellt haben, dass wir zwar gute Tanzpartner sind, aber kein gutes Paar.

»Ach ja?«, necke ich ihn. »Das willst du dir wirklich antun?«

Er nickt. »Mit keiner anderen ist das Schweigen am Ende von Giselle so lang wie mit dir.«

Ein leises Lachen entkommt mir. »Ach. Nur darum geht es.«

»Alles für die Show«, gibt er frech zurück. »Alles für die Show, Tejita.« Aber an seiner liebevollen Stimme höre ich, dass er es nicht so meint. Dass er jede Show für mich hinschmeißen würde, wenn es nötig wäre.

Und ich komme mir noch mieser vor, weil ich ihn immer noch über das wahre Ausmaß meiner Schmerzen belüge.

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Gehe immer an die Grenzen, arbeite hart und dann noch härter, aber gehe nicht darüber hinaus. Das hat meine Ballettlehrerin mir eingehämmert, und ich habe es nie vergessen. Es hat mir sogar geholfen, als ich damals allein in der Wildnis unterwegs war. Ich habe jeden Tag trainiert, mit einem Ast als Stange oder einem Zaun. Das hat es mir leichter gemacht, durchzuhalten, auch mental. Dein Körper ist dein wichtigstes Instrument, behandle ihn gut.

Kapitel 2

AVA

Als ich fertig angezogen aus meiner Garderobe komme, wartet Alvaro am Ende des langen Ganges wie selbstverständlich auf mich. Während ich mehr schlecht als recht auf ihn zuhumple, trotz der Schmerztablette von Dr. Horvath, die ich gerade noch eingeworfen habe, mustert er mich mit einem Gesicht, als hätte er Schmerzen und nicht ich. Aber er kommentiert es nicht.

»Ich dachte, du hättest heute vielleicht gern etwas Unterstützung an der Stage Door«, raunt er stattdessen.

»Oh, verdammt.« Die Stage Door.

Ich hatte ganz vergessen, dass ich heute sicher nicht einfach so nach Hause gehen kann. Zurzeit brauche ich nach der Show so lange, dass fast niemand mehr auf mich wartet, wenn ich rauskomme. Aber heute war die letzte Vorstellung der Saison, die letzte Vorstellung vor drei Monaten Sommerpause. Heute werden die Fans eher festwachsen, als freiwillig ohne Foto und Autogramm zu gehen.

»Fuck«, fluche ich leise, als ich sehe, wie viele Leute tatsächlich vor der Glastür nach draußen stehen. Allein der Anblick bringt meine Füße wieder zum Pochen.

»Willst du vorne rum raus?«, fragt Alvaro.

Der Bühnenausgang ist der bequemste und kürzeste Weg und eigentlich der einzige, der erlaubt ist. Aber eine von Nadines ersten Maßnahmen als Intendantin war es, einen Schleichweg durch das Foyer einzurichten, wo nach der Vorstellung eigentlich schon alles abgeschlossen ist. Es gibt dort jedoch eine Feuerschutztür, die man von innen öffnen kann, ohne dass gleich der Alarm losgeht.

Ich weiß, wie das ist, Ava. Als ich selbst noch Tänzerin war, hätte ich manchmal nach einem langen, anstrengenden Ballettabend einen Mord dafür begangen, nicht durch die Stage Door rauszumüssen, sondern durch eine Seitentür flüchten zu können.

Zum ersten Mal in meiner Karriere denke ich wirklich darüber nach. Normalerweise finde ich es nicht fair. Die Fans sind alles. Sie sind die Grundlage meiner Karriere. Nur dank ihnen kann ich tun, was ich liebe, um Geld zu verdienen. Weil sie immer und immer wieder kommen, manche von sehr weit her, um mich tanzen zu sehen. Ich weiß, dass es nicht zu meinem Job gehört, Autogramme zu geben. Aber ich möchte es. Ich tue es gern für sie. Und natürlich ist es wahnsinnig schön, immer wieder zu hören, wie viel Glück wir ihnen schenken können – das Ballett und wir Tänzer.

»Nein«, sage ich. »Lass uns hier rausgehen. Ich schaffe das schon.« Irgendwie.

Als ich nach draußen trete, schlägt mir der Geruch von Sommerhitze und Asphalt entgegen, aber auch ein schwacher Duft nach Rosen aus dem nahen Central Park. Dann umringt uns die Menschenmenge, und das alte Glücksgefühl steigt in mir auf. Diese tiefe Dankbarkeit dafür, dass mein Leben damals vor fünfzehn Jahren so eine krasse Wendung genommen und dazu geführt hat, dass ich jetzt hier sein darf. In New York, vor dem Metropolitan Opera House im Lincoln Center, inmitten von glücklichen Menschen.

»Wie heißt du?«, frage ich einen kleinen Jungen, der mir aufgeregt sein Ticket und einen Stift hinhält.

»Hakeem«, sagt er.

»Hakeem. Tanzt du auch?«

Er nickt eifrig.

»Warte mal.« Ich krame in meiner Trainingstasche und hole ein paar Autogrammkarten heraus. »Ava Wild« schreibe ich in schwungvollen Lettern quer über die Karte. Und dann noch »für Hakeem«. Seine Mutter macht ein Foto von uns. Hakeems Augen strahlen so hell, dass ich für ein paar Augenblicke all meinen Schmerz vergesse. Dann zieht er ab, um Jayden, Kates Pas-de-deux-Partner, zu belagern.

»Wir sind extra aus Texas hergekommen«, sagt eine etwa Vierzehnjährige, deren grazile Kopfhaltung mir sofort verrät, dass sie nicht nur ein Fan ist, sondern ebenfalls Tänzerin. Jen heißt sie.

»Wow, aus Texas!«, sage ich, während ich eine Karte für sie signiere.

»Ja. Wir haben eine Farm, ich bin das erste Mal von da weg.« Sie wirft einen dankbaren Blick auf eine Frau neben ihr, wahrscheinlich ihre Mutter. »Ich hab mir die Reise zu mehreren Geburtstagen gewünscht, wahrscheinlich kriege ich jetzt nie wieder ein Geschenk, bis ich achtzehn bin, aber das war es wert.« Sie lächelt selig.

»Ah, ganz so schlimm wird es schon nicht.« Ihre Mutter lacht, streichelt ihre Schulter.

»Und wie gefällt euch New York?«, frage ich mit schwankender Stimme.

»Es ist …« Jen verstummt, versucht, in Worte zu fassen, was ich in ihren Augen sehe. Die Faszination, wenn man zum ersten Mal hier ist. Die absolute Überwältigung, die einen erfasst, weil man gedacht hat, die Menschen übertreiben, wenn sie davon schwärmen, wie toll es ist. Weil man nicht darauf vorbereitet war, dass die Stadt einen so packt, mit den breiten, glamourösen Straßen, ihren wunderbaren Hochhäusern, den schimmernden neuen und den fantastischen alten, und der wahnsinnigen Atmosphäre, die in jedem Stadtteil ganz besonders und anders ist. Ich erinnere mich so gut daran.

»Ich war ungefähr so alt wie du, als ich zum ersten Mal hergekommen bin«, sage ich etwas abwesend.

»Ich weiß«, antwortet Jen begeistert. »Ich habe alle deine Instagram-Posts gelesen. Sie sind so toll! Sie bauen mich immer auf. Wenn ich lese, was du alles durchgemacht hast … und trotzdem hast du nie aufgegeben. Dann denke ich, ich kann es auch schaffen.«

Wärme durchströmt mich. »Das wirst du mit Sicherheit. Aber pass auf dich auf, ja? Du weißt ja, dein Körper …«

»Ist mein wichtigstes Instrument.« Jen lächelt. »Ich weiß.«

Ich würde gern länger mit ihr reden, aber so viele andere warten auf mich. Ich arbeite mich durch die Menschenmenge, verteile Autogrammkarten, signiere Tickets, mache Fotos. Irgendwo sehe ich Kates dunklen Lockenschopf, und auch Alvaro ist jetzt so von Fans umringt, dass ich nur noch seine stylish verwirrten schwarzen Haare herausstehen sehe. Ganz am anderen Ende kann ich ein paar andere Tänzer aus der Kompanie erahnen, die ebenfalls Autogramme geben und Selfies machen. Nur die Ensemblemitglieder bleiben unbehelligt. Aus dem Augenwinkel sehe ich Ellie, sehe diesen schüchternen Blick, in dem der Wunsch lauert, auch einmal so umringt zu werden. Dann ist sie verschwunden.

Ich konzentriere mich wieder auf die Menschen vor mir. Manche geben mir kleine Geschenke, Stofftiere, Blumen und Schokolade, weil es die letzte Vorstellung der Saison war. Sie sind gespannt darauf, was wir im Herbst spielen werden, und freuen sich so sehr, uns dann wieder tanzen zu sehen. Zuversicht durchströmt mich, dass alles gut werden wird. Der Schmerz ist nicht vergessen. Aber gerade ist er nebensächlich.

»Entschuldigung? Ava Wild?«, fragt jemand, als die letzte Gruppe Mädchen und Jungen glücklich mit Autogrammen von dannen zieht und ich nicht recht weiß, was ich mit dem Berg aus Schokolade und Stofftieren anfangen soll, der sich vor mir auf dem Boden türmt.

Ich drehe mich um. »Ja?«

Vor mir steht ein junger Mann, vielleicht ungefähr in meinem Alter – Mitte zwanzig. Er ist ein Stückchen größer als ich, hat kurze, gekonnt verwuschelte, schwarze Haare und ein sympathisches Lächeln. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich ihn kenne. Ich mustere ihn etwas genauer. Seine elegante Abendkleidung, bestehend aus Hemd und schwarzem Anzug, trägt er auf eine lässige Art, die mir sofort gefällt. Vor allem die Schuhe.

»Chucks!«, sage ich und deute darauf.

Er zuckt mit den Schultern. »Ich finde die einfach am bequemsten.«

Ich muss lächeln. »Früher wollte ich so gern ein Paar haben, aber sie waren immer zu teuer. Ich liebe die Teile.«

Er nickt anerkennend. »Und ich deinen Schuhgeschmack.« Er deutet auf die Teddy-Armee zu meinen Füßen. »Auch wenn ich deine Schuhe gerade nicht sehen kann.«

Ich grinse ihn an. Er lächelt zurück, und mein Herz macht einen Satz.

Sofort kommt mir in den Sinn, was Nadine uns von Anfang an eingebläut hat: Reiß niemals an der Stage Door jemanden auf. Da laufen viel zu viele verrückte Typen rum.

Ich frage mich, ob er gewartet hat, bis alle anderen weg sind, und ob mir das vielleicht Sorgen machen sollte, aber ein Blick aus dem Augenwinkel zeigt mir, dass Alvaro noch in der Nähe ist, ein paar übrig gebliebene Fans mit Autogrammen versorgt und dabei immer wieder zu mir herübersieht. Er wird nicht einfach gehen.

Also hat der Typ vor mir doch nicht darauf gewartet, mich allein zu erwischen.

Er lächelt plötzlich entschuldigend und streckt mir die Hand hin. »Tut mir leid, ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Tom.«

»Tom«, sage ich und schüttle seine Hand. Kenne ich jemanden, der Tom heißt? Ich kann mich nicht erinnern. Aber langsam werde ich wirklich neugierig, was er von mir will. Seine nicht ganz alltägliche Kleidung deutet darauf hin, dass er in der Vorstellung war, deswegen dachte ich zuerst, er wäre nur ein Fan, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.

»Kann ich was für dich tun?«, frage ich, während das Schmerz-Feuerwerk in meinen Füßen wieder aufflammt. Ich sollte nach Hause verschwinden und sie noch mal in Eis packen, bevor ich all die anderen Dinge mache, die die Schmerzen ein klein wenig lindern.

»Tatsächlich, ja«, antwortet er, und dabei funkeln seine Augen frech.

»Und das wäre?«, frage ich.

»Ich war gerade in der Vorstellung und wollte dann schauen, wie es an der Stage Door so zugeht«, beginnt er. »Ich habe gehört, dass da gerade am Ende der Saison oft ein ziemlicher Auflauf herrscht und … also eigentlich wollte ich dich fragen, ob du mit mir was trinken gehst.«

Ich blinzle ihn an. »Das hat aber gedauert.«

Er lacht, schiebt die Hände in die Taschen seiner schwarzen Anzughose. »Na ja, ich dachte, wenn ich die Frage zwischen ein paar anderen Sätzen verstecke, lenkt dich das vielleicht ab und du sagst Ja.«

Ich lege den Kopf schief. »Ich gehe grundsätzlich nicht mit Typen aus, die mich an der Stage Door ansprechen«, sage ich, um zu testen, wie er darauf reagiert.

»Warum nicht?«, fragt er, jetzt ehrlich interessiert.

Ich überlege kurz, öffne schon den Mund, aber er kommt mir zuvor.

»Bevor du antwortest … ich bin Journalist. Sorry. Ich hätte das wahrscheinlich als Erstes sagen sollen. Ich schreibe einen Artikel. Für eine große Zeitung. Und alles, was du sagst, kann gegen dich verwendet werden.«

Wieder muss ich lachen. Und natürlich glaube ich ihm kein Wort. »Was für einen Artikel?«

»Oh«, antwortet er. »Äh. Die schlimmsten Klischees über das Ballett?«

Ich verziehe das Gesicht. Na klar. Es ist eindeutig, dass das nur ein Vorwand ist, um mich anzusprechen. »Du meinst, so wie Typen, die Tänzerinnen an der Stage Door aufreißen?«

»Touché.« Er grinst.

Ich seufze. Ich sollte das nicht machen. Nicht nur, weil daraus sowieso nie was wird. Ich habe keine Ahnung, was für ein Mensch er ist. Und vielleicht müsste es mir auch unangenehm sein, dass er mich einfach so anspricht. Aber er sieht nett aus, er hat ein sympathisches Lächeln und – ganz ehrlich? Mit ihm was trinken zu gehen könnte mich vielleicht von den Schmerzen in meinen Füßen ablenken, gegen die eigentlich sowieso nichts von dem, was ich jeden Abend mache, wirklich hilft.

Ich sehe mich nach Alvaro um. Er ist fertig und wartet auf mich. Aber Tom wirkt echt nett, und ich hätte ein bisschen Aufmunterung so nötig. Außerdem möchte ich wissen, wie lange es dauert, bis er zugibt, dass das mit dem Artikel nur ein blödsinniger Vorwand war, um mich anzuquatschen.

»Oder habt ihr heute zum Saisonende eine große Abschlussparty?«

Ich schüttle den Kopf. »Keine Party, es gibt morgen einen Brunch«, sage ich. Und dann, weil ich eine böse kleine Ballerina bin, schiebe ich hinterher: »Für welche Zeitung schreibst du denn?«

Natürlich redet er drum herum, sagt irgendetwas von einem neuen Job und einem Auftraggeber, der noch nicht genannt werden möchte, und bestätigt damit meinen Verdacht. Aber das spielt keine Rolle.

Nicht, wenn er so sympathisch ist. Und irgendwie ist es auch niedlich, dass er glaubt, sich so was ausdenken zu müssen, damit er eine Chance bei mir hat.

»Ach was soll’s, lass uns ausgehen!«

»Ehrlich? Du sagst Ja?«

»Ja. Ich muss nur schnell die Schokoladenberge loswerden, dann geht’s los.«

Seine offensichtliche Erleichterung bringt mich zum Lachen. Wenn er wüsste, dass es gar nicht das eigentliche Problem ist, ein Date mit mir zu bekommen.

»Du weißt schon, dass das der leichte Teil war?«, ziehe ich ihn auf, während ich mir die Blumen und Stofftiere auflade, um sie Kate zu geben.

»Was ist der schwere Teil?«

Ich zwinkere ihm zu. »Mal sehen, ob du es bis an den Punkt schaffst, an dem ich dir das verrate.«

Instagram-Post von @AvaDancingWild

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Dinge, die wir angeblich nie tun (laut einer Umfrage in meiner Story):

 

- normal essen (wir tun es täglich!)

- ausgehen (wir tun es sehr oft!)

- in Urlaub fahren (na klar!)

- nicht trainieren (jeden Sonntag)

- One-Night-Stands (warum nicht?)

- Beziehungen mit den Kollegen (mit wem sonst?)

- Cocktails trinken (wozu sonst ausgehen?)

 

Ehrlich, wir sind ganz normale Menschen. Klar müssen wir sehr auf uns achten, aber wir tun alles, was ihr auch tut. Nur vielleicht zu anderen Uhrzeiten und in anderen Ausmaßen. Lebt euer Leben, Leute, besonders dann, wenn ihr wenig Zeit dafür habt!

 

PS: Demnächst gibt es genauere Posts zu all euren Fragen.