Der neue Landdoktor 28 – Sein gerechter Lohn?

Der neue Landdoktor –28–

Sein gerechter Lohn?

Sophie ist die Retterin in der Not

Roman von Tessa Hofreiter

»Guten Morgen, liebste Anna!« Die blonde junge Frau, die auf den großen, mit Blumen geschmackvoll gestalteten Balkon hinaustrat, reckte und streckte sich genüsslich. Ihr Blick fiel auf den reichhaltig gedeckten Frühstückstisch, und sie lachte freudig auf. »Meine Güte, was werde ich von dir verwöhnt!«

Anna Bergmann, die hübsche, sehr beliebte Hebamme von Bergmoosbach, gab ihrer Freundin einen Kuss auf die Wange und stellte die Kanne mit duftendem Kaffee auf den Tisch. »Das ist wohl das Mindeste, was ich tun kann. Meine beste Freundin kommt zu Besuch, und ich habe keinen Urlaub, um mich um sie zu kümmern. Da brauchen wir zwischendurch ein Verwöhnprogramm.«

»Das sich sehen lassen kann!« Die junge Frau in seidiger, kurzer Schlafanzughose und hellblauem Hemdchen mit Spitzenträgern schaute anerkennend über den Tisch. Es gab Kaffee und Orangensaft, knackig frische Semmeln und buttrige Croissants, Marmeladen, herzhafte Wurst und Käsesorten, gekochte Eier und frisches Obst. »Frühstückst du jeden Morgen so? Dann musst du mir das Geheimnis verraten, wie du dabei so eine tolle Figur behältst.«

Anna grinste spitzbübisch. »Wenn du im Voralpenland mit dem Fahrrad unterwegs bist, liebe Sophie, dann ist das das beste Fitnesstraining, und du kannst dir alle bayerischen Schmankerln leisten.«

Sophie nahm sich eine Schale mit frischen Erdbeeren und schaute ihre Freundin bewundernd an. »Du bist also immer noch mit deinem Mountainbike unterwegs, selbst zu den abgelegenen Höfen, die am Berg liegen?«

»Meistens ja«, antwortete Anna. Sie versorgte sich mit einem Croissant und Blaubeermarmelade und machte es sich in ihrem Korbsessel gemütlich. »Das Auto nehme ich natürlich, wenn es mal sehr schnell gehen muss, es in Strömen regnet oder der Hof wirklich weit oben liegt. Ansonsten wird gestrampelt. An mein pinkfarbenes Mountainbike haben sich die Leute gewöhnt, es heißt hier allgemein das Storchenrad. Ich kann es unabgeschlossen stehen lassen, niemand würde es klauen.«

»Wie schön! Das klingt idyllisch«, sagte Sophie mit einem leisen Unterton von Sehnsucht in der Stimme. Sie kam aus der Großstadt, war aber sehr naturverbunden.

Anna stupste ihr sanft mit dem nackten Fuß gegen das Bein. »Na, du, hängst du mal wieder deinen Träumen vom Landleben nach?«

»Nee, ist schon alles gut so«, erwiderte Sophie. Sie zog ihre hübsche Nase kraus und sah mal wieder aus wie ein unternehmungslustiger Kobold. »Eine Säuglingsschwester, die auf der Intensivstation für Frühchen arbeitet, muss in der Nähe eines großen Krankenhauses wohnen. Du als Hebamme hast andere Möglichkeiten, deinen Beruf auszuüben.«

»Stimmt. Und ich kann nur sagen, ich bin sehr zufrieden damit, dass es mich nach Bergmoosbach verschlagen hat!« Annas grüne Augen leuchteten. »Auch wenn ich damals gedacht habe, nach Svens Untreue und dem Weggang aus unserem Klinikum wäre alles nur noch Grau in Grau.«

»So, so!« Sophie schmunzelte. Vom besagten Sven gab es noch einiges zu berichten, aber sie wollte nicht alle Neuigkeiten gleich am ersten Tag erzählen. »Und dass du dich hier so wohl fühlst, hat rein gar nichts mit deinem Kollegen, dem sagenhaften, warmherzigen, klugen, einfühlsamen, gut aussehenden Doktor Sebastian Seefeld zu tun?«

»Ha! Alte Spottdrossel!« Anna funkelte ihre Freundin herausfordernd an. »Heute Abend sind wir bei ihm und seiner Familie eingeladen, da wirst du ihn persönlich kennenlernen. Dann werden wir ja sehen, wie du ihn findest und ob ich übertrieben habe!«

»Bestimmt ist er so toll, wie du ihn mir in gefühlt tausend Telefonaten beschrieben hast!«, grinste Sophie. »Ich bin wirklich gespannt darauf, ihn endlich kennenzulernen.«

Mit Schwung warf Anna ihre langen, dunklen Haare über die Schulter. »Ich freu mich auf heute Abend!«, verkündete sie strahlend. »Bis dahin habe ich Kurse in meiner Praxis und einige Hausbesuche, zwei davon in Nachbargemeinden. Es wird also dauern, bis ich wieder hier bin. Was wirst du tun, währen ich arbeite? Legst du dich auf den Balkon zum Lesen oder bist du unterwegs?«

»Ich will beides tun«, antwortet Sophie. »Zuerst möchte ich mich in Bergmoosbach und Umgebung umschauen, dann faulenze ich auf dem Balkon.«

»Du und faulenzen?« Anna zog die Augenbrauen hoch. »Kann ich mir nicht wirklich vorstellen, du bist doch viel zu quirlig.«

»Du wirst dich wundern, wie ruhig mein Leben geworden ist, besonders mein Liebesleben«, antwortete Sophie mit einem Seufzer. Vor zwei Jahren hatten sie und ihr langjähriger Freund sich getrennt, und seitdem lebte die junge Frau allein. »Ich möchte endlich mal einen attraktiven und interessanten Mann kennenlernen, der ledig ist und keinen Haufen Probleme mit sich herumschleppt!«

»Das wünschen sich wohl viele Frauen«, stimmte Anna zu. Sie stand von ihrem gemütlichen Sessel auf und warf ihrer Freundin eine Kusshand zu. »Ich muss jetzt los. Mach dir einen schönen Tag, genieße das Spielen mit Betty, unser beschauliches Bergmoosbach und tu das, was auch immer du tun willst. Wir sehen uns dann heute Abend.«

»Servus, Anna!« Sophie verabschiedete sich von ihrer Freundin und beugte sich dann zu deren kleiner getigerter Katze hinunter, die schnurrend um ihre Beine strich. »So, meine Süße, jetzt gibt es eine Runde Kuscheln und Schmusen, und dann werde ich mich auch auf den Weg machen. Ich freue mich auf alles, was ich zu sehen bekomme.«

Wenig später war die junge Frau geduscht und angezogen, hatte den Frühstückstisch abgeräumt und schlenderte nun entspannt über den Marktplatz des kleinen Ortes, der zur Heimat für ihre beste Freundin geworden war. Bergmoosbach war wirklich idyllisch mit seinen weißen Häusern, der Lüftlmalerei, der Blumenpracht auf den hölzernen Balkonen und den verwinkelten Straßen und Gassen. Es waren zwar auch viele Touristen unterwegs, aber diese Betriebsamkeit nahm nicht überhand und raubte dem Dorf auch nicht seinen ursprünglichen Charakter.

Sophie ließ sich durch die Straßen treiben, blieb vor dem einen oder anderen Schaufenster stehen und schlenderte dann die Holzergasse entlang, die sich aus dem Ort hinaus einen Hügel hinaufzog. Die junge Frau trug sommerliche Freizeitkleidung und offene Schuhe, sie wollte keine Bergwanderung unternehmen, sondern einen ausgedehnten Spaziergang durch Wald und Wiesen.

Nachdem sie lange Zeit ziellos durch das üppige Grün gestreift war, sah sie unter sich den Sternwolkensee in der Sonne glitzern. Das Ufergebiet um das große Gewässer war zum Glück nur sehr spärlich bebaut, sodass die schöne Natur erhalten geblieben war. Insekten summten im hohen Gras, und schimmernde Libellen flitzten zwischen den hohen Schilfhalmen hin und her.

Entzückt folgte Sophie ihnen mit dem Blick. Sie achtete mehr auf den Flug der Insekten als auf ihren Weg und bemerkte nicht, dass sie den kleinen Pfad verlassen hatte, auf dem sie immer tiefer in das Ufergebiet vorgedrungen war. Dass sie trockenen Boden verlassen hatte, bemerkte sie erst, als sie knöcheltief im Matsch versank.

»Oh, Mist!« Sophie schrak zusammen. Sie versuchte, die Füße zu befreien, aber wohin sie auch trat, alles war morastig. Hilfesuchend schaute die junge Frau sich um, denn sie brauchte einen Gegenstand, um sich festzuhalten. Leider waren keine größeren Äste oder Zweige in Greifweite, nur schwankendes, raschelndes Schilfrohr, dessen scharfkantige Blätter in ihre Hände schnitten, als sie danach griff. »Ach, verdammter Obermist!«, schimpfte sie, wütend auf sich selbst und ihre Unachtsamkeit.

Sophie geriet nicht in Panik, denn sie wusste, dass sie sich nicht in einem gefährlichen Moor aufhielt, sondern im sumpfigen Ufergebiet des Sees, aber ihre Lage war trotzdem unangenehm genug. Ungeduldig versuchte sie, festen Boden unter die Füße zu bekommen, aber genau diese Ungeduld wurde ihr jetzt zum Verhängnis. Sie verlor das Gleichgewicht und landete mit einem ziemlicher Klatscher auf dem Hosenboden. Brackwasser und Morast spritzten hoch, bekleckerten sie buchstäblich von Kopf bis Fuß, nun war sie wirklich durchnässt.

»Bravo! Ganz toll gemacht, Sophie Seidel!«, knurrte sie. »Und wie kommst du nun wieder aus dieser Matschepampe raus?«

»Festhalten!«, befahl plötzlich eine tiefe Männerstimme

Sophies Kopf fuhr herum, und sie sah eine lange Holzstange, die ihr entgegengestreckt wurde. »Was? Wer …?«, fragte sie erstaunt.

»Entweder Sie drehen sich um und krabbeln auf allen Vieren auf den Pfad zurück, der ist genau links von Ihnen«, unterbrach sie die Stimme. »Oder Sie halten sich an der Stange fest und kommen zu meinem Kahn herüber. Das Wasser ist flach, Sie können hier gut stehen. Ich bringe Sie zu meinem Anleger, wenn Sie das vorziehen.«

»Nasser kann ich ja kaum werden«, antwortete Sophie. »Ich komme zu Ihnen rüber.«

Die Stange bot ihr genügend Halt, sodass sie von dem schlammigen Boden aufstehen konnte. Vorsichtig watete sie durch das raschelnde Schilf zu ihrem unbekannten Retter hinüber. Es war ein Mann, der in einem flachen Kahn stand. Die Stange, die er ihr gereicht hatte, diente dazu, das schmale Gefährt durch das Schilf zu staken. Der Mann nickte ihr zu und sagte knapp: »Folgen Sie mir. Wir sind gleich beim Steg.«

Sophie zögerte kurz, als sie sich ihrer Lage bewusst wurde. Über und über mit Matsch bekleckert stand sie bis zur Taille im Wasser und sollte einem Unbekannten durch ein Gebiet folgen, das sie nicht kannte? Ganz ungefährlich erschien ihr das nicht! Stell dich nicht so an! Du bist hier nicht am Amazonas, sondern am Sternwolkensee in Bergmoosbach. Also los!, redete Sophie sich selber zu und setzte sich in Bewegung. Es war ein merkwürdiges Gefühl, sich durch die Wasserpflanzen zu bewegen, und die junge Frau hoffte sehr, dass nichts Lebendiges, Glibberiges ihre Beine streifen würde!

Nach kurzer Zeit hatten sie einen hölzernen Steg erreicht, der in das Schilf hineinragte. Der Mann vertäute den Kahn an der Längsseite und stieg mühsam auf die alten, aber gut gepflegten Planken. Sophie stütze sich ab und zog sich auf den festen Untergrund. Und dort stand sie dann, tropfnass, zerzaust und sehr, sehr schmutzig. Sie wischte sich das Spritzwasser aus den Augen und starrte den Fremden an.

Der Mann war sehr groß und breitschultrig, aber hager. Er hatte unordentliche, dunkle Haare und braune Augen, die sie ausdruckslos musterten. Bekleidet war er mit dunklen Jeans und einem alten Hemd, dessen Ärmel aufgekrempelt waren. Er stützte sich auf einen knorrigen Handstock mit breitem Griff.

»Sie sehen aus wie eine Katze, die man versucht hat zu ertränken«, stellte er fest.

»Vielen Dank, sehr freundlich!«, fauchte Sophie. Er hatte ihr zwar aus der Klemme geholfen, aber er war ein Rüpel! »Gibt es einen festen Weg, den ich benutzen kann, oder kann man von hier nur schwimmend oder im Kahn wegkommen?«

Der Mann deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Hinter der Hütte verläuft ein kleiner Pfad durchs Schilf, der in die Uferwiesen mündet. Von dort kommt man auf den Uferweg.«

Sophie bemerkte erst jetzt, dass sich der Anleger weiter hinten im Ufergebiet zu einer großen Plattform erweiterte, die halb aufs Wasser ragte und halb auf dem Land ruhte. Darauf stand eine schlichte Holzhütte, aus deren Schornstein eine zarte Rauchfahne empor stieg. Die Plattform war von hohem Schilf und einem Stückchen Wiese umgeben, das in dichten, urwüchsigen Wald überging. Sie erkannte den Trampelpfad im Gras, von dem der Mann gesprochen hatte.

»Danke! Sie waren der perfekte Wegweiser!«, sagte Sophie, warf den Kopf in den Nacken und marschierte los, nass und schlammig wie sie war.

»Oder Sie schwimmen eine Runde durch den See, um den Morast abzuwaschen, kommen dann zu meiner Hütte, ziehen sich trockene Sachen an und trinken einen Kaffee«, hörte sie ihn plötzlich sagen. Überrascht drehte Sophie sich um. Der Mann stand immer noch auf seinen Stock gestützt und schaute sie ausdruckslos an. Er zuckte leicht mit den Schultern. »Sie können auch so, wie Sie sind, ins Dorf zurückgehen, das ist mir gleich.«

Sophie schaute an sich herunter. Trotz der sommerlichen Temperaturen fühlten sich die nassen Kleidungsstücke unangenehm an, und der trocknende Matsch begann, auf ihrer Haut zu spannen. Jetzt ein Bad in klarem Wasser und dann trockne Klamotten wären wirklich nicht schlecht.

»In Ordnung. Sie können schon mal den Kaffee kochen!«, sagte sie ebenso knapp zu ihm, wie er mit ihr gesprochen hatte.

Ohne ein weiteres Wort ging sie an ihm vorbei zum Ende des Stegs, verschwand in einem eleganten Sprung und schwamm mit sicheren Zügen ins freie Wasser hinaus.

Der Mann zog die Augenbrauen empor. »Donnerwetter!«, murmelte er zwischen den Zähnen. Dann schüttelte er mit einem kleinen, überraschten Auflachen den Kopf. Wider Willen imponierte ihm diese fremde Frau, die ihm seine barsche Art auf dieselbe Weise zurückgegeben hatte.

Er hinkte zu seiner Hütte und suchte ein großes Handtuch, eine Haarbürste und Kleidung heraus, die er draußen auf einen Stuhl legte. Dann ging er hinein und beschäftigte sich damit, Kaffee zu kochen und in seinen wenigen Vorratsdosen nach Keksen zu suchen, die vielleicht noch genießbar waren.

Nach einer Weile hörte er jemanden gegen die offene Tür klopfen und drehte sich um. Die fremde Frau stand dort, umrahmt vom Sonnenlicht, das ihr hellblondes, kringeliges Haar aufleuchten ließ. Sie war barfuß und hatte seine alte, viel zu große Leinen­hose aufgekrempelt und mit dem Gürtel abenteuerlich um ihre schmale Taille festgezurrt. Das verblichene, hellblaue Hemd hatte sie irgendwie zugeknotet und die viel zu langen Ärmel bis zu den Schultern aufgerollt. Sie sah verwegen aus, und ihre Augen waren von einem so intensiven, hellen Blau, dass er seinen Blick abwenden musste, um sich nicht darin zu verlieren.

»Hallo«, sagte sie. »Ich bin Sophie. Sophie Seidel.«

Er musste sich räuspern, weil er plötzlich das Gefühl hatte, dass seine Stimme eingerostet war. »Ich heiße Kaspar Neuhaus«, antwortete er. Anstatt ihr zur Begrüßung die Hand zu geben, reichte er ihr linkisch einen Kaffeebecher. »Genießbare Kekse waren leider nicht mehr vorhanden. Setzen wir uns in die Sonne.« Er hinkte an ihr vorbei zu dem mit Gras bewachsenen Platz und setzte sich auf die alte Bank, die dort stand.

Sophie ließ sich mit einer geschmeidigen Bewegung ins Gras gleiten und schlug die Beine unter. Sie drehte ihr Gesicht zur Sonne und schloss genießerisch die Augen. »Danke für die trockenen Sachen und den Kaffee! Der See ist doch ziemlich kalt, wenn man ins Tiefe schwimmt«, sagte sie.

»Er wird von Gletscherwasser gespeist, deshalb ist er so kalt. Vor allem dann, wenn es geregnet hat und Wasser von den Bergen kommt«, antwortete er.

Sophie fuhr sich mit der freien Hand durch die feuchten Haare und lockerte ihre geringelten Strähnen auf. Kaspar sah, dass sie immer heller leuchteten, je trockner sie wurden.

Beatrice hatte dunkle Haare …, dachte Kaspar und zuckte unter dem vertrauten Schmerz der Erinnerung zusammen.

»Wunderschön hast du es hier! Ist das dein Feriendomizil?«, klang Sophies helle Stimme in die traurigen Gedanken um seine Frau hinein.

Sie duzte ihn! Er zuckte kaum merklich zusammen. »Ja, so ungefähr«, antwortete er ausweichend.