Cover

Über dieses Buch

Der Dozent für Kommunikationswissenschaft, Anfang vierzig, erwacht verkatert in den Armen einer ehemaligen Studentin. Gleich ist Vorlesung, und er ist unvorbereitet. Eine geistesabwesend eingepackte John-Player-Special-Werbung und ein unterwegs gekauftes rohes Ei gebären die improvisatorische Meisterleistung »Vom Ei zu Gott«, einen Vortrag, in dem endlich geklärt wird, dass nicht das Huhn zuerst da war – und wer das kosmische Ei gelegt hat.

Ein Mann des Wortes. Er spinnt sich das Rettungsseil selbst, auf dem er über den Abgründen des Lebens und des Sinns balanciert. Auch die Protagonisten der anderen zwei Geschichten – andere Berufe, andere Altersstufen – erleben solche prekären Situationen, denen es mit großer Geste zu entrinnen gilt.

Drei mit hellem Witz erzählte Geschichten aus dem heutigen Brasilien. Drei Überlebenskünstler zwischen Italo Svevo und Woody Allen.

»Sérgio Sant’Annas Protagonisten sind Helden der Stadt Rio de Janeiro. Seine tragikomischen Lebensakrobaten laden zu wahrhaft kurzweiligen und atemberaubenden Abenteuern ein. In der Übersetzung von Frank Heibert sind diese Erzählungen ein echter Leckerbissen.« (Tagesspiegel)

Der Autor

Sérgio Sant’Anna, geboren 1941 in Rio de Janeiro, ist Autor von mehreren Romanen, Erzählbänden, Theaterstücken und Geschichten. Seine Schriftstellerkarriere begann in den sechziger Jahren mit der Gründung einer (später von der Militärdiktatur verbotenen) Zeitschrift für experimentelle Literatur; in den siebziger Jahren zählte er zur literarischen Avantgarde Brasiliens, die das Formexperiment mit dem revolutionären Engagement zu verbinden suchte. Sant’Anna war lange Dozent für Kommunikationswissenschaft an der Universität von Rio de Janeiro. Für seine Werke erhielt er mehrere brasilianische Literaturpreise, darunter 1986 den Prêmio Jabuti für »Amazone«.

Der Übersetzer

Frank Heibert, geb. 1960, übersetzt vor allem aus dem Englischen und Französischen, u. a. Don DeLillo, Richard Ford, Lorrie Moore, Tobias Wolff, Neil Labute und, zusammen mit Hinrich Schmidt-Henkel, Yasmina Reza. 2006 erschien sein erster Roman »Kombizangen«. 2012 erhielt er den Heinrich-Maria-Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis für sein Gesamtwerk.

Sérgio Sant’Anna
Das kosmische Ei

Drei Erzählungen

Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Frank Heibert

Edition diá

Inhalt

Kurze Geschichte des Geistes

Das kosmische Ei

Adieu

Impressum

Kurze Geschichte des Geistes

Für Tião Nunes und André

1

Es wurde Zeit, und Rosinha half mir dabei, mich in Gala zu werfen, wie es die Situation erforderte. Ich hatte mich schon rasiert, geduscht und Kaffee getrunken, ich stand in Unterhose und Hemd da, und Rosinha hielt mir die Hose des Anzugs hin – den sie selbst fein säuberlich gebügelt hatte –, damit ich, auf ihre Schulter gestützt, erst das eine und dann das andere Bein hineinsteckte.

Seit Neuestem versuchte ich ständig, meinen übersprudelnden Geist zu kontrollieren und wieder auf den Boden der Tatsachen zu kommen, genauer gesagt, seit ich in der Frauenzeitschrift, deren Mitarbeiterin Rosinha war, etwas über den Unterschied zwischen Einbildungskraft und Fantasie gelesen hatte. Während sich die Fantasie Ersatzschwärmereien hingibt, erlaubt die Einbildungskraft, Wirklichkeiten in Form von Werken zu erschaffen, wie es die Künstler tun. Hielt ich mich nicht in erster Linie für einen Künstler?

Doch, schon, allerdings ließ mich das Bild eines Toreros nicht los, den ich in einem Film gesehen hatte, mit allem Pomp für den tödlichen Kampf mit dem Stier gekleidet, dazu die musikalische Untermalung von Flamencogitarren und Kastagnetten. Ich bekam eine Gänsehaut.

Rosinha holte mich wieder in die Gegenwart zurück. Sie bat mich, ihr dabei zu helfen, den Knoten der Krawatte so zu binden, wie ihr Bruder es uns gestern gezeigt hatte, als wir uns den Anzug ausgeliehen hatten, alleine kriegte sie es nicht hin.

»Meinst du, die merken das nicht?«, fragte ich, während wir mich im Spiegel betrachteten. Ihr Bruder war kleiner und dicker als ich.

»Ach was, du Dussel, wer arbeitslos ist, hat doch kein Geld, um sich einen Anzug zu kaufen, oder? Außerdem sind die religiös, die müssen Verständnis zeigen.«

Tatsächlich war die Anzeige von einer Evangelistensekte aufgegeben worden, die Redakteure für ihre religiösen Heftchen suchte. Sie verlangten Gläubigkeit, ein ansprechendes Äußeres und Übung im Schreiben.

Ich hatte den Coupon eher ungläubig ausgefüllt, aber Rosinha schickte ihn mit der Post los, und nun war ich, per Telegramm, zu einem Test bestellt worden.

Ich spürte, wie meine Augen feucht wurden, das Wort Arbeitsloser hat für mich einen fast romantischen Beiklang, der das individuelle Scheitern in der kollektiven Krise aufgehen lässt. Außerdem verspürte ich den Impuls, Rosinha in die Arme zu schließen, Rosinha mit ihrem kleinen Viermonatsbauch, die wie ein stützender Pfeiler neben mir stand, bis sich ein Schatten zwischen uns drängte.

Dieser Schatten war nun eben Rosinhas Schwangerschaft, denn wäre sie nicht schwanger gewesen, hätten meine Buchrezensionen, ihre Artikel über psychologische Themen als freie Mitarbeiterin der Zeitschrift und die kleine Summe, die sie von ihren Eltern bekam, zum Leben ausgereicht. Außerdem hegte ich insgeheim die Hoffnung, bei Erzählungswettbewerben ein bisschen Geld zu verdienen. Nur drohten Rosinhas Eltern jetzt, ihr die monatliche Beihilfe zu streichen, falls sie nicht endlich heiratete; da konnte ich noch so viel erklären, dass wir gar kein Liebespaar waren, bloß Freunde, die sich eine Wohnung teilten, was doch bei der Wirtschaftskrise heutzutage etwas ganz Alltägliches war. »Ach so, und Freunde werden dann auch schwanger?«, fragte ihre Mutter zynisch am anderen Ende, in Três Corações. »Da zieht man mit all seiner Liebe ein Mädchen groß, bloß damit es dem Erstbesten in die Finger fällt«, klagte sie unter Schluchzern, bevor sie unvermittelt den Hörer aufknallte. Die Alte war völlig durcheinander.

»Der Erstbeste, das ist wirklich gut!«, sagte ich zu dem tauben Apparat in meiner Hand. Dabei war Rosinha sogar ein Jahr älter als ich.

Andererseits war meine Haltung der Abtreibung gegenüber zwiespältig. Die Initiative würde ich nie ergreifen.

»Na schön, in Gottes Namen«, sagte ich. Rosinha brachte mich noch zur Fahrstuhltür.

»Viel Glück, mein Schatz.« Sie umarmte mich.

»Geh wieder rein.« Ich befreite mich. »Du stehst im Nachthemd im Flur.«

Ich war spät dran. Der Fahrstuhl kam, es waren noch andere Leute drin, aber Rosinha hielt die Tür fest, auch als ich schon drinnen war.

»Achte auf deinen Stil, ja, Schatz?« Endlich ließ sie los und reckte als ermutigende Geste die geballte Faust.

Keine Ahnung, ob ich weiß vor Wut oder schamrot wurde. Meine zukünftige Frau hatte sich nicht nur zerzaust und im Negligé zur Schau gestellt, sie hatte auch noch den Finger auf meine empfindlichste Stelle gelegt, meine Stärke und Schwäche zugleich: den Stil, meine spasmodische Prosa, jedenfalls in den Erzählungen, in meinen Kritiken war ich dagegen streng, fast rigide, was mich stets dazu brachte, besagte Erzählungen zu zerreißen, kaum hatte ich einen ersten Entwurf begonnen. Ich hätte niemals zulassen dürfen, dass Rosinha auch nur eine davon las.

Ich starrte sie starr an, um dem Stil meiner Kritiken zu entsprechen.

»Adieu, Rosa«, sagte ich und versuchte, meinen Worten den Nachdruck eines wahrhaftigen Abschieds zu verleihen.

Rosinha sah mich eine Sekunde lang mit offenem Mund an. Ich hatte ihr die Verkleinerungsform entzogen. Ihre Antwort, als sie die Tür losließ, war ein höhnisches Lachen, vielleicht weil sie meine Angewohnheit, Wörter theatralisch einzusetzen, zur Genüge kannte, ob als Drama oder als Komödie oder als beides zugleich.

Ja, ich pflege meine Niederlagen in hochtrabende Phrasen zu verwandeln, und mit dem Hinuntersinken des Aufzugs dachte ich an den fortschreitenden, unaufhaltsamen Niedergang – an die Ideale, die eines nach dem anderen zusammengebrochen waren: Basketballspieler, Saxofonist, Jetpilot, Philosophiestudent an der Sorbonne, Globetrotter, Imker in Freiburg –, während ich Gedichte schrieb, konzis bis ins Mark. Und nun sollte ich schließlich auch nur einer der beschlipsten Typen werden, die zu dieser Morgenstunde im Fahrstuhl nach unten standen, starr über die jeweiligen Köpfe hinweg ins Nichts starrend, als würden die anderen nicht bemerken, dass mein Anzug gleichzeitig zu kurz und zu weit war, als hätten sie nicht meine Frau im Nachthemd und in voller Fahrt erlebt. Die mussten doch alle finden, dass sie verrückt war. Ich fand, dass sie verrückt war.

Die Helligkeit der Straße verschaffte mir einen noch größeren Anfall von Erleuchtung. Rosas überraschende Wandlung von der Busenfreundin zur Gattin und heißen Geliebten – warme Frühstückseier, Orangensäfte, gebügelte Wäsche und lüstern-lustvolle Schwanzlutschereien, ganz zu schweigen von ihrer ausgekochten Verführungstaktik, wie sie mir eines Abends plötzlich erlaubte, was sie mir bis dahin immer verweigert hatte, selbst wenn ich beim Fernsehen meinen Kopf auf ihren Schoß legen durfte oder sie vor meinen Augen Kleider anprobierte, in denen sie ihren Geliebten empfangen wollte –, all das war nichts anderes als die Heuchelei und Perfidie einer Frau, deren einziges, kaltes und unerschütterliches Ziel darin bestand, ein Kind mit Vater zu bekommen.

Jetzt war ich an der Reihe mit meinem Hohngelächter. Die Leute an der Bushaltestelle beäugten mich argwöhnisch und furchtsam. Gerade war mir ein teuflischer Plan eingefallen: Ich würde den Test boykottieren, auf Verlust spielen, und Rosa oder Rosinha sollte sehen, wie sie mit ihrem Kind klarkam: »Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen; sie arbeiten nicht, sie spinnen nicht«, hatte das nicht Jesus Christus höchstselbst gesagt?

Ob sich das auch auf Protestanten anwenden ließ?

Doch wenn ich jetzt die Prüfung sabotieren wollte, wozu mir über die Position der Protestanten den Kopf zerbrechen? Um ihr zu widersprechen vielleicht? Ja, aber nur vielleicht.

Denn der Mensch ist ein gespaltenes Wesen, und jeder Gedanke bringt zeitgleich sein Gegenteil hervor. Vielleicht ist es aus diesem Grunde so schwierig, nicht vom rechten Weg abzukommen. Die ganze Zeit, seit dem Fahrstuhl, hatte ich unterschwellig an den Namen Rosa gedacht, bis heute verhüllt von einem Diminutiv. Doch hatte mich nicht von Anfang an die wörtliche Wucht seiner versteckten Bedeutung angezogen, verborgen in einem Kelch aus Rosenblättern, auf den ich mein Begehren richtete?

Wohl mochten die Worte mir oft mit dem Schwanken der Trunkenheit entströmen; doch ebenso konnten sie eine geradezu fleischliche Materialität annehmen, weit über die nutzorientierte Kommunikation hinaus. Und in einem Augenblick der Besessenheit und des Überschwangs, wie ich ihn nun erlebte, tauchte Rosas Heimatstadt Três Corações schlaglichtartig auf meinem persönlichen Atlas auf, drei pulsierende, herzförmige Hügel: meines, Rosas und das des Kindes!

Zu diesem Zeitpunkt war ich schon in den Bus gestiegen und hatte mich genau vor ein Plakat gesetzt, das auf der Trennwand zum Fahrersitz klebte. Darauf priesen die Spieler Jorginho, Silas und Dida, die ersten beiden Mitglieder der Nationalmannschaft, aber alle drei Sportler Christi, die Glaubensfibel Kraft zum Leben an. Den Miller hatten sie, nachdem er sich einen Ohrring ins Ohr gesteckt und eine vom Fernsehballett geheiratet hatte, aus dieser Gruppe geworfen, aber nicht aus der Nationalmannschaft.

Wie jeder, der regelmäßig mit dem Bus fuhr, hatte ich das Plakat schon tausendmal gesehen, aber war es heute nicht wie eine Warnung, ein Ruf, ein Zeichen? Und plötzlich hatte ich ein Gefühl, als wären all die anderen meine Brüder, gemeinsam mit mir aufgebrochen in das Abenteuer des Alltags, am Anfang einer wahrhaften Epopöe, durchdrungen von der Kraft zum Leben.

Bei jeder Haltestelle füllte sich der Bus weiter mit gedankenverlorenen Passagieren, denen die Sorge, ja das Leiden ins Gesicht geschrieben stand. Zur vorderen Tür kamen, ohne zu bezahlen, Oberschüler in Uniform herein, die einigen Älteren mit Seniorenkarte lautstark den Vortritt streitig machten. Der Fahrer startete, bevor seine Fahrgäste noch richtig eingestiegen waren, und bremste abrupt, damit die Stehenden weiter zusammenrückten. Aus der Tiefe des Busses drang das Getöse eines Disputs am Drehkreuz um Münzen mit rein nostalgischem Wert. Ich schaute nach hinten und sah hinter den Streitenden, dem Schaffner und einer dicken Frau, dass sich an beide Enden der hintersten Bank jeweils ein bedrohlich aussehender Halbstarker gesetzt hatte, wahrscheinlich in todschicken Turnschuhen, mit dem idealen Profil eines Taschendiebs.

Menschsein ist, wie ich schon sagte, ein prekärer Zustand. Und ich, ganz besonders ich kann in Sekundenbruchteilen vom plötzlichen Enthusiasmus in unendliche Traurigkeit verfallen.

Ich hob instinktiv den Arm, um an der Schnur des Haltesignals zu ziehen. Ich wollte nur noch aussteigen und zurück nach Hause. Wohl nicht mehr in jenes Heim, das ich mit Rosa oder Rosinha bewohnte, vielmehr in das andere, in der Vergangenheit verlorene, wo ich nicht der Vater, sondern der Sohn war, vielleicht unter dem Schutz des Dritten, des Geistes.

Ich kam aber nicht dazu, denn der Bus hatte gerade die Grenze von Catete nach Glória überquert. Nicht dass der Name des neuen Viertels sich vor meinen Augen in die Wortwörtlichkeit seiner erhabensten Bedeutung verwandelte. Es lag auch nicht daran, dass mein Blick endlich aufs Meer fiel. Die azurne Weite des Ozeans machte lediglich die Berührung meiner Haut durch den dunklen Anzug noch bitterer, der mich umschloss wie ein Sarg, auch wenn auf seinen Deckel das Kreuz Christi eingraviert werden sollte.

Und erst recht nicht, weil ich etwa geglaubt hätte, in den Beeten des Glória-Parks Rosen und Lilien auszumachen. Wohl eher, weil ich zwischen all den Blumen zerlumpte Männer, Frauen und Kinder im Endstadium des Elends erkennen konnte.

Vor allem einer der Bettler heftete, so schien mir, seine zuvor auf einen leeren Horizont fixierten Augen auf mich, als wollte er mich warnen, dass ich dort enden könne, falls ich die Prüfung nicht bestünde. Und die drei pulsierenden, herzförmigen Hügel drohten sich zu einer Wiese aufzulösen, auf der wir uns ausstrecken würden, ich, Rosa und das Kind.

Da offenbarte sich mir das Gleichnis von den Lilien des Feldes in ganzer Fülle als das, was es vermutlich war: eine dichterische Freiheit Christi, eine literarische Jugendsünde.

Der Bus näherte sich dem Stadtzentrum, und ich lenkte meinen Blick wieder auf das Plakat. Ich rief Jorginho, Silas und Dida an und machte mich bereit, ins Feld zu ziehen, mit ihrem dreieinigen Schwung.

2

Das Gebäude war düster; der Aufzug quietschte; der Fahrstuhlführer ein Wrack. Na schön, vielleicht war nicht alles ganz so, vielleicht handelte es sich um Übertreibung, angeborene Melancholie, subjektive Einfärbung der Umwelt. Unterm Strich: eine Frage des Stils.

»Um die Menschen an das Wort heranzuführen, muss man über einen klaren Kopf verfügen«, mahnte uns Bruder Romualdo, als hätte er meinen Gedankengang mitverfolgt. Und aus genau diesem Grund sollte der Test aus einem kleinen Aufsatz bestehen, dessen Thema an der Tafel stand: »Wer bin ich?«

Mit Krawatte, aber ohne Jackett über dem weißen kurzärmligen Hemd, war Bruder Romualdo eine saubere, joviale Erscheinung, die Glaube, Zuversicht und Energie ausstrahlte. Ich hatte im Leben noch kein so glatt rasiertes Gesicht gesehen.

Während er sprach, ruhte Bruder Romualdos linke Hand, an der ein Trauring zu sehen war, auf der Schulter von Schwester Marly, die an einem Lehrerpult saß und ebenfalls einen Trauring am linken Ringfinger trug. Es fiel mir schwer zu glauben, dass sie miteinander verheiratet waren, zumindest im fleischlichen Sinne, vielleicht weil Schwester Marly sich so züchtig gab und die Augen nicht von ihren auf dem Pult ausgebreiteten Händen hob. An der Wand hinter ihr hing eine grüne Tafel, darauf in sorgfältiger Handschrift jene fundamentale Frage.

Wir waren fünf Kandidaten im Raum und besetzten die Hälfte der Tische: ein dünner, blässlicher Junge mit Brille, spärlichem Bart und Polohemd; eine noch junge Frau, ziemlich hübsch, ziemlich blond, Ponyfrisur und Brille mit dünnem Gestell, möglicherweise ohne Dioptrien, das Auftreten einer Sekretärin oder Telefonistin, aber in einem Rock, der einer Oberschülerin besser angestanden hätte und, als sie sich setzte, die Hälfte der Beine im Freien ließ; ein Mann von schätzungsweise fünfunddreißig Jahren, dunkel, stämmig, ordentlich gekämmtes Haar und Schnauzbart und, mit der Lässigkeit eines Verkäufers, in einem Anzug von der Stange; ein schweigsamer Herr mit vielen Runzeln im Gesicht, so verbraucht wie das Jackett, das er ohne Schlips trug, mit wenigen, gräulichen Haaren, und mit äußerster Konzentration auf Bruder Romualdo starrend – und schließlich ich selbst.

Wer den Test bestehe, erläuterte Bruder Romualdo, werde per Telegramm zu einem Gespräch bestellt, bei dem andere Fragen erörtert würden, darunter auch solche finanzieller Art. »Denn schließlich ist das Wort nicht alles.« An dieser Stelle lachte er, und wir merkten, dass wir auch lachen sollten, der Satz war offenbar als Scherz aufzufassen.

In Anbetracht der Wirtschaftslage hatte ich mit einer Vielzahl von Anwärtern gerechnet, die auf die Anzeige antworteten, und fragte mich gerade, ob ich nicht irgendeiner Sache auf den Leim gegangen war, als Bruder Romualdo diesen Punkt aufklärte:

»Wir rufen Sie in kleinen Gruppen zusammen, um Sie besser kennenzulernen. Reverend Masterson, unser Vorsitzender, pflegt zu sagen, dass dem sauberen und aufrichtigen Wort ein reiner Blick, ein reines Lächeln entsprechen. Und ich glaube, er hat recht.«

In diesem Augenblick schenkte uns Schwester Marly ein reines Lächeln aus ihren schwarzen Augen – das wir zu erwidern suchten –, eigens für uns, zur Veranschaulichung. Sie wirkte wie eingerahmt hinter ihrem Tisch, man konnte sie auf ihre Weise sogar als schön bezeichnen, mit ihrem heiteren Gesicht ohne jede Schminke, ihrem langen Hals, der einen träumerischen, sensiblen Menschen an Modigliani denken ließe. Daran hing ein Goldkettchen, das bis unter die weiße Bluse reichte, auf die ihr Name gestickt war, und bestimmt ein Kreuz hielt, das zwischen ihren Brüsten ruhte. Ob das der Grund dafür war – oder weil sie einen Christen zum Mann hatte? –, dass Schwester Marly nicht nur auf den ersten Blick selbstlose Liebe ausstrahlte, sondern eine Aura milder und respektvoller Sinnlichkeit, untrennbar verbunden mit einer gewissen moralischen Verhaltung? Ich konnte nicht umhin, an Rosinha zu denken, als Kontrast. Und als Bruder Romualdo uns mitteilte, er werde sich im Nebenraum seinen Aufgaben widmen und uns der Obhut von Schwester Marly überlassen, da war ich glücklich. Nicht dass irgendetwas mit Bruder Romualdo grundsätzlich nicht gestimmt hätte – doch wie er so dastand, mit seinem Namensschildchen am Hemd statt einer Stickerei, verströmte er eher Pragmatismus, das weltliche Antlitz ihrer Kirche, ganz gleich, welche es nun war.

Als Schwester Marly aber, die Blätter Kanzleipapier in den Händen, aufstand und errötete, erlitt ich fast einen Schock und begriff den Grund für ihr Erröten augenblicklich. Sie war schwanger, ungefähr im selben Monat wie Rosinha.

»Wer bin ich?«, fragte sie mit bebender Stimme und wandte den Blick ab, zur Tafel. »Sie haben fünfzig Minuten, um darauf zu antworten. Irgendwelche Fragen?«

Ungewollt dachte ich an Verführung Minderjähriger, weiße Sklavinnen, Hypnotismus, denn bei genauerem Hinsehen konnte Schwester Marly nicht älter als zwanzig sein, Bruder Romualdo dagegen war um die vierzig. Oder war diese Schwangerschaft vielleicht eine weitere Warnung an mich, ein Ruf, ein Zeichen?

In diesem Moment hob der grauhaarige Mann die Hand und stellte, mit portugiesischem Akzent und tief besorgter Miene, die unglaubliche Frage:

»Möchte die Dame wissen, wer ich bin, oder wer sie selbst ist?«

Diesmal lachten wir spontan los, abgesehen von Schwester Marly und der jungen Frau mit Pony, die gar noch zu helfen versuchte, wenn auch leicht verunsichert:

»Wer Sie sind … glaube ich.«

»Ich?«, fragte er ungläubig, als könnte er nicht glauben, dass er jemand sei.

Schwester Marly warf einen Hilfe suchenden Blick zu der angelehnten Tür, wo Bruder Romualdo noch stand und uns mit kritischem Gesichtsausdruck musterte. Er kehrte mit dem Gewicht seiner ganzen Person ins Zimmer zurück.

»Wer seid ihr?«, rief er in oratorischem Ton aus, als predigte er von einer Kanzel. »Woher kommt ihr, wohin geht ihr, was habt ihr bis zum heutigen Tage aus eurem Leben gemacht?« Er lächelte gütig. »Noch irgendwelche Unklarheiten? Nein? Dann Ihnen allen viel Glück.«

Bruder Romualdo ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.