Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie,

eine Reihe in zehn Bänden von Karl Heinz Brisch

Das Wissen der Bindungstheorie kann vielfältig für eine bindungsbasierte Beratung und Therapie in allen Altersstufen angewandt werden, wobei sich die Diagnostik und Behandlung je nach Lebensalter der Patienten ganz unterschiedlich gestaltet.

Anhand von vielen Beispielen aus der klinischen Praxis gibt die Reihe eine Einführung in die Grundlagen der Bindungstheorie und die diagnostischen Methoden und Schritte einer bindungsorientierten Beratung und Therapie vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter.

Jeder Band enthält

Die Einzelbände behandeln folgende Themen:

Weitere Bände in Vorbereitung.

Karl Heinz Brisch

Säuglings- und
Kleinkindalter

Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte
Beratung und Psychotherapie

Klett-Cotta

Impressum

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Klett-Cotta

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Umschlag: Roland Sazinger

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Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94824-0

E-Book: ISBN 978-3-608-10507-0

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20197-0

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in dr Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Dank

Vorwort

Einleitung

Teil 1 – Bindungspsychotherapie

Allgemeine Grundlagen einer Bindungspsychotherapie und bindungsbasierten Beratung

Fünf Phasen der Bindungspsychotherapie

Intervallbehandlung

Spezielle Grundlagen der Bindungspsychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern

Die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen der Eltern an ihre Säuglinge und Kleinkinder

Teil 2 – Bindungsentwicklung im Säuglings- und Kleinkindalter

Gesunde Entwicklung

Die Bedeutung der sicheren Bindung in der Evolution des Menschen und die Entwicklung des Säuglings

Schutz- und Risikofaktoren

Die Bedeutung des Vaters

Die Bedeutung weiterer Bindungspersonen und die Bindungspyramide

Teil 3 – Behandlungsbeispiele

Schreistörungen und exzessives Schreien

Beispiel: Diagnostik und Therapie bei einem Säugling mit unstillbaren Schreiattacken

Essstörungen

Beispiel: Stress bei der Nahrungsaufnahme eines Frühgeborenen

Beispiel: Unsicherheit einer Mutter im Hinblick auf die Ernährung ihres Kleinkindes – nach vorhergegangenen Fehlgeburten

Schlafstörungen

Beispiel: Übertragung von Problemen der Mutter auf einen Säugling mit Schlafstörungen

Spielstörungen

Beispiel: Probleme beim Spielen zwischen einer alleinerziehenden Mutter und ihrem Säugling

Allgemeine Überlegungen zu Bindungsstörungen

Beispiel: Therapie von Eltern mit einem Säugling mit einer beginnenden promiskuitiven (indifferenten) Bindungsstörung

Emotionale und körperliche Vernachlässigung

Beispiel: Adoptierter Säugling nach Vernachlässigung

Gewalterfahrung

Beispiel: Säugling, der Gewalt erlebt hat, mit einer beginnenden Bindungsstörung mit Hemmung

Gesteigerte Wutanfälle und aggressives Verhalten

Beispiel: Säugling mit Wutanfällen

Beispiel: Kleinkind mit Wutanfällen und Aggressivität

Angst- und Panikstörungen

Beispiel: Säugling mit Angst- und Panikanfällen bei Problematik der Mutter, sich zu trennen

Beispiel: Kleinkind mit Angst- und Panikproblemen bei der Trennung in der Kinderkrippe

Trennungsschwierigkeiten der Eltern

Beispiel: Säugling mit Trennungsproblemen bei Ängsten der Mutter

Beispiel: Wiederholung der Trennungsproblematik einer Mutter bei ihrem Kleinkind

Verluste während der Säuglings- und Kleinkindzeit

Beispiel: Reaktion eines Säuglings nach dem Verlust eines Elternteils

Beispiel: Verlust einer weiteren Bindungsperson, hier der Tagesmutter

Psychisch kranke Eltern

Beispiel: Säugling mit einer psychisch kranken Mutter

Beispiel: Kleinkind mit einer postpartal depressiven Mutter

Gewalt in der Elternbeziehung und Kinder als Zeugen von Gewalt zwischen den Eltern

Beispiel: Ein Säugling beobachtet Gewalt zwischen den Eltern

Beispiel: Kleinkind mit der Erfahrung körperlicher Misshandlung bei Gewalt in der Elternbeziehung

Störungen im Kontext außerfamiliärer Betreuung (Krippe, Tagesmutter)

Beispiel: Gescheiterte Eingewöhnung in der Krippe

Beispiel: Säugling in der Betreuung durch eine Tagesmutter

Geschwisterrivalität

Beispiel: Eifersucht auf ein Neugeborenes

Beispiel: Rivalität zwischen einer Zweijährigen und ihrer großen Schwester

Bindungsprobleme bei Mehrlingen

Beispiel: Die Bindungsentwicklung bei eineiigen Zwillingen

Beispiel: Beginnende Bindungsstörungen vom indifferent-promiskuitiven Typ bei Drillingen

Teil 4 – Primäre Prävention durch »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern«

Spezialvarianten des SAFE®-Programms

SAFE®-Spezial Krippe

SAFE®-Spezial für Eltern mit Frühgeborenen

SAFE®-Spezial im Mutter-Kind-Heim

SAFE®-Spezial für Eltern mit psychischen Erkrankungen

SAFE®-Spezial für Adoptiv- und Pflegeeltern

Teil 5 – Zusammenfassung und Ausblick

Literatur

Über den Autor

Dank

Ich danke allen Eltern und Kindern sowie Kolleginnen und Kollegen, durch die ich die verschiedensten Therapieerfahrungen machen konnte, denn diese sind in die Fallgeschichten dieses Buches eingeflossen. Ohne diese gesammelten klinischen Erfahrungen wäre es mir nicht möglich gewesen, dieses Buch zu schreiben.

Dank des großen Engagements von Herrn Dr. Beyer vom Verlag Klett-Cotta konnte auch dieser Band der Reihe zur Bindungspsychotherapie rasch beim Verlag realisiert werden. Ohne das große Engagement von Birgit Vogel, die wiederum schnell und zuverlässig aus meinen Diktaten die Rohfassung der Manuskripte zu diesem Buch erstellt hat, wäre diese Publikation nicht so schnell möglich gewesen. Ein besonderer Dank gilt Herrn Thomas Reichert, der trotz Zeitdruck das Lektorat übernommen hat und dessen Rückmeldungen und Korrekturvorschläge dieses Buch wesentlich leichter lesbar gemacht haben.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist der zweite Band aus der Reihe »Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Therapie«. Er fokussiert auf die Entwicklungszeit des Säuglings- und Kleinkindalters. In diesem Buch werden zunächst wiederum die Grundlagen einer bindungsorientierten Psychotherapie ausführlich erläutert und die Besonderheiten für die Altersphase des ersten bis dritten Lebensjahres dargestellt. An vielen Fallbeispielen wird aufgezeigt, wie die unterschiedlichsten Symptome der Kinder mit den Lebensgeschichten und den frühen Bindungserfahrungen der Eltern aus deren eigener Kindheit zusammenhängen. Die bindungsorientierte Psychotherapie und Beratung sowie die vielfältigen methodischen Ansätze, einschließlich Traumatherapie und videobasierter Interaktionsdiagnostik und -behandlung, werden anhand von vielen Fallbeispielen dargestellt und sollen so für Leserin und Leser anschaulich werden. Ein besonderer Fokus der Behandlungsbeispiele liegt auf der Problematik, die entsteht, wenn Eltern durch ihre eigenen psychischen Probleme, psychiatrischen Erkrankungen, ja sogar Gewalttätigkeit in der Partnerschaft die Entwicklung ihrer Kinder gefährden.1

Besonders das Entwicklungsalter von der Geburt bis zu drei Jahren ist von sehr großer Bedeutung, weil hier die neuronalen Entwicklungsprozesse und die Vernetzung im Gehirn angelegt werden. Hierbei spielen besonders die frühen Erfahrungen der Kinder mit ihren Bindungspersonen eine große Rolle. Die Beispiele sollen verdeutlichen, wie zum einen frühe Störungen in dieser Zeit entstehen können, wie aber andererseits auch durch sehr zeitige Interventionen, die jeweils die Lebensgeschichte der Eltern mit einschließen, eine Veränderung für die Kinder und ebenso für die Eltern erreicht werden kann.

Dieser Band richtet sich an alle, die mit Eltern, Säuglingen und Kleinkindern arbeiten und diese auf ihrem Entwicklungsweg begleiten, wie etwa Kinderärzte, Allgemeinärzte, Hebammen, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychiater und Psychotherapeuten, Krankenschwestern und Pfleger, Psychologen, Berater, Sozialarbeiter, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Jugendamtes sowie der Sozialdienste, Pädagogen, Heilpädagogen, Krankengymnasten, Erzieher und Seelsorger – und letztlich auch an junge Eltern.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Die ersten drei Lebensjahre, mit denen sich dieses Buch beschäftigt, sind für die Entwicklung eines Kindes von grundlegender Bedeutung, weil in dieser Zeit das psychische Fundament für das spätere Leben gelegt wird. Auf dem Boden einer sicheren Bindung kann eine gesunde motorische, kognitive, soziale wie auch emotionale Entwicklung des Kindes gelingen. Diese Phase kann allerdings von vielfältigen Schwierigkeiten und Störungen begleitet sein, indem der Säugling und das Kleinkind vielfältige Symptome entwickeln, welche die Eltern selbst, aber auch die Behandler zu Lösungen herausfordern.

Nach der Darstellung der allgemeinen Grundlagen einer Bindungspsychotherapie sowie der speziellen Form der Bindungspsychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern beschreibe ich im zweiten Teil des Buchs die Bindungsentwicklung während der ersten drei Lebensjahre. Nachdem ich einleitend die gesunde Entwicklung beschreibe, werden Schutz- und Risikofaktoren dargestellt. Diese können in der einen oder anderen Weise die Bindungsentwicklung entweder unterstützen oder auch komplizieren, so dass die Eltern womöglich eine bindungsorientierte Hilfestellung und Therapie für sich selbst benötigen. Diese wird an den folgenden verschiedenen Therapiebeispielen verdeutlicht.

Im dritten Teil werden aus bindungstheoretischer Sicht verschiedenste Komplikationen und ihre bindungsorientierte Behandlung beschrieben. Hierbei gehe ich auch auf Erfahrungen der Eltern in ihrer eigenen Geschichte ein, die als Risikofaktoren die Entwicklung des Kindes beeinflussen können; Erfahrungen der Eltern von Vernachlässigung und Gewalt sowie auch psychiatrische Erkrankungen werden an Fallbeispielen in ihrer Bedeutung für die Entwicklung von Säuglingen und Kleinkindern erläutert. Trennungsängste, Verluste in der frühen Entwicklungszeit, die Eingewöhnung in die Krippe sowie weitere Störungen im Kontext von außerfamiliärer Betreuung sind wichtige Themen, mit denen Eltern heute konfrontiert sind und die sie sehr beschäftigen. Den Abschluss der Therapiebeispiele bilden Schilderungen der bindungsorientierten Begleitung von Eltern, die unter der Geschwisterrivalität ihrer Kinder leiden, oder auch von Eltern, welche sich um die Entwicklung von Mehrlingen, mit all den damit verbundenen Stressoren und Bindungsschwierigkeiten, sorgen müssen.

Im vierten Teil dieses Buches beschreibe ich die Möglichkeiten einer primären bindungsorientierten Prävention mit dem von uns entwickelten Programm »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern«. Dieses Programm wurde bereits ausführlich in Schwangerschaft und Geburt, dem ersten Band dieser Reihe, erläutert, so dass hier nur noch Varianten des SAFE®-Programms bzw. SAFE®-Spezial-Kurse beschrieben werden, z. B. solche mit Beginn nach der Geburt, für Adoptiv- und Pflegeeltern, für Eltern mit frühgeborenen Kindern wie auch die Anwendung von SAFE®-Kursen im Mutter-Kind-Heim.

Das Buch schließt mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick, der auf die bindungsorientierte Arbeit mit Eltern und Kindern im Kindergartenalter hinweist, wie sie in einem weiteren Band zur Bindungspsychotherapie bzw. bindungsbasierten Beratung und Therapie beschrieben werden soll.

TEIL 1

Bindungspsychotherapie

Allgemeine Grundlagen einer Bindungspsychotherapie und bindungsbasierten Beratung

Eine bindungsbasierte Beratung und Therapie – im Folgenden auch kurz Bindungspsychotherapie genannt – ist keine eigenständige Therapiemethode. Vielmehr geht es darum, eine bindungsorientierte Sichtweise in Diagnostik und Behandlung aufzunehmen. Sie kann mit sehr unterschiedlichen Therapieschulen und Methoden kombiniert und in sie integriert werden.2

Als grundsätzliche Voraussetzung, um mit einer bindungsbasierten Psychotherapie beginnen zu können, gilt, dass ein sicherer äußerer Rahmen gegeben sein muss. Zunächst sollten äußere Stressoren – besonders soziale Stressoren wie Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungslosigkeit, aber auch Stressoren durch nahe Bindungs- und Beziehungspersonen – so weit wie möglich reduziert werden. Weiterhin ist eine Grundvoraussetzung, dass ein sicherer »innerer Rahmen« gegeben ist. Damit ist gemeint, dass die betroffenen Klienten zu einer ausreichenden Stress- und Affektregulation im Alltag fähig sind. Hierzu sind eine gewisse emotionale Sicherheit und ein gewisses Maß an Stabilisierung notwendig.

Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so ist eher an eine stationäre denn an eine ambulante Beratung oder Bindungspsychotherapie zu denken. Ein sicherer äußerer wie innerer Rahmen als Grundvoraussetzung für die Psychotherapie ist immer so frühzeitig und so langfristig anzustreben wie irgend möglich (Brisch 2010 a, b; Grossmann & Grossmann 2012).

Ich beschreibe im Folgenden verschiedene Phasen der Bindungspsychotherapie.

Fünf Phasen der Bindungspsychotherapie

Phase 1: In der Anfangsphase ist es immer von großer Bedeutung, dass der Therapeut bzw. die Therapeutin einen sicheren emotionalen therapeutischen Bindungsrahmen herstellen kann. Bei den Klienten/Patienten gibt es die verschiedensten Bindungsstörungsmuster und auch Bindungsschwierigkeiten, wenn sie in der Anfangsphase mit dem Therapeuten einen therapeutischen Kontakt herstellen wollen. Hier ist es sehr wichtig, dass die Therapeuten die verschiedenen Muster der Bindung sowie auch der Bindungsstörungen kennen, um sich auf die bizarren Varianten der Interaktionsmuster und der Kontaktaufnahme einzustellen und dem Patienten dennoch die Möglichkeit zu geben, eine sichere Beziehung im Sinne einer therapeutischen Bindung herzustellen. Dies muss der Therapeut an erster Stelle leisten.

Wenn ein Patient – z. B. mit einem bindungsvermeidenden Muster – einen Termin, den er als dringlich bezeichnet und verabredet hat, nicht wahrnimmt, könnte ein Therapeut daraus schließen, dass er kein Interesse an der Therapie hat. Dies wäre aber ein Fehlschluss, da es bei bindungsvermeidenden Patienten nicht selten ist, dass sie zwar einen Therapiewunsch haben, gleichzeitig aber Therapietermine zu Anfang nur zögerlich, verspätet oder gar nicht wahrnehmen. Hier ist es erforderlich, dass der Therapeut im telefonischen Kontakt nachfragt und nicht gleich die Therapie daran scheitern lässt, dass der für den Erstkontakt vereinbarte Termin nicht wahrgenommen wurde.

Für die Herstellung einer therapeutischen Bindung ist es von großer Bedeutung, dass die Therapeuten mit maximaler therapeutischer Feinfühligkeit vorgehen. Dies heißt aber, dass sie die Fähigkeit hierzu vorher selbst durch entsprechende Ausbildung erworben haben müssen; es mag »Naturtalente« geben, die von Haus aus große Fähigkeiten zur therapeutischen Feinfühligkeit mitbringen, alle anderen Therapeuten müssen dies im Rahmen der Ausbildung anhand von entsprechenden Supervisionen, Feedbacks, Videotrainings und dergleichen lernen – andernfalls bestünde keine gute Voraussetzung, um eine sichere therapeutische Bindung herstellen zu können. Nach wie vor ist aber die Ausbildung in therapeutischer Feinfühligkeit nicht Kernbestandteil jeder therapeutischen Ausbildung – das gilt für alle therapeutischen Schulen.

Phase 2: Wenn sich der Patient in der therapeutischen Beziehung langsam sicherer fühlt, wird er beginnen, seine Lebensgeschichte und seine aktuellen Konflikte und Probleme etwas mehr zu explorieren, sprich: uns zu berichten. Es ist wichtig zu wissen, dass zwischen sich entwickelnder Bindungssicherheit und beginnender Exploration ein Gleichgewicht bzw. eine wechselseitige Abhängigkeit besteht – das heißt konkret: Wenn die Bindungssicherheit wächst, der Patient sich sicherer fühlt, wird automatisch die Explorationsfreude und -bereitschaft aktiviert. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn der Patient in der Therapie Angst bekommt oder wir als Therapeuten ihm durch unsere Haltung, Gestik, Mimik, Art der Intervention Angst machen, wird er automatisch seine Explorationsfähigkeit und damit auch den Bericht über seine aktuellen Schwierigkeiten und Probleme oder seine Lebensgeschichte einschränken.

Von besonderer Bedeutung für die bindungstherapeutische Arbeit sind Trennungserfahrungen, Verluste sowie traumatische Erfahrungen, weil diese das Bindungssystem gemäß dem Ansatz der Bindungstheorie am meisten aktivieren. Die Exploration soll in der Therapie mehr an bindungsrelevanten Themen »entlanggehen« und diese auch fokussieren und weniger konfliktzentriert arbeiten. Es geht also weniger um Konflikte zwischen Wunsch und Angst, die sich aus verschiedenen lebensgeschichtlichen Perspektiven und aus verschiedenen entwicklungspsychologischen Phasen ergeben haben können, sondern um eine Bindungsanamnese, die speziell auf bindungsrelevante Themen fokussiert. Das Erwachsenen-Bindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI; vgl. Main et al. 2003) ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, eine Bindungsanamnese sehr strukturiert durchzuführen. (Die Fragen des AAI sind auf S. 319  324 in Brisch 2010a nachzulesen.) In der Arbeit mit Schwangeren, werdenden Vätern und jungen Eltern kann das Bindungsinterview bei der Frage danach, ob die Betreffenden wichtige Menschen verloren haben, noch um die Frage nach verstorbenen Kindern – auch etwa Schwangerschaftsunterbrechungen, Fehl- und Totgeburten – ergänzt werden.

Phase 3: Der Patient macht in der Beziehung zum Therapeuten neue Bindungserfahrungen, erlebt entsprechend Sicherheit und emotionale Unterstützung, womit auch die therapeutische Bindungsbeziehung sich stabilisiert und wächst; gleichzeitig wird er aufgrund erster Enttäuschungen und Irritationen in der Bindungssicherheit in der Übertragung beginnen, alte Erfahrungen von Verlusten und Trennungen und stressvolle Erfahrungen auf den Therapeuten zu projizieren. Das heißt, es kommt zu einer Bindungsübertragung in der Therapie; dies bedeutet, dass der Patient seine Bindungswünsche und -ängste auf den Therapeuten überträgt und auch seine bisherigen Bindungserfahrungen – z. B. Bindungstraumatisierungen in der Beziehung mit frühen Bindungspersonen – in der Beziehung mit dem Therapeuten aktivieren und inszenieren wird. Besonders am Anfang und am Ende der Stunde kann das Thema »Trennung« relevant werden, bewirkt durch mit dem Setting verbundene Trennungen wie eben das Ende der Stunde, vorhergesehene Therapieunterbrechungen etwa durch Urlaube, unvorhergesehene Unterbrechungen z. B. durch Krankheiten des Therapeuten. All diese Trennungen können das Bindungssystem des Klienten »erschüttern«, etwa wenn der Patient traumatische Trennungserfahrungen erlebt hat, oder »stressen«, so dass er hierdurch in der Übertragung seine bindungsrelevanten Erfahrungen neu zeigen und für den Therapeuten auch offenlegen kann. Hier ist es wichtig, dass der Therapeut diese Inszenierung der Bindungsübertragung versteht, die in der Regel mit Angst, Wut, Enttäuschung und Hoffnung auf mehr Sicherheit und Stabilität verbunden ist.

Gleichzeitig werden auch Realtraumatisierungen aus der Kindheit oder der Vergangenheit des Patienten zum Thema werden, da er durch die Trennungserfahrungen aus der Therapie in der Regel, wie wir sagen, »getriggert« wird, so dass er alte, ungelöste traumatische Erfahrungen jetzt plötzlich wieder intensiver mit allen damit verbundenen Gefühlen wahrnimmt. (»Trigger« ist im Amerikanischen der Abzug am Gewehr. Wenn dieser bis zu einem Druckpunkt und schließlich darüber hinaus gespannt wird, dann löst sich beim Überschreiten des Druckpunktes die Kugel, der Schuss geht los und lässt sich nicht mehr aufhalten oder zurückhalten; ähnlich ist es mit alten unverarbeiteten Affekten: Werden sie durch andere Reize aus der Erinnerung wachgerufen, kommen sie immer mehr an die Oberfläche des affektiven Erlebens. Steigt der affektive Druck über den »Druckpunkt« an, dann kommt es zu einer plötzlichen affektiven Überflutung und einem Ausbrechen der Affekte, diese können weder »zurückgeholt« noch kontrolliert werden.)

Solche Triggerungen von früheren Verlusten und Trennungserfahrungen oder traumatischen Erfahrungen lassen sich erfahrungsgemäß nicht vermeiden; sie sind auch durchaus erwünscht, wenn erst einmal eine stabile therapeutische Bindungsbeziehung etabliert ist. Denn dann können die Erfahrungen mit eigenen unverarbeiteten Affekten in der therapeutischen Bindungsbeziehung gehalten, neu in einer geschützten sicheren therapeutischen Bindungsbeziehung prozessiert und verarbeitet und somit auch integriert werden. Jetzt hat der Klient – im Unterschied zu der früheren traumatischen Situation – eine therapeutische Bindungsperson zur Seite, so dass er sich nicht mehr vor den heftigen Affekten fürchten muss. Es wird nun möglich, alte traumatische Erfahrungen entsprechend zu prozessieren. Hierbei können weitere therapeutische Methoden, wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) (Hofmann 2014; Hofmann & Besser 2003; Brisch 2013 b), Anwendung finden.

Es können viele therapeutische Methoden, auch kreative Methoden wie Kunst-, Musik- und Bewegungstherapie, angewandt werden, um Affekte, die noch nicht verarbeitet sind, zu integrieren. Grundsätzlich ist zu bemerken: Bei den alten unverarbeiteten Bindungstraumatisierungen, die der Klient – mit den entsprechenden seelischen Wunden – überlebt und überstanden hat, besteht das größte Problem darin, dass die mit diesen Erfahrungen verbundenen Affekte abgespalten oder dissoziiert wurden. In der therapeutischen Beziehung können diese Affekte mit den entsprechenden Erfahrungen wiederbelebt und aktiviert werden, z. B. auch durch die Bindungsübertragung. Aufgrund dieser Aktivierung wird es jetzt möglich, auf dem Boden einer hilfreichen, realen, sicheren therapeutischen Bindungsbeziehung die alten unverarbeiteten Affekte erneut zu verarbeiten und auch mit den entsprechenden Geschichten bzw. Narrativen der Erfahrung zu verbinden, so dass es zu einer Integration des Erlebten kommen kann.

Phase 4: Wenn mehr und mehr solcher alten affektiven Erfahrungen positiv verarbeitet und integriert werden können, hat der Patient (oder Klient) in der Regel mit seinen Affekten mehr »Luft« zum »Atmen und Handeln« und mehr Möglichkeiten für eine Veränderung seiner Realbeziehung. In der Regel berichten die Patienten dann, dass sie auch außerhalb der Therapie neue Erfahrungen mit Personen machen konnten. Gleichzeitig beginnt eine intensive Phase der Trauerarbeit. In der Regel können die Patienten jetzt realisieren, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn sie diese oder jene traumatische Trennungs- und Verlusterfahrung nicht gemacht hätten.

Am Ende der Therapie wird es möglich zu sehen, dass der Patient seine ursprüngliche Bindungsrepräsentation – diese kann vermeidend, ambivalent oder auch desorganisiert sein – verändert hat und er in der therapeutischen Beziehung vielleicht zum ersten Mal ein inneres Gefühl von emotionaler Sicherheit erlebt und integriert sowie auch »emotional abgespeichert« hat. Wir sprechen dann von einer erworbenen Bindungssicherheit (»earned secure«; vgl. Main 1995) – von einer Sicherheit, die durch den therapeutischen Prozess erst auf den Weg gebracht wurde, sprich: durch die Therapie erst erworben oder gewonnen werden konnte.

In der Phase der Trauerarbeit kann es den Patienten phasenweise noch mal sehr schlecht gehen; sie sind depressiv, suizidal und hadern teilweise mit ihrem Schicksal, dass sie etwa in ihrer Kindheit durch solche Höllenqualen und schlimmen Erfahrungen hindurchgehen mussten und ihnen dadurch so viele Möglichkeiten, Entwicklungen in ihrem Leben versperrt geblieben sind. Es ist wichtig, dass diese Phase ausreichend bearbeitet und in der therapeutischen Beziehung erlebt werden kann, d. h. es ist genügend Raum für die Trauerarbeit erforderlich. Wenn ein Klient viele bindungsrelevante Trennungs- und Verlusterfahrungen durchgemacht hat, gibt es genügend Grund, auch hierüber real zu trauern. Oftmals sind die heftigen Gefühle von Schmerz und Trauer bisher noch nie in eine Beziehung eingebracht worden, so dass jetzt, in der therapeutischen Bindungsbeziehung, erstmals auch Trost, Unterstützung, Verständnis, Anerkennung des Leids und liebevolle Begleitung im Trauern erfahren werden können. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was die Patienten oft vorher erlebt haben: nämlich Verleugnung des Schmerzes, reale Traumatisierung, keine Anerkennung der schmerzvollen und leidvollen Erfahrungen, die vielmehr bagatellisiert oder als solche verleugnet wurden.

Phase 5: Wenn mehr und mehr traumatisches Material und bindungsaffektgeladene Erfahrungen verarbeitet wurden, kann der Patient zunehmend außerhalb der Therapie explorative neue Wege gehen, sich auf neue Beziehungen, aber auch auf neue berufliche Aktivitäten und andere Weisen der explorativen Erkundung des Lebens einlassen. Zum ersten Mal kann er über einen Abschied von der Therapie nachdenken, gleichzeitig ist diese Phase dann aber auch von Ängsten im Hinblick darauf geprägt, wie der Patient in der Lage sein wird, ohne die therapeutische Unterstützung und die Sicherheit der Therapie den Alltag zu leben und zu gestalten.

Intervallbehandlung

Aus diesem Grunde biete ich den Patienten immer wieder an, dass sie jederzeit in die Therapie zurückkehren können, wenn sie erneut Angst haben oder unvorhersehbare Dinge geschehen oder wenn sie feststellen sollten, dass der Schritt der Ablösung und Trennung von der Therapie und der Abschied zu früh erfolgt sind. Wenn die therapeutische Bindungsbeziehung von Sicherheit und Schutz geprägt war, werden Patienten immer wieder auf die therapeutische Beziehung zurückgreifen, wenn sie zu späteren Zeiten in Not, Angst und Schrecken geraten und ihnen diese Empfindungen so bedrohlich erscheinen, dass sie glauben, dies nicht alleine bewältigen zu können. Oftmals sind die Behandlungsphasen dann kürzer. Solche erneuten Kurzbehandlungen bezeichne ich dann als »Intervallbehandlungen«.

Es ist selbstverständlich, dass der Patient in solchen Fällen auf die sichere emotionale therapeutische Beziehung der früheren Therapie zurückgreifen kann, da die therapeutische Bindung in der Übertragungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient mit dem Abschied am Ende der ersten Therapie nicht aufgelöst wird. Vielmehr nimmt der Patient die innere sichere Repräsentation aus der therapeutischen Beziehung mit in sein Alltagsleben hinein und kann dann auch bei schwierigen, komplexen, Angst machenden Situationen auf diese zurückgreifen, ohne dass er den Therapeuten real aufsuchen oder überhaupt kontaktieren muss. Wenn er die Situation aber nicht bewältigen kann und sie ihm als sehr stressvoll erscheint, ist es eine wichtige Erfahrung und Information für den Patienten, dass er sich dann selbstredend jederzeit wieder bei seiner »therapeutischen sicheren Basis« melden und an den vorigen therapeutischen Prozess anknüpfen kann.

Da die gesamte Vorgeschichte des Patienten mit seinen spezifischen Verletzungen bekannt ist, können solche therapeutischen Intervallbehandlungen in der Regel ohne größere Verzögerung und »Anwärmphase« beginnen. Es ist eine Erfahrung, die ich immer wieder mache, dass Patienten Platz nehmen und auch nach Jahren in der Therapie fortfahren, als ob sie gestern die letzte Stunde gehabt hätten (Brisch 2010 a; Bowlby 1995).

Spezielle Grundlagen der Bindungspsychotherapie für Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern

Eltern mit Säuglingen und Kleinkindern sind, bezogen auf ihre Kinder, mitten im Bindungsaufbau. Während von ihnen gefordert ist, dass sie ein sicheres Bonding mit ihren Kindern entwickeln und diesen wiederum durch feinfühlige Interaktionen die Möglichkeit geben, sich sicher an sie, an Vater und/oder Mutter, zu binden, sind die Eltern gleichzeitig in hohem Maße mit den Problemen des Alltags beschäftigt. Das Baby muss gewickelt, gefüttert, gestillt, bei Krankheiten entsprechend gepflegt und unterstützt werden. Viele Kinderkrankheiten sind eigentlich nichts Besonderes, wenn sie aber das erste Baby betreffen, so ist alles – jeder Infekt, das Fieber, die verstopfte Nase, die erste Kinderkrankheit, das Impfen, der erste Durchfall, die erste Verstopfung – so neu, dass sich die Eltern oftmals überfordert fühlen. Selbst wenn sie bereits mehrere Kinder haben und gelassener auf diese Dinge reagieren, erweist sich doch vieles – wie Infekte und Zahnen und auch die Reaktion auf Kinderkrankheiten – als so unterschiedlich, dass sich die Eltern immer wieder neu auf das jeweilige Baby und seine Reaktionen einstellen müssen.

Die Besonderheit der bindungsorientierten Therapie und Beratung in dieser Altersphase des Kindes besteht darin, dass auf der einen Seite die Bindungsgefühle der Eltern und ihre Bindungserfahrungen aus der eigenen Kindheit, die ja teilweise sogar auf die vorsprachliche Zeit mit ihren eigenen Eltern zurückgehen, unbewusst aktiviert werden. Solchermaßen aktiviert werden Gefühle von Sicherheit, Versorgung, Ängste, Alleinsein, welche die Eltern selbst als Kind – sprich: als Säugling oder Kleinkind – erlebt haben. Dies führt dann andererseits dazu, dass die Eltern sich in der Auseinandersetzung mit ihrem Säugling und seiner Pflege, ihren jeweiligen Voraussetzungen entsprechend, sehr unterschiedlich verhalten.

Wie die Therapiebeispiele in diesem Band zeigen werden, können Eltern, die selbst Schutz und Sicherheit erfahren haben und eine sichere Bindung zu ihren eigenen Eltern aufbauen konnten, jetzt auch in der Regel feinfühliger auf die Signale ihres Kindes eingehen; sind sie durch Entwicklungsschritte der Kinder verunsichert, so sind sie in der Lage, rasch bei ihren eigenen Bindungspersonen, aber auch beim Kinderarzt oder in einer Babysprechstunde Hilfe zu holen.

Eltern, die eher bindungsvermeidend aufgewachsen sind und auf deren Signale in der eigenen Kindheit eher mit Zurückweisung reagiert wurde, versuchen oft, alleine mit den Sorgen zurechtzukommen, und melden sich dann erst sehr spät in der Kinderklinik oder beim Kinderarzt, greifen Hilfsangebote nicht auf, halten eine Beratung in einer Babysprechstunde oder Beratungsstelle für überflüssig. Sich Hilfe zu holen erleben sie als Versagen, da sie – tief verankert in ihrem Bindungssystem – dem vermeidenden Bindungsmuster entsprechend abgespeichert haben, dass sie eigentlich mit allen Aufgaben und Konflikten und Problemen alleine zurechtkommen sollten.

Bindungsambivalent gebundene Eltern werden dagegen eher übermäßig sensibel und relativ rasch auf kleinste Signale ihres Kindes reagieren, sich einerseits Hilfe holen wollen, andererseits aber – wegen der bindungsvermeidenden Anteile ihres Bindungsmusters – auch Termine wieder absagen oder einfach nicht erscheinen. Sie werden Hilfe suchen, doch gleichzeitig Schuldgefühle haben, da ihnen ein innerer Anteil sagt, dass sie eigentlich alle Aufgaben alleine bewältigen müssten.

Diese Verhaltensweisen sind für das medizinische Personal, Sprechstundenassistentinnen, Helferinnen, aber auch für Psychotherapeuten und Ärzte eine besondere Herausforderung. Normalerweise ist das »Helfersystem« darauf eingerichtet, auf Hilferufe zu reagieren und dann unterstützend zur Verfügung zu stehen. Wenn aber diejenigen, die um Hilfe rufen, gleichzeitig signalisieren, dass sie keine Hilfe brauchen und alleine zurechtkommen, so ist dies ein klassisches Beispiel für eine Doppelbotschaft. Diese wird in einer durchschnittlichen, »normalen« Kommunikation nicht ausreichend verstanden, vielmehr besteht für alle im kommunikativen System Beteiligten die Gefahr, dass die Botschaften als verwirrend erlebt werden. Aus diesem Grunde müssen alle am Helfersystem Beteiligten – auch etwa der Vater, wenn nur die Mutter ambivalent gebunden ist, und die Krippenerzieherin – über solche Bindungsmuster Bescheid wissen, damit sie trotz der ambivalenten Botschaften ihr Angebot, auf Bindungssignale zu reagieren und Hilfestellung zu geben, aufrechterhalten, und zwar eben auch bei Absagen.

Nicht selten tauchen solche Eltern doch noch in der Praxis oder in der Kinderklinik auf, meist kurz vor Ende der Sprechzeit, oder sie rufen über die Notfallnummer an und melden sich mit »schlechtem Gewissen«: Eigentlich, so sagen sie dann, hätten sie versuchen wollen, alleine mit dem Problem zurechtzukommen – dem Fieber des Kindes, einer besonderen Erkrankung oder anderen Fragestellungen –, das Problem sei jetzt aber eskaliert und so benötigten sie daher jetzt dringend und sofort Hilfe und Unterstützung. Diese allen im Helfersystem wohlbekannten »schwierigen« Eltern sind eine echte Herausforderung, sie lösen Ärger und Unverständnis aus und stoßen nicht selten auf Zurückweisung oder Kritik, nach dem Motto: »Warum sind Sie denn nicht während der Sprechstundenzeit gekommen, wenn Ihr Kind bereits seit letzter Nacht fiebert?« Diese Frage ist natürlich berechtigt, eine bindungssichere Mutter in der gleichen Situation hätte längst während der Sprechstunde den Kinderarzt aufgesucht; die bindungsambivalente Mutter versucht aufgrund ihrer bindungsvermeidenden Anteile das Problem alleine zu lösen, solange sie irgendwie kann, um dann doch, oft relativ spät, Hilfe zu holen und den Notfalldienst zu beanspruchen – wobei sie nicht selten die Botschaft vermittelt, dass sie das Problem wahrscheinlich auch alleine hätte lösen können. Gerade solche Botschaften lösen dann bei den Beteiligten Ärger und Irritationen aus, weil sie in einem normalen Helfersystem nicht auf Anhieb verstanden werden; insbesondere ist den am Helfersystem Beteiligten nicht klar, auf welchen Bindungsmustern auf Seiten der Mutter oder der Eltern diese Verhaltensweisen beruhen.

Sind die Eltern durch frühere eigene Erfahrungen, womöglich aus der eigenen Säuglings- und Kleinkindzeit, traumatisiert, haben sie Gewalt, Vernachlässigung, sexuellen Missbrauch oder Schlimmeres erlebt, werden sie mit großer Wahrscheinlichkeit ein desorganisiertes Bindungsmuster aufweisen, das sich bei ihnen im Erwachsenenalter dann als Borderline-Persönlichkeitssymptomatik darstellen kann. Solche Eltern verhalten sich gegenüber den potentiellen Helfern aggressiv oder machen ihnen gleich Vorwürfe; sie werden etwa beim Kinderarzt oder der Babysprechstunde anrufen und sofort vorwurfsvoll fragen, warum sie nicht schon längst einen Termin bekommen hätten, warum sie so lange warten müssten, warum sie nicht sofort an die Reihe kommen – obwohl sie die Praxis gerade erst betreten haben. Sie sehen sich und ihr Kind als besonderen »Notfall«, der vorgezogen werden muss. Sie können ihre Angst, ihre Affekte, ihre Wut, Enttäuschung – die etwas mit ihren frühen eigenen Erfahrungen von Angst, Panik und Verlassenheit zu tun haben – selbst kaum steuern; sie sind leicht aufgebracht, vorwurfsvoll renitent oder resigniert und enttäuscht, ziehen sich manchmal zurück. Sie wechseln öfters den Arzt, die Beratungs- und Helfersysteme, spielen diese in deren Augen gegeneinander aus. Dies ist aber nur der Ausdruck ihrer enormen affektiven Erregung, die dadurch zustande kommt, dass das Baby mit seiner Not – bzw. seinen Symptomen – in ihnen eigene frühe Gefühle von Verlassenheit, Angst und Panik auslöst und diese dann auf das Helfersystem projiziert werden. Die Helfer werden dann beschimpft, weil sie unfähig seien, sich nicht auskennen würden, ja nicht einmal wüssten, wie man dem Baby in einer solchen Lage angemessen helfen könne.

In einer bindungsorientierten Beratung und Therapie ist es notwendig, solche Eltern auf dem Hintergrund ihrer frühen eigenen Erfahrungen zu sehen, denn nur wenn diese mit einbezogen und wahrgenommen werden, können die Helfer den Eltern mit Verständnis und entspannt begegnen. Vom gesamten System – von allen, die darin arbeiten – ist gefordert, dass die Affekte dieser Eltern gehalten und modifiziert werden; die Helfer dürfen nicht »mitagieren«, indem sie den Eltern etwa Vorwürfe machen, sie wegschicken oder kritisieren. Im schlimmsten Fall könnte ein Mitagieren der Helfer dazu führen, dass die Eltern mit ihrem Baby etwas erleben, was sie selbst als Säugling in ihrer Kindheit erlebt haben: Ihre Ängste wurden nicht gesehen, sie wurden alleine gelassen, zurückgewiesen und vernachlässigt. Auf diese Weise wäre die Geschichte der Eltern, forciert durch deren Verhalten, im medizinischen oder beraterischen System reinszeniert und wiederholt worden. Hoch emotional aufgeladene Eltern drängen die Helferinnen und Helfer geradezu in die Position, mitzuagieren und die eigenen Defizite und Erfahrungen zu wiederholen. Die von solchen Eltern in ihrer eigenen Kindheit gemachte und »abgespeicherte« Erfahrung, dass ihnen nicht geholfen wird, dass sie mit Einsamkeit und Verlassenheit selbst zurechtkommen müssen, erleben sie jetzt ähnlich in Bezug auf ihren Säugling, sie sind zutiefst enttäuscht, erschüttert, wütend, dass auch auf ihr Kind – so ihre Sicht – nicht angemessen eingegangen und ihm nicht rasch genug geholfen wird.

Andere Eltern mögen in einer solchen Situation aufgrund der frühen Erfahrung von Verlassenheit und Deprivation vielleicht resignieren. Sie werden sich dann gar nicht melden, sie nehmen Symptome ihres Säuglings eventuell gar nicht erst wahr bzw. registrieren sie nicht als bedrohlich. Solche Eltern würden sich konsequenterweise mit ihrem Kind überhaupt nicht ans Helfersystem wenden. Für den Säugling kann die Existenz eines solchen von Resignation und Alleinsein geprägten Anteils bedeuten, dass er ebenso vernachlässigt und in seiner Not nicht adäquat behandelt und gesehen wird, wie seine Eltern es selbst als Säugling erlebt haben. So wird auch verständlich, dass diese Eltern oft überhaupt nicht auffallen und erst durch Zufall oder auf Umwegen mit ihrem häufig kranken oder vernachlässigten Säugling Kontakt zum System der Jugendhilfe oder dem Gesundheitssystem bekommen, sodass erst relativ spät Hilfe organisiert werden kann. Unter diesen Umständen sind Säuglinge sehr gefährdet und können im schlimmsten Fall von Entwicklungsstörungen und Schäden betroffen sein, weil sie von den Eltern nicht ausreichend betreut oder auch von Vertretern der Hilfesysteme nicht versorgt werden konnten.

Für solche Eltern ist es besonders wichtig, dass im therapeutischen System Klarheit und Struktur herrscht und dass auch aufsuchende Hilfen angeboten werden. Alle beteiligten Helfer müssen sich sehr gut absprechen und austauschen, weil solche Eltern teilweise dazu neigen, parallel verschiedene Helfersysteme – wie Kinderklinik, Kinderarzt, Beratungsstelle, Jugendamt – aufzusuchen und mit ihrer Not zu konfrontieren. Manchmal zeigen diese Eltern gegenüber den Helfern eine gewisse Aggressivität und sind übermäßig besorgt, oder sie verleugnen, dass sie Hilfe brauchen, und versuchen sich auf verschiedenste Art und Weise den Helfersystemen zu entziehen. Dies geschieht dann auch durch einen Wechsel der Kinderklinik oder des Kinderarztes oder gar des Wohnortes; damit entziehen sie sich auch dem zuständigen Jugendamt.

Eine bindungsorientierte Beratung dieser Eltern ist dringend geboten, da sie durch den Säugling mit ihren eigenen frühen Erfahrungen von Einsamkeit, Verlassenheit und auch mit erlebter Gewalt und ähnlichen traumatischen Erfahrungen konfrontiert werden können, wenn er heranwächst, weint, bedürftig ist, Wutanfälle bekommt, wenn sie also mit der Anforderung konfrontiert sind, ihr Kind in einer solchen Situation zu versorgen, ihm Schutz und Sicherheit zu geben, verlässlich und liebevoll Grenzen zu setzen sowie emotional konstant verfügbar zu sein.

Im besten Falle werden die therapeutischen Helfer – der bindungsorientierte Berater, die Therapeutin, der bindungsorientierte Kinderarzt – für diese Eltern zu einer sicheren Basis, das gesamte System sorgt für Schutz und Sicherheit und Beziehungskonstanz sowie Klarheit und Austausch mit entsprechenden klaren Regeln und Verlässlichkeit. Dies ist dann die Grundlage, von der aus die jeweils spezifischen vorgebrachten Schwierigkeiten des Säuglings oder Kleinkindes mit den Eltern durch Beratung und therapeutisch angegangen werden können (siehe auch Brisch 2013c).

Die transgenerationale Weitergabe von Erfahrungen der Eltern an ihre Säuglinge und Kleinkinder

Ausführliche Längsschnittstudien zeigen, dass Bindungserfahrungen der Eltern aus der eigenen Kindheit in die Interaktionen mit ihrem Säugling und Kleinkind eingehen. Dies bedeutet, dass die Eltern im positiven Sinne Erfahrungen von Schutz, Sicherheit, Unterstützung, liebevoller Versorgung, feinfühliger Pflege, hilfreicher und feinfühliger Exploration der Welt mit ihrem Säugling wiederholen und entsprechend selbst feinfühlig auf die Signale ihres Säuglings oder Kleinkindes eingehen können.

Haben sie dagegen Erfahrungen gemacht, die von Angst, Zurückweisung, Einsamkeit, Alleinsein geprägt waren, bis hin zu Gewalt, Vernachlässigung, körperlichem und sexuellem Missbrauch, dann besteht ein großes Risiko, dass sie genau diese Erfahrungen mit ihrem Kind wiederholen, wenn sie diese nicht durch eine Beratung oder Psychotherapie verarbeiten konnten.

Hier wäre es von großer Bedeutung, dass die Eltern sich solche Erfahrungen bereits präventiv, etwa durch die Teilnahme an Elternprogrammen – z. B. in Form des SAFE®-Programms –, anschauen und sie dann auch in einer individuellen Beratung und Therapie verarbeiten. Es ist durchaus möglich, solchen Eltern in entsprechenden videobasierten Feinfühligkeitstrainings zu helfen, die Signale ihrer Säuglinge und Kleinkinder genauer und differenzierter wahrzunehmen, als sie dies selbst bei ihren Eltern erlebt haben. Für die individuelle Verarbeitung von schmerzlichen, ja traumatischen Erfahrungen ist darüber hinaus der geschützte Rahmen einer individuellen Psychotherapie indiziert. Auf diese Weise wird eine »Vernarbung« alter Erfahrungen, die mit großem Stress, Angst und Bedrohung verbunden waren, möglich. Wenn dies gelungen ist, können Eltern trotz ihrer schwierigen Voraussetzungen nach unserer therapeutischen Erfahrung feinfühlig auf ihre Säuglinge und Kleinkinder eingehen und diese so begleiten und betreuen, dass diese eine sichere Bindung an ihre Eltern entwickeln können.

Diese Erkenntnis ist für die meisten Eltern noch neu. Sie sind oft sehr darauf konzentriert, dass sie all die schmerzlichen Erfahrungen in keiner Weise mit ihrem eigenen Säugling wiederholen wollen; schon während der Schwangerschaft sowie für die Zeit nach der Geburt nehmen sie sich sehr bewusst vor, ihr Baby gesund und auch bindungsorientiert mit großer Feinfühligkeit zu versorgen und ihm eine sichere Entwicklung zu ermöglichen. Mit ihrem eigenen Baby soll sogar ein Teil der eigenen schmerzlichen Kindheit wieder »heilen«, vergleichbar Mythologien und Religionen, in denen die Geburt eines Kindes einen Neuanfang und eine Form der Rettung und Heilung symbolisiert.

Leider haben Eltern oft kaum eine andere Möglichkeit, als sich so zu verhalten, wie sie das selbst erlebt haben, weil sie keine positiven alternativen, neuen Erfahrungen gemacht haben und auch keine Ressourcen haben, auf die sie zurückgreifen könnten. Es ist für Eltern dann ein schmerzliches Erlebnis, wenn sie feststellen, dass sie – trotz guter Absichten – in Situationen, in denen etwa ihr Säugling weint oder ihr kleines Kind einen Wutanfall bekommt, ihre eigenen Gefühle und Affekte nicht mehr kontrollieren können und »ausrasten« bzw. von Gefühlen überschwemmt werden. In einer solchen Situation werden sie dann versuchen, auf irgendeine Weise den »Trigger«,