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Sabine Ludwig • Antonia Michaelis • Bettina Brömme • Gesa Schwartz • Kirsten Wulf

Liebe Leiche ...

Mörderische Geschichten

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

Über die Autorinnen

Antonia Michaelis hat bereits viele Kinder- und Jugendbücher veröffentlicht und wurde 2012 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert.

 

Sabine Ludwig arbeitet seit Jahren außerordentlich erfolgreich als Kinderbuchautorin und Übersetzerin. Ihre Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in viele Sprachen übersetzt.

 

Gesa Schwartz erhielt 2011 den Deutschen Phantastik Preis für das beste deutschsprachige Romandebüt, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde.

 

Bettina Brömme arbeitet nach Ausflügen in die Filmproduktionswelt und in Fernsehredaktionen schon seit längerem als Schriftstellerin und Autorin für TV, Hörfunk und Print.

 

Kirsten Wulf ist seit etlichen Jahren als Journalistin tätig und hat für viele bekannte Zeitschriften geschrieben. Heute lebt sie mit ihrer Familie in Genua.

Über dieses Buch

Hannah sieht im Wald, in den Spiegeln, die an den Bäumen hängen, die Gesichter toter Mädchen. Und eines Tages blickt sie in ihr eigenes ...

Lilly bemerkt im Sommer in Italien zum ersten Mal ihre Wirkung auf Männer. Dass Giancarlo fast doppelt so alt ist, stört sie nicht. Bis sie eine Entdeckung macht, die sie in Lebensgefahr bringt.

Maiglöckchen sind giftig, sie bringen das Herz zum Stillstand. Anna weiß das. Aber der «Träumer», wie sie den Jungen nennt, den sie im Trubel der Stadt trifft, sieht nur eine schöne Papierblume ...

Einmal backstage bei der angesagtesten Band – für Ronja geht ein Traum in Erfüllung, als Rick, der Sänger, sie auf die Bühne holt. Und nach dem Auftritt geht´s im Tourbus weiter. Bis aus dem Traum ein Albtraum wird ...

Ricco ist charmant, witzig, cool – und Lena augenblicklich in ihn verliebt. Dass er mit Dana zusammen ist, scheint ihn nicht daran zu hindern, mit Lena zu flirten. Doch dann ist Dana plötzlich spurlos verschwunden. Und ein böser Verdacht fällt auf Lena ...

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, August 2013

Copyright © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Lektorat Silke Kramer

Umschlaggestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

(Abbildung: thinkstockphotos.de)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved.

Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Printausgabe 978-3-499-21197-3 (1. Auflage 2013)

ISBN E-Book 978-3-644-49231-8

www.rowohlt.de

ISBN 978-3-644-49231-8

Es begann mit dem Licht.

Einem blendend weißen Licht vor der dunklen Rinde eines Baumes. Die Bäume standen hier dicht, dicht wie die Spätherbstwolken am Himmel.

Ich ging näher an das Licht heran. Es war ein Spiegel. Ein kleiner runder Spiegel, den jemand an einen Ast gehängt hatte, nahe beim Stamm. Die Helligkeit, die zwischen den Wolken hindurchsuppte, fing sich im Spiegel und vertausendfachte sich darin.

Ich zögerte, ihn anzufassen. Warum hing er hier? Wer hatte ihn aufgehängt, mitten im tiefen Dunkel der Bäume, und wozu? Schließlich nahm ich ihn doch in die Hand, behutsam, und sah hinein.

Mein eigenes Gesicht blickte mir mit großen, ängstlichen Augen entgegen. Mein Gesicht ist nicht schön. Ich denke gerne, es gäbe eine versteckte Schönheit darin, die nur bestimmte Menschen bemerken. In den Büchern, die ich lese, kommen solche Dinge vor.

Ich bin fünfzehn Jahre alt, und wenn ich ehrlich bin, lebe ich seit ungefähr neun davon hauptsächlich in den Geschichten der Bücher.

Die Leute in der Realität bemerken mich nicht, ich bin zu still, zu unauffällig.

Ich sah das Gesicht im Spiegel an, braune Haare, wässrig blaue Augen …

Und dann, ganz plötzlich, veränderte sich das Gesicht.

Es war das Gesicht eines anderen Mädchens. Ihre Augen waren von einem tieferen, dunkleren Blau als meine, in ihre Stirn fielen schwarze Locken, und auf ihrer Nase lagen Sommersprossen wie dunkle Tautropfen. Sie war, im Gegensatz zu mir, schön.

Aber die Angst, die ich in meinen Augen gesehen hatte, war auch in ihren. Nein. Ihre Angst war ungleich größer. Sie sah an mir vorbei, und ich drehte mich unwillkürlich um. Doch niemand stand hinter mir. Als ich zurück in den Spiegel sah, war das Mädchen verschwunden.

Aber ich wusste, dass sie da war, ganz nah. Unter mir. Ich spürte, dass sie unter meinen Füßen lag, unter den dicken, verschlungenen Baumwurzeln, tief, tief in der Erde.

Sie war tot.

Es war mir schon früher passiert. Zum ersten Mal mit dreizehn. Ich spürte es, wenn irgendwo schreckliche Dinge geschehen waren. Nur dass ich nie wusste, wann die Dinge geschehen waren. Vielleicht stand ich über den Resten eines Massengrabs aus dem Dreißigjährigen Krieg. Oder ich stand über den Resten eines Tieres, das jemand erst gestern dort getötet hatte. Ich konnte den Unterschied nicht fühlen. Ich fühlte nur die Angst der Opfer, und manchmal hörte ich etwas; einen Schrei, ein Wispern, ein Wimmern – für Sekunden. Wenn ich es jemandem erzählt hätte, hätten sie mich zum Psychologen geschleift.

Ich stand eine Weile da, den Spiegel in der Hand, und schluckte.

Ich hatte die Kleider des Mädchens gesehen. Nur flüchtig und nur ein Stück des Oberteils, aber das hatte gereicht. Dieses Oberteil hatte ich selbst im Schrank. Das Mädchen, das hier in der Erde lag, tief unter meinen Füßen, hatte vor kurzem noch gelebt.

Ich ließ den Spiegel los und rannte durch den Wald, weg von dem Spiegel, weg von der Erde, unter der das Mädchen begraben lag.

Der Wald ist, um ehrlich zu sein, gar kein Wald. Er ist ein Stadtpark. Aber er ist riesig, und ich denke an ihn lieber als einen Wald. Meinen Wald. Beim alten Herrenhaus am Eingang des Parks gehen im Sommer eine Menge Leute auf breiten Kieswegen spazieren, aber in die Wildnis im hinteren Teil kommt niemand außer mir.

Als ich das Tor erreichte, blieb ich stehen und versuchte, zu Atem zu kommen.

In der Erde meines Waldes lag ein totes Mädchen, und an dem Baum über ihrem Grab hing ein Spiegel, und all dies bedeutete irgendetwas. Ich ging langsam nach Hause, durch die Straßen der Stadt, vorbei an den tristgrauen Häusern voller Menschen, die keine seltsamen Visionen hatten. Ich beneidete sie.

Im Garten schräg gegenüber unseres Mietshauses stand der Mann mit dem weißen Haar, der stets dort stand. Er hatte sich auf einen Spaten gestützt und sah mich an, und ich fragte mich, was er im November für Gartenarbeit machte, wenn doch nichts wuchs. Sein Haar ist weiß wie Papier, und sein Blick durchbohrt einen wie ein kalter Metallspieß. Ich habe ein wenig Angst vor ihm.

 

Zu Hause lag hinter der Tür ein Brief.

Er war lautlos durch den Postschlitz gefallen und trug keine Briefmarke. Ein Brief mit meinem Namen. Hannah Eibenstein. Kein besonders besonderer Name.

Aus irgendeinem Grund war ich froh, dass ich vor meinen Eltern zu Hause war und sie den Brief nicht sahen. Ich nahm ihn mit in mein Zimmer hinauf und setzte mich damit auf das breite Fensterbrett, wo ich sonst meine Bücher las. Unten, hinter den grauen Nachbarhäusern lag der Wald.

In dem Umschlag war ein einzelnes Blatt Papier. Die Bücher, die überall im Zimmer standen und lagen, sahen mir zu, wie ich es herausnahm.

Mir gegenüber saß Yonix. Als ich sehr klein war, hatte er glitzernde Flügel besessen und war mit mir durch den Garten getanzt, aber jetzt, wo ich fünfzehn war, sah er mehr aus wie ein Zwischending zwischen Baum und Mensch. Um es gleich vorwegzunehmen, es gab keinen Yonix. Aber jeder braucht jemanden, mit dem er reden kann, oder nicht?

«Lies!», flüsterte er.

Hannah, las ich.

wie soll ich diesen Brief beginnen? Alle Anfänge sind verkehrt.

Beginnen wir mit dem Wald. Es ist kein Wald, es ist ein Park, aber ich denke an ihn lieber als an einen Wald. Meinen Wald. Und deinen Wald.

Ich beobachte dich seit langem, wie du im Licht zwischen den Bäumen umhergehst, immer allein, und wie du in den Schatten stehen bleibst, um zu sehen und zu lauschen. Aber mich hast du nie gesehen oder gehört.

Hannah. Du bist so schön.

Ich glaube, die meisten Menschen wissen das gar nicht.

Wenn ich dich beobachte, sehne ich mich oft danach, mehr zu sehen, meine Blicke tasten durch deine Kleidung bis hinunter auf den Grund der Schönheit. Ich dachte, du solltest das wissen.

Welten trennen uns. Du bist so jung, viel jünger als ich.

Aber seit der Herbst in den Wald gekommen ist, ist mein Sehnen stärker geworden, und vielleicht halte ich es eines Tages nicht mehr aus. Vielleicht wird etwas geschehen.

Ich ließ den Brief sinken. Es gab keine Unterschrift.

«Du bist so jung», flüsterte ich. «Viel jünger als ich.»

Und auf einmal fröstelte ich. Unten konnte ich die Straße sehen, novembergrau. Und ich sah den Garten, in dem sich der Mann mit dem papierweißen Haar noch immer auf seinen Spaten stützte. Er hielt eine verwelkte Rose zwischen den Fingern. Dann warf er sie fort, schulterte den Spaten und ging davon. Er sah aus wie ein Totengräber auf dem Weg zu einem Begräbnis.

Ich steckte den Brief zurück in den Umschlag. Dann warf ich ihn in den Papierkorb.

«Du glaubst, er hat ihn geschrieben?», fragte Yonix, der noch immer im Fenster saß, die astartigen Arme um seinen knorrigen Körper geschlungen.

«Natürlich», flüsterte ich. «Yonix, was soll ich tun? Nie mehr in den Wald gehen? Aber ich liebe den Wald.»

«Und der Verfasser des Briefes liebt dich. Wolltest du nicht immer geliebt werden?»

«Schon», sagte ich. «Aber nicht so.»

 

Ich dachte, dass ich meinen Eltern von dem Brief erzählen sollte. Wir saßen beim Abendbrot wie immer, und meine Eltern unterhielten sich wie immer. Meine Mutter erzählte von ihrem Schultag, sie ist Lehrerin für Grundschüler, und mein Vater erzählte von seinen Hobbyschützenfreunden, und ich dachte, dass es wohl zu den langweiligsten Hobbys überhaupt gehört, auf Schießscheiben zu zielen. Ab und zu versuchten sie, mir Fragen zu stellen, damit ich etwas sagte. Aber mir fallen nie die richtigen Worte und Sätze ein. Eigentlich unterhalte ich mich vor allem mit Yonix und den Figuren in meinen Büchern.

Ich sagte nichts über den Brief.

Und nichts über den Spiegel.

Und nichts über das Mädchen, das im Wald in der Erde lag und so viel Angst in ihren Augen gehabt hatte.

Ich holte den Brief wieder aus dem Papierkorb, ehe ich schlafen ging, und legte ihn unter meine Matratze. Es ist ja wahr, ich wollte geliebt werden. Jeder will geliebt werden.

 

Ich träumte von dem Mädchen im Wald, dem Mädchen mit den schwarzen Locken. Ich sah sie zwischen den Bäumen stehen. Und dann rannte sie, ganz plötzlich. Ich sah sie über eine Wurzel stolpern. Ich sah sie fallen. Ich sah ihren Versuch, sich aufzurappeln. Und dann hörte ich ihren Schrei, einen Todesschrei, und ich wachte auf und saß lange im Dunkeln in meinem Bett und zitterte.

 

Am Morgen stellte ich mich nackt vor den Spiegel im Bad. Der Mann mit dem papierweißen Haar hatte recht. Ich war schön. Ich war blass, ich war dünn und unter meinen Augen lagen stets Schattenringe, stumme Zeugen all der Nächte, in denen ich Bücher las, statt zu schlafen. Aber vielleicht machte gerade das die Schönheit aus, das zu Blasse, zu Dünne, zu Schattige. Ich hauchte einen Kuss auf den Spiegel und fühlte etwas Seltsames durch mich hindurchkribbeln. Etwas wie eine Erwartung. Der Traum der Nacht drängte sich in mein Bewusstsein, und ich drängte ihn wieder fort. Es war nur ein Traum. Ich war schön.

 

Im Schulbus versuchte ich, mein Spiegelbild auf der Scheibe zu sehen. Ich saß allein. An der ersten Haltestelle nach meiner stieg Christer Berg ein. Wie immer. Und ich wollte etwas zu ihm sagen. Wie immer. «Hallo» oder etwas in der Art. Aber ich sagte nichts. Wie immer.

Christer ging nach hinten durch und setzte sich in die letzte Reihe. Er war vor einem halben Jahr in unser Stadtviertel gezogen; wir gingen auf dieselbe Schule. Aber er ging in die Abiturklasse. Er hatte mich nie bemerkt.

«Dies wäre ein guter Tag, um es zuzugeben», sagte Yonix neben mir.

«Psst», zischte ich, aber dann fiel mir ein, dass es Yonix ja nicht gab und ihn deshalb auch keiner hören konnte.

«Also?», fragte Yonix lauernd.

Ich sah aus dem Fenster. «Gut», wisperte ich. «Ich bin verliebt. Genau wie der alte Mann. Jeder will geliebt werden, und jeder liebt. Ich bin verliebt in Christer Berg. Aber es ändert nichts, dass ich es zugebe.»

Ich sah mich ganz kurz nach hinten um. Da saß Christer, er las ein Buch und strich sich ab und zu die blonden Haare aus dem Gesicht. Ich kenne nicht viele Jungen, die Bücher lesen. Dafür kenne ich ziemlich viele Mädchen, die in Christer Berg verliebt sind.

«Aber du, du bist schön», flüsterte Yonix.

«Das wird er nie bemerken», wisperte ich. «Es ist eine verborgene Schönheit. Die anderen sind geschminkt und haben mehr Busen. Die bemerkt man eher.»

 

Ich erzählte Marlene von dem Brief. In Deutsch, wo sowieso nie jemand aufpasst. Marlenes wimperngetuschte Augen wurden groß, während ich erzählte.

«Wenn dieser alte Mann im Wald herumlungert, darfst du da nicht mehr hingehen, Hannah», wisperte sie.

«Aber ich muss herausfinden, was geschehen ist», wisperte ich zurück. «Es ist nämlich noch etwas passiert.» Und ich erzählte ihr von dem Spiegel, und ihre rosa nachgezogenen Lippen wurden furchtsam.

«Du bist dir sicher, dass da ein totes Mädchen liegt?»

«Natürlich bin ich sicher.»

«Hannah …», flüsterte Marlene. «Wenn sie verschwunden ist … dann muss etwas darüber in der Zeitung gestanden haben. Und das ist alles im Netz, oder? Wir könnten nachsehen.»

Ich nickte. Aber die Vorstellung gefiel mir nicht. In den Büchern, die ich lese, gibt es keine Computer.

 

Als ich nach der letzten Stunde zum Bus ging, sah ich, dass Marlene mit den anderen sprach, und ich wusste, dass sie über mich sprachen, denn ein paar von ihnen sahen zu mir herüber. Marlene hatte ihnen von meinem Brief erzählt und von dem Spiegel. Irgendwie hatte ich geglaubt, sie würde die Sache für sich behalten. Die Blicke, mit denen die geschminkten Gesichter der anderen mir nachsahen, waren ungewohnt. Sie waren … interessiert.

Bisher hatten sich die anderen nie für mich interessiert. Ich stand in den Pausen alleine herum. Seit Jahren. Meine Freunde waren die Bücher. Nur mit Marlene sprach ich manchmal, weil ich sie schon seit dem Kindergarten kannte.

Ich schüttelte die interessierten Blicke der anderen ab. Ich musste in den Wald. Trotz meiner Angst.

Ich musste begreifen, warum der Spiegel dort hing. Er war vor ein paar Tagen noch nicht dort gewesen, auch wenn das Mädchen sicher schon länger unter der Erde lag. Jemand hatte – vor kurzem – diesen Spiegel aufgehängt, um … um was?

«Um dir etwas zu sagen», flüsterte Yonix neben mir. «Das denkst du doch.»

«Ich weiß nicht genau, was ich denke», sagte ich und trat durch das schmiedeeiserne Tor.

Ich ging die breiten Kieswege entlang. Und verließ sie.

Und war wieder dort, wo die Bäume dicht standen. Und hatte Angst.

Aber in mir kribbelte es wie morgens vor dem Spiegel, als ich bemerkt hatte, dass ich wirklich schön war. Vielleicht wollte ich Angst haben. Ich wollte, dass wirklich etwas geschah. Dieses eine Mal. Bisher waren die Dinge nur in Büchern geschehen.

Ich fand den Baum mit dem Spiegel erst nach einer Weile wieder. Aber die Sonne schien ins Novembergrau und machte den Wald freundlich, und im Spiegel war nur das Nachmittagslicht, war nur mein eigenes Gesicht. Ich wanderte weiter durch den Wald, meinen wunderbaren Sonnenlichtwald, und spürte die Blicke eines versteckten Beobachters auf meiner Haut. Ich ging gerader als sonst.

Wenn ich mich umdrehte, war niemand da. Aber der Wald war voller Winkel und Nischen und Zwischenräume, in denen der Beobachter sein konnte. Das lange Herbstgras zwischen den Bäumen und dem Gestrüpp war blond wie Christer Bergs Haare. In meinem Kopf schrieb ich eine Geschichte über ihn und mich, eine Geschichte darüber, wie wir uns eines Tags zufällig trafen, an einem völlig absurden Ort, und wie wir miteinander sprachen und darüber lachten, dass wir nie zuvor miteinander gesprochen hatten.

Dann blinkte das Licht durch die Bäume, ein gleißend weißes Licht, das ich kannte: der Spiegel. Nein. Noch ein Spiegel. Klein und rund wie der erste, aufgehängt an einem Ast nahe beim Stamm. Meine Finger waren eisig, als ich ihn nahm und hineinsah. Da waren meine unscheinbaren braunen Haare, da waren meine unscheinbaren wasserblauen Augen, mein blasses, schmales Gesicht – da war meine ganze verborgene Schönheit.

Aber die Augen waren braun. Das Haar war kurz und weißblond.

Ich sah in das Gesicht eines anderen Mädchens, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt so wie ich.

«Wer … wer bist du?», flüsterte ich.

Das andere Mädchen starrte mir antwortlos entgegen, dann öffnete es die Lippen zu einem stummen Schrei. Ich ließ den Spiegel fallen. Er fiel natürlich nicht, er baumelte nur an einer Schnur hin und her wie ein Gehenkter. Unter meinen Füßen, ich wusste es, lag ein Mädchen mit kurzem weißblondem Haar und braunen Augen in der Erde. Ich ging ganz langsam rückwärts, Schritt für Schritt. Zwang mich, ruhig zu atmen. Drehte mich schließlich um und rannte, rannte durch den Wald, ohne darüber nachzudenken, wohin ich überhaupt rannte, und schließlich stolperte ich: Ich stolperte wie das Mädchen aus meinem Traum. Über eine Baumwurzel. Als ich mich aufrappelte, blinkte über mir noch ein Licht. Ein dritter Spiegel.

«Nein», hörte ich mich flüstern. «Nein, das ist … das ist zu viel an Zufällen … Und ich will nicht hineinsehen …» Aber ich musste hineinsehen, ich wusste es. Meine Hand zitterte, als ich sie hob. Es war nicht mehr neu und interessant, Angst zu haben.

Ich dachte wieder an Christer Berg, der mich nicht kannte, und an meine Eltern und an Marlene und an alle Leute, die mir überhaupt einfielen, so als könnten sie plötzlich erscheinen und mir helfen, wenn ich nur stark genug an sie dachte.

Im Spiegel war mein Gesicht. Schöner denn je. Im Spiegel war nicht mein Gesicht. Im Spiegel war das Gesicht eines Mädchens mit langem rotem Haar und einem Piercing in der Lippe. Ein blutiger Kratzer zog sich quer über ihre Wange, so als wäre sie vor etwas davongerannt und ein Ast hätte dabei ihre Haut aufgeritzt. Ich sah die Lippen des Mädchens Worte formen, die ich nicht hörte, sondern las: Bitte. Bitte nicht.

Dann rannte ich wieder. Ich wusste, ich würde noch mehr Spiegel finden, immer mehr, ich wusste, ich konnte ihnen nicht entkommen. Ich musste aufwachen. Dies war ein Traum. Ganz bestimmt. Ich rannte, bis ich nicht mehr konnte, und schließlich stützte ich mich an einen Baum, an dem nichts hing als dürre Herbstblätter, und versuchte, zu Atem zu kommen.

«Langsam, langsam», flüsterte Yonix. «Ordne deine Gedanken.»

Ich sah auf. Yonix saß auf einer Erhebung zwischen den Bäumen, etwas Felsigem, Moosbewachsenem, von Gestrüpp Überwuchertem. Ich brauchte einen Moment, ehe ich mich erinnerte. Der Fledermausbunker. Ich ging hinüber und berührte mit meiner Hand das Schild daneben, weil ein Schild etwas so Wirkliches und Unrätselhaftes ist, etwas Beruhigendes.

BETRETEN DES ALTEN BUNKERS VERBOTEN, stand auf dem Schild. SCHUTZORT FÜR FLEDERMÄUSE. Darunter gab es einen klein gedruckten Abschnitt, der über das Leben der Fledermäuse informierte, aber man konnte die Buchstaben schon seit langem nicht mehr lesen. Es kam sowieso nie einer her. Ich sah in die Dunkelheit des alten Bunkers. Als Kind war ich darin herumgekrochen, mit einer Taschenlampe, und hatte mir eingeredet, ich müsste mich vor bösen Mächten verstecken. Die Fledermäuse hingen in kleinen schwarzen Bündeln an der Decke wie zum Trocknen aufgehängtes Obst.

Es gab eine Tür, die stets einen Spaltbreit offen stand, ein uraltes Ding aus dicken Gitterstäben.

«Ein gutes Versteck, da unten», sagte Yonix. «Jetzt ist niemand dort. Das würdest du spüren. Aber das Versteck solltest du nicht vergessen.»

Ich kletterte auf den Bunker und setzte mich neben ihn. Ein wenig Sonnenlicht floss durch die beinahe kahlen Äste der Bäume und ließ mich ruhiger werden.

«Hast du mal in deine Jackentasche gesehen?», fragte Yonix.

«In meine …?» Ich griff in die Tasche – und zog einen Umschlag heraus. Einen weiteren Umschlag ohne Briefmarke.

Die Jacke hatte den ganzen Schulvormittag lang im Flur vor dem Klassenzimmer gehangen. Hatte der alte Mann es geschafft, mir etwas in die Tasche zu schieben, als ich vom Bus nach Hause gegangen war, an seinem Garten vorbei? Ich hatte ihn nicht einmal bemerkt.

Hannah,

ich weiß, es ist nur ein Tag vergangen seit meinem letzten Brief, und du hast mir nicht geantwortet. Wie solltest du? Du weißt nicht, wer ich bin. Aber mein Sehnen ist schon zu groß.

Dreh dieses Blatt um, Hannah. Ich bitte dich darum. Schreibe mir einen Ort und eine Zeit auf die Rückseite, und ich werde kommen. Hab keine Angst. Ich will nur mit dir sprechen. Vielleicht nicht einmal das. Vielleicht will ich nur neben dir einen Weg entlanggehen. Und vielleicht bist du es, die mir etwas zu erzählen hat. Ich werde so lange zuhören, wie du möchtest.

Hannah! Beschwere deinen Brief mit einem Stein und leg ihn auf die Treppe des Herrenhauses. Niemand außer mir wird ihn finden.

«Das tust du doch nicht», sagte Yonix und lächelte.

«Natürlich nicht», sagte ich. «Denkst du, ich bin so verrückt, dass ich mich mit einem komischen weißhaarigen … Spanner treffe?»

Ich zog meine Jacke wieder an, frierend, steckte den Brief ein und ging zurück durch meinen Park-Wald.

 

Vier Tage lang schaffte ich es, nichts zu tun. Ich ging nicht in den Wald. Ich fuhr morgens mit dem Bus zur Schule und las und sah Christer Berg ebenfalls lesen. Ich verbannte den Wunsch nach etwas, das in der Realität geschah, aus meinen Gedanken. Ich versuchte, die Briefe und die Spiegel zu vergessen. All das war zu gefährlich.

Nur manchmal, wenn ich die anderen Mädchen in der Pause zusammenstehen sah und nicht bei ihnen stand, dann dachte ich ganz leise für mich: Ich bin schön. Einen gibt es, der das weiß.

Am fünften Tag sah ich Christer nach der Schule mit einem Mädchen aus meiner Klasse reden. Er hielt das Buch in der Hand, das er zurzeit las. Ich glaube, sie sprachen über das Buch. Aber ich sah ihren Augenaufschlag und ihre kleine, zierliche Hand auf seinem Arm und wusste: Bücher interessierten sie einen Dreck. Ich mochte die Art nicht, wie Christer sie ansah. Als interessierten ihn Bücher auch nicht mehr so sehr, wenn er diese Hand auf seinem Arm spürte.

 

An diesem Tag lag wieder ein Brief für mich im Flur.

«Du hast Post», sagte meine Mutter.

Sie blieb stehen, während ich den Umschlag mit dem Zeigefinger aufriss – ich meine, ich hätte nach oben in mein Zimmer gehen können, aber es hätte so geheimniskrämerisch ausgesehen, und deshalb dachte ich, es ist besser, ich öffne ihn jetzt und tu dann so, als wäre es eine Geburtstagseinladung oder sonst etwas.

Auf dem Blatt, das ich aus dem Umschlag zog, stand nur ein einziges Wort.

BITTE.

«Das ist aber ein seltsamer Brief», sagte meine Mutter, die mitgelesen hatte.

«Irgendein Spinner», sagte ich und warf den Brief in den Papierkorb.

Meine Mutter machte ein besorgtes Gesicht. Ich sah mein Spiegelbild schemenhaft hinter ihr in der blanken Tür des kleinen grauen Schranks im Flur. Der kleine graue Schrank ist der Ort, an dem mein Vater seine Hobbyschützen-Hobbywaffen aufbewahrt, er ist immer abgeschlossen, aber ich weiß, wo der Schlüssel liegt. Ich dachte etwas, als ich mein Spiegelbild dort sah, aber es entglitt mir gleich wieder. Und ich sah den Spiegelschemen an und dachte: Ich bin schön.

Dann ging ich nach oben in mein Zimmer, holte den zweiten Brief unter der Matratze hervor, drehte ihn um und schrieb auf die Rückseite: HEUTE ABEND. NEUN UHR. GENAU HIER.

Ich rannte den ganzen Weg zum Park, legte den Brief auf die Treppe des Herrenhauses und beschwerte ihn mit einem Buch. Nicht mit einem Stein.

 

Nach dem Abendessen, um halb neun, rief ich Marlene an.

«Hör zu», sagte ich, «ich muss dir das sagen, falls … falls etwas passiert. Ich treffe mich mit dem Briefeschreiber. Er hat einen zweiten Brief geschrieben, und jetzt einen dritten. Und ich … ich habe dir das nicht gesagt, weil ich dachte, ich kann es einfach ignorieren, aber ich glaube, das kann ich nicht … Da sind mehr Spiegel an Bäumen.»

«Moment mal, Hannah», sagte Marlene. «Was genau … Kannst du das noch mal langsam erzählen?»

«Nein», sagte ich. «Ich muss los.»

 

Ich sagte meinen Eltern, ich würde noch ein Stück spazieren gehen. Mit fünfzehn kann man wohl um neun ein Stück spazieren gehen, in einem Stadtviertel voller alter Mietshäuser, wo niemals etwas geschieht.

Während ich über den Kies zum Gutshaus ging, dachte ich die ganze Zeit an Christer Berg und das Mädchen aus meiner Klasse, sie hieß Kirsten, mein Gott, Christer und Kirsten, das konnte man ja noch nicht mal aussprechen. Kirsten war einmal sitzengeblieben; sie war schon 16, und ihre Lippen waren sehr voll. Und sicherlich hatte sie Übung darin, mit diesen Lippen jemanden zu küssen. Ich brauchte den alten Mann an diesem Abend, damit er mir sagte, dass ich schön war. Damit er mir sagte, wie dumm Christer Berg war; zu dumm, um mich zu bemerken.

Ich sah schon von weitem, dass niemand bei der Treppe des Gutshauses war. Ich setzte mich auf die unterste Stufe und wartete. Die Straßenlaternen jenseits des schmiedeeisernen Zauns gossen ihr blasses Licht mit einem zögernden Flackern herüber, als wollten sie bald ganz verlöschen. Und dann kam eine Gestalt vom Tor her den breiten, geraden Weg entlang. Der alte Mann.

Aber je näher die Gestalt kam, desto weniger alt sah sie aus. Ich stand auf. Es war nicht der alte Mann. Und da stand die Gestalt vor mir.

«Christer», flüsterte ich.

Christer nickte. Er tat nichts, er stand einfach da und nickte. Und dann stand er nur noch da, als wüsste er genauso wenig wie ich, was nun zu tun war.

«Aber … in der Schule», flüsterte ich. «Kirsten … und … ich dachte, du hättest mich nie gesehen.»

Er zuckte nur die Schultern. Tatsächlich war er es, der keine Worte und Sätze fand. Vielleicht war es ihm peinlich, was er geschrieben hatte. Obwohl die Briefe jetzt, in anderem Zusammenhang, nicht mehr peinlich waren. Nicht mehr gruselig. Sie waren auf einmal … wunderbar. Und in dem Moment, in dem ich das dachte, liebte ich Christer Berg noch mehr, ich liebte ihn auch für seine plötzliche Schüchternheit; ich wurde weniger schüchtern, weil er schüchtern war, und ich hörte mich lachen. «Komm», sagte ich, «komm mit.»

Er folgte mir bis dorthin, wo die Bäume dicht wurden, und wir gingen gemeinsam die unsichtbaren Pfade des Waldes entlang.

«Warst du die ganze Zeit da?», wisperte ich. «Immer, wenn ich dachte, ich wäre alleine im Wald?»

«Oft», sagte er leise.

«Und warum … warum hast du nie einfach gesagt: Hallo, hier bin ich, ich mag diesen Wald auch, ich …»

Er zuckte wieder die Schultern. «Ich weiß nicht.»

Und dann standen wir vor dem Baum, an dem der erste Spiegel hing, den ich entdeckt hatte.

«Schau», flüsterte ich. «Schau dorthin. Was siehst du?»

«Einen Spiegel.»

«Er hängt dort, ja? Ich bilde ihn mir nicht ein?»

Er schüttelte den Kopf. Und da erzählte ich ihm flüsternd die Geschichte des Spiegels, und er hörte zu. Mein letztes Wort war, warum.

«Warum mussten sie sterben?», fragte ich. «Warum liegen sie hier, all diese Mädchen? Und warum hängen jetzt, plötzlich, die Spiegel dort, in denen ich mein eigenes Gesicht sehe? Warum?»

Da schlang Christer seine Arme um mich und hielt mich fest, und er sagte ganz leise, neben meinem Ohr: «Ich habe dir geschrieben, dass du schön bist. Das habe ich doch nicht vergessen, zu schreiben?»

«Nein», sagte ich. «Ich wusste es nicht, bis du es schriebst …»