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Michael Zeller

Die Reise nach Samosch

Roman · ars vivendi

Der Autor dankt dem Land Nordrhein-Westfalen, das
ihn bei der Arbeit an diesem Buch unterstützt hat.

Originalausgabe

Erste Auflage 2003
© 2003 by ars vivendi verlag GmbH &Co. KG,
Cadolzburg
Alle Rechte vorbehalten
www.arsvivendi.com

Umschlaggestaltung: Berit Hüttinger

ISBN 3-89716-374-8
eISBN 978-3-8691-3601-1

Die Reise nach Samosch

Inhalt

I Erikas Tagebuch

II Hühnergötter

III Köbi Landolf und die anderen

IV Hell. Dunkel. Hell

V Basti und Bascha

I ERIKAS TAGEBUCH

Rauen, den 27. Mai 1940

Heute will ich nun mein Tagebuch beginnen, das ich zu meiner großen Freude an meinem 16. Geburtstag als Geschenk bekam. Am 26.3. habe ich mein Abschlußzeugnis der Mittelschule erhalten.

28. Mai 40

Heute hatten wir großen Waschtag. Ich habe aber mit Irmgard den Laden und die Küche gescheuert. Dann mußten wir Mittag kochen. Unsere tapferen Soldaten haben gestern Calais eingenommen, wie eine Sondermeldung bekanntgab, und heute hat die belgische Armee auf Befehl des Königs die Waffen niedergelegt. Wir haben bei dieser Nachricht alle aufgeatmet, denn das ist für unsere Soldaten bestimmt wieder eine Erleichterung, obgleich wir auch mit weiterem Bestehen der Belgier siegen werden.

19.6.40

Ich gehe jetzt oft ins Kino, schon der Wochenschau wegen. Sie ist aber auch fabelhaft.

22.6.40

Mit den Soldaten kann man schon etwas erleben. Aber warum soll man nicht alles von der lustigen Seite betrachten, der Ernst des Lebens beginnt noch früh genug.

Rauen, 24. Januar 1944

Drei Jahre sind vergangen, mein Tagebuch habe ich lange ruhen lassen. Heute will ich anfangen, diese Zeit, in der ich viel erlebt habe und die mich zu einem anderen Menschen gemacht hat, meinen Blättern anzuvertrauen. Es wird für mich nicht immer ganz leicht sein, noch einmal das alles vor mir erstehen zu lassen, doch es hat sich so tief in meinem Gedächtnis eingeprägt, daß ich es versuchen möchte. –

Es ist totenstill um mich her. Wie tut die Ruhe wohl! Wie andächtig stimmt das tiefe Schweigen. Ich will diese Blätter ganz mit der Vergangenheit füllen, mir alles Leid völlig von der Seele herunterschreiben, dann einen Strich darunter setzen, neue Blätter und ein neues Leben anfangen.

Im Sommer 1940 habe ich aufgehört zu schreiben, vielleicht weil das, was ich bis dahin erlebte, mir nicht großartig genug erschien, es in meinem Buch festzuhalten. Heute weiß ich, wie töricht das war, gerade Eindrükke, Begebenheiten, die einem so gering erscheinen, sind oftmals bedeutend und ausschlaggebend für das ganze weitere Leben. –

Mit der Musik möchte ich beginnen, ich liebe sie über alles, sie ist das Leben selbst für mich mit allen Schönheiten, allem Glück und auch allen Schmerzen. Sie ist für mich Andacht, Sehnsucht, ja Gott selbst. Es ist seltsam, wie weit Töne in mich hineinreichen und mich seelisch bestimmen, es mag unwirklich erscheinen und ist es doch nicht, ich habe es erfahren.

Und warum liebe ich Musik?

Ich kann es nicht sagen, zuerst vielleicht, weil ich nach Meinung anderer eine schöne warme Altstimme habe und mir schon früh viele Lieder und Weisen vertraut waren? Vielleicht weil ich selbst gern Instrumente spielte? Klarheit über diese Dinge bekam ich durch Hellmut …

25.1.44

Von Hellmut und Conny will ich schreiben, den beiden Soldaten hier: Dr. Hellmut Anschütz, dunkel, schlank, energische Gesichtszüge und sehr schöne Augen, die ich wohl nie vergessen werde. Sein ganzes Wesen bestimmt und aufrichtig.

Dann Conrad Arnke, es stiehlt sich schon ein Lächeln in meine Züge nur bei seinem Namen: lustig, heiter und frech, aber von einer entwaffnenden Frechheit, man kann ihm nie böse sein. Trotz ausgesprochener Klugheit – ein großer, lieber Junge. Er ist lang und schlank, sein Haar dunkel, beinahe rotblond, voller Sommersprossen, die einfach dasein müssen, sein Gesicht schmal und weich geschnitten – ein schöner Mensch. Seinen eigentlichen Beruf habe ich nie erfahren, wahrscheinlich Kaufmann, er könnte ebensogut Direktor der größten Bank Deutschlands sein, er würde es spielend bewältigen.

Zwei so verschiedene Menschen hat der Krieg hier in Fürstenwalde zusammengeführt. Sie sind nicht nur Kameraden geworden – meine Freunde.

Bei Tante Martha lernte ich sie kennen, nach Dienstschluß kamen sie fast jeden Abend zu uns nach Rauen. Sie waren lustig, und wir plauderten über vielerlei, sangen, musizierten, besonders Hellmut sprach oft mit mir über Musik, erklärte, was mir bisher unverständlich war, bestätigte, was ich dabei empfand, und schürte diese Sehnsucht, einmal etwas darin zu leisten immer mehr; vielleicht unbewußt. Ich fühlte mich täglich mehr zu ihnen hingezogen, ich war ein Kind, das begeistert Lehre annahm, zumal ich fühlte, daß sie beide sich gern mit mir beschäftigten. Eines muß ich hier sagen: Heute weiß ich, daß sie mich erzogen haben, mehr als es meine Eltern jemals konnten. Ein wildes Mädel war ich, hatte schon früh meinen eigenen trotzigen Willen, kein Baum zu hoch, kein Graben zu weit, kein Junge zu wild, um mein Kamerad zu sein und gelegentlich Prügel von mir zu bekommen.

Meine Mutter hatte es nicht leicht, mich zu bändigen; aber auch später gingen meine Wünsche und Interessen so weit von den ihrigen entfernt, daß wir beide niemals zueinandergefunden haben und jemals finden werden. Sie mußte wissen, daß ich sie auf meine eigene verschlossene Art liebte, sie verstand mich nicht, so sprach ich nie mit ihr über tiefe Erlebnisse, teilte ihr nie mit, was mich besonders bewegte und von dem noch jedes Kind zu seiner Mutter spricht.

So zogen mich Conny und Hellmut immer mehr zu sich heran, wir sprachen nicht nur über Kunst, Bücher usw., es gab Tage, wo wir im Garten, am See, in den Bergen (besser gesagt im Wald) herumtollten – glücklich, ganz der Natur hingegeben. Es war Krieg und ein heiliger Ernst in Deutschland, und doch sagten sie mir später, daß sie durch mich, durch meine unbekümmerte gesunde Jugend andere Menschen geworden waren, denen ihr Dasein auf einmal anders erschien: leichter – freudiger. Ich bin stolz darauf. Es waren wohl mit die schönsten Tage, die ich in Rauen verlebte.

26.1.44

Dann kam der Tag, an dem ich fühlte, daß mir Hellmut viel, viel mehr wurde als nur ein lustiger Kamerad unserer sonnigen Tage. Ängstlich war ich darauf bedacht, es niemand merken zu lassen, ich versuchte mich so unbekümmert wie bisher zu geben, ich schalt mich töricht und dumm, ich wollte mich selbst auslachen, es wurden vielmehr Tränen daraus. Ich hatte ihn lieb, es machte mich selig und traurig zugleich. Es ist seltsam und wohl eines der tiefsten Geheimnisse des Lebens, daß Glück so dicht neben Leid liegt. Er durfte es nie wissen, er war verheiratet, hatte eine sehr nette Frau, ich kannte sie persönlich, er hatte ein süßes Söhnchen, das ich so gern mochte. Nein – es durfte nicht sein, redete ich mir immer wieder ein, ich war erst 17 Jahre alt. Doch ich dachte nur an mich und vergaß darüber, daß auch Hellmut ein Herz hatte, das er ängstlich behütete, eben weil ich ein Kind war.

Ich danke ihm heute dafür, daß unsere Liebe so zart und so innig blieb, wie sie nur zwischen zwei Menschen sein kann, die frei von jeglichem Begehrenwollen und Besitzenwollen sein mußten.

Nur wenige Stunden waren uns vergönnt, die wir in unserem Sinne gestalten durften. Unvergessen wird der Tag für mich sein, an dem ich mit Hellmut den »Faust« sah. Diese Tragödie hat mich zutiefst erschüttert, und doch war ich unendlich glücklich, daß er mich gerade dorthin geführt hat. Wie sehr verstand er mich.

Doch Neugierde und Klatschsucht, bei Tante Martha ein williges Ohr findend, zogen das tief herab, was für uns so klar, rein und heilig war, daß mir gerade da erst die Augen geöffnet wurden.

Es kamen furchtbare Tage und Nächte für mich, ich schlief nicht, ich grübelte; ich tat jegliche Arbeit mechanisch, mir wurde aber auch klar, daß mein Verhalten ein Unrecht an seiner Frau war, obgleich Hellmut immer wieder beteuerte, daß ich in keiner Weise schuldig wäre, seine Frau wäre ihm schon lange fremd geworden, nur wäre er jetzt erst zu dieser Erkenntnis gekommen. Er schrieb mir, da wir ja keine Gelegenheit hatten, uns auszusprechen, und versuchte mit guten, zarten Worten meine Lage zu erleichtern und zu klären.

Ich ging ihm aus dem Wege, nicht wissend, wie weh ich ihm damit tat; aber es mußte etwas geschehen, es war für uns beide so nicht mehr zu ertragen. Ich erfuhr, daß Hellmut sich von seiner Frau trennen wollte. Ich hätte schreien mögen vor Glück und wäre jubelnd mit ihm gegangen. Da drang dann endlich die Erkenntnis durch, daß ich – nur ich allein – alles zum Guten wenden konnte. Wie gern wäre ich immer bei ihm geblieben, doch wußte ich gleichzeitig, daß er die Trennung von seinem Kinde nie hätte verwinden können. Ich entschloß mich, nachdem mich Tante Martha mit Vorwürfen überschüttet hatte, die nicht berechtigt waren, mit Hellmut zu sprechen. Wie schwer es mir wurde, weiß niemand. Es ist gut so.

Mein verändertes Wesen war ihm nicht entgangen, aber als ich ihn dann bat, niemals mehr zu kommen, und ihm alle Gründe dafür so gut ich konnte klarlegte, sah er mich nur an – es war furchtbar, ich hätte mich am liebsten in seine Arme geworfen, die mich schützen konnten, um ihn nie wieder loszulassen. – Ich durfte ja nicht, so blieb ich starr und steif stehen, bis er mich bei den Schultern packte und mich rüttelte: Ich solle doch aufwachen, das könne ja nicht sein, er sprach nicht, er schrie. Ich dachte an meine Eltern, an Tante Martha, an sein Kläuschen und sagte ihm, daß ich keine ruhige Minute mehr hätte, ich log, nur damit er mir glauben sollte. Und es gelang, er achtete meinen Wunsch und kam nie wieder nach Rauen.

Wie schön wäre es gewesen, wenn ich mich zu jemand hätte flüchten können, ein bißchen Verstehen findend.

So habe ich allein mein erstes großes Erleben und auch den ersten großen Schmerz ertragen müssen. Durch Conny erfuhr ich, daß Hellmut sich aus Fürstenwalde fortgemeldet hatte. Ich sah ihn noch einmal, doch davon will ich später berichten.

Den 27.2.44

Ich muß weiterschreiben, es drängt mich, alles meinen geliebten Blättern anzuvertrauen. Von Heinz Holm sollen sie erfahren. Ich muß zurückgreifen und meine erste Begegnung mit ihm schildern.

Es war an einem Kameradschaftsabend, wie sie oft bei Tante Martha stattfanden, im Februar 1941. Der Kompanieführer, ein mir bekannter Herr, bat mich, auf dem Akkordeon den Soldaten etwas vorzuspielen. Ich konnte die Bitte nicht abschlagen und spielte. Dann begleitete ich einen Soldaten, der ein Lied vom Rhein, seiner Heimat, sang. Es war Heinz. Ich war erstaunt über seine wunderbare tiefe Stimme und sah ihn mir genauer an: Er war groß und schlank, blond und hatte blaue Augen in einem schmalen Gesicht. Eines fiel mir besonders später auf, er war trotz seiner Jugend sehr ernst – ich möchte sagen, den anderen überlegen, was er sprach war klar und hatte Sinn. –

Ostern brachte ihn Hellmut mit zu uns, bei mir war er in der Zeit in Vergessenheit geraten. Er blieb über Ostern bei uns, da der Weg nach Hause für die wenigen Tage zu weit war. Wir machten weite Spaziergänge, unterhielten uns über vielerlei, er erzählte von seiner Heimatstadt Heidelberg, von Essen und Düsseldorf, wo er einen großen Teil seines Lebens bei Verwandten zubrachte. Von seinem Beruf, er hatte ein schönes Gut, so daß ich immer wieder von seiner klaren und ernsten Auffassung von allen Dingen überrascht wurde. Ich mochte ihn gut leiden, aber es war eine andere Zuneigung als die, die mich zu Hellmut zog. Ich war ihm schwesterlich zugetan; er muß es gespürt haben, denn er war sehr zurückhaltend, und doch fühlte ich von Tag zu Tag mehr, daß er mich liebte und nur meinetwegen nach Rauen kam. Es machte mich froh und traurig zugleich, denn ich hätte ihm nie das sein können, was er vielleicht von mir erwartete. Und doch war er es, der mir über meinen großen Schmerz hinweghalf mit seiner Kameradschaft, mit seinem stillen Wesen und unaufdringlichen Werben um mich. Er kam noch öfter als bisher, es wurden schöne Tage und Abende, still und ohne Aufregungen, bis er mir sagte, wie es um ihn stand. Es kam nicht überraschend für mich, ich hatte es vielmehr schon lange befürchtet. Ich bat ihn, Geduld mit mir zu haben – ich konnte ja Hellmut nicht vergessen.

Nach meinem 17. Geburtstag, den wir noch zusammen verlebten, kam dann plötzlich seine Versetzung nach Allenstein. Seine Worte, die er mir zum Abschied sagte, haben sich mir tief eingeprägt: »Ich werde immer an dich denken und hoffen, daß du doch noch zu mir finden mögest. Dann werde ich noch einmal eine Frage wiederholen, die vielleicht dein weiteres Leben verändert, aber die dich nie mehr erschrecken soll.«

Aus Allenstein schrieb er mir von seinem neuen Betätigungsfeld, von seinen neuen Kameraden und Vorgesetzten, er erwähnte Persönliches mit keiner Silbe. Er ließ mir Zeit.

29.2.44

Im Juni brach der Krieg mit Rußland aus, in seinem furchtbaren Grauen noch nicht zu übersehen. Viele Soldaten mußten nach dem Osten, unter ihnen Heinz. Er war glücklich, sich endlich bewähren zu können, er wurde der 4. Panzerarmee Höpfner zugeteilt als Kraftfahrer beim Stab. Die Kämpfe vor Leningrad erlebte er, später war er im Mittelabschnitt Wjasma und in Orel. Und er ließ mich immer sein Erleben wissen, er sprach zu mir in seinen Briefen, als wäre er bei mir und nicht im fernen Osten. Ich kannte seine Kameraden und seine Vorgesetzten, ich erfuhr von schweren und auch von den wenigen glücklichen Stunden – er überhäufte mich mit seinen Briefen, die ich liebgewann und die mir wertvoll wurden. Ich schrieb nur wenig, obgleich ich wußte, daß er sehnsüchtig auf meine Zeilen wartete. Er bat Tante Martha, ihm mein Verhalten zu erklären. Seine Angst, mich verlieren zu können, war so groß, daß es mich tief erschütterte, ich tat ihm bewußt unrecht; es sollte anders werden, ich war überzeugt davon.

Doch zuerst mußte ich fort von Rauen, keine Woche länger wollte ich mehr bleiben, das vorwurfsvolle, verständnislose Verhalten von Tante Martha, die Arbeit, die mich in keiner Weise befriedigte, das ganze Leben selbst in Rauen wurde mir unerträglich. In der Musik wollte ich mich weiterbilden, doch hätten meine Eltern mir nie die Erlaubnis gegeben. Aber der Wunsch war so stark, daß ich mich entschloß, es ohne ihr Wissen zu tun.

Eine ehemalige Schulfreundin half mir dabei, sie hatte nahe Neudamm in der Neumark Bekannte, die ein Gut besaßen. Dorthin wollte ich, angeblich, um mein Pflichtjahr zu machen. Ich schrieb an Frau Fraedrich, in wenigen Tagen rief sie mich an und wünschte, daß ich mich vorstellen sollte. Beglückt über die schnelle Einigung und entschlossen, gleich mit dem nächsten Zug zu fahren, ging ich zu meiner Mutter, die von meinen Plänen noch nichts wußte. Sie war sofort einverstanden, zumal ihr mein plötzlich erwachtes Interesse für Haus- und Landwirtschaft wie ein Wunder erschien. Tante Martha war nicht sehr erfreut über meine geheimnisvollen Vorbereitungen und die plötzliche Abreise, doch es kümmerte mich wenig.

1.3.44

Auf dem Bahnhof von Fürstenwalde sollte ich noch eine Überraschung erleben: Ich traf Hellmut, der mit zwei Kameraden eine Dienstfahrt nach Lebus machen mußte. Zuerst war ich so bestürzt über dieses unerwartete Wiedersehen, daß ich nur den einen Gedanken hatte: fort – nur fort; aber ich blieb doch wie angewurzelt stehen, Hellmut sah mich, kam auf mich zu und sagte mir, daß er von meiner Abreise an diesem Tage wußte. Wir fuhren dann zusammen, sprachen kaum, oder nur von belanglosen Dingen, jeder verbarg seine Gedanken vor dem anderen. Und doch war ich glücklich, daß gerade er es war, den ich als letzten Bekannten aus Fürstenwalde sehen durfte, so als wäre erst jetzt der Abschied aus Rauen endgültig. Es war im Oktober 1941. Hellmut verließ unsere Gegend ebenfalls. Er hatte seine Gestellung schon in der Tasche, nach Samosch oder so ähnlich. Weit genug weg, ganz hinten in Polen, sagte er.

Kurz vor Frankfurt, auf einem kleinen Bahnhof, reichten wir uns noch einmal die Hände, sahen uns noch einmal an, jeder beschwor mit seinem Blick unvergeßliche Stunden herauf, aber wir wußten auch um den zukünftigen Weg. Seitdem habe ich Hellmut nie wieder gesehen, und doch werde ich nie aufhören es zu wünschen. Ich weiß, daß es auch sein Wunsch ist, daß wir uns einmal wiedersehen. Nur habe ich ein wenig Angst davor, vielleicht bricht aber auch alles längst Vergessene wieder auf. Weiß man um sein Herz so genau?

2.3.44

Heute will ich von der Zeit auf Gut Nabern schreiben.

Nach langer, ermüdender Fahrt kam ich in Neudamm an, telefonierte sofort nach Nabern und wurde von Herrn Fraedrich, dem Besitzer des Gutes, mit dem Auto abgeholt. Es war schon spät und sehr dunkel, die Fahrt kam mir unendlich lang vor, zumal es immer nur durch Wald und Felder ging.

Ich bekam Herzklopfen. Wie werden sie dich aufnehmen, wie wirst du dort leben, welche Menschen wirst du nun um dich haben?

Von Frau Fraedrich wurde ich begrüßt, ich war erstaunt, eine noch so junge Frau vorzufinden. Es ging so viel Frische und Freundlichkeit von ihr aus, daß ich sofort wußte, sie wird dich verstehen. Ihr Äußeres entsprach ganz ihrem Wesen, soweit ich es schon beurteilen konnte. Mittelgroß, eine frauliche Figur, dunkelbraunes Haar, sehr glatt und im Nacken zu einem schönen Knoten gewunden. Ihre Hautfarbe war auffallend dunkel. Regelmäßige, schöne Gesichtszüge – ich war angenehm überrascht.

Herr Fraedrich, zehn Jahre älter als seine Frau, war groß und stattlich. Er hatte breite Schultern, etwas ergrautes Haar, das ihm aber doch nichts von seinem jugendlichen Aussehen nahm. Er war von verschlossenem Charakter.

4.3.44

Die ersten Tage in dem fremden Haus waren schlimm für mich. Ich mußte fest zupacken und versuchte mir nicht anmerken zu lassen, daß ich dem Umsinken nahe war. Kaum ein freundliches Wort hörte ich von Frau Fraedrich, ich dürstete danach, ich bemühte mich doch so, alles nach ihrem Wunsch zu tun. Und nun?

Ein trockenes Schluchzen schüttelte mich. Da kam Frau Fraedrich zu mir ins Zimmer, legte ganz sacht den Arm um mich und sprach so liebe Worte zu mir, daß ich den Tränen nicht mehr Einhalt gebieten konnte.

Sie ließ mich ausweinen, und dann erklärte sie mir, wie froh sie wäre, ein Mädchen wie mich gefunden zu haben, wie zufrieden sie mit meiner Arbeit wäre und wie die ersten schweren Tage Prüfung für mich sein sollten und wie sie darum so unnachgiebig streng gewesen sei. Daß es von nun an schön werden würde, daß ich mit allem, was mich bedrückte, zu ihr kommen sollte. Ich mußte es ihr versprechen, und ich tat es so gern, war doch jetzt aller Druck von mir gewichen. Alles schien leicht, und am nächsten Morgen fühlte ich mich so kräftig und mir war so froh zumute, wie es mir lange nicht war. Es wurde nun wirklich anders.

Frau Fraedrich setzte sich noch am gleichen Tag mit einem Musikpädagogen in Verbindung, der mir mehrere Stunden in der Woche Gesangsunterricht geben sollte.

An Schlaf war abends nicht zu denken. Erst jetzt wurde mir richtig klar, daß ich erreicht hatte, was ich vorerst wollte, und doch mußte ich immer an zu Hause denken.

Und dann Hellmut, du hieltest meinen Weg für richtig, du fandest die richtigen Worte für mein Handeln. Hab Dank – immer nur Dank!

Am nächsten Morgen wurde ich auf eigenen Wunsch in die Geheimnisse der Kochkunst eingeweiht. Nach dem Mittagessen, das immer ein kleines Fest für sich war, durfte ich mit den Kindern im Wald, im Park, auf den Wiesen und Feldern herumtollen, mit dem Dogcart spazierenfahren. Ich lernte reiten, Herr Fraedrich selbst war mein Lehrmeister, und das war mit das Schönste auf Nabern. Dann wieder saß ich mit Frau Fraedrich in ihrem so gemütlichen Zimmer, wir nähten oder ich las etwas vor, worüber sie immer besonders erfreut war. Wir konnten uns stundenlang über ein Buch unterhalten, mit dem Herrn des Hauses debattierte ich über Politik, Weltanschauungen und dergleichen. Wir fuhren mit seinem Auto in die Stadt, besorgten Einkäufe.

Am schönsten waren die Abende, an denen wir musizierten. Sie begleitete ihren Gatten auf dem Klavier, er spielte sehr gut Geige. Ich mußte singen und verlor dabei meine anfängliche Scheu. Nun war ich in meinem Reich der Töne, das mir niemand nehmen konnte. Nach solchen Abenden lebte ich wieder auf, alles Geschehen in Rauen wurde gering und unwirklich. Nur Hellmut blieb.

Und hier in der Einsamkeit, fern von allem Stadt- und Gastwirtschaftstrubel, bei diesen Menschen, die mir so viel gaben und mich wie eine Tochter aufgenommen hatten, hier spürte ich, daß Hellmut immer noch in meinem Herzen war, daß ihn mir doch niemand nehmen konnte, wenn er auch fern und vielleicht für immer unerreichbar für mich blieb. Nie werde ich ihn vergessen, das wußte ich mit stetig wachsender Klarheit. Er schrieb mir Briefe, mit denen er mir helfen wollte. Sein Verständnis, seine Anteilnahme und seine noch immer mir gehörende Liebe machten mich glücklich. Aber ich hüllte mich in Schweigen, ich antwortete nie.

Er stand in schwersten Kämpfen. Durch ein Wunder entkam er dem Tod, verwundet an Leib und Seele. Das erfuhr ich alles nicht von ihm. Tante Martha teilte es mir mit. Fleckfieber überfiel ihn und seine Kameraden, sie kämpften immer noch mit dem Tode. Dies alles riß mich wieder aus meiner mühsam erschaffenen Ruhe, ich hätte zu ihm eilen mögen. Aber das war unmöglich. Noch durfte er nicht in die Heimat, sein Zustand war zu gefährlich. Aber ich schrieb auch jetzt nicht, obgleich ich wußte, wie er täglich darauf wartete.

Warum blieb ich so hart? Zu ihm und auch zu mir? Wollte ich nicht noch einmal in Konflikte geraten, war ich so um meine seelische Verfassung besorgt? Warum tat ich es nicht trotzdem, so frage ich mich heute. Warum ließ ich ihn nicht wenigstens wissen, daß ich Tag und Nacht um sein Leben betete – ja betete –, heiß und inbrünstig. Er wurde gesund, kam nach Deutschland, um sich in der Heimat wieder ganz zu erholen zu neuem Einsatz. Ich hüllte mich weiterhin in Schweigen, es gab nun nichts anderes mehr für mich, und so blieben auch seine Briefe aus.

6.3.44

Das Leben auf Nabern ging weiter.

Wir schlossen immer enger einander an. Frau Fraedrich vertraute mir ihre geheimsten Sorgen an (auch in ihrer Ehe war nicht alles so sorglos, wie es nach außen hin aussah). Ich mußte immer wieder ihre Geduld und ihren gleichmäßigen Charakter bewundern. Wie paßte sie sich ihrem Gatten an, wie gab sie bei Streitfragen mit wissendem Lächeln immer wieder nach, und nur ich wußte, wieviel es sie kostete. Zu mir war sie ganz offen, sie weinte oft, doch niemand erfuhr davon.

In solchen Stunden glaubte ich, die Männer hassen zu müssen, ich gelobte mir, nie so nachgiebig zu sein. Aber was wußte ich unbändiges Mädchen, dem Frau Fraedrich den Namen »Diana« gegeben hatte, von der Ehe und den immerwährenden Kämpfen darin. Vieles wurde mir klar und verständlich, und es kam mir zuweilen der Wunsch, einmal so zu werden wie diese großartige Frau. Doch darüber lächelte sie nur und sagte: »Du wirst immer, auch wenn du einmal älter geworden bist, mädchenhaft bleiben mit deinem heißen Blut und der Wildheit eines Jungen.« Es war nie ein Vorwurf in ihren Worten, sie mochte mich ja gerade so, wie ich war.

Mit dem immer zufriedener werdenden Gesicht meines Musiklehrers wuchs auch meine Lebensfreude. Ich war wieder das wilde Mädel von früher, noch eben eifrig in der Küche beschäftigt, um gleich darauf auf einem Pferd zu sitzen, auf das Feld zu reiten und dort von allen Arbeitenden mit Hurra begrüßt zu werden.

Ich brachte es fertig, aus Frau Fraedrich eine eifrige Kinobesucherin zu machen, sogar die stille Gertrud holte sich jeden Rat von mir. Die Kinder waren kaum noch von mir wegzubekommen. Alles mußte erst mit der Erika besprochen werden. Das Peterle, das inzwischen ein süßer Bub geworden war und sich eifrig mühte, ein paar Laute herauszubringen und schon selbständig auf seinen kleinen Beinen stand, wollte, daß seine Rick (so nannte er mich mit seinem geringen Wortschatz) mit ihm die ersten Schritte versuchte. Aus Leibeskräften schrie er, wollte jemand ihn mir wegnehmen. Und doch hat er oft die Kehrseite geklopft bekommen von seiner »Rick«, doch das verminderte die Liebe zwischen uns nicht. Martin schloß sich mir von Tag zu Tag mehr an, mit Ruth wurde ich fertig, aber das war nicht immer leicht. Nur der Franzl machte mir oftmals großen Kummer, wenn er meine geliebten Hunde, den Jagdhund Tell, den Terrier Grog und das schwarze Mohrchen schlug. Kein Tier hatte Ruhe vor diesem kleinen Grobian. Kleine Gänse schlug er so lange, bis sie tot liegenblieben. Wenn ich dazukam, wollte mich mein Jähzorn überkommen, und alle seine Beteuerungen, nie wieder so häßlich sein zu wollen, ließen kein weiches Gefühl für dieses Kind in mir aufkommen. Ich wünschte so sehr, daß er einmal anders werden möge, er würde es sonst mit seinem störrischen Wesen und seinem Dickkopf einmal nicht leicht haben. Darüber hinaus war er auch viel krank, er war das Sorgenkind seiner Mutter.

17.3.44

Von einem will ich berichten, der, würde er noch unter den Lebenden sein, heute seinen 24. Geburtstag feiern würde: von Heinz Holm. Er kämpfte weiter in Rußland. Lange Zeit vor Leningrad, dann im Mittelabschnitt nicht weit vor Moskau. Dann mußte er Kilometer um Kilometer in wilder Flucht zurück. Dazu kam der furchtbare russische Winter mit seiner ewigen Kälte und seinen Schneestürmen, und immer wieder Kämpfe – schier übermenschliche Kämpfe, in ihrer Schwere nicht zu ermessen. In dieser Zeit schrieb er mir nach Nabern, furchtbares Erleben sprach aus vielen Briefen, aber immer wieder auch heißes Siegesbewußtsein.

Ich half ihm so gut ich konnte mit meinen Briefen, er wurde mir ein immer lieberer Kamerad. Er sah in mir viel mehr, darum fürchtete ich mich vor seinem Urlaub, von dem er beinahe in jedem Brief schrieb. Weihnachten war vorüber, sacht und doch immer mächtiger werdend, verdrängte der Frühling den Winter, es war ein Aufatmen überall, alles erblühte zu neuem Leben. Es wurde Ostern, mein Geburtstag, den ich zu Hause verleben durfte, jährte sich, und kurz vor Pfingsten traf dann das Telegramm ein mit dem Ruf: »Ich komme!«

Nach einem Jahr, das uns nur durch Briefe verbunden hatte, kam der von Heinz so sehr ersehnte Urlaub. Bevor er in seine Heimat nach dem Rheinland fuhr, wollte er zehn Tage lang bei mir in Rauen bleiben. So fuhr ich denn aus Nabern fort und wartete in Rauen auf ihn. Bei Tante Martha sollte er wohnen. Ich richtete ihm ein Zimmer recht nett her, doch irgendwie konnte ich mich noch nicht freuen. Aber als ich ihn dann vor mir sah, noch schlanker geworden, braungebrannt, mit strahlenden, vor Wiedersehensfreude lachenden Augen im schmal gewordenen Gesicht, flog ich hin zu ihm, warf die Arme um seinen Hals und schämte mich meiner Tränen nicht, die mir unaufhörlich über das Gesicht liefen.

Wie glücklich er über mein Verhalten war, das zeigte mir jede weitere Stunde. Wenn ich ihn anschaute, glaubte ich plötzlich Hellmuts Gesicht zu sehen, und mir war es dann, als sei er zurückgekommen, und meine Freude war seinetwegen. Ich schalt mich gleich darauf, Heinz sollte froh in seinem Urlaub werden; ich wollte ihn mit solchen Gedanken nicht betrüben. Ich wollte gut zu ihm sein, er hatte es verdient.

Aber das »Gutsein« war nur wenig, wenn er sich unbeobachtet glaubte und seine brennenden Augen mich verfolgten. Ein ganzes Jahr hatte er auf dieses Wiedersehen warten müssen, hatte gehofft, ich würde anders sein. Liebte ich ihn denn nicht? Doch, ich hatte ihn sehr gern, aber es war eine andere Zuneigung. Dieses Gefühl riß mich nicht bedenkenlos zu ihm hin mit letzter Hingabe. Oder war es nur Feigheit, aus Kleinlichkeit geboren? Wer half mir?

Heinz zwang keine Entscheidung herbei. Er wartete und warb. Ich wünschte, obgleich wir unvergeßliche Stunden in unserem Sinne verlebten, den letzten Tag seines Urlaubs herbei und war dabei doch unglücklicher, als ich mir eingestehen wollte.

Die letzten Tage flogen dahin, meine Mutter lernte ihn kennen und schätzen. Sie hätte wohl gern gesehen, wenn wir zueinandergefunden hätten. Und dann kam der Tag, an dem er weiter nach Essen fuhr und ich zurück nach Nabern.

Kaum eine Woche später traf Heinz in der nahen Stadt Neudamm ein, war noch einmal zu mir gekommen, war früher von zu Hause fortgefahren, weil dort alles anders war, als er es sich in Rußland ausgemalt hatte. Sein Haus zum größten Teil ausgebrannt, die Verwandten nicht da. Eltern hatte Heinz keine mehr, und so flüchtete er sich wieder zu mir. Vier Tage gehörten uns noch, die wir auf Gut Nabern waren. Er lebte wieder auf dort, alle waren gut zu ihm. Frau Fraedrich mochte ihn sofort, mit Herrn Fraedrich fachsimpelte er über Landwirtschaft und dergleichen. Wir ritten gemeinsam herrliche Wege, kutschierten, gingen spazieren. Es wurden noch einmal unbeschwerte, frohe Tage. Und dann kam der Abschied, der ein Abschied für immer sein sollte. Ich fuhr ihn zum Bahnhof. Wir hatten noch Zeit. Er hielt mich in seinen Armen, küßte mich zart und andächtig und fand die Worte: »Hab keine Angst vor mir. Ich zwinge Dich nicht. Erst wenn Du ganz genau weißt, daß Du mich lieb hast, sollst Du mir gehören. Ich werde immer darauf warten. Leb wohl und bete für mich.«

Ich war erstarrt, hatte nicht einmal Tränen. Aber ich fühlte, wie die Tage ohne ihn leer sein würden, wie ich ihn immer vermissen würde. »Komm wieder«. Das war alles, was ich ihm sagen konnte. Das Wort erfüllte sich nicht. Kaum ein Monat war vergangen, als ein Brief von mir zurückkam mit dem Vermerk »Gefallen für Großdeutschland«. Sein junges Leben mußte er an der Spitze seines Zuges bei einem schweren Gefecht nördlich Orel lassen. Diese wenigen Worte sollten ein Leben auslöschen? Sollten alles, was gewesen war, für immer verstummen lassen? Ich begriff es nicht, ich glaubte es nicht, es konnte doch nicht sein, er sollte doch zurückkommen, ich hatte doch darum immer wieder gefleht. Und nun?

Ein Brief des Kompanieführers bestätigte aber alles, es gab keinen Zweifel mehr. In schwerstem Kampf traf ihn eine Kugel, die ihm das Leben nahm, er hatte nicht gelitten, er war sofort tot. Tot – tot? Ich fragte immer wieder und erfaßte doch den Sinn nicht. Ich war unfähig etwas zu denken, alles wurde dumpf und unwirklich. Frau Fraedrich war in diesen Tagen so gut zu mir, wie nur eine Frau gut sein kann. Ich mußte in ihrem Zimmer schlafen, sie ließ mich nie allein. Ich hatte keine Tränen, die Erlösung gebracht hätten – ich grübelte und grübelte – suchte Klarheit in meinen Gedanken und wurde sehr krank. Ich bekam Fieber, alles schrie in mir: Du hattest nicht die Kraft, ihn zu schützen, ihn dem Tode abzuringen. Du hast seine Liebe mit Feigheit belohnt. Ich klagte mich an, aber es half nichts, er kam ja nicht wieder.

Frau Fraedrich gelang es, mir das alles auszureden, alles zu mildern, sie brachte mich wieder auf den rechten Weg. Ich konnte endlich weinen und wurde gesund. Die Tränen nahmen alle Härte dieses Heldentodes und alles Furchtbare mit sich fort. Ich hatte meinen besten Kameraden verloren. Warum blieb mir nichts erspart, warum immer ich – immer ich? Ich brachte die Nachricht nach Wochen nach Hause, fuhr aber sofort wieder zurück zu der Frau, bei der ich mich geborgen fühlte.

18.3.44

Das alte Leben hatte ich wieder aufgenommen. Mit Feuereifer widmete ich mich meiner Musik, lernte und lernte und bannte dadurch die immer wieder auftauchenden quälenden Gedanken.

Ein ganzes Jahr war ich nun schon in Nabern, da eröffnete mir mein Musiklehrer, daß ich auf die Musikhochschule müßte, es wäre an der Zeit. Ich hatte gern mit ihm musiziert und bei ihm gelernt und wäre auch gern noch geblieben. In meinem Interesse redete er mir einen noch längeren Aufenthalt aus.

Nun mußte ich mein Weggehen von Nabern meinen Eltern doch irgendwie begründen. Mein Vater kam mir zu Hilfe. Ich schrieb an ihn, teilte ihm mit, daß das Leben in der Einsamkeit mir nicht mehr behagte (es war nicht an dem!), daß ich so gern weiter auf eine Schule gehen wollte und vielleicht das Abitur machen mochte. Damit hatte ich das Richtige getroffen, das war ja schon immer der Wunsch meines Vaters gewesen. Er war sofort einverstanden, wollte für mich eine Einschulung in Berlin vorbereiten.

Bei meiner Mutter war es nicht so einfach, meinen Willen durchzusetzen, wollte sie doch eine richtige Hausfrau aus mir machen, die nurmehr Interesse für Küche und Heim haben sollte. Sie ahnte von nichts. Mit der weiteren Schulbildung hatte sie gar nichts im Sinn. Es gelang mir dann aber doch, sie zu überzeugen, und so verließ ich das Haus, das mir für ein Jahr eine Heimat geworden war. Der Abschied von Frau Fraedrich und den Kindern war doch viel schwerer für mich, als ich dachte. Wie würde ich diese Frau vermissen!

Ich ritt noch einmal auf meinem geliebten Rappen »Falada« durch die Wälder, Wege, die mir vertraut waren, und nahm so von allem Abschied.

Das Leben rief mich, das bunte, bewegte, vielfältige. Oh, ich spürte mein unruhiges Blut, meine Unrast wieder, die mich nirgendwo lange bleiben ließen, die mich immer wieder hinaustrieben, Neues zu erleben, zu erleiden. Wo holte ich immer wieder den Mut dazu her? Würde ich jemals müde werden? Würde ich nie eine Heimat finden? Darum liebe ich das Meer so sehr. Mit seiner unendlichen Weite, seiner Freiheit packt es mich immer wieder, das erlebte ich beim ersten Mal, als ich es sehen durfte, und erlebte es immer wieder.

Ich bin dem Meer verfallen. Kann ich dafür? –

20.3.44

Ich will weiterschreiben, wie sich alles gestaltete. Ich war wieder in Rauen, mein Entschluß war gefaßt, ich wollte in Berlin die Hochschule für Musik besuchen und nebenbei dem Wunsche meines Vaters entsprechen und auf das Gymnasium gehen. Ein Plan, der in seiner Durchführung beinahe unmöglich schien, ich wollte es schaffen, die Kräfte dazu fühlte ich in mir.

Aber es kommt im Leben immer anders, als man denkt. Dieser Spruch sollte mir noch oft zum Verhängnis werden. Das Weihnachtsfest war kaum vorüber, da meldete sich das Arbeitsamt und forderte mich auf hinzukommen. Nichts Gutes ahnend, nahm ich gleich meinen Vater mit, der gerade Urlaub hatte. Man wollte mich sofort als Stabshelferin irgendwo einsetzen. Mein Vater, von dem Wort »Nachrichtenhelferin« unangenehm berührt, lehnte das sofort ab und setzte sich mit dem Leiter des Arbeitsamtes in Verbindung. Ich trug meine Wünsche in bezug auf die Schule vor und mußte zu meinem großen Schrecken von der Aussichtslosigkeit dieses Beginnens hören. Durch die neuerlichen Maßnahmen und durch die Einschränkungen der Studien in den Hochschulen wurde es mir unmöglich gemacht, zumal es nicht einmal ein kriegswichtiges Studium sein sollte.

Allerdings gab man mir die Genehmigung – nach genauer Prüfung natürlich – zur Truppenbetreuung auf Frontbühnen, auf denen ich mein Talent verwerten könnte. Daran hatte ich noch nie gedacht, und es wurde mir vor Freude beinahe unheimlich bei dieser Aussicht. Aber ich hatte meine Rechnung ohne den Wirt gemach. Wollte mein Vater mich als Stabshelferin nicht verpflichten lassen, so gab er die Einwilligung zur Frontbühne schon gar nicht. Ich hatte mich zu fügen, so schwer es mir fiel. Es war ein harter Schlag für mich, daß alle meine heißen Wünsche nicht erfüllt werden sollten, ich ließ aber niemand merken, wie grenzenlos enttäuscht ich war.

Ich weinte in der Nacht viel. Warum ging bei mir immer alles schief?

Nach und nach drang dann, zuerst zaghaft, dann immer klarer die Erkenntnis durch, daß ich nur an persönliche Vorteile dachte, dem kämpfenden Deutschland in den Rücken fallen wollte. Warum verzichteten so viele junge Mädchen auf ihre Wunschträume und konnten jetzt arbeiten, sei es im Reichsarbeitsdienst, in der Rüstung, in der Landwirtschaft, im öffentlichen Verkehr, und warum wollte ich es nicht? Ich schämte mich plötzlich. Es war mir alles so gar nicht ins Bewußtsein getreten auf Nabern, das so wenig von dem Krieg spürte, wo es an nichts mangelte. Nun sah ich das Leben in Berlin und in der Umgebung, sah, wie alle Menschen schafften und kämpften für eine freie Zukunft, für unser aller Wohl, und da sollte ich mich ausschließen? Viel zu lange hatte ich schon gezögert, aber es sollte anders werden.

Schon in den nächsten Tagen, nachdem meine freiwillige Meldung zum RAD unbeantwortet geblieben war, setzte ich mich mit dem Betriebsleiter eines Rüstungsbetriebes in der zehn Kilometer entfernten Stadt Storkow in Verbindung und wurde sofort kaufmännische Angestellte in der Lohnbuchhaltung, in der gerade dringend eine Kraft benötigt wurde. –

Die Würfel waren gefallen. Ein neuer Lebensabschnitt begann.

Wieder hatte ich neue Menschen um mich, die nun meine Arbeitskameraden werden sollten. Herr Thomas, der Leiter des Werkes, mein neuer Chef also, war äußerst freundlich, schien aber doch reichlich nervös. Dann die Damen des Büros: Frau Briesemick, jung, freundlich, sehr still, sie war nur noch kurze Zeit im Betrieb. Sie wurde bald nach meiner Einstellung entlassen. Frl. Karin, jetzt Frau Meise, machte auf mich gleich von Anfang an einen seltsamen Eindruck, sehr herb, sehr verschlossen, auch nicht sehr eng befreundet mit ihren Kolleginnen. Frau Marker, in meinem Alter, recht natürlich, aber ohne viel Geist. Dann Frl. Berwig, sie war ein Jahr älter als ich, schlank und zierlich wie ich, aber brünett, dunkle Hautfarbe, quicklebendig und doch auch geistig hochstehend. Zu ihr fühlte ich mich sofort hingezogen. Heute ist Moni neben Isa, von der ich später schreiben werde, meine beste und einzige Freundin. –

Am 19.1.43 hatte ich meine Arbeit in der Firma Schwenke begonnen. Vor der nüchternen Büroarbeit hatte ich eigentlich immer schon ein geheimes Grauen, sie wird mich auch niemals ganz ausfüllen können. Aber sie war neu für mich, hier spielte sich alles in Zahlen und auf dem Papier ab. Schreiben, rechnen, buchen und wieder schreiben, rechnen und buchen, Löhne, Gehälter usw. Man war immer hilfsbereit und freundlich zu mir; aber das »im Zimmer sitzen müssen« ist mir sehr sehr schwer gefallen. Wenn dann noch draußen das herrlichste Wetter war, glaubte ich manchmal, es nicht mehr aushalten zu können. Aber was kann ein Mensch alles ertragen, wenn er den guten Willen hat, und der war da. So ging es nun tagein, tagaus. Ganz in der Frühe wurde ich mit dem Betriebsauto von zu Hause abgeholt und abends wieder zurückgebracht. Die Sonnabende und Sonntage gehörten mir. Ich fand mich in die Büroarbeit hinein, und ich gebe mir noch heute Mühe, all das zu schaffen, was von mir verlangt wird. Dadurch helfe ich ein klein wenig mit an den großen Aufgaben, die der Krieg uns stellt. Bis zum siegreichen Ende werde ich auf meinem Platz aushalten, auch wenn es nicht immer ganz leicht werden sollte. – Ich tue ja alles für Deutschland, für unser geliebtes Vaterland, in heißem Glauben an unsern Führer!

21. März 1944

Neue Blätter müßte ich anfangen, denn eine Zeit will ich ihnen anvertrauen, die immer zu der schönsten, die ich je in Rauen verlebte, gehören wird.

Rauen – immer wieder Rauen bringt mir die glücklichsten Stunden, es hat mir aber auch die schwersten Stunden meines jungen Lebens gebracht. Wo wohnte ich schon, in der Neumark, in der Grenzmark, im Kreis Königsberg und in vielen anderen Gegenden, und immer wieder kam ich zurück in dies kleine märkische Dorf, das meine Kindheitstage und meine erste große Liebe birgt, die wohl immer in mir weiterleben wird, tief im Herzen eingeschlossen, wie etwas, das vor der Welt verborgen bleiben muß, wenn es nicht an Zartheit, Innigkeit und Schönheit verlieren soll. –

Es war viel geschehen in all den Jahren mit mir, ich war anders geworden, hatte anders denken gelernt, lebte ganz in der Gegenwart, und doch lassen sich Erinnerungen nicht bannen, sie überfallen mich, sie beschwören Vergangenes herauf. Aber es ist seltsam, daß alle Erinnerungen, die kommen, zwei Eigenschaften haben. Sie sind immer voll Stille, das ist das Stärkste an ihnen, und selbst dann, wenn sie es nicht in dem Maße in Wahrheit waren, wirken sie so. Sie sind lautlose Erinnerungen, die zu mir sprechen mit Blicken und Gebärden, wortlos und schweigend, und ihr Schweigen ist das Erschütternde, das mich zwingt, meinen Kopf zu fassen, um mich nicht vergehen zu lassen in dieser Auflösung und Lockung, in der mein Körper sich ausbreiten und sanft zerfließen möchte zu den stillen Mächten hinter den Dingen. Die Stille ist die Ursache dafür, daß die Bilder des »früher« nicht so sehr Wünsche erwecken als Trauer – eine fassungslose Schwermut. Es war – aber es kehrt nicht wieder. Es ist eine Welt, die für mich vorüber ist. Aber Erinnerung steigt einmal wieder auf, dann ist sie eine Erscheinung, ein rätselhafter Widerschein, der mich heimsucht, den ich fürchte und ohne Hoffnung liebe. Sie ist stark; – aber sie ist unerreichbar, und ich weiß, sie ist vergeblich. –

Und selbst wenn sie alles wiedergäbe, diese Landschaft meiner Jugend, ich würde wenig mit ihr anzufangen wissen. Die zarten und geheimen Kräfte, die von ihr zu mir gingen, können nicht wiedererstehen. Ich würde in ihr sein und in ihr untergehen. Ich würde mich erinnern und sie lieben und bewegt sein von ihrem Anblick. Aber sie ist es doch nicht mehr und kann es nicht wieder sein. Ich würde nicht mehr mit ihr verbunden sein, wie ich es war. Nicht die Erkenntnis ihrer Schönheit und ihrer Stimmung hat mich angezogen, sondern das Gemeinsame, dieses Gleichfühlen einer Brüderschaft mit den Dingen meines Seins. Denn ich war irgendwie immer zärtlich an sie verloren und hingegeben, und das Kleinste mündete immer in den Weg der Unendlichkeit. Vielleicht war es nur das Vorrecht meiner Jugend, das mich eins machte mit dem Verlauf der Tage. –

Aber es ist unwahr behaupten zu wollen, man könne ein Mal in seinem Leben nur lieben – von ganzem Herzen lieben. Gewiß, die erste junge Liebe, die man einem anderen Menschen gibt, ist unwiederbringlich und wohl die geheimnisvollste und unberührteste. Aber birgt nicht erst die alles verschenkende, mit anderer Hingabe erfüllte Liebe das Leben, das eigentliche Leben selbst? Ist sie nicht das Größte, was es gibt? Ist sie nicht tiefstes menschliches Vertrauen und Glauben? Du, Erwin, lehrtest sie mich, ich danke dir dafür.

Du tratest in mein Leben, Erwin, so wie ich es nie vorher erfahren hatte, mir fallen Worte ein, die ich einmal hörte und die sich mir tief einprägten: Sie sind wie der Strom, die Männer, sie strömen gewaltig durch unser Leben, und es ist an uns Frauen, dies ungehemmte Fluten in seine Bahnen zu lenken, wenn wir und alles mit uns nicht von ihm vernichtet werden wollen, wie das Land zur Hochwasserzeit. Wir müssen den Damm aufrichten, um die Erde mit ihrer Frucht zu bewahren und im rechten Maß den Segen zu erhalten. –

24.3.44

Ich muß zurückgreifen, wenn ich unser »Kennenlernen« von Beginn an schildern will. Wie ein Lauffeuer ging die Kunde durch unser kleines Dorf: »Rauen bekommt Einquartierung, eine Bekleidungskammer der SS. Ungefähr 20 Mann. Die Kompanien werden auf die umliegenden Dörfer verteilt!« Wohl manches Mädchenherz mag bei dieser Nachricht schneller geschlagen haben. Auch ich war erfreut, daß wieder fremde Menschen Rauen beleben sollten, obgleich ich mich über Langeweile nicht zu beklagen hatte. Im Bad-Saarow gab es einen verwundeten Matrosen im Lazarett, der immer sehnsüchtig auf meinen Sonntagsbesuch wartete, an dem wir, so gut es mit seiner Verwundung ging, Spaziergänge machten, segelten, ruderten oder auch mit seinen Kameraden in der Halle des Lazaretts plauderten, musizierten und lustig waren. Ein lieber, netter Kerl war dieser Werner, Chemiker von Beruf und seit Kriegsbeginn mit Leib und Seele Seemann.

Ich mochte ihn gut leiden, wir hatten uns auf einem bunten Abend kennengelernt, den die Frauenschaft, BDM, JM und Partei usw. zugunsten der Verwundeten veranstalteten. Er war der einzige Matrose unter allen Soldaten und hatte daher wohl auch die meisten Chancen bei den Mädchen. Warum er gerade mein Tischherr sein wollte – ich weiß es nicht. Wir verstanden uns gleich glänzend, er bat so inständig um einen Besuch, da seine Verwundung es nicht zuließ, allein nach Rauen zu kommen, daß ich zusagte. Ich wollte ihm die Freude nicht nehmen. Es wurden schöne Tage, er blieb der anständige, nette Kerl, der er bei unserm ersten Sehen war. Eines Tages stürzte ich auf dem Wege zu ihm mit dem Fahrrad so sehr, daß ich mich wegen der blauen Flecken und mit meinem entstellten Gesicht lange nicht sehenlassen durfte. Von diesem Schrecken erholt, wurde ich von unserem Hund gebissen, der Arm wurde sehr schlimm. Wieder wurde aus meiner Saarow-Fahrt nichts. Werner rief mich später noch oft an und schrieb viel, aber da gab es dann schon einen Erwin und nichts hatte Platz neben ihm. An jedem Finger hatte ich einen Verehrer, hätte ich sagen können. In Fürstenwalde, in Rauen, in Berlin. Dann die vielen Briefschreiber, alles Soldaten, aber was bedeuteten sie mir schon, sie füllten mein Leben nicht aus, gewiß, sie ließen bei mir keine Langeweile aufkommen, beschäftigten mich mehr, als mir oftmals lieb war. Keiner von ihnen hat bei mir etwas erreicht. Ich war nicht mehr das 16jährige Mädel, das man mit Klatschsucht und Niederträchtigkeit beinahe zur Verzweiflung gebracht hätte. Ich spielte mit allen, keiner wußte, ob ich ihn ernst nahm oder mich über ihn lustig machte. Niemand wusste überhaupt, wie es in mir aussah, ich war trotz meines Temperaments, meines Übermutes, meiner Lebensfreude verschlossener denn je. Niemand hatte Einblick in mein Seelenleben, weder meine Mutter noch Tante Martha noch irgendwer. Ich wurde allen das rätselhafteste Mädchen. Ich hörte weder das Gerede der Leute, noch kümmerte es mich, wie man über mich dachte. Ich hatte mein Leben.