Karl Heinz Brisch

Grundschulalter

Bindungspsychotherapie –
Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie

Klett-Cotta

Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie,

eine Reihe in zehn Bänden von Karl Heinz Brisch

Das Wissen der Bindungstheorie kann vielfältig für eine bindungsbasierte Beratung und Therapie in allen Altersstufen angewandt werden, wobei sich die Diagnostik und Behandlung je nach Lebensalter der Patienten unterschiedlich gestaltet.

Anhand von vielen Beispielen aus der klinischen Praxis gibt die Reihe eine Einführung in die Grundlagen der Bindungstheorie und in die diagnostischen Methoden und die Schritte einer bindungsorientierten Beratung und Therapie vom Säuglings- bis ins Erwachsenenalter.

Jeder Band enthält

ein Kapitel über die spezifischen Grundlagen der Bindungspsychotherapie für die jeweilige Altersstufe resp. Klienten- oder Patientengruppe,

zahlreiche ausführliche und kommentierte Therapiebeispiele.

Die Einzelbände behandeln folgende Themen:

1. Band: Schwangerschaft und Geburt

2. Band: Säuglings- und Kleinkindalter

3. Band: Kindergartenalter

4. Band: Grundschulalter

5. Band: Pubertät

Weitere Bände in Vorbereitung

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Roland Sazinger

unter Verwendung eines Fotos von © Laurent Hamels/fotolia

Datenkonvertierung: Eberl & Koesel Studio, Altusried-Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94831-8

E-Book: ISBN 978-3-608-10966-5

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20333-2

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Dank

Ich danke allen Eltern und Kindern sowie Kolleginnen und Kollegen, durch die ich die verschiedensten Therapieerfahrungen machen konnte, denn diese sind in die Fallgeschichten dieses Buches eingeflossen. Ohne diese gesammelten klinischen Erfahrungen wäre es mir nicht möglich gewesen, dieses Buch zu schreiben.

Dank des großen Engagements von Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta konnte auch dieser vierte Band der Reihe »Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie« rasch beim Verlag umgesetzt werden. Ohne das große Engagement von Birgit Vogel, die wiederum rasch und zuverlässig aus meinen Diktaten das erste Manuskript zu diesem Buch erstellt hat, wäre diese Publikation nicht so schnell möglich gewesen. Ein besonderer Dank gilt Thomas Reichert, der in bewährter Weise wiederum das Lektorat übernommen hat und dessen Rückmeldungen und Korrekturvorschläge dieses Buch wesentlich leichter lesbar gemacht haben.

Vorwort

Das vorliegende Buch ist der vierte Band aus der Reihe »Bindungspsychotherapie – Bindungsbasierte Beratung und Psychotherapie«. Er fokussiert auf die Entwicklungszeit des Grundschulalters. In diesem Buch werden zunächst – wie in den bisher erschienenen Bänden – die Grundlagen einer bindungsorientierten Psychotherapie ausführlich erläutert und die Besonderheiten für die Altersphase des sechsten bis zehnten Lebensjahres dargestellt. An vielen Fallbeispielen wird danach aufgezeigt, wie die unterschiedlichsten Symptome der Kinder mit den Lebensgeschichten und den frühen Bindungserfahrungen der Eltern sowie weiterer Bindungspersonen und mit deren Kindheit zusammenhängen. Die bindungsorientierte Psychotherapie und Beratung sowie die vielfältigen bindungsorientierten Ansätze werden anhand von vielen Fallbeispielen nachvollziehbar dargestellt.

Ein besonderer Fokus der Behandlungsbeispiele1 liegt auf der Problematik, die sich ergibt, wenn die Eltern durch ihre eigenen psychischen Probleme, psychiatrischen Erkrankungen, ja sogar Gewalttätigkeit in der Partnerschaft die Entwicklung ihrer Kinder gefährden. Hierbei spielen besonders die früheren Erfahrungen der Kinder mit ihren Bindungspersonen eine große Rolle, deren Auswirkungen sich teilweise erst im Grundschulalter durch die Entwicklung von Symptomen zeigen. Die Beispiele sollen verdeutlichen, wie Störungen in dieser Zeit entstehen können, aber auch, wie durch sehr zeitige Interventionen, etwa eine Kinderspieltherapie, die jeweils auch die Beratung und teilweise sogar die Therapie der Eltern – mit Fokus auf ihre Lebensgeschichte – mit einschließt, eine Veränderung für die Kinder, aber auch für die Eltern und teilweise die ganze Familie erreicht werden kann.

Dieser Band richtet sich an alle, die mit Eltern und Grundschulkindern arbeiten und diese auf ihrem Entwicklungsweg begleiten, wie etwa Lehrerinnen und Lehrer, Kinderärzte, Allgemeinärzte, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychiater und Psychotherapeuten, Krankenschwestern und Pfleger, Psychologen, Berater, Sozialarbeiter, Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Jugendamtes sowie der Sozialdienste, Pädagogen, Heilpädagogen, Krankengymnasten, Erzieherinnen und Erzieher, etwa in heilpädagogischen Tagesstätten, und Seelsorger sowie letztlich auch an Eltern. Ich hoffe, dass alle diese Zielgruppen durch die im Buch beschriebenen theoretischen Grundlagen sowie durch die Fallbeispiele in ihrer täglichen Arbeit profitieren können und dass viele sich angesprochen fühlen, das Präventionsprogramm »B.A.S.E.® – Babywatching« in ihren jeweiligen Einrichtungen einzuführen.

Karl Heinz Brisch

Einleitung

Die Grundschuljahre, mit denen sich dieses Buch beschäftigt, sind für die Entwicklung eines Kindes von großer Bedeutung, weil die Kinder in dieser Zeit zeigen, wie gut das psychische Fundament ist, das in den vorausgegangenen Jahren bei ihnen angelegt wurde. Auf dem Boden einer sicheren Bindung konnte im besten Fall sowohl eine gesunde motorische, kognitive, soziale als auch eine gesunde emotionale Entwicklung des Kindes gelingen. Die vorausgegangene Phase des Kindergartenalters kann allerdings bereits von vielfältigen Schwierigkeiten und Störungen begleitet sein (s. Band 3 der Reihe »Bindungspsychotherapie«), deren Auswirkungen sich erst im Grundschulalter zeigen, wenn das Kind in der Gruppe der »Schulkinder« dem Unterricht folgen und die dort gestellten Aufgaben bewältigen muss. Besonders dann, wenn das Kind in dieser Zeit mit unvorhergesehenen psychischen Belastungen konfrontiert wird, wird deutlich, wie stabil das frühe Bindungsfundament angelegt wurde und wie unterschiedlich – je nach früher Entwicklung – sich die eventuell erforderliche Behandlung gestaltet.

Im ersten Teil dieses Bandes werden die allgemeinen Grundlagen einer Bindungspsychotherapie sowie der speziellen Variationen der Bindungspsychotherapie für Eltern und Kinder im Grundschulalter beschrieben. Im zweiten Teil gehe ich auf die Besonderheiten der Bindungsentwicklung im Grundschulalter ein. Nach einer einleitenden Darstellung, welche die gesunde Entwicklung beschreibt, stelle ich Schutz- und Risikofaktoren dar. Diese können in der einen oder anderen Weise die Bindungsentwicklung entweder unterstützen oder auch komplizieren, so dass das Kind und die Eltern womöglich eine bindungsorientierte Hilfestellung und Therapie benötigen. Das Vorgehen in einer solchen Therapie wird im anschließenden dritten Teil an den verschiedenen Therapiebeispielen verdeutlicht.

In diesem Teil werden entsprechend aus bindungstheoretischer Sicht mittels Beispielen verschiedenste Verhaltensauffälligkeiten und ihre bindungsorientierte Behandlung beschrieben, wie etwa bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Schlafstörungen, Trennungsängsten, Leistungsversagen, besonderen Schwierigkeiten von Adoptiv- und Pflegekindern, aggressiven Verhaltensweisen, Erfahrungen von körperlicher, sexueller und emotionaler Gewalt, Einnässen und Einkoten, Verlust einer Bindungsperson, Bindungsstörungen und Tics. Hierbei wird auch auf Erfahrungen aus der Geschichte der Eltern eingegangen, die als Risikofaktoren die Entwicklung ihres Kindes beeinflussen können, z. B. auf Erfahrungen von Vernachlässigung, Gewalt aufseiten der Eltern sowie auch psychiatrische Erkrankungen. Welche Bedeutung dies alles für die Entwicklung des Kindes hat, wird an Fallbeispielen diskutiert.

Zudem werden die bindungsorientierte Psychodynamik der Symptomentwicklung sowie die Therapie der Kinder erläutert. In den Behandlungsbeispielen geht es um sehr relevante Themen und Auffälligkeiten des kindlichen Verhaltens, mit denen Eltern, aber auch Lehrerinnen und Lehrer, Therapeutinnen und Therapeuten, Pädagoginnen und Pädagogen sowie Kinderärztinnen und Kinderärzte wie auch Kinder- und Jugendpsychiaterinnen und -psychiater heute konfrontiert sind und die sie sehr beschäftigen. In den Therapiebeispielen schildere ich auch jeweils die bindungsorientierte Begleitung, Beratung und Therapie der Eltern, denn ohne entsprechende »Elternarbeit« ist die Behandlung der Grundschulkinder kaum möglich.

Im vierten Teil beschreibe ich die Möglichkeiten einer Prävention in Bezug auf aggressive und ängstliche Verhaltensstörungen mit dem von mir entwickelten Programm »B.A.S.E.® – Babywatching«, das inzwischen in vielen Grundschulklassen in den verschiedensten Ländern der Welt mit Erfolg eingesetzt wird (www.base-babywatching.de)

Das Buch weist in einigen Fallbeispielen bereits auf die bindungsorientierte Arbeit mit Eltern und mit Kindern in der Pubertät hin, die in einem weiteren, fünften Band zur Psychotherapie beschrieben wird.

Teil 1

Bindungspsychotherapie

Allgemeine Grundlagen einer Bindungspsychotherapie und bindungsbasierten Beratung

Eine bindungsbasierte Beratung und Therapie – im Folgenden auch kurz Bindungspsychotherapie genannt – ist keine eigenständige Therapiemethode. Vielmehr geht es darum, eine bindungsorientierte Sichtweise in Diagnostik und Behandlung aufzunehmen. Sie kann mit sehr unterschiedlichen Therapieschulen und Methoden kombiniert und in sie integriert werden.2

Als grundsätzliche Voraussetzung, um mit einer bindungsbasierten Psychotherapie beginnen zu können, gilt, dass ein sicherer äußerer Rahmen gegeben sein muss. Zunächst sollten äußere Stressoren – besonders soziale Stressoren wie Arbeitslosigkeit, Armut, Wohnungslosigkeit, aber auch Stressoren durch nahe Bindungs- und Beziehungspersonen – so weit wie möglich reduziert werden. Weiterhin ist eine Grundvoraussetzung, dass ein sicherer »innerer Rahmen« gegeben ist. Damit ist gemeint, dass die betroffenen Patienten zu einer ausreichenden Stress- und Affektregulation im Alltag fähig sind. Hierzu sind eine gewisse emotionale Sicherheit und ein gewisses Maß an Stabilisierung notwendig.

Sind diese Voraussetzungen nicht gegeben, so ist eher an eine stationäre denn an eine ambulante Beratung oder Bindungspsychotherapie zu denken. Ein sicherer äußerer wie innerer Rahmen als Grundvoraussetzung für die Psychotherapie ist immer so frühzeitig und so langfristig anzustreben wie irgend möglich (Bowlby 2001; Brisch 2015; Holmes 2002, 2006, 2012).

Ich beschreibe im Folgenden verschiedene Phasen der Bindungspsychotherapie.

Fünf Phasen der Bindungspsychotherapie

Phase 1: In der Anfangsphase ist es immer von großer Bedeutung, dass der Therapeut bzw. die Therapeutin einen sicheren emotionalen therapeutischen Bindungsrahmen herstellen kann. Bei den Klienten/Patienten gibt es die verschiedensten Bindungsstörungsmuster und auch Bindungsschwierigkeiten, wenn sie in der Anfangsphase mit dem Therapeuten einen therapeutischen Kontakt herstellen wollen. Hier ist es sehr wichtig, dass die Therapeuten die verschiedenen Muster der Bindung sowie auch der Bindungsstörungen kennen, um sich auf die bizarren Varianten der Interaktionsmuster und der Kontaktaufnahme einzustellen und dem Klienten bzw. Patienten dennoch die Möglichkeit zu geben, eine sichere Beziehung im Sinne einer therapeutischen Bindung herzustellen. Dies muss der Therapeut an erster Stelle leisten.

Wenn ein Patient – z. B. mit einem bindungsvermeidenden Muster – einen Termin, den er als dringlich bezeichnet und verabredet hat, nicht wahrnimmt, könnte ein Therapeut daraus schließen, dass er kein Interesse an der Therapie hat. Dies wäre aber ein Fehlschluss, da es bei bindungsvermeidenden Klienten/Patienten nicht selten ist, dass sie zwar einen Therapiewunsch haben, gleichzeitig aber Therapietermine zu Anfang nur zögerlich, verspätet oder gar nicht wahrnehmen. Hier ist es erforderlich, dass der Therapeut im telefonischen Kontakt nachfragt und nicht gleich die Therapie daran scheitern lässt, dass der für den Erstkontakt vereinbarte Termin nicht wahrgenommen wurde.

Für die Herstellung einer therapeutischen Bindung ist es von großer Bedeutung, dass die Therapeuten mit maximaler therapeutischer Feinfühligkeit vorgehen. Dies heißt aber, dass sie die Fähigkeit hierzu vorher selbst durch entsprechende Ausbildung erworben haben müssen; es mag »Naturtalente« geben, die von Haus aus große Fähigkeiten zur therapeutischen Feinfühligkeit mitbringen, alle anderen Therapeuten müssen dies im Rahmen der Ausbildung anhand von entsprechenden Supervisionen, Feedbacks, Videotrainings und dergleichen lernen – andernfalls bestünde keine gute Voraussetzung, um eine sichere therapeutische Bindung herstellen zu können. Nach wie vor ist aber die Ausbildung in therapeutischer Feinfühligkeit nicht Kernbestandteil jeder therapeutischen Ausbildung – das gilt für alle therapeutischen Schulen.

Phase 2: Wenn sich der Klient/Patient in der therapeutischen Beziehung langsam sicherer fühlt, wird er beginnen, seine Lebensgeschichte und seine aktuellen Konflikte und Probleme etwas mehr zu explorieren, sprich: uns als Therapeuten zu berichten. Es ist wichtig zu wissen, dass zwischen sich entwickelnder Bindungssicherheit und beginnender Exploration ein Gleichgewicht bzw. eine wechselseitige Abhängigkeit besteht – das heißt konkret: Wenn die Bindungssicherheit wächst, der Patient sich sicherer fühlt, wird automatisch die Explorationsfreude und -bereitschaft aktiviert. Umgekehrt bedeutet dies: Wenn der Patient in der Therapie Angst bekommt oder wir ihm durch unsere Haltung, Gestik, Mimik, unsere Art der Intervention Angst machen, wird er automatisch seine Explorationsfähigkeit und damit auch den Bericht über seine aktuellen Schwierigkeiten und Probleme oder seine Lebensgeschichte etwas mehr einschränken.

Von besonderer Bedeutung für die bindungstherapeutische Arbeit sind Trennungserfahrungen, Verluste sowie traumatische Erfahrungen, weil diese das Bindungssystem gemäß dem Ansatz der Bindungstheorie am meisten aktivieren. Die Exploration soll in der Therapie mehr an bindungsrelevanten Themen »entlanggehen« und diese auch fokussieren und es sollte weniger konfliktzentriert gearbeitet werden. Es geht also weniger um Konflikte zwischen Wunsch und Angst, die sich aus verschiedenen lebensgeschichtlichen Perspektiven und aus verschiedenen entwicklungspsychologischen Phasen ergeben haben können, sondern um eine Bindungsanamnese, die speziell auf bindungsrelevante Themen fokussiert. Das Erwachsenen-Bindungsinterview (Adult Attachment Interview, AAI; vgl. Main et al., 2003; George et al., 1984; Gloger-Tippelt 1997) ist eine ausgezeichnete Möglichkeit, eine Bindungsanamnese sehr strukturiert durchzuführen. (Die Fragen des AAI sind auf S. 319–324 in Brisch 2015 nachzulesen.) In der Arbeit mit Schwangeren, werdenden Vätern und jungen Eltern kann das Bindungsinterview bei der Frage danach, ob die Betreffenden wichtige Menschen verloren haben, noch um die Frage nach verstorbenen Kindern – auch etwa Schwangerschaftsunterbrechungen, Fehl- und Totgeburten – ergänzt werden. Bei früheren Verlusten von Kindern kann eine solche stressvolle Erfahrung es den Eltern erschweren, ihre Kinder angemessen bei Ablösungsphasen zu begleiten. Die Eltern können sich dann schlechter trennen und sind eher überängstlich und eventuell auch überfürsorglich.

Phase 3: Der Patient macht in der Beziehung zum Therapeuten neue Bindungserfahrungen, erlebt entsprechend Sicherheit und emotionale Unterstützung, womit auch die therapeutische Bindungsbeziehung sich stabilisiert und wächst; gleichzeitig wird er aufgrund erster Enttäuschungen und Irritationen in der Bindungssicherheit in der Übertragung beginnen, alte Erfahrungen von Verlusten und Trennungen und stressvolle Erfahrungen auf den Therapeuten zu projizieren. Das heißt, es kommt zu einer Bindungsübertragung in der Therapie; dies bedeutet, dass der Patient seine Bindungswünsche und -ängste auf den Therapeuten überträgt und auch seine bisherigen Bindungserfahrungen – z. B. Bindungstraumatisierungen in der Beziehung mit frühen Bindungspersonen – in der Beziehung mit dem Therapeuten aktivieren und inszenieren wird. Besonders am Anfang und am Ende der Stunde kann das Thema »Trennung« relevant werden, bewirkt durch mit dem Setting verbundene Trennungen wie eben das Ende der Stunde, vorhergesehene Therapieunterbrechungen etwa durch Urlaube, unvorhergesehene Unterbrechungen z. B. durch Krankheiten des Therapeuten. All diese Trennungen können das Bindungssystem des Patienten »erschüttern«, etwa wenn dieser traumatische Trennungserfahrungen erlebt hat, oder »stressen«, so dass er hierdurch in der Übertragung seine bindungsrelevanten Erfahrungen neu zeigen und für den Therapeuten auch offenlegen kann. Hier ist es wichtig, dass der Therapeut diese Inszenierung der Bindungsübertragung versteht, die in der Regel mit Angst, Wut, Enttäuschung und Hoffnung auf mehr Sicherheit und Stabilität verbunden ist.

Gleichzeitig werden auch Realtraumatisierungen aus der Kindheit oder der Vergangenheit des Patienten zum Thema werden, da er durch die Trennungserfahrungen aus der Therapie in der Regel, wie wir sagen, »getriggert« wird, so dass er alte, ungelöste traumatische Erfahrungen jetzt plötzlich wieder intensiver mit allen damit verbundenen Gefühlen wahrnimmt. (»Trigger« ist im Amerikanischen der Abzug am Gewehr. Wenn dieser bis zu einem Druckpunkt und schließlich darüber hinaus gespannt wird, dann löst sich beim Überschreiten des Druckpunktes die Kugel, der Schuss geht los und lässt sich nicht mehr aufhalten oder zurückhalten; ähnlich ist es mit alten unverarbeiteten Affekten: Werden sie durch andere Reize aus der Erinnerung wachgerufen, kommen sie immer mehr an die Oberfläche des affektiven Erlebens. Steigt der affektive Druck über den »Druckpunkt« an, kommt es zu einer plötzlichen affektiven Überflutung und einem Ausbrechen der Affekte; diese können weder »zurückgeholt« noch kontrolliert werden.)

Solche »Triggerungen« von früheren Verlusten und Trennungserfahrungen oder traumatischen Erfahrungen lassen sich erfahrungsgemäß nicht vermeiden; sie sind auch durchaus erwünscht, wenn erst einmal eine stabile therapeutische Bindungsbeziehung etabliert ist. Dann können die Erfahrungen mit eigenen unverarbeiteten Affekten in der therapeutischen Bindungsbeziehung gehalten, neu in einer geschützten sicheren therapeutischen Bindungsbeziehung prozessiert und verarbeitet und somit auch integriert werden. Jetzt hat der Patient – im Unterschied zu der früheren traumatischen Situation – eine therapeutische Bindungsperson zur Seite, so dass er sich nicht mehr vor den heftigen Affekten fürchten muss. Es wird nun möglich, alte traumatische Erfahrungen entsprechend zu prozessieren. Hierbei können weitere therapeutische Methoden, wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) (Hofmann 2014; Hofmann & Besser 2003; Brisch 2012a, b) und Screentechnik (Brisch 2004, 2006) Anwendung finden.

Es können viele therapeutische Methoden, auch kreative Methoden wie Kunst-, Musik- und Bewegungstherapie, angewandt werden, um Affekte, die noch nicht verarbeitet sind, zu integrieren. Grundsätzlich ist zu bemerken: Bei den alten unverarbeiteten Bindungstraumatisierungen, die der Patient – mit den entsprechenden seelischen Wunden – überlebt und überstanden hat, besteht das größte Problem darin, dass die mit diesen Erfahrungen verbundenen Affekte abgespalten oder dissoziiert wurden. In der therapeutischen Beziehung können diese Affekte mit den entsprechenden Erfahrungen wiederbelebt und aktiviert werden, z. B. auch durch die Bindungsübertragung. Aufgrund dieser Aktivierung wird es jetzt möglich, auf dem Boden einer hilfreichen, realen, sicheren therapeutischen Bindungsbeziehung die alten unverarbeiteten Affekte erneut zu verarbeiten und auch mit den entsprechenden Geschichten bzw. Narrativen der Erfahrung zu verbinden, so dass es zu einer Integration des Erlebten kommen kann.

Phase 4: Wenn mehr und mehr solcher alten affektiven Erfahrungen positiv verarbeitet und integriert werden können, hat der Patient in der Regel mit seinen Affekten mehr »Luft« zum »Atmen und Handeln« und mehr Möglichkeiten für eine Veränderung seiner Realbeziehung. In der Regel berichten die Patienten dann, dass sie auch außerhalb der Therapie neue Erfahrungen mit Personen machen konnten. Gleichzeitig beginnt eine intensive Phase der Trauerarbeit. Meist können die Patienten jetzt realisieren, wie ihr Leben hätte verlaufen können, wenn sie diese oder jene traumatische Trennungs- und Verlusterfahrung nicht gemacht hätten.

Am Ende der Therapie wird es möglich zu sehen, dass der Patient seine ursprüngliche Bindungsrepräsentation – diese kann vermeidend, ambivalent oder auch desorganisiert sein – verändert hat und er in der therapeutischen Beziehung vielleicht zum ersten Mal ein inneres Gefühl von emotionaler Sicherheit erlebt, integriert und »emotional abgespeichert« hat. Wir sprechen dann von einer erworbenen Bindungssicherheit (»earned secure«; vgl. Main 1995) – von einer Sicherheit, die durch die Therapie erst auf den Weg gebracht wurde und durch sie erworben oder gewonnen werden konnte.

In der Phase der Trauerarbeit kann es den Patienten phasenweise noch mal sehr schlecht gehen; sie sind depressiv, suizidal und hadern teilweise mit ihrem Schicksal, dass sie etwa in ihrer Kindheit durch solche Höllenqualen und schlimmen Erfahrungen hindurchgehen mussten und ihnen dadurch so viele Möglichkeiten und Entwicklungen in ihrem Leben versperrt geblieben sind. Es ist wichtig, dass diese Phase ausreichend bearbeitet und in der therapeutischen Beziehung erlebt werden kann, d. h. es ist genügend Raum für die Trauerarbeit erforderlich. Wenn ein Patient viele bindungsrelevante Trennungs- und Verlusterfahrungen durchgemacht hat, gibt es genügend Grund, auch hierüber real zu trauern. Oftmals sind die heftigen Gefühle von Schmerz und Trauer bisher noch nie in eine Beziehung eingebracht worden, so dass jetzt, in der therapeutischen Bindungsbeziehung, erstmals auch Trost, Unterstützung, Verständnis, Anerkennung des Leids und liebevolle Begleitung im Trauern erfahren werden können. Dies ist genau das Gegenteil von dem, was die Patienten oft vorher erlebt haben: nämlich Verleugnung des Schmerzes, reale Traumatisierung, keine Anerkennung der schmerzvollen und leidvollen Erfahrungen, die vielmehr bagatellisiert oder als solche verleugnet wurden.

Phase 5: Wenn mehr und mehr traumatisches Material und bindungsaffektgeladene Erfahrungen verarbeitet wurden, kann der Patient zunehmend außerhalb der Therapie explorative neue Wege gehen, sich auf neue Beziehungen, aber auch auf neue berufliche Aktivitäten und andere Weisen der explorativen Erkundung des Lebens einlassen. Zum ersten Mal kann er über einen Abschied von der Therapie nachdenken, gleichzeitig ist diese Phase dann aber auch von Ängsten im Hinblick darauf geprägt, wie der Patient in der Lage sein wird, ohne die therapeutische Unterstützung und die Sicherheit der Therapie den Alltag zu leben und zu gestalten.

Intervallbehandlung

Aus diesem Grunde biete ich den Patienten immer wieder an, dass sie jederzeit in die Therapie zurückkehren können, wenn sie erneut Angst haben oder unvorhersehbare Dinge geschehen oder wenn sie feststellen sollten, dass der Schritt der Ablösung und Trennung von der Therapie und der Abschied zu früh erfolgt sind. Wenn die therapeutische Bindungsbeziehung von Sicherheit und Schutz geprägt war, werden Patienten immer wieder auf die therapeutische Beziehung zurückgreifen, wenn sie zu späteren Zeiten in Not, Angst und Schrecken geraten und ihnen diese Empfindungen so bedrohlich erscheinen, dass sie glauben, dies nicht alleine bewältigen zu können. Oftmals sind die Behandlungsphasen dann kürzer. Solche erneuten Kurzbehandlungen bezeichne ich dann als »Intervallbehandlung«.

Es ist selbstverständlich, dass der Patient in solchen Fällen auf die sichere emotionale therapeutische Beziehung der früheren Therapie zurückgreifen kann, da die therapeutische Bindung in der Übertragungsbeziehung zwischen Therapeut und Patient mit dem Abschied am Ende der ersten Therapie nicht aufgelöst wird. Vielmehr nimmt der Patient die innere sichere Repräsentation aus der therapeutischen Beziehung mit in sein Alltagsleben hinein und kann dann auch bei schwierigen, komplexen, Angst machenden Situationen auf diese zurückgreifen, ohne dass er den Therapeuten real aufsuchen oder überhaupt kontaktieren muss. Wenn er die Situation aber nicht bewältigen kann und sie ihm als sehr stressvoll erscheint, ist es eine wichtige Erfahrung und Information für den Patienten, dass er sich dann jederzeit wieder bei seiner »therapeutischen sicheren Basis« melden und an den vorigen therapeutischen Prozess anknüpfen kann.

Da die gesamte Vorgeschichte des Patienten mit seinen spezifischen Verletzungen bekannt ist, können solche therapeutischen Intervallbehandlungen in der Regel ohne größere Verzögerung und »Anwärmphase« beginnen. Es ist eine Erfahrung, die ich immer wieder mache, dass Patienten Platz nehmen und auch nach Jahren in der Therapie fortfahren, als ob sie gestern die letzte Stunde gehabt hätten (Bowlby 1995; Brisch 2012c; 2015).

Spezielle Grundlagen der Bindungspsychotherapie in Bezug auf Kinder im Grundschulalter und ihre Eltern

Kinder haben bis zum Grundschulalter ein inneres Arbeitsmodell von Bindung – eine sogenannte Bindungsrepräsentation – entwickelt. Dieses kann sicher, unsicher-vermeidend oder unsicher-ambivalent sein oder sogar psychopathologisch, wenn es desorganisiert ist oder eine Bindungsstörung besteht. Je nach Ausbildung der Bindungsrepräsentation des Kindes und der Bindungsrepräsentation seiner Eltern gestaltet sich der bindungsorientierte Zugang zum Kind und seinen Symptomen unterschiedlich.

Eine besondere Herausforderung im Grundschulalter bedeuten das gesteigerte Erkundungsbedürfnis der Kinder, ihr Drang nach Bewegung und Aktivität und ihr Wille, etwas über die Welt, die sie umgibt, zu lernen. Sie wollen herumtollen und die Welt der belebten und unbelebten Objekte aktiv – und auf eigene Faust – kennenlernen, erkunden, »auseinandernehmen«, um zu erfahren, was sie »im Innersten zusammenhält«; dazu gehören auch das Smartphone, der Laptop oder die Eisenbahn. Gleichzeitig sind Kinder dieses Alters schon sehr in Beziehungen eingebunden, denn das Beziehnungsnetz erweitert sich: Zu den familiären Beziehungen kommen die zu den Lehrerinnen und Lehrern, Bindungspersonen in der Grundschule, hinzu; es entstehen Freundschaften mit ihren Spiel- und Klassenkameraden und andere Personen werden wichtig, etwa der Fussballtrainer, die Sporttrainerin, die Musiklehrer, welche außerhalb der Grundschule die Sportgruppe anleiten bzw. musikalischen Unterricht geben.

Wie die Beispiele zeigen, müssen sich Grundschulkinder – ohne die Anwesenheit ihrer Hauptbindungspersonen – mit vielen Beziehungen auseinandersetzen; sie nehmen sie unterschiedlich wahr und schätzen sie im Hinblick auf Bindung etwa als sicher, bedrohlich oder angstmachend ein, genauso wie die Situationen, die sie bewältigen müssen. Es ist für die Kinder gar nicht so einfach, etwa in der Schulklasse – bei oftmals großer Dynamik in den Gruppenprozessen – einen sicheren Platz zu finden.

Im günstigen Fall sind die Eltern als Bindungspersonen eine sichere Basis und die Kinder können sich auf weitere Bindungspersonen – etwa die Pädagoginnen und Pädagogen in der Schule – einlassen, eine Entwicklung, die einen großen Schritt zu mehr Autonomie bedeutet. Die »Kreise« der Welterkundung, welche die Kinder in diesem Alter – zwischen 6 und 10 Jahren – ziehen, werden, wenn die Entwicklung gut verläuft, immer größer, bis etwa dahin, dass sie bei Freundinnen oder Freunden übernachten: vielleicht die erste Übernachtung »ganz alleine«, ohne dass Mutter oder Vater in greifbarer Nähe sind! Gelingt dies, sind die Kinder in der Regel sehr stolz und »wachsen«, d. h. spüren den Gewinn in ihrer Autonomie.

Wenn Kinder im Grundschulalter sind, werden bei ihren Eltern als Bindungspersonen eigene Erfahrungen aus dieser Altersperiode aktiviert. Eventuell können die Eltern diese Erfahrungen noch sehr gut erinnern, sie sind für sie »bewusstseinsnäher« als früher, etwa in der Kindergartenzeit, Erlebtes. Die Erfahrungen vor dem zweiten, dritten Lebensjahr, manchmal auch noch aus der Kindergartenzeit unterliegen oft der frühkindlichen Amnesie, können also nicht mehr erinnert werden und stammen somit aus dem vorsprachlichen Bereich.

Wenn die Eltern in ihrer eigenen Grundschulzeit Erfahrungen von Einsamkeit, Trennung, Vernachlässigung, Gewalt oder andere traumatische Erfahrungen durchlebt haben, werden sie jetzt die Schulzeit ihres Kindes als besonders stressvoll erleben. Auch über die Schule hinausgehende Erfahrungen, die das Kind in dieser Zeit macht, wenn es die Welt erkundet, können bei den Eltern alte Erfahrungen in ihrer Erinnerung aktivieren und so zu stressvollen Interaktionen mit ihrem Kind führen. Manchmal wollen die Eltern ihr Kind schützen, damit es nicht ähnlich schwierigen, eventuell sogar traumatischen Erfahrungen ausgesetzt ist, wie sie selbst sie in jener Zeit gemacht haben. Dies kann zu heftigen Streitereien und Auseinandersetzungen zwischen Eltern und Kind führen, wenn Letzteres nicht nachvollziehen kann, warum ihm bestimmte Erkundungen und Erfahrungen verboten werden, die aus seiner Sicht unproblematisch und erwünscht sind. Die Kinder wissen ja in der Regel nichts von den »schlechten Erfahrungen«, die ihre Eltern in jener Zeit gemacht haben und die noch nicht verarbeitet sind.

Eltern, die selbst bindungssicher sind und auch bindungssichere Kinder haben, werden den Wechsel vom Kindergarten in die erste Schulklasse feinfühlig begleiten und ihr Kind dabei unterstützen, dass es zur Lehrerin bzw. zum Lehrer eine sichere emotionale Beziehung aufbauen kann, so dass es sich an diese Person wenden kann, wenn es in der Schulklasse großen Stress, Angst oder auch Bedrohung erlebt.

Solche Eltern sehen wir in der Kindertherapie oder in der Beratung selten, da sie ihrem Kind bei größeren Sorgen, Gefahren oder anderweitigen Aktivierungen des Bindungssystems als sichere Bindungsperson zur Seite stehen und ihm helfen. Das Kind wird sich bei Schwierigkeiten unmittelbar an sie wenden. Gibt es jedoch in einer Familie traumatische Erfahrungen, so ist es gut, wenn sie sich sehr rasch um eine Beratung bzw. eine Psychotherapie ihres Kindes kümmern. Sie können das Kind dabei in der Regel gut unterstützen, begleiten und in der Elternarbeit als aktive Partner mitwirken.

Im Grundschulalter können die Kinder im Allgemeinen in der Kinderspieltherapie ihre innere psychische Welt sehr gut im Symbol- und Rollenspiel zum Ausdruck bringen. In der Regel freuen sie sich auf das Kinderspieltherapiezimmer, erkunden neugierig die ihnen fremden, aber doch für sie interessanten Spielsachen und beginnen mit der Zeit, im Rahmen der Spieltherapie ihre inneren Welten und Konflikte zu spielen, zu inszenieren, im Rollenspiel zu zeigen. In der Art ihrer Spielhemmung bringen sie zum Ausdruck, wo sie ihre großen Konflikte, Ängste und Schwierigkeiten haben. Begleitend dazu findet eine intensive Elternarbeit statt.

Je nach dem Bindungssystem des Kinder oder auch der Eltern gestalten sich der Beginn der Kinderspieltherapie und ihre Entwicklung, aber auch die Elternarbeit bzw. die Elternberatung sehr unterschiedlich.

Unsicher-vermeidende Bindung

Ist das Kind z. B. unsicher-vermeidend gebunden, so wird es sich in der Kinderspieltherapie eher zunächst an Regelspielen »festhalten«, Gefühle und Affekte vermeiden, wenig inszenieren, im Spiel sehr zurückhaltend sein, oft über Stunden mit nur einem Spiel spielen, etwa mit einem Regelspiel. Der Therapeut bzw. die Therapeutin verzweifelt dann oft immer mehr, weil er bzw. sie nicht spüren und erleben kann, was das Kind im Inneren eigentlich bewegt und beschäftigt, außer eben Verzweiflung, welche der Therapeut (die Therapeutin) in der Gegenübertragung erlebt, und Angst. Es ist also auf Therapeutenseite ein »langer Atem« erforderlich, wobei über kleine feinfühlige Interaktionen dem Kind mit der Zeit ermöglicht wird, so viel Sicherheit zu entwickeln, dass es beginnen kann, etwas von seinen angstmachenden Affekten zu zeigen, die abgespalten und »vermieden« sind. Ein solch geduldiges Vorgehen ist wichtig, wurde dem Kind doch – indem es keine Antwort bekam, bedroht oder zurückgewiesen wurde – sehr früh in der Bindungsbeziehung zu seinen Eltern oder anderen Bindungspersonen vermittelt, dass es Ängste und andere Affekte nicht zeigen, darstellen oder im Spiel zum Ausdruck bringen darf. Es hat also sehr früh gelernt, sich irgendwie selbst zu helfen und nicht andere, etwa im Spiel, um Hilfe zu bitten, indem es dort seine innere Welt darstellte.

Sind auch die Eltern – wie ihr Kind – bindungsvermeidend, wird die Therapeutin (der Therapeut) vermutlich große Schwierigkeiten haben, mit ihnen Termine auszumachen. Die Eltern werden wahrscheinlich kurzfristig Termine absagen, zu spät kommen, sie werden über viele Regeln sprechen, sehr darauf drängen, dass sie Ratschläge bekommen und dass das Kind möglichst rasch behandelt und wieder funktionsfähig gemacht wird. Wenn man das Kind und seine Eltern erlebt, ist es immer wieder erstaunlich, wie sehr die Affekte abgespalten sind und in welchem Maße es um Objektives, Machbarkeit, Reparatur und Reglement geht. Die Eltern haben dabei sehr klare Vorstellungen davon, wie ihr Kind funktionieren, wie es sich verhalten soll; dabei sollen die Symptome einfach »abgeschaltet« oder »weggemacht« werden.

Versuche, mit den Eltern gemeinsam zu verstehen und das »Rätsel« zu lösen, warum das Kind sich so verhält, wie es sich verhält, warum es diese Symptome entwickelt hat, welche innerseelischen Konflikte in den Symptomen zum Ausdruck kommen, werden von den Eltern abgelehnt. Vielmehr wollen sie Handlungsanweisungen und gute Ratschläge, damit sie ihrem Kind helfen können, dass es in der Schule besser »funktioniert« und möglichst gute Leistungen erzielt. Die Orientierung der Eltern verläuft sehr auf der funktionalen Leistungs-, weniger auf der Gefühlsebene. Je mehr und je rascher die Therapeutin (der Therapeut) in den Elterngesprächen über Gefühle zu sprechen beginnt und hierauf einen Fokus legt, desto mehr müssen die Eltern abwehren, sich zurückziehen, Termine absagen, bis dahin, dass sie manchmal die Therapie ganz abbrechen.

Es erfordert somit viel Geduld, mit bindungsvermeidenden Eltern ein therapeutisches Bündnis im Sinne einer sicheren emotionalen therapeutischen Bindung aufzubauen. Genauso verhält es sich beim Kind, das ebenso Gefühle abgespalten hat, besonders seine Not nicht zum Ausdruck bringt, sondern über das scheinbar unermüdliche Spielen von Regelspielen versucht, sich in den Spieltherapien emotional »über Wasser« zu halten, und dabei vermeiden will, sich mit seinen Gefühlen beschäftigen zu müssen. Stellt der Therapeut (die Therapeutin) in der Spieltherapie zu schnell Gefühle in den Mittelpunkt, wird das Kind sich noch mehr zurückziehen, darüber klagen, dass die Spieltherapie langweilig sei, oder sich sogar weigern, zur Spieltherapie zu kommen. Man kann Grundschulkinder nicht dazu zwingen, einen Spieltherapieraum zu betreten und sich dort über ihre Gefühle zu äußern bzw. diese im Spiel zu zeigen, sie müssen dies schon freiwillig tun.

Es braucht also allergrößte Feinfühligkeit der Therapeutin (des Therapeuten), um genau diese vermeidende Abwehrstruktur des Kindes und seine Bindungsangst zu sehen, ihm im Spielzimmer nicht zu sehr räumlich und emotional »auf die Pelle zu rücken«, seine räumliche und emotionale Distanz zu achten und dennoch mit dem Kind in Kontakt zu bleiben. Zeigt das Kind etwas von seiner Not, ist es erforderlich, äußerst vorsichtig auf diese einzugehen. Dies sollte aber ebenso mit einer größeren Distanz erfolgen, damit das Kind endlich etwas von seinen Gefühlen zeigen kann, und nicht mit überschwänglichen Freude darüber, dass das Kind sich öffnet, denn eine solche Reaktion würde ihm wieder zu viel Angst machen und es erneut eher in den Rückzug drängen.