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   Daniel Deutsch– Anna-Maria und die anderen 99 Schafe– Ein Gemeinde-Roman– SCM R.Brockhaus

ISBN 978-3-417-26831-7 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book:

© der deutschen Ausgabe 2017

Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender Ausgabe entnommen:

Text auf S. 280/281 aus: Daniel Deutsch, »Sicher« © 2008 Daniel Deutsch

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch

Über den Autor

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Daniel Deutsch, Jahrgang 1980, studierte Germanistik und Kulturwissenschaft, arbeitete viele Jahre als Lobpreisleiter und Gottesdienstplaner und lebt heute in Bremen und Stuttgart als Singer-Songwriter, Lektor und Autor. Die Idee zu seinem Debütroman hatte er bereits mit 17 Jahren. www.danieldeutsch.de

Inhaltsverzeichnis

Über den Autor

Teil 1: GLAUBE

Kapitel 1 – Sonntag, 7. Dezember 1997

Kapitel 2 – Sonntag, 7. Dezember 1997

Kapitel 3 – Sonntag, 7. Dezember 1997

Kapitel 4 – Donnerstag, 11. Dezember 1997

Kapitel 5 – Donnerstag, 11. Dezember 1997

Kapitel 6 – Freitag, 12. Dezember 1997

Kapitel 7 – Sonntag, 14. Dezember 1997

Kapitel 8 – Sonntag, 14. Dezember 1997

Kapitel 9 – Mittwoch, 17. Dezember 1997

Kapitel 10 – Donnerstag, 18. Dezember 1997

Kapitel 11 – Donnerstag, 18. Dezember 1997

Kapitel 12 – Donnerstag, 18. Dezember 1997

Kapitel 13 – Freitag, 19. Dezember 1997

Kapitel 14 – Samstag, 20. Dezember 1997

Kapitel 15 – Mittwoch, 24. Dezember 1997

Kapitel 16 – Mittwoch, 31. Dezember 1997

Teil 2: HOFFNUNG

Kapitel 17 – Donnerstag, Neujahr 1998

Kapitel 18 – Donnerstag, Neujahr 1998

Kapitel 19 – Freitag, 2. Januar 1998

Kapitel 20 – Freitag, 2. Januar 1998

Kapitel 21 – Mittwoch, 7. Januar 1998

Kapitel 22 – Montag, 12. Januar 1998

Kapitel 23 – Dienstag, 13. Januar 1998

Kapitel 24 – Dienstag, 13. Januar 1998

Kapitel 25 – Donnerstag, 15. Januar 1998

Kapitel 26 – Sonntag, 18. Januar 1998

Teil 3: LIEBE

Kapitel 27 – Samstag, 14. Februar 1998

Kapitel 28 – Samstag, 20. März 1998

Kapitel 29 – Mittwoch, 25. März 1998

Kapitel 30 – Samstag, 28. März 1998

Kapitel 31 – Donnerstag, 2. April 1998

Kapitel 32 – Sonntag, 5. April 1998

Kapitel 33 – Mittwoch, 8. April 1998

Kapitel 34 – Sonntag, 8. April 1998

Kapitel 35 – Samstag, 9. Mai 1998

Teil 4: ABER DIE LIEBE IST DIE GRÖSSTE UNTER IHNEN

Kapitel 36 – Montag, 15. Juni 1998

Kapitel 37 – Samstag, 20. Juni 1998

Kapitel 38 – Mittwoch, 24. Juni 1998

Kapitel 39 – Mittwoch, 24. Juni 1998

Kapitel 40 – Samstag, 27. Juni 1998

Kapitel 41 – Samstag, 4. Juli 1998

Kapitel 42 – Mittwoch, 12. August 1998

Kapitel 43 – Dienstag, 18. August 1998

Kapitel 44 – Dienstag, 18. August 1998

Kapitel 45 – Dienstag, 23. August 1998

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imageTeil 1: GLAUBE

1

Sonntag, 7. Dezember 1997

Es war schon nach Mitternacht, als es klingelte.

Hatte er das eben geträumt?

Doch da klingelte es wieder, diesmal etwas länger.

Er warf sich in seinen Morgenmantel und schlurfte über die alten Dielen langsam zu seiner Wohnungstür.

Es klingelte noch ein drittes Mal. Wahrscheinlich wieder irgendwelche Betrunkenen von drüben aus dem Ratskeller. Er ließ es drauf ankommen, räusperte sich mehrmals und nahm den Hörer von der Sprechanlage in die Hand. »Hallo?«

»Ach, Gott sei Dank! Hallo, Herr Weber. Hier ist Katja … Barloschky.«

Er kratzte sich am Kopf. Beinahe wäre er wieder eingeschlafen, mit dem Vorderkopf an der Wand.

»… Ihre Nachbarin!«

Plötzlich war er hellwach. Katja Barloschky! Tagtraum seiner endlos scheinenden Stunden in der Buchhandlung, Göttin der Morgenröte, Lehrerin der Herzen, Lieblingsmieterin (und im Übrigen auch seine einzige). Sie war vor einigen Monaten in die Wohnung über ihm eingezogen, und noch nie hatte er sich so sehr über den Türspion in seiner Wohnungstür gefreut wie seit jenem Tag. Sie allmorgendlich engelsgleich die Treppe herunterkommen zu sehen, dafür legte er sogar – sobald er ihre Wohnungstür oben ins Schloss fallen hörte – seine heiß geliebte Zeitungslektüre weg und schlich vom Frühstückstisch zum Spion.

»Herr Weber? Sind Sie noch da?«

»Äh, ja, Entschuldigung.«

»Könnten Sie mir bitte aufmachen? Ich habe mich ausgesperrt. Meine Schlüssel liegen oben in meiner Wohnung.«

»Ja, natürlich.« Er drückte auf den Summer – und geriet sofort in Panik, denn nun wurde ihm klar, dass er ihr mitten in der Nacht in diesem Aufzug gegenübertreten musste, um ihr den Nachschlüssel zu überreichen. Während er die Schritte auf der alten Holztreppe näher kommen hörte, schloss er vor dem Spiegel noch fein säuberlich seinen Morgenmantel und brachte seine Haare in Ordnung. Automatisch lugte er durch den Türspion, bis ihm plötzlich klar wurde, dass er ja heute einen Schritt weitergehen musste.

»Hallo, Herr Weber!« Dieser umwerfende Augenaufschlag, mit dem sie sich für die nächtliche Ruhestörung entschuldigte! Und dann ihr blondes, schulterlanges Haar, in dem ein paar Schneeflocken hängen geblieben waren, ebenso wie auch auf ihrem Mantel, der wirkte, als sei er ihr auf den Leib geschneidert worden …

Seine Knie wurden weich. Er kam sich plötzlich ziemlich schäbig vor in seinem Aufzug – und hielt sich sicherheitshalber am Türrahmen fest. »Frau Barloschky, was machen Sie denn hier? Nikolaus war doch bereits gestern.« Er freute sich, dass er damit über seine Unsicherheit hinwegtäuschen und sie zum Lächeln bringen konnte.

»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie geweckt habe. Das ist mir wirklich sehr unangenehm, aber ich komme gerade von der Weihnachtsfeier mit dem Kollegium und, na ja, habe erst jetzt gemerkt, dass ich mich ausgeschlossen habe. Sie sagten mal, Sie hätten noch einen Nachschlüssel, weil Sie neulich auch die Handwerker …?«

»Ja, natürlich.« Er griff in den Schlüsselkasten neben der Haustür und gab ihn ihr, wobei sich ihre Hände kurz berührten, was auch sie offenbar kurzzeitig aus der Fassung brachte.

Nach einer etwas zu langen Pause sagte sie: »Vielen herzlichen Dank! Sie haben mich vor einer eiskalten Nacht im Auto gerettet.« Sie ließ noch mal ihren Augenaufschlag vom Stapel, der seine Wirkung nicht verfehlte.

»Oder vor einer sehr teuren im Hotel. – Keine Ursache!«

Katja B. hatte sich schon halb zur Treppe umgewandt, da drehte sie sich um und sagte plötzlich: »Darf ich Sie als Entschuldigung zum Frühstück einladen?«

Diese Einladung traf ihn wie ein Blitz. Was für ein Traum! Sie und er, zusammen an einem Tisch …

Doch gleich darauf folgte die Ernüchterung. »Ähm …« Plötzlich war seine Unsicherheit wieder da. »Tut mir leid«, sagte er, während er an seiner Brille herumnestelte. »Ich habe eine …«, – er rang um ein passendes Wort – »Vereinssitzung, ja. Wir treffen uns immer sonntags.«

»Ah, ach so, schade. Was ist das denn für ein Verein? Sagen Sie bloß, Sie sind im örtlichen Schützenverein? Ein paar meiner Schüler sind dort auch aktiv, vielleicht kennen Sie sie.«

»Nein, nein.« Er lachte, leicht hysterisch vielleicht sogar, denn ihm wurde sichtlich unwohler. »Es ist eher eine Veranstaltung zum Sitzen, in die ich gehe. Weniger zum Schießen.«

»Zum Sitzen? Schach?«

Er schüttelte den Kopf.

Er bemerkte, wie ihr Blick auf den Segensspruch an der Wand hinter ihm fiel, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Ach so! Sie gehen zum Gottesdienst. Warum sagen Sie das denn nicht gleich!«

Er kratzte sich am Kopf. »Wenn man so will, ja.«

»Das ist aber interessant! Ich finde das immer sehr spannend. Ich hatte schon überlegt, hier in Rhiemberg auch mal eine Kirche zu besuchen.« Sie sah ihn mit ihren großen blauen Augen an. Offenbar erwartete sie eine Reaktion von ihm, doch er nestelte nur an seiner Brille herum und schaute in seinen dunklen Flur, so als habe er seinen Text vergessen und halte Ausschau nach dem Souffleur.

»Vielleicht nehmen Sie mich ja mal mit?« Ihre Augen waren wie die eines kleinen Mädchens auf ihn gerichtet, doch er sah nur auf den Boden und musste schlucken.

»Ist Ihnen nicht gut?«

»Ich … äh, glaube, das ist keine so gute Idee. Das mit dem Mitkommen, meine ich«, fügte er noch murmelnd hinzu.

Und als sie nichts erwiderte, blickte er auf und sah die Enttäuschung in ihrem Gesicht, die sie durch ein tapferes Lächeln zu kaschieren versuchte. Und schon hatte sie sich wieder halb weggedreht. »Ich sollte mich jetzt besser wieder hinlegen.«

So traurig hatte er sie noch nie gesehen. »Okay, dann danke noch mal für den Schlüssel.« Sie hielt ihn lustlos in die Luft und presste ihre Lippen aufeinander. »Ich lege Ihnen den dann morgen früh hier vor ihre Tür. Gute Nacht.« Und damit war sie auch schon auf der Treppe.

»Gute Nacht.« Er schloss die Tür. Und lehnte sich erschöpft dagegen.

Was für ein Riesenhornochse er doch war. Aber in diese Gemeinde, da konnte er wirklich niemanden mitnehmen.

2

Sonntag, 7. Dezember 1997

Um diese Zeit war auf dem Uhlandplatz noch weniger los als sonst. Daran konnten auch die wenigen Gottesdienstbesucher nichts ändern, zumeist graue Gestalten, die für gewöhnlich schnell im Gemeindegebäude verschwanden.

Heute aber wurden sie von zwei 17-Jährigen daran gehindert. Einer von ihnen hatte ein Mikrofon in der Hand, der andere eine Videokamera. Im Moment warteten sie noch auf die nächsten Besucher, und so nutzte der Junge mit der Videokamera die Zeit für ein paar Großaufnahmen des Platzes, an dessen einem Ende das Rhiemberger Stadttheater lag.

Die Kamera fing den Eingangsbereich mit den weißen Säulen ein, zwischen dessen Türen Schwarz-Weiß-Bilder der aktuellen Inszenierungen zu sehen waren, und schwenkte dann über den Platz mit den stattlichen Wohnhäusern aus dem 19. Jahrhundert, die sich auf der einen Seite nahezu lückenlos aneinanderreihten. In der Mitte lag eine Grünfläche mit einem Teich, um den Wege, Parkbänke und alter Baumbestand gruppiert waren. Nun, da der Platz wie mit Puderzucker bestäubt war, wirkte alles wie auf einer Postkarte. Das Eis auf dem Teich war von den Anwohnern wieder aufgehackt worden. Darin schnatterten ein paar Enten herum, denen ein kleines Mädchen Brotkrumen zuwarf.

»Erik!«

Erik schaute von der Kamera auf und zu Simon herüber. »Was ist?«

»Du solltest nur einen kurzen Schwenk über den Platz machen und keinen Naturfilm!«

»Ich dachte, es passt so gut zur Atmosphäre …«

»Wir haben schon genug Atmo im Kasten. Also los jetzt!«

»Soll ich noch mal von vorne anfangen?«

»Nein, wir schneiden das später raus. Film einfach weiter!«

Erik tat, wie ihm geheißen, und drehte sich mit der Kamera herüber auf die nicht so schöne Seite des Platzes, zum Gemeindehaus, einem wenig einladenden Bau aus den Fünfzigern, mit einer gräulichen Fassadenfarbe aus den Siebzigerjahren, die nun langsam abblätterte. Hinter den Fenstern im Erdgeschoss waren abschreckende grobmaschige Gardinen zu sehen, und neben dem Eingang hing ein Schaukasten mit einer Magnettafel, auf der die Termine standen. Allerdings waren einige der Magnetbuchstaben heruntergefallen, sodass es jetzt hieß:

Gotte dien t onntag 9.3 Uhr

Daneben hing ein ausgeblichenes Plakat aus den Siebzigern, irgendwas mit Ähren, einem Kornfeld und einem Bibelvers, den man nur noch erraten konnte, da die Schrift fast verblichen war und sich das Plakat an den Ecken schon einrollte.

Erik fokussierte auf Simon, den jungen Mann mit dem Mikrofon, dunkelblonden Haaren und einem schwarzen Dufflecoat. Betont ernst sprach Simon ins Mikrofon: »Die Gemeinde am Uhlandplatz, am Ende des 20. Jahrhunderts. Was sich hinter diesen Mauern abspielt, lässt sich nur schwer erahnen. Ist es lediglich der Treffpunkt eines kleinen religiösen Zirkels? Oder womöglich einer Sekte? Was verbirgt sich hinter dem heiligen Schein? Wir wollen es genauer wissen und fragen nach.«

In diesem Moment kam Agnes Wagenknecht, eine 85-jährige Dame mit Faltenrock und grauem Dutt, auf ihrem alten Fahrrad angefahren. Der Arzt hatte ihr eigentlich verboten, mit ihrem schwachen Herzen noch so sportlich unterwegs zu sein, gerade bei dem Schnee und der Glätte, aber sie ließ es sich nicht nehmen. Man kannte sie auch gar nicht anders.

Simon näherte sich ihr vorsichtig mit dem Mikrofon: »Hallo, Tante Agnes, darf ich dich mal was fragen?«

»Nun lass mich erst mal mein Rad abschließen, Simon.«

»Wir machen eine kleine Umfrage für ein Video, und ich wollte dich fragen, warum du eigentlich jeden Sonntag zum Gottesdienst kommst …«

Sie blickte irritiert auf und entdeckte Erik mit der Kamera. »Video? Fernsehen ist nichts für uns, das hab ich euch schon oft genug gesagt. Ihr solltet lieber mal mehr in der Bibel lesen.« Damit nahm sie ihre fleischfarbene Handtasche aus dem Fahrradkorb und begab sich ins Gemeindehaus, wo sie etwas aus ihrem Fach herausholte. Erik filmte ihr noch eine Weile hinterher, während Simon nur mit den Schultern zuckte. »Bibel? Ist das nicht dieses Atomkraftwerk?«

Als Nächstes kamen Katrin Jacobsen, Simons Mutter, und seine Oma Berta aus dem Auto. Oma Berta grantelte mal wieder vor sich hin, weil Katrin offenbar zu weit weg vom Bürgersteig geparkt hatte und Oma Berta beim Aussteigen in einen kleinen Schneehaufen hatte treten müssen. Nun hatte sie sich aber bei ihr eingehakt, wobei sich aufgrund von Bertas Leibesfülle schon die Frage stellte, wer hier wem Geleit gab.

Simon stellte sich ihnen in den Weg, direkt vor den Eingang des Gemeindehauses. »Hallo, ihr beiden. Erik und ich machen eine Umfrage. Warum geht ihr denn in den Gottesdienst?« Und damit hielt er das Mikro unter die Nase seiner Mutter, deren bleiches Gesicht nur noch bleicher wurde.

»Also Simon, was soll das denn nun schon wieder? Macht ihr das für die Schule?«

Oma Berta, die mit einem grünen Mantel, Wanderstock und Jägerhütchen eher für einen zünftigen Waldspaziergang als für einen Gottesdienst gerüstet zu sein schien, war auf einmal voll in Fahrt. Sie nahm ihrem Enkel beherzt das Mikrofon aus der Hand und sprach so laut hinein, als wenn sie es mit einem Schwerhörigen zu tun hätte: »Mein Junge, ich will dir jetzt mal was sagen! Dein Großvater, der Opa, mein verstorbener Mann, der Kurt, ja Kurt hieß er, genau wie dein Papa …« Es klang, als ginge es um fünf verschiedene Personen.

»Ich weiß, Oma!«

»… der hat diese Gemeinde hier gegründet und dieses Haus mit seinen eigenen Händen mit aufgebaut, damals noch mit dem Werners Jürgen und diesem, diesem, wie hieß der doch noch … Katrin, sag mal schnell!«

»Werner Schneider.«

»… und dem Schneiders Werner … Also dein Opa, der hat hier mit den Stunden angefangen, und das ist bis heute so geblieben!« Berta hatte sich so in dieses Thema hineingesteigert, dass sie sich etwas Spucke vom Mund abwischen musste. Sie legte eine kurze Pause ein, die Simon geschickt nutzte.

»Ja, Oma, das ist ja auch schön, aber warum gehst du denn immer jeden Sonntag hier hin?«

»Na, das weißt du doch, mein Junge! Wir treffen uns hier immer zur Unterweisung unter dem Wort! Das ist doch für einen Christenmenschen das A und O! Die Schrift! Also wenn ihr junges Gemüse euch besser aufs Abitur vorbereiten würdet, dann hättet ihr auch nicht so viel Flusen im Kopf, so wie mit diesem neumodischen Krams da, diesem …« Mit einer abfälligen Handbewegung zeigte sie auf Erik und die ihr offenbar sehr suspekte Kamera.

»Flausen, Mutter, das heißt Flausen, nicht Flusen«, sagte Katrin nahezu im Flüsterton. Es war nicht das erste Mal, dass die Familie für eines von Simons Videos herhalten musste.

Simon wollte zu einer neuen Frage ansetzen, doch Katrin meinte: »Du weißt doch, dass Oma sich nicht so lange auf den Beinen halten kann. Frag bitte jemand anderen, und dann komm rein, der Gottesdienst fängt gleich an. Du holst dir ja noch den Tod hier draußen.« Dabei ließ sie die Oma kurz los, die sich daraufhin ganz verwirrt auf ihren Wanderstock stützte und Katrin dabei zusah, wie diese Simon seinen Mantel zuknöpfte

»Ja, ja, ist ja schon gut, Mama!« Er wurde rot und sah, wie Erik das alles aufnahm und ein Grinsen nicht verbergen konnte. »Das schneiden wir später natürlich alles raus«, fügte Simon hastig zu.

Auch Jan hatte nun den Uhlandplatz erreicht. Er hatte es nicht weit, denn die Gemeinde lag nur wenige Gehminuten vom Marktplatz entfernt. Wie jeden Sonntag schlenderte er mit den Händen in den Manteltaschen zur Gemeinde, dieses Mal jedoch nicht mit der Frage beschäftigt, welche Bücher er nun morgen ins Schaufenster stellen sollte, um das Weihnachtsgeschäft anzukurbeln. Vielmehr fragte er sich, wie er nur so selten dämlich sein konnte, der schönen Katja B. einen Korb zu geben. Nur wegen dieser Gemeinde. War der kleine Haufen es wirklich wert, dafür ein Rendezvous sausen zu lassen? Das Problem war nur: Würde er seine schöne Mieterin hierher mitnehmen, würde sie ihn eben genau wegen dieses kleinen Haufens sausen lassen. Er hatte noch keinen Menschen erlebt, der nach einem erstmaligen Besuch der Gemeinde wiedergekommen wäre. Katja B. hätte ihn als weltfremden Sektierer abgestempelt und ihn als bedauernswerte Person vor ihren Freundinnen dargestellt – Frühstückseinladungen und weitere Verabredungen wären in weite Ferne gerückt. Diese Gemeinde war ein Liebestöter, ebenso wie Mundgeruch oder ein Damenbart. Jan überlegte, ob es vielleicht einen literarischen Helden gab, der schon einmal in einem ähnlichen Dilemma gesteckt hätte. Ihm fiel keiner ein. Ein Kanarienvogel in einem Käfig hatte wahrscheinlich ein spannenderes Leben als er.

Als er die Jungen sah, schob er diese Gedanken schnell beiseite. »Ach, schau mal einer an, Simone und Erika!« Er wusste, dass die beiden diese Bezeichnung hassten, und gebrauchte sie deswegen umso lieber. »Macht ihr wieder eines von euren Filmchen?«

»Nein«, sagte Simon. »Das wird ein kleines Tatsachenvideo über unsere Gemeinde.«

»Investigativer Journalismus, sozusagen«, meinte Erik.

»So so, und wer soll sich das dann anschauen? Die Video-AG?«

»Nein, das ist für unsere kleine Weihnachtsfeier im Hauskreis.«

Jan grinste. »Du meinst, falls wir uns gar nichts mehr zu sagen haben, können wir ja immer noch ein Video einschieben.«

Simon überlegte kurz, dann sagte er: »Ja genau. Und deswegen würden wir dich auch gern noch interviewen. Erik, schmeiß mal die Kamera wieder an, mit einer schönen Großaufnahme auf Jan.«

»Na, wenn ihr meint …« Jan konnte nicht so recht einschätzen, auf was er sich da eingelassen hatte, aber das wusste man bei den beiden sowieso nie so genau. Skeptisch hörte er sich Simons Frage an.

»Nun sag mal, Jan, warum kommst du denn jeden Sonntag hierher?«

Jan überlegte kurz, dann sagte er vollkommen ernsthaft, immer noch mit den Händen in den Manteltaschen: »Das ist eine reine Kundenbindungsmaßnahme. Hier in der Gemeinde sind einige meiner besten Abnehmer. Ich kann mir einfach nicht leisten, die zu verlieren. Gerade jetzt nicht im so wichtigen Vorweihnachtsgeschäft.« Und damit war er auch schon im Gemeindehaus verschwunden.

Simon ließ enttäuscht das Mikrofon sinken und schaute Erik an. »Ich glaube, die nehmen uns nicht ernst.«

Jan hatte sich wie immer in die vorletzte Reihe gesetzt, neben Agnes, bei der er schon in der Kinderstunde gesessen hatte und die daher für ihn genauso wie für Simon und Erik immer nur »Tante Agnes« war. Mittlerweile war er es, der sich immer wieder um sie kümmerte, auch wenn ihn ihr Gejammer oft störte. Heute war sie zum Glück nicht so gesprächig, und er genoss die Ruhe vor dem Gottesdienst. Doch irgendetwas schien sie zu beschäftigen, während sie durch die ganze Zettelwirtschaft in ihrer Bibel kramte. »Diese Gemeinde bringt mich noch ins Grab«, murmelte sie vor sich hin.

Jetzt kam die Leier schon wieder. »Sollen wir die Heizung wärmer drehen? Du weißt aber, dass wir eigentlich auf der letzten Gemeindeversammlung …«

Sie schüttelte nur den Kopf, ohne von ihrer Bibel aufzublicken. »Sie macht mir das Leben schwer …«

Weiter sprach sie nicht, und da begann glücklicherweise schon der Gottesdienst. Jan dachte sich seinen Teil. Agnes meinte mit »sie« entweder die Gemeinde, die Heizung, oder aber – und das war noch viel wahrscheinlicher – Frau Dügelsberger, die auf der anderen Seite des Ganges saß. Agnes zufolge hatte Frau Dügelsberger ihr »das Blumenamt« entrissen, während Frau Dügelsberger behauptet hatte, Agnes damit nur »entlasten« zu wollen. Sie habe dies überdies nur mit Agnes’ Zustimmung getan, woran diese sich aber nach eigener Aussage nicht erinnern konnte. Das Ganze war sogar ein Tagesordnungspunkt bei einer Gemeindeversammlung gewesen, die allerdings zu großen Teilen Frau Dügelsberger das Recht zugesprochen hatte, sich nun fortan um den Blumenschmuck für den Gottesdienst kümmern zu dürfen, da sie mit ihren 65 Jahren noch zur »jungen Generation« gehörte. Heute, da der Adventsschmuck so trocken aussah, als könnte er jeden Moment in Flammen aufgehen, kam wahrscheinlich alles wieder hoch. Martha, eine ebenfalls rüstige Rentnerin, die neben Agnes saß, tätschelte ihr nur tröstend den Arm und schaute dann nach vorn.

Das leise Gemurmel im Gemeindesaal mit dem pflegeleichten, grauen PVC-Boden aus den Siebzigern und den grellen Neonröhren an den Decken (einige waren schon ausgefallen, eine andere flackerte bedenklich) verstummte langsam, als Kurt Jacobsen, ein etwas zu klein geratener Mann mit Knopfaugen und einem grauen Haarkranz, um Punkt 9 Uhr 30 (nachdem er drei Mal auf seine Funkuhr geschaut hatte) auf den Fußhocker (den er selbst für sich angefertigt hatte) hinter der Kanzel stieg und mit seinem durchdringenden Blick auch seinen Sohn und dessen besten Freund in der letzten Reihe zum Schweigen brachte. Der Raum war nur halb gefüllt. Etwa 20 Leute, die meisten davon schon jenseits der Berufswelt, saßen verstreut auf ihren Stammplätzen.

Kurt schaute auf seine Papiere, räusperte sich und sagte: »Ich begrüße Sie alle zum heutigen Gottesdienst am 1. Advent. Ja … Weihnachten rückt näher und … äh … Es ist auch nur noch eine Woche bis zum zweiten Advent. Und dann ist ja auch bald schon Weihnachten. Ja …«

Simon rollte mit den Augen.

Kurt fuhr munter fort. »Lassen Sie uns zu Beginn das Lied unter der Nummer«, er raschelte wieder mit seinen Zetteln, »173 singen: Tochter Zion, freue dich!«

Während die Gemeindeorganistin Elvira Hoppe-Schlenker, in deren zugesprayten und hochtoupierten Haaren eine ganze Vogelfamilie problemlos hätte nisten können, sich an die alte Wurlitzer-E-Orgel setzte, die links neben der Kanzel an der Wand stand, machte Kurt keine Anstalten, sich hinzusetzen. Vielmehr fing er (nach Elviras leicht dissonantem Vorspiel im Vibrato-Sound) mit voller Leibeskraft zu singen an, wobei ihm bei »ja-a-a-a-auch-ze laut, Je-ru-u-u-u-sa-lem!« auch schon wieder die Puste ausgegangen war und er nur noch einige gepresste Laute hervorbringen konnte.

»Peinlich!«, meinte Simon zu Erik und versuchte sich hinter dem Liederbuch zu verstecken, damit er nicht länger den Anblick seines Vaters ertragen musste, der ihn momentan eher an ein quietschendes Meerschweinchen erinnerte. Die Gemeinde quälte sich ebenfalls durch das Lied, bis es endlich zu Ende war.

Und bis der Gottesdienst endlich zu Ende war, verging eine weitere halbe Ewigkeit. Kurt hatte, seitdem er vor wenigen Jahren das Amt des Gemeindeleiters von seinem verstorbenen Vater übernommen hatte, eigentlich alles, was er nicht gerade für »Frauenarbeit« hielt, an sich gerissen. Nicht nur, dass er nunmehr jeden Sonntag durch den Gottesdienst führte. Wo er schon mal dort oben stand, predigte er dann auch gleich noch, und zwar meistens über seine Lieblingsthemen »Die Rolle der Frau« (Kinder kriegen und dem Mann dienen), »ein reines Christenleben« (Tanzen ist Sünde) sowie über die erbaulichen Lieder aus der »guten, alten Zeit« (spätestens nach Manfred Siebald fing die böse, neue Zeit an).

Als Jan sich später zu erinnern versuchte, worüber Kurt heute gepredigt hatte, fiel ihm nichts ein, denn er war mit seinen Gedanken an Katjas Frühstückstisch: Eine Kerze brennt, er köpft ein Ei, und Katja schenkt ihm heißen Kaffee mit noch heißeren Blicken ein. Die Vorstellung aber, sie hierher mitzunehmen, trieb ihm den Angstschweiß auf die Stirn. Die Vorstellung, sich bei ihr jede Chance vertan zu haben, allerdings auch.

Dass der Gottesdienst zu Ende war, merkte er erst, als nur noch Agnes und er auf ihren Stühlen saßen.

Agnes hatte die Predigt von Kurt wohl auch nicht vom Hocker gehauen. Sie saß immer noch da, mit geschlossenen Augen, die Hände auf der Bibel. Jan stand auf und wusste nicht so recht, ob er sie aufwecken sollte.

»Ist sie eingeschlafen?« fragte Martha, die mit ihrem Weidenkorb unter dem Arm noch einmal in den Saal schaute.

»Ich weiß auch nicht«, sagte Jan, der sich seinen Mantel zuknöpfte, den er die ganze Zeit anbehalten hatte. »Tante Agnes? Der Gottesdienst ist zu Ende.« Er gab ihr einen kleinen Stups an die Schulter. Doch sie reagierte nicht. Ihr Körper kippte zur Seite. Kurts Predigt hatte sie dann wohl doch vom Hocker gehauen.

3

Sonntag, 7. Dezember 1997

»Wir müssen Anna-Maria Bescheid geben.« Das war das Einzige, was Martha gesagt hatte, nachdem Agnes Wagenknechts Tod festgestellt und ihr Leichnam abgeholt worden war. Herzversagen, hatte der Arzt gesagt.

Jan passte das ganz und gar nicht in den Kram. Er wollte eigentlich nur einen ruhigen Sonntag haben, musste sich ab morgen ja wieder um den Laden kümmern, dann war da diese Geschichte mit seiner Nachbarin, und jetzt auch noch das. Ausgerechnet in der geschäftsintensiven Adventszeit. Hätte Agnes nicht wenigstens einen Monat warten können? Er machte sich Sorgen über das, was jetzt noch alles organisiert werden musste.

Insofern hatte Martha Recht. Anna-Maria musste informiert werden. Sie war Jans einzige Chance auf etwas Entlastung.

Meine Güte, wie lange war das jetzt her? Das Letzte, was er von ihr gesehen hatte, war eine kleine Postkarte, die auf der Vorderseite eine Betonwüste zeigte: »Bin mit Horst in Hannover. Ich komme nicht mehr zurück. Schönes Leben noch. Anna-Maria«. Das war 1974. Daran musste Jan jetzt denken, als er vor dem Spiegel stand, mit dem Telefonhörer in der Hand. Da Anna-Maria den Kontakt mit Agnes abgebrochen hatte, hatte er weder eine Adresse noch eine Telefonnummer von ihr. Er rief die Telefonauskunft an. Doch die fand keine Anna-Maria Wagenknecht in Hannover. Vielleicht hatten sie und Horst ja geheiratet. Wie hieß der Typ noch mit Nachnamen?

Er hatte Glück. »Anna-Maria Martin? Ja, die gibt es.«

Er ließ sich verbinden und hörte nach den Wartetönen schließlich ein Klicken und Rauschen vom anderen Ende der Leitung. »Guten Tag, hier ist Anna-Maria Martin. Ich bin leider nicht zu Hause«, hörte er ihre freundliche Stimme, die so wie früher klang. Dann aber änderte sich ihr Tonfall jäh: »Horst, du Schwein, wenn du das bist: Ruf mich nie wieder an!« Und dann wieder ganz freundlich: »Alle anderen können mir gern eine Nachricht hinterlassen.« Schließlich piepte der Anrufbeantworter.

Jan räusperte sich: »Äh, hallo, Anna-Maria. Hier ist Jan. Weber. Aus Rhiemberg. Ich würde es dir gern persönlich sagen, aber: Deine Oma ist gestorben. Die Beerdigung ist am kommenden Donnerstag um 13 Uhr in der Friedhofskapelle. Du weißt schon, dort, wo wir als Kinder immer …« Dann piepte es erneut. Jan wurde aus der Leitung geschmissen. Da stand er, mit dem Telefonhörer vor dem Spiegel. Und fragte sich, ob er in seinem Leben überhaupt jemals an den Punkt kommen würde, wo ihn eine Frau als Schwein bezeichnet.

4

Donnerstag, 11. Dezember 1997

Mit zugekniffenen Augen trat Jan aus der dunklen Friedhofskapelle ins Tageslicht, das für diesen Dezembernachmittag ungewöhnlich hell war. An seinem Arm hatte sich die weinende Martha eingehakt, die immerzu ein Stofftaschentuch in ihrer Hand knüllte. Gemeinsam mit dem Rest der kleinen Trauerschar folgten sie den Trägern mit dem Sarg und Eduard, dem pensionierten Pastor, durch die lange Allee mit den alten Pappeln.

Es hatte aufgehört zu regnen, der Schnee war fast komplett weg, und an den kahlen Zweigen und Büschen klebten Tropfen, die die Spinnweben sichtbar machten und hier und da herunterfielen. Aus dem Boden stieg Nebel auf, so als würden die Geister der Toten den Neuankömmling begrüßen.

Jan schaute umher und atmete die klare Luft ein. »Schön hier, nicht wahr?«

Martha blieb kurz stehen, sodass Jan auch anhalten musste. »Wie kannst du das jetzt sagen?«, fragte sie mit einem verstörten Gesichtsausdruck.

»Für einen letzten Ruheort, meine ich … Da ist es doch ganz schön hier.«

»Na ja, da magst du recht haben«, sagte Martha, und sie gingen weiter.

Letzter Ruheort. Für wen eigentlich, fragte er sich. Für den Körper? Was war mit der Seele? War die wirklich schon zum Himmel aufgestiegen?

»Glaubst du, dass sie noch kommt?«, fragte Martha.

»Hm.« Es klang wie der Ansatz eines Lachens. »Ach, die. Mit der Pünktlichkeit hat sie es ja nie so genau genommen. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass sie noch auftaucht.«

Martha legte ihre Hand auf Jans Arm und schaute ihn bemitleidend an. »Und dabei habt ihr euch doch immer so gut verstanden.«

«Meine Güte, wir haben uns 23 Jahre nicht gesehen. Wer weiß, wo sie jetzt steckt?«

»Die beiden hatten doch nur sich«, meinte Martha auf einmal. »Ich verstehe nicht, warum sie sich so zerstritten haben.« Gedankenverloren knetete sie ihr spitzenbesetztes Taschentuch, in das sie einst ihre Initialen eingestickt hatte.

»Die waren wie Tag und Nacht, die haben sich immer gestritten, Martha.« Bis Anna-Maria dann mit Horst auf seinem Motorroller durchgebrannt war.

Der Trauerzug hatte die Allee verlassen und bog nun in einen Seitenweg ein. Nach einer Weile waren sie beim Grab angelangt, das gleich neben dem Stein von Agnes’ Mann angelegt worden war. »Karl-Heinz Wagenknecht, vermisst 1945«, stand dort, sonst nichts. Martha und Jan stellten sich an den vorderen Teil der Hecke. In einer Ecke stand eine Vogeltränke. Sie war total vermoost, die Glasur an den beiden Keramikspatzen war schon halb abgeblättert, und auf dem modrig-grünen Wasser schwammen einzelne Blätter.

Als alle ihren Platz gefunden hatten, öffnete Eduard seine alte Bibel. Langsam schaute er in die Runde und sprach: »Ihr Leben lang hat Agnes Wagenknecht ein Psalm begleitet, den sie immer wieder betete. Es ist der Psalm 23: Der gute Hirte.« Und mit einer unendlichen Ruhe rückte er seine altmodische Hornbrille zurecht und las: »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße …«

Plötzlich war von der Straße her das Aufheulen eines Motors zu hören, der in den falschen Gang geschaltet worden war. Dann beschleunigte der Wagen wieder, und die Leute schauten erwartungsvoll zu Eduard. Doch kaum hatte sich die Trauergemeinde beruhigt, war ein heftiges Abbremsen zu vernehmen, das mit einem furchterregenden Knirschen und Spritzen von Steinchen einherging. Alle zuckten kurz zusammen, und als nichts mehr zu hören war, gab es ein allgemeines Aufatmen, und Eduard las weiter: »Er führet mich auf rechter Straße … um seines Namens willen.«

Als wenn es nicht schon genug Aufregung gegeben hätte, wurde die gerade wieder hergestellte andächtige Stille erneut gestört, dieses Mal durch das übermäßig laute Zuschlagen einer Autotür, gefolgt von mehreren Flüchen, die von dem kräftigen Organ einer Frau kommen mussten. Dann schnelle Schritte auf dem Kies. Das quietschende Friedhofstor fiel lautstark ins Schloss. Die Schritte knirschten näher, entfernten sich, knirschten wieder näher – und hörten auf einmal auf.

Eduard schien nicht verärgert, sondern nur etwas verwirrt zu sein. Er rückte abermals seine Brille zurecht, vertiefte sich wieder in die Bibel und fuhr fort. »Und … ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück . . .««

Jan schaute sich um. Diese Stimme, diese Flüche, diese schnelle Gangart kamen ihm bekannt vor. Sein Blick schweifte umher, suchte Stein und Gesträuch ab und blieb auf einem Engel aus Sandstein ruhen, der mit hängenden Flügeln und traurigem Blick über einem Grab mit kahlen Rosenstöcken wachte. Schräg daneben, halb durch ihn verdeckt, stand sie und schaute Jan direkt in die Augen. Locken, Lederjacke, Lederhandtasche – alles schwarz. Nur die Jeans war blau. Und das Gesicht knallrot. Sie atmete tief ein und aus und hielt sich an ihrer Handtasche fest. Und sie nickte. Er nickte auch und bedeutete ihr herüberzukommen, doch sie schüttelte nur mit dem Kopf. Vielleicht wollte sie nicht gesehen werden. Doch alle hatten sie gesehen.

Als Jan die kleine Schaufel an Martha weitergegeben hatte, stahl er sich so unbemerkt wie möglich davon und ging zu Anna-Maria, die immer noch bei dem traurigen Engel stand.

»Warum bist du nicht zu uns herübergekommen?« fragte Jan.

»Ich wollte nicht stören.«

»Oh, keine Sorge. Abgesehen von deiner lautstarken Ankunft hat keiner etwas gemerkt.«

»Ja, tut mir leid.« Sie klang eher abwehrend als reuevoll, schaute aber verschämt zu Boden.

»Mir auch. Ich meine mit deiner Großmutter. Herzliches Beileid.« Er reichte ihr die Hand, doch Anna-Maria blieb regungslos. Unsicher zog er seine Hand zurück, ohne zu wissen, wohin damit. »Und herzlich willkommen zurück«, fügte er hastig hinzu.

Eine Weile sagten beide nichts, dann schaute Anna-Maria ihm direkt ins Gesicht. Hör mal, Jan, ich weiß nicht, ob es richtig war, hierherzukommen. Ich brauche auch kein Beileid. Ich trauere nicht um sie. Eigentlich bin ich froh, dass sie tot ist.«

»Warum bist du dann hier?«

»Das weiß ich auch nicht so genau. Vielleicht musste ich … Na ja, und dann ist da noch das Haus. Ich habe einen Brief vom Anwalt bekommen.« Wie zum Beweis öffnete sie ihre Handtasche und kramte darin herum.

»Kommst du zurück nach Rhiemberg?«

Sie unterbrach ihr Gewühle und schaute Jan entsetzt an. »Um Gottes willen, nein! Ich hoffe, dass ich den alten Kasten schnell loswerde, und dann geht es wieder zurück nach Hause.«

Sie schwiegen eine Weile und beobachteten die anderen, wie sie alle Erde in das Grab warfen und sich dann auf den Weg zum Parkplatz machten. Einige nickten Anna-Maria zu, andere gingen achtlos an ihr vorbei.

»Ich sehe, die verlorene Tochter ist zurückgekehrt«, hörte Anna-Maria auf einmal eine Stimme neben sich. Und als sie sich umwandte und nach unten schaute, sah sie Kurt neben sich stehen. Seine mausgraue Erscheinung wurde durch eine Baskenmütze komplettiert, deren kleiner Zipfel lustig hin- und herwackelte. Er starrte Anna-Maria mit funkelnden Knopfaugen an, nahm seine Mütze ab (womit er seinen grauen Haarkranz freilegte), zog seinen Lederhandschuh aus und gab ihr die Hand, drängte sie ihr förmlich auf. »Mein Beileid.«

»Also, Kurt, erstens war ich nie verloren, zweitens nicht ihre Tochter und drittens bin ich auch nicht zurückgekehrt. Trotzdem danke.«

Kurt war Widerspruch nicht gewohnt, vor allem nicht als Leiter der Gemeinde. Seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen. »Ich bin verwundert, dass du dich noch an mich erinnerst. Schließlich warst du lange fort.« Er rieb sich den Kopf und setzte die Mütze wieder auf. Seine Frau Katrin, die er einst auf einer christlichen »Rüstfreizeit« für junge Erwachsene kennengelernt und dann hierher verschleppt hatte, stand schräg hinter ihm und war einen Kopf größer als er. Sie nutzte die kurze Pause, um ihre Beileidsbekundungen loszuwerden.

»Wie könnte ich dich vergessen? Du hast es ja offenbar auch nicht«, flötete Anna-Maria, und sie konnte sich ein kleines Grinsen nicht verkneifen.

Kurt errötete leicht. Er und seine Frau verabschiedeten sich.

Danach kamen nur noch Martha und Eduard zu Jan und Anna-Maria, um zu kondolieren. Martha umfasste Anna-Marias rechte Hand mit beiden Händen und sagte: »Deine Großmutter war so ein guter Mensch. Sie hätte …«

Anna-Maria wich zurück. »Deine Trauer in allen Ehren, Martha, aber ich möchte im Augenblick lieber nicht über sie reden.«

»Aber vielleicht solltest du doch von ihr Abschied nehmen«, sagte Eduard.

»Ja, mal sehn«, sagte Anna-Maria, und Martha und Eduard verabschiedeten sich.

»Kommst du danach auch ins Eichhörnchen?«, fragte Jan.

»Ich habe keine Lust auf diese Leichenschmause. Hatte ich noch nie. Ich glaube, ich wäre jetzt lieber alleine.«

»Ist in Ordnung«, sagte Jan, und hielt die Hand zum Abschied hoch. »Bis bald!« Bescheuert dachte er, diese Geste. Als wenn er einem gerade abfahrenden Zug hinterherwinken würde. Und dann steckte er die Hände in seine Manteltaschen und ging davon.

Als niemand mehr zu sehen war, kam Anna-Maria aus dem Schutz des Engels mit den hängenden Flügeln hervor und ging langsam und vorsichtig zu dem Grab. Sie sah hinunter auf den Sarg, auf dem hier und da Erde und ein paar Blumen verteilt waren. Hier liegst du also, dachte sie. Und sie war verwundert, dass sie überhaupt nichts empfand, keine Trauer, keinen Schmerz, rein gar nichts. Dabei hatte sie ihre ganze Kindheit bei ihr verbracht. Vielleicht, so hatte sie oft gedacht, wäre es besser gewesen, wenn sie als kleines Mädchen damals zusammen mit ihren Eltern umgekommen wäre, dann wäre ihr das alles erspart geblieben.

Sie wühlte in ihrer Tasche herum und zog eine Schachtel Gauloises Blondes und ein Feuerzeug heraus. Als sie die Zigarette anzündete, dachte sie, ihre Großmutter würde sich jetzt bestimmt im Grabe umdrehen, wenn sie das wüsste. Und da musste Anna-Maria lachen. Und sie nahm einen Zug, ganz tief, schaute über den nebligen Friedhof, stieß den Rauch in die Höhe, als wolle sie die grauen Wolken damit noch größer machen, und klopfte die Zigarettenspitze über dem offenen Grab aus. Asche zu Asche, Staub zu Staub.

5

Donnerstag, 11. Dezember 1997

Der Schlüssel lag immer noch unter dem Blumenkübel. Nichts schien sich hier verändert zu haben. Gleich im Flur schlug ihr dieser altvertraute Geruch entgegen, der ihr sofort wieder alles in Erinnerung brachte.

Hier unten an der Treppe hatte ihre Großmutter gestanden, als Anna-Maria mit ihrem Rucksack die Treppe heruntergestürzt kam. »Ich will dich nie wieder sehen«, hatte sie in dramatischem Teenie-Tonfall geschrien und ihre Großmutter zur Seite gestoßen. Agnes hatte geweint und ihrer Enkeltochter nicht weniger dramatisch hinterhergerufen: »Bind dir wenigstens deinen Schal um!« Und dann war Anna-Maria zu Horst auf den Motorroller gestiegen und mit ihm davongefahren. Bind dir wenigstens deinen Schal um. Der Schal hing immer noch dort, an der Garderobe, zusammen mit den alten Mänteln ihrer Großmutter, so als sei die Zeit buchstäblich angehalten worden. Hier sah es so aus wie früher; sogar der alte Wasserkessel stand noch auf dem Herd, und ein Bund Petersilie in einem Glas mit Wasser stand in der Ecke. Anna-Maria fuhr ein Schauer nach dem anderen über den Rücken. War es jetzt 1997 oder 1974? Für einen Moment war sie sich nicht mehr sicher. Zum Beweis, dass sie nicht träumte, fasste sie die alten Stühle an und strich über den Tisch mit der Wachstuchtischdecke.

Selbst das Fensterbild hing da noch. Anna-Maria hatte es in der Schule gebastelt und ihrer Großmutter mitgebracht. Es war eine Art Osternest in einem Rahmen, in dem ein Körbchen angedeutet war, worin Eier lagen, lieblos ausgeschnitten. Jetzt waren die Farben so ausgeblichen, dass man die Bedeutung des Ganzen nur noch erahnen konnte. Wie lange war das her? 30 Jahre?

Automatisch öffnete sie die Tür und trat in den Garten, eine weite grüne Fläche mit alten Obstbäumen, die sich zum See hin erstreckte. Wie betäubt ging sie den leichten Abhang hinab, vorbei an der alten Schaukel, die immer noch an dem Apfelbaum hing. Sie gab ihr einen Schubs und schaute, wie sie hin- und herschlingerte. Als Kinder hatten sie hier oft gespielt, waren in den Bäumen herumgeklettert. Und dann kam ihre Oma und rief sie, weil sie ihre Hausaufgaben noch nicht gemacht hatte. Und dann gab es einen Streit, der stets damit endete, dass die Oma sie an den Haaren oder Ohren ins Haus zog und Jan nach Hause schickte.

Anna-Maria stand auf dem Bootssteg und schaute auf den See. Sie dachte an die vielen Sommer, die sie hier verbracht hatte. Doch nun war alles grau in grau. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und der Wind wehte über das Wasser und machte kleine Wellen.

Gern hätte sie jetzt das Boot gesehen, dass es wie früher hier vertäut liegt und leise hin- und herschaukelt. Es war der einzige Gegenstand, der fehlte. Sie hatte es immer benutzt, wenn sie wieder einmal etwas ausgefressen hatte und vor ihrer Oma fliehen wollte. Und das kam fast jede Woche vor. Dann war sie zur anderen Seite hinübergerudert und hatte sich auf einem Jägersitz versteckt. Einmal war sie dort sogar eingeschlafen und musste am nächsten Tag von der Polizei gesucht werden. Da hatte sie dann die Wahl: Den restlichen Tag im Keller eingesperrt sein oder eine Tracht Prügel mit dem Holzpantoffel. Sie hatte in diesen Situationen immer Letzteres gewählt, dann konnte sie danach wenigstens wieder rausgehen. Zumindest die körperlichen Schmerzen waren schnell vergessen.

Das alles lag weit zurück, das Boot war vielleicht im Schuppen oder gar nicht mehr da, und Agnes auch nicht. Es war kalt und ungemütlich hier draußen, und sie ging wieder zurück ins Haus. Sie schloss die Terrassentür, schaute ein letztes Mal hindurch, und sie wollte sie nie wieder öffnen.

Den restlichen Abend verbrachte sie mit dem Stromern durch das Haus. Sie hatte das Gefühl, dass sie es für sich einnehmen musste, um die Geister der Vergangenheit zu vertreiben. Und um alles zurückzulassen. Sie heizte den Ofen an, machte sich einen Tee, ging durch alle Räume. Auch ihr altes Zimmer war noch so, wie sie es verlassen hatte. Nur ins Schlafzimmer ihrer Großmutter traute sie sich nicht, ebenso wenig wie in den Bückkeller neben der Küche, in den sie ständig gesperrt worden war. Diese Räume mussten warten mit der Rückeroberung, und vielleicht war es auch besser, wenn sie sie nie wieder betreten würde.

Auch das Wohnzimmer sah aus, als würde Agnes jeden Moment wiederkommen. Im Korb neben dem Ohrensessel lag sogar noch das Strickzeug. Sie sah sich nach etwas Neuem um, irgendeiner Veränderung, doch es gab kaum etwas, außer vielleicht ein paar neue Bücher. Einen Fernseher suchte man hier vergeblich. Ihre Großmutter hatte nie einen besessen. Sie war immer der Meinung gewesen, dass die nicht gut für Christen seien. Sie hatte sogar Traktate zu diesem Thema in der Gemeinde ausgelegt, immer wieder.

Auf einer Kommode am anderen Ende des Zimmers entdeckte Anna-Maria alte Schwarz-Weiß-Fotografien, von ihren Eltern, ihrem Opa, den sie gar nicht mehr kennengelernt hatte, und vor allem von sich. Sie traute sich nicht, näher heranzugehen. Und trotzdem zog sie etwas zu den alten Fotoalben, die sich in der Kommode befanden. Bilder einer Kindheit, die Anna-Maria als braves Mädchen darstellen sollten, aber es doch nie ganz schafften, so gut sie auch inszeniert waren. Auf dem Gruppenfoto aus der Kinderstunde zog Anna-Maria ein Mädchen an den Haaren, und auf dem Klassenfoto verschränkte sie die Arme und zog eine Fresse, wie sie heute wohl sagen würde.

In der Kommode befanden sich nur die alten Fotoalben. Sie sah, dass nach ihrem Verschwinden kein neues hinzugekommen war.

Das alte Plüschsofa war noch da, mitten im Raum, nahezu makellos, mit seinem roten, etwas ausgeblichenen Samtbezug. Sie setzte sich, lehnte sich vor und sah die Traktate auf dem Tisch mit der Spitzendecke liegen. Sie lachte kurz, und dann lehnte sie sich zurück, in das weiche Sofa, sie konnte die Augen nicht mehr offenhalten, alles schien sich zu drehen, um sie herum, immer weiter weg, weiter weg. Sie war eingeschlafen.

6

Freitag, 12. Dezember 1997

Als Anna-Maria die Augen aufschlug, war der nächste Tag schon halb vorbei. Sie war unruhig, doch unter der warmen Decke hervorkriechen wollte sie auch nicht. Sie fragte sich, wie sie wohl hierhin geraten war. Wieso war sie plötzlich wieder an dem Ort, an den sie nie zurückkehren wollte? Und dann langsam fiel ihr alles wieder ein, die Beerdigung, der Gang durch den Garten, durch das Haus. Wie lange das wohl schon her war? Sie schaute auf die Uhr. Um Himmels Willen, schon Viertel vor eins. Sie setzte sich aufrecht hin und fuhr sich durch die Haare. So kalt hier. Sie konnte schon ihren eigenen Atem sehen. Sie stand auf, ging zu dem alten Ofen in der Ecke des Zimmers und fand dort einen Korb voller Feuerholz. Als Kind musste sie es immer selbst hereinholen und später sogar hacken, als ihre Oma zu schwach dafür wurde.

Sie nahm ein langes Streichholz, zündete damit ein wenig Reisig an und legte ein paar Holzscheite nach. Langsam wurde es warm.

Was war das für ein Geräusch? Kam das jetzt aus dem Ofen oder von draußen? Sie hörte es nun deutlich: Jemand machte sich an der Haustür zu schaffen.

Mit dem Feuerhaken im Anschlag stellte sie sich an die Wand, neben die halb offene Wohnzimmertür. Der Hauseingang lag gleich daneben. Die Haustür hatte sich geöffnet und wieder geschlossen. Sie hörte leise Schritte auf dem Flur. Anna-Maria presste sich so stark in die Ecke wie es nur ging, damit der Eindringling sie nicht sehen konnte. Sie konnte seinen Atem hören, ihr Puls erhöhte sich. Reflexartig hob sie den Feuerhaken und …

»Jan!« Beinahe hätte sie ihn am Kopf getroffen. Erschreckt ließ sie den Haken wieder sinken.

»Dir auch einen schönen guten Tag«, sagte er. »Du siehst so enttäuscht aus. Wäre dir ein Einbrecher lieber gewesen?«

»Ehrlich gesagt – ja. Dann hätte ich wenigstens zuschlagen können.« Sie atmete tief durch und stellte den Feuerhaken wieder in das Gestell zurück. »Warum hast du nicht geklingelt?«, fragte sie, als sie sich die Hände an der Jeans abwischte.

»Macht der Gewohnheit. Ich habe gerade Mittagspause und dachte, ich bringe uns was vom Griechen mit.« Er hielt einen Plastikbeutel hoch und lächelte.

»Dass du dich daran noch erinnerst … Tja, dann werde ich mal Besteck holen, bevor das Essen einfriert. Ein Tee könnte auch nicht schaden.«

Sie gingen in die Küche, wo Anna-Maria einen Kessel mit Wasser aufsetzte. Jan stand an der Terrassentür und schaute von dort auf den Garten und den See.

»Es ist doch wirklich unglaublich, dass sie überhaupt nichts weggeschmissen hat«, meinte Anna-Maria.

Jan, der gerade überlegt hatte, wie lange dieses absolut scheußliche Fensterbild mit den eckig ausgeschnittenen Ostereiern hier wohl schon hängen musste, konnte da nur zustimmen.

»Sogar diese Puppentässchen haben überlebt. Daraus kann man doch echt nichts trinken.« Sie stellte das filigrane Teeservice auf ein Tablett.

Jan wandte seinen Blick ab vom See und hin zu Anna-Maria. »Und du willst das Haus wirklich verkaufen?«, fragte er.

»Jepp. Ich kann das Geld gut gebrauchen.« Sie schaute in den Schrank, in dem früher immer der Tee war. Tatsächlich. Er stand immer noch dort. Wie zur Erklärung schob sie hinterher: »Von Horst hab ich ja nichts zu erwarten. Wo ist denn bloß der Zucker?«

Jan nahm die Dose von dem kleinen Esstisch und gab sie ihr. »Ihr seid …«

»… frisch geschieden. Gott sei Dank!«

Sie schwiegen eine Weile, während Jan wieder aus dem Fenster ins Weite starrte und Anna-Maria die Schränke durchforstete. Krampfhaft stand er da und suchte nach einem Gesprächsthema, aber ihm fiel nichts ein.

Es war wie eine Erlösung, als der Wasserkessel endlich pfiff.

Wenig später saßen sie im Wohnzimmer und aßen aus den Styroporschachteln.

Anna-Maria schlang das Essen in sich hinein. »Man, ich könnt ein ganzes Schwein verdrücken«, sagte sie schmatzend und stopfte sich noch einen Happen von dem käseüberbackenen Souvlaki nach.

»Das sieht man.« Jan hatte seinen braunen Mantel angelassen. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Verlegen stocherte er in seinem Tomatenreis herum. »Hast du gut geschlafen?«

Anna-Maria nickte. »Ja. Mehr oder weniger. Ich bin gestern nach der Beerdigung gleich hierher und habe mich noch ein wenig umgesehen. Irgendwann bin ich dann auf dem Sofa gelandet und war sofort weg. Jetzt brauch ich ’nen neuen Rücken.«

»Oha, dann hast du ja ganz schön viel aufzuholen gehabt, wenn du die ganze Zeit geschlafen hast.«

»In Hannover komm ich ja nicht dazu. Die Arbeit, die ganze Scheidung …«

»Wie lange ist das her?«

»Wir sind erst seit einem Monat geschieden. Aber wir leben schon seit einem Jahr getrennt. Ich bin echt froh, dass ich den Mistkerl endlich los bin«, sagte sie und fuchtelte mit ihrer Gabel herum, »das kannst du mir glauben.«

»Das hört sich ja nicht gerade nach einem friedlichen Ende an.«

»Das war es auch nicht.« Anna-Maria stopfte das letzte Stückchen Fleisch in sich hinein. »Sagen wir mal so: Ich war nicht die Einzige, mit der er unser Ehebett geteilt hat. Leider hab ich das viel zu spät gemerkt.« Anna-Maria ließ das Besteck in der Schachtel liegen und griff nach ihrer Handtasche. »So! Und jetzt erst mal ’ne Fluppe. Stört es dich?«

»Nein, ist doch jetzt dein Haus.«

»Und meine Schulden!« Sie versuchte sich ihre Zigarette anzustecken, aber das Feuerzeug funktionierte nicht. Sie ging zum Ofen.