Cover

ERINNERUNGEN AN INNSBRUCK

Band 10:

Susanne Leoncino

Pfingstrosen am Sieglanger

VORWORT

Diese Aufzeichnung ist meinem Großvater, meiner Großmutter und ihrer Zeit gewidmet, die aus heutiger Sicht betrachtet wie ein auswegloser Tunnel erscheint.

Und trotzdem waren ihre Tage von einer positiven Grundeinstellung und viel heiterem Optimismus geprägt, durchzogen von Harmonie mit der Natur, von Liebe und Respekt, Aufmerksamkeit und Behutsamkeit gegenüber ihren Kindern und gegenüber den Menschen, die sie umgaben.

Dies ist weder eine geschichtliche Abhandlung noch eine Heldenerzählung, außer man bewertet das einfache Leben als große Aufgabe und das Glück der kleinen Freuden als höchstes Ziel einer erfüllten Existenz.

In diesen Zeilen schwingt der Geist meiner Mutter mit, der erstgeborenen Tochter von Edi und Josefine, deren Erzählungen dieses Buch möglich machten.

Ein Buch für alle, die weiter an das menschliche Zusammenwirken glauben wollen, in Innsbruck und sonst wo.

KRIEG UNTER STERNEN

Schremm, schramm, schremm, schramm, schremm … der eintönige Widerhall begleitete die groben Militärstiefel bei ihrem Aufstieg über die schottrigen Wege der Alpentäler.

Schremm, schramm, schremm, schramm, die Steine speckten links und rechts weg, schremm, schramm, ein banales Geräusch, das Tausende von Soldaten im Rhythmus hielt bei ihrem Marsch vorbei an lieblichen Almlandschaften, hinauf zu den felsigen Höhen, die sich bizarr gegen einen violetten Septemberhimmel abzeichneten. Ein einlullender Gleichschritt, der sie als Individuen abschaffte, um sie fortan als Molekülteilchen einer bislang unvorstellbaren Vernichtungsmaschinerie zu gebrauchen.

Ein Geräusch, das nichts von der schwerwiegenden Tragweite des Aufmarsches erahnen ließ, der nicht nur die Landesgrenzen verschieben, sondern auch die bisherigen Lebensfixpunkte aus den Angeln heben sollte.

Es war früher Herbst, und nach der letzten Sommermahd lag noch die würzige Heuluft über den Hochwiesen, gesäumt von Kiefern und Latschenbäumen, hinter denen man zu den karstigen Bergspitzen gelangte. Die sonst eher beschauliche Zeit der Vorbereitung auf den Winter wurde durch die endlosen Truppenverschiebungen in den Alpenhochtälern aufgewühlt.

Die Bataillons waren in Windeseile von anderen Fronten hierher versetzt worden, und der Landsturm hatte alles, was ein Gewehr halten konnte, zusammengetrommelt, von den Veteranen bis hin zu den jungen Burschen. Blutjunge Burschen, kaum 16 oder 17 und auch jünger, aufgestachelt in ihrer Begeisterung, das eigene Leben zu opfern für einen Zweck, der ihnen nicht klar war, gegen einen Feind, den sie erst von den Plakaten her kannten, die sie zur Heimatverteidigung aufriefen.

Was bis gestern ein Räuber- und Gendarmspiel in grauen Hinterhöfen war, wurde nun zum heldenhaften Einsatz für Gott, Kaiser und Vaterland.

Endlich war der Moment gekommen, am wirklichen Leben teilzunehmen, sich in richtigen Kämpfen zu messen, den richtigen Kriegshelden nachzueifern und vielleicht auch „richtig“ zu sterben.

Alle waren ohne Zögern dem Aufruf zum Landsturm gefolgt, ein letztes Aufgebot, den Feind aufzuhalten. Es galt den Heimatboden zu verteidigen; plötzlich wurde ein jeder zum Mann, der den letzten Tropfen Blut zur Verteidigung der Landesgrenzen opfern würde, so wie es Generationen von Vorvätern getan hatten, die dem Tiroler Landlibell verpflichtet waren.

Ihre noch so jungen Stimmen vereinten sich in Kampf- und Heimatliedern, wohl um die Angst vor der Ungewissheit zu verjagen und um in ihnen den stolzen Kampfgeist zu erwecken, der sie in Selbstverachtung gegen die feindlichen Linien rennen ließ.

Nach stundenlangem Aufstieg erreichten die kaiserlichen Scharfschützen die ersten Vorposten, hinter denen die Kampfgräben verliefen. Ihre blaugrauen Uniformen verschwanden vor den Felswänden, nur die Spielhahnfedern auf ihren Hüten blitzten vor dem eintönigen Hintergrund auf, so wie die Bajonnette, die weit über ihre Köpfe hinausragten.

Es blieb nicht viel Zeit für Rast oder Verköstigung und schon gar nicht, um sie in Kampfstrategie oder Verteidigungstaktik einzuführen; aus nicht allzu großer Ferne tönten die trockenen Einschläge der feindlichen Mörser.

Alles, was es brauchte, um abzudrücken, hatten sie in einem Schnellverfahren im Kasernenhof mit den zur Verfügung stehenden Gewehren gelernt, und schon mussten sie sich durch die in Fels und Eis gehauenen Gänge den Feindesstellungen nähern.

Mit jedem Schritt wurde das Dröhnen der Kanonen durchdringender, jeder Einschlag durchfuhr die Knochen und erschütterte den jugendlichen Mut, der sie bis hierher geführt hatte.

Es war ein gnadenloser Zusammenprall mit der unerbittlichen Realität eines entsetzlichen Kampfes, der sie aus den heilen Tagen der gesicherten und vertrauten Abläufe ihrer Kindheit in eine Vorstufe zur Hölle katapultierte.

Sie hatten schnell gelernt, in den schulterhohen Gräben den Kopf einzuziehen, Schutz suchend vor den ununterbrochenen Granateneinschlägen und den gezielten Schüssen der feindlichen Standschützen.

Die älteren Soldaten erschienen müde und abgekämpft von den unablässigen Feuergefechten, ausgehöhlt von täglichen Gräueln, ergeben an die Gedanken der Ausweglosigkeit dieses Krieges und der stets präsenten Wahrscheinlichkeit, nie mehr lebend von diesem Berg herabzusteigen.

Auch die fast rührend erschrockenen Gesichter der Neuankömmlinge bewirkten keine Gefühlsregung und sicher kein Mitleid in ihnen. „Frisches Kanonenfutter“ war die geringschätzige Bezeichnung für die jugendlichen Kämpfer, die zuerst zu Hilfsdiensten für die Soldaten herangezogen wurden, zu Botengängen zwischen den Schützengräben und den Hilfsstellungen, Nachreichen der Munition, Nachschub an Essen und Zigaretten.

Doch schon bald gab es keinen Unterschied mehr zwischen Rekruten und Kampferprobten. Die Heftigkeit der Angriffswellen ließ keinerlei Verschnaufpause zu, selbst die Angst machte der hitzigen Beschäftigung im Graben Platz.

Die ersten Tage verliefen in dieser fiebrigen Hast bürokratisch geregelter Kriegsabläufe, die nur durch wenige und kurze Schlafpausen unterbrochen wurden. Ein Schlaf, der wie eine gnädige Zufluchtsstätte war, der einzige Zustand, der erlaubte, sich aus diesem Gräuel zu entfernen und zu sich selbst zurückzukehren.

Bald würden auch diese Halbkinder die weichen Züge ihres jugendlichen Alters verlieren, und die tiefen Falten um ihre Mundwinkel würden sich verhärten, bis sie wie die Felsdriften aussahen, die von den umliegenden Bergspitzen abfielen. Ihre Augen würden den träumerischen Glanz jugendlicher Vorstellungskraft einbüßen und den Spiegelbildern gesehenen Grauens weichen. Keiner würde je mehr im Stande sein, die gellenden Schreie der zerfleischten Kameraden zu vergessen noch den Krampf in der Kehle zu lösen, wenn ein Sterbender bat, die Seinen zu umarmen.

Nächtens wurde Wache geschoben, schon gab es eisige Fröste. Die Runden in den Schützengräben wurden zur Herausforderung, die kalte Luft, die sich bis auf die Haut durchbiss, ließ einen baldigen Wintereinbruch vorausahnen.

Der junge Bursch, der sich mit eiligen Schritten in einem monotonen Auf und Ab vor der Kälte zu schützen suchte, war Jahrgang 1899, 16 Jahre alt. Er war nicht besonders groß gewachsen, aber sein Körper war gut und drahtig gebaut, er hatte volles dunkelblondes Haar, das seine wunderschönen blauen Augen noch ausdrucksvoller erschienen ließ, und seine weichen Lippen verrieten ein sensibles Gemüt.

Wie alle anderen seines Alters war er den Aufrufen zur Landesverteidigung gefolgt. Er hatte vor wenigen Monaten seine Mutter verloren, darum war ihm der Abschied von zu Hause nicht besonders schwergefallen; er entfloh dem Schmerz um den Verlust seines Elternteils und auch der Verantwortung gegenüber seinen jüngeren Geschwistern, die jetzt beim Vater aufwuchsen.

Auch wenn seine Eltern in den letzten Jahren getrennt gelebt hatten, behielt er in seinem Herzen die wärmende Erinnerung an eine behütete und liebevolle Kindheit.

Aus irgendwelchen nichtigen Gründen hatten sich die Eltern getrennt, nach sieben Kindern und einem langen gemeinsamen Weg. Eine Trennung ohne großen Schmerz oder Kampf und vor allem ohne den Kindern etwas von dem beschaulichen Leben, das sie im Lauf der Jahre geführt hatten, zu entziehen.

Die Mutter war weiterhin der weiche, wärmende, wohlduftende Mittelpunkt im Leben ihrer Kinder geblieben, während der Vater bei seinen häufigen Besuchen fortfuhr, mit seinen Töchtern zu scherzen und mit seinen Söhnen im Chor zu singen.

Der alte Herr, ein angesehener k. u. k. Gerichtsschreiber, hatte eine wunderbare feste Stimme, tief, ausholend, weitläufig wie eine Tropfsteinhöhle, und er hatte seinen vier Söhnen ebenfalls diese warmen, tragenden Stimmen vererbt, so dass die Leute an lauen Sommerabenden oft unter ihrem Küchenfenster stehen blieben, um ihren Liedern zuzuhören.

Während er seine Wachrunde in dem eisigen Felsgraben drehte, fühlte er sich mit einem Mal in diese herrliche Zeit seiner Kindheit zurückversetzt. Vielleicht aus Sehnsucht, vielleicht aus Selbstverteidigung gegen diese von Tod und Schwärze durchsetzte Situation floh er in eine heimelige Erinnerung.

Er hob den Blick zum Himmel. Das erste Mal, seit er an der Kriegsfront war, nahm er die Umwelt außerhalb des Schützengrabens wahr, und er betrachtete das unfassbare Sternenmeer über sich. Er empfand die Großartigkeit dieses Wunders als tröstlich, und er wurde sich der menschlichen Überheblichkeit und Unversöhnlichkeit bewusst, die mit unvorstellbaren Opfern einen Krieg ganz nah bei den Sternen platziert hatten.

Noch nie hatte ein so grausames Ringen so direkt unterm Himmel stattgefunden, noch nie dröhnten die Kanoneneinschläge mit solcher Gewalt durch die Täler, als wollten sie den Herrgott aus seinem Schweigen reißen und sein Urteil erheischen.

Zum ersten Mal in seinem Leben begann er vorgegebene politische Entscheidungen zu hinterfragen; er fühlte, wie er sich innerlich von den Überzeugungen, die bisher seine Vorstellungen geprägt hatten, entfernte, und vor allem wusste er, dass dies nicht der Weg seiner Bestimmung sein konnte. Er wollte mit all seinen Kräften dafür kämpfen, heil aus diesem Wahnsinn herauszusteigen, um seiner eigenen Bestimmung auf seinem Lebensweg zu folgen.

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Mein Großvater Edi, dessen Leben in diesem Buch erzählt wird, als junger Bursch

Noch nie zuvor, seit er an die Front gekommen war, war er frei von Angst gewesen; er spürte, dass dies ein Moment des Selbsterkennens war, der ihm Vertrauen und Kraft zurückgab.

Obwohl er sich seinem Versprechen verpflichtet fühlte, seine Heimat zu verteidigen und an der Seite seiner Kameraden weiterzukämpfen, wollte er sich nicht von diesem Grauen verschlingen lassen.

Große Zweifel kamen über ihn. Die übergroßen Mühen, allein das Material auf die Dreitausender-Gipfel zu hieven, überstiegen nicht nur beinahe die menschliche Kraft, sondern brachten ihn immer wieder zu der Überlegung, ob der menschliche Verstand überhaupt eine Rolle spielte. Kein Gedankengang von Barmherzigkeit oder Vernunft konnte die Menschen aus dieser verfahrenen Polittragik führen.

Am nächsten Morgen wurde eine neuerliche Angriffswelle angeordnet, was den Grabenkämpfen nicht mehr Sinn verschaffte. Ohne Rücksicht auf Verluste wurden die Truppen vorwärtsgepeitscht, und mit Todesschreien rannten die Männer auf die feindlichen Gräben zu. Eine Art Russisches Roulette mit einem Dreihundertmeterlauf, der Leben oder Tod bedeuten konnte und auch im Falle des Überlebens grausame Spuren im Inneren hinterlassen würde.

Der Bursche hatte kurz vor dem Befehl zum Sturm tief Luft geholt; er war sich vollends klar, dass er auf seinen möglichen Tod zurannte, es war der Tag seines Gottesurteils, und er war felsenfest entschlossen, sich diesem Irrsinn aufrecht zu stellen und den Dämonen des Hasses die Stirn zu bieten.

Mit einem Satz sprang er aus dem Graben und begann sein Rennen gegen die feindlichen Kugeln und die heimtückischen Granateinschläge, ein Rennen nicht ums Leben, aber mit breiter Brust den Tod herausfordernd.

Mit jedem Schritt gewann er an Sicherheit und er fühlte eine große Freiheit in sich; das erste Mal seit seiner Ankunft auf diesem Schicksalsberg war er wieder Herr seiner selbst, nicht besessen von Ängsten, Alpträumen oder der Enge des Grabens. Er fühlte ein großes Selbstbewusstsein in sich zurückkehren und ein fast glückseliges Gefühl der inneren Befreiung durchbebte ihn.

Es fehlten etwa hundert Meter bis zur feindlichen Stellung, als eine Granate links vor ihm einschlug; er fühlte seine Schulter explodieren, der Schlag war von solcher Heftigkeit, dass er in einer Viertelumdrehung auf dem Rücken landete.

Bevor er die Sinne verlor, betrachtete er den grauen Himmel über sich und wunderte sich über seine Ergebenheit. Er empfand weder Schmerz noch Schrecken, nur eine unbegrenzte Überzeugung, dass dies kein Ende, sondern ein Neubeginn war.

Nach dem Granattreffer auf dem Pasubio war er nach zweitägigem Transport auf einer Krankenbahre unter Schmerzen und Fieberkrämpfen in ein Feldlazarett gekommen. Ein Ort gleich einem Schlachthof, voll von Blutgeruch, Ätherschwaden und Schmerzensschreien.

Er war fast nie bei sich, er ließ sich dahingleiten auf einem Floß, das auf einem breiten Strom dahinschipperte. Nur zeitweise registrierte er Wortfetzen, die zu ihm durchdrangen: „… der Arm … ab … Teil der Schulter, kein Knochen … keine Rettung … Wundbrand.“

Sein gesegneter Lebensgeist half ihm, aus der halben Bewusstlosigkeit herauszutreten und zu brüllen, zu schreien, um den Teil seines Körpers zu kämpfen, lieber sterben, als halb zu leben, niemand hatte das Recht, über sein Leben oder seinen Tod oder Teile seines Körpers zu bestimmen, kein Mensch.

So sehr warf er sich mit all seiner Kraft gegen das gefällte Urteil einer Amputation, dass der durch die Bettenreihen streifende Oberarzt dazukam. Er half, den sich Aufbäumenden niederzuhalten, wie er es schon bei hundert anderen auch getan hatte.

Ihre Blicke trafen sich während dieses kurzen Gefechts: die Augen eines Kindmannes, voll entschlossen, diese ärztliche Entscheidung um den Preis des Lebensverlustes nicht zu akzeptieren, und die Augen eines Arztes, voller Müdigkeit, der oft, zu oft die jungen, zerfetzten Männer nur notdürftig zusammenflicken konnte.

Trotz seiner körperlichen und seelischen Ausgehöhltheit nach den unzähligen Nächten an der Seite der Opfer dieses Jahrhundertmassakers, trotz der Frustration einer immensen Machtlosigkeit gegenüber diesem Leiden folgte der Arzt seinem plötzlichen Impuls und ließ den fieberbebenden Burschen in den Operationssaal verlegen, um ihn für einen delikaten Eingriff vorzubereiten.

In einem verzweifelten Versuch entfernte er eine große Masse an infektiösem Gewebe rund um die Schulterkapsel, und in minutiöser Kleinarbeit rekonstruierte er eine Verschlusskappe mit dem verbliebenen Muskel, um den freiliegenden Knochen abzudecken.

Wenn es gelang, den Wundbrand zu stoppen, konnte der Kerl wenigstens mit einer Riesenkerbe, so groß wie der Unterarm eines Kleinkindes, in der Schulterpartie und unter der Achselhöhle weiterleben.

Der Arzt führte diese Meisterleistung chirurgischer Kunst unter ärmlichsten Bedingungen und unter dem Gewicht der langen, durchwachten Nächte durch, aber vor sich sah er die leuchtenden Augen des jungen Menschen, leidend, aber keineswegs schwach, um seine Hilfe bittend, aber nicht bettelnd.

Es war ein Moment, der ihn zu seinem Lebenssinn zurückführte, sein Leben zu geben für die Großartigkeit des Daseins. Er war damit auf der gleichen Wegsuche wie der junge Mensch in seinen Händen.

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Lazarett in Krems um 1918. Edi ganz rechts sitzend

WEITERLEBEN

Die Samstage in der städtischen Markthalle am Innrain waren von besonderer Betriebsamkeit. Trotz der großen Kargheit nach den politischen Umbrüchen mussten die Menschen sehen, wie sie das tägliche Leben meistern.

Nach fast einem Jahr in einem Feldlazarett bei Wien war er in seine Heimatstadt Innsbruck zurückgekehrt und versuchte nun eine neue Zukunft zu beginnen.

Es gab kaum Arbeit und noch weniger zu essen; wenn er schon von Natur aus nicht besonders kräftig war, so stach jetzt sein Knochengerüst noch erschreckender unter der Haut hervor. Vielleicht war es gerade das ständige Nicht-Sattsein, das ihn meistens bei der Markthalle am Innrain, der Fleischbank im gegenüberliegenden Gebäude und bei den Marktständen am Vorplatz vorstellig werden ließ. Auf der Suche nach einer noch so bescheidenen Anstellung klapperte er täglich die Händlerstände ab und versuchte, irgendjemanden von seiner Nützlichkeit zu überzeugen. Die Arbeit als Helfer in der Lagerhalle war zwar mit seinem körperlichen Zustand noch immer nicht vereinbar. Es war immer noch schmerzhaft unmöglich, schwere Gewichte zu heben, da seine zerschossene Schulter trotz der Operation und des langen Lazarettaufenthaltes einen Großteil ihrer Funktionstüchtigkeit eingebüßt hatte, aber er versuchte dieses Defizit mit dem verstärkten Einsatz seiner gesunden, rechten Seite auszugleichen. Und er konnte seine geistige Wendigkeit, sein in Vorkriegsjahren erworbenes Handelsschulzeugnis und ein beachtliches mechanisches Geschick ins Spiel bringen. Gerade das Letztere sollte ihm endlich zu einem Arbeitsplatz verhelfen.

Abgesehen von den einheimischen Geschäftsleuten waren unter den Obsthändlern besonders viele Italiener vertreten. Das große Problem für alle, die mit Frischwaren zu tun hatten, war natürlich die Lagerung und die zeitgemäße Anlieferung der verderblichen Lebensmittel; schon durch eine ungünstige Wetterlage konnte ein Großteil nicht mehr zum Verzehr geeignet sein und musste weggeworfen werden.

Besonders schlimm war dies bei Südfrüchten. War schon der Transport in den primitiven Zugwaggons ein Hasardspiel, so wurde die Lagerung in den überalterten Kühlräumen zu einem täglichen Wettspiel mit der Zeit und der launischen Kühlmaschine, die regelmäßig ausfiel und oft erst nach langen Reparaturen wieder ansprang.

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Markthalle von Innsbruck

Von diesen Umständen hingen die Existenzen der Händler und deren Familien ab; bei jedem Ausfall liefen die Markthallenstandler zusammen und versuchten verzweifelt, das alte Eisen wieder anzuwerfen, und mit dem südlichen Temperament der Italiener kam es oft zu theatralischen Szenen der Verzweiflung vor dem Kühlkeller.

Bei einer dieser „Kühlkatastrophen“ kam Edi zufällig vorbei und begann die Maschine zu taxieren; er hatte ja keine Zeit zu verlieren. Obwohl er keine Ausbildung zum Mechaniker hatte, besaß er das Geschick, sich in die motorischen Abläufe einer Maschine hineinzudenken, und er hatte keinerlei Scheu, Hand anzulegen, um dem Defekt auf die Spur zu kommen.

Auch diesmal brauchte er nicht lange, um in einem fehlenden Ventil die Ursache für das Nichtfunktionieren des alten Eisens zu erkennen, und er beschaffte auch gleich ein improvisiertes Ersatzteil. Nach einer halben Stunde Herumwerkens und einer gründlichen Ölung sprang das Getüm tatsächlich wieder an, und zitternd und tösend garantierte es die Kühlung der Ware, wenigstens bis zum nächsten Zusammenbruch.

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Radtour mit Freunden, aufgenommen hinter der Markthalle

Es war dem Enthusiasmus der Italiener zu verdanken, dass sie ihn als nunmehrigen „Kühlmaschinenwartungschef“ verlangten und er tatsächlich seine erste Anstellung als Magazineur antreten konnte.

Auch in Zukunft sollte er einen besonders guten Kontakt zu den Italienern haben, auch wenn er sich manchmal beim Gedanken ertappte, dass sie sich vor kurzer Zeit noch im feindlichen Graben gegenübergestanden waren und er auch durch eine italienische Granate fast sein Leben verloren hätte.