Hermann Hesse

Schmetterlinge

Betrachtungen, Erzählungen, Gedichte

001.tif

Herausgegeben und mit einem Nachwort
von Volker Michels

Mit farbigen Illustrationen

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Ausgabe der Insel-Bücherei Nr. 1348.

© Insel Verlag Berlin 2011. Erstmals 1979 als insel taschenbuch Nr. 385 in anderer Zusammenstellung erschienen.

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.

Der Verlag weist darauf hin, dass dieses Buch farbige Abbildungen enthält, deren Lesbarkeit auf Geräten, die keine Farbwiedergabe erlauben, eingeschränkt ist.

Überzug: Anke Rosenlöcher

eISBN 978-3-458-74167-1

www.insel-verlag.de

Inhalt

Über Schmetterlinge

Der Schmetterling

Der früheste Tag meines Lebens

Blauer Schmetterling

Das Nachtpfauenauge

Widmungsverse zu einem Gedichtbuch

Apollo

Falter im Wein

Der Alpenbär

Bekenntnis

Indische Schmetterlinge

Der Schmetterling

Die Beute der sommerlichen Wanderungen

Aus dem »Demian«

Schmetterlinge im Spätsommer

Ein Falter aus Madagaskar

Ein Nachtfalter

In Sand geschrieben

Der Trauermantel

Märzsonne

Spätsommer

Nachwort

Editorische Bemerkung

4909.jpg

Bläulinge

Über Schmetterlinge

Alles Sichtbare ist Ausdruck, alle Natur ist Bild, ist Sprache und farbige Hieroglyphenschrift. Wir sind heute, trotz einer hoch entwickelten Naturwissenschaft, für das eigentliche Schauen nicht eben gut vorbereitet und erzogen und stehen überhaupt mit der Natur eher auf dem Kriegsfuß. Andere Zeiten, vielleicht alle Zeiten, alle früheren Epochen bis zur Eroberung der Erde durch die Technik und Industrie, haben für die zauberhafte Zeichensprache der Natur ein Gefühl und Verständnis gehabt und haben sie einfacher und unschuldiger zu lesen verstanden als wir. Dies Gefühl war durchaus nicht ein sentimentales, das sentimentale Verhältnis des Menschen zur Natur ist noch ziemlich neuen Datums, ja es ist vielleicht erst aus unserem schlechten Gewissen der Natur gegenüber entstanden.

Der Sinn für die Sprache der Natur, der Sinn für die Freude am Mannigfaltigen, welche das zeugende Leben überall zeigt, und der Drang nach irgendeiner Deutung dieser mannigfaltigen Sprache, vielmehr der Drang nach Antwort ist so alt wie der Mensch. Die Ahnung einer verborgenen, heiligen Einheit hinter der großen Mannigfaltigkeit, einer Urmutter hinter all den Geburten, eines Schöpfers hinter all den Geschöpfen, dieser wunderbare Urtrieb des Menschen zum Weltmorgen und zum Geheimnis der Anfänge zurück ist die Wurzel aller Kunst gewesen und ist es heute wie immer. Wir scheinen heute der Naturverehrung in diesem frommen Sinn des Suchens nach einer Einheit in der Vielheit unendlich fern zu stehen, wir bekennen uns zu diesem kindlichen Urtrieb nicht gern und machen Witze, wenn man uns an ihn erinnert. Aber wahrscheinlich ist es dennoch ein Irrtum, wenn wir uns und unsere ganze heutige Menschheit für ehrfurchtslos und für unfähig zu einem frommen Erleben der Natur halten. Wir haben es nur zur Zeit recht schwer, ja es ist uns unmöglich geworden, die Natur so harmlos in Mythen umzudichten und den Schöpfer so kindlich zu personifizieren und als Vater anzubeten, wie es andere Zeiten tun konnten. Vielleicht haben wir auch nicht unrecht, wenn wir gelegentlich die Formen der alten Frömmigkeit ein wenig seicht und spielerisch finden und wenn wir zu ahnen glauben, daß die gewaltige, schicksalhafte Neigung der modernen Physik zur Philosophie im Grunde ein frommer Vorgang sei.

Nun, ob wir uns fromm-bescheiden oder frechüberlegen benehmen mögen, ob wir die früheren Formen des Glaubens an die Beseeltheit der Natur belächeln oder bewundern: unser tatsächliches Verhältnis zur Natur, sogar dort, wo wir sie nur noch als Ausbeutungsobjekt kennen, ist eben dennoch das des Kindes zur Mutter, und zu den paar uralten Wegen, die den Menschen zur Seligkeit oder zur Weisheit zu führen vermögen, sind keine neuen Wege hinzugekommen. Einer von ihnen, der einfachste und kindlichste, ist der Weg des Staunens über die Natur und des ahnungsvollen Lauschens auf ihre Sprache.

»Zum Erstaunen bin ich da!« sagt ein Vers von Goethe.

Mit dem Erstaunen fängt es an, und mit dem Erstaunen hört es auch auf, und ist dennoch kein vergeblicher Weg. Ob ich ein Moos, einen Kristall, eine Blume, einen goldenen Käfer bewundere oder einen Wolkenhimmel, ein Meer mit den gelassenen Riesen-Atemzügen seiner Dünungen, einen Schmetterlingsflügel mit der Ordnung seiner kristallenen Rippen, dem Schnitt und den farbigen Einfassungen seiner Ränder, der vielfältigen Schrift und Ornamentik seiner Zeichnung und den unendlichen, süßen, zauberhaft gehauchten Übergängen und Abtönungen der Farben – jedesmal wenn ich mit dem Auge oder mit einem andern Körpersinn ein Stück Natur erlebe, wenn ich von ihm angezogen und bezaubert bin und mich seinem Dasein und seiner Offenbarung für einen Augenblick öffne, dann habe ich in diesem selben Augenblick die ganze habsüchtige blinde Welt der menschlichen Notdurft vergessen, und statt zu denken oder zu befehlen, statt zu erwerben oder auszubeuten, zu bekämpfen oder zu organisieren, tue ich für diesen Augenblick nichts anderes als »erstaunen« wie Goethe, und mit diesem Erstaunen bin ich nicht nur Goethes und aller andern Dichter und Weisen Bruder geworden, nein ich bin auch der Bruder alles dessen, was ich bestaune und als lebendige Welt erlebe: des Falters, des Käfers, der Wolke, des Flusses und Gebirges, denn ich bin auf dem Weg des Erstaunens für einen Augenblick der Welt der Trennungen entlaufen und in die Welt der Einheit eingetreten, wo ein Ding und Geschöpf zum andern sagt: Tat twam asi. (»Das bist Du.«)

Wir sehen auf das harmlosere Verhältnis früherer Generation zur Natur manchmal mit Wehmut, ja mit Neid, aber wir wollen unsere Zeit nicht ernster nehmen, als sie es verdient, und wir wollen uns nicht etwa darüber beklagen, daß das Beschreiten der einfachsten Wege zur Weisheit an unseren Hochschulen nicht gelehrt wird, ja daß dort statt des Erstaunens vielmehr das Gegenteil gelehrt wird: das Zählen und Messen statt des Entzückens, die Nüchternheit statt der Bezauberung, das starre Festhalten am losgetrennten Einzelnen statt des Angezogenseins vom Ganzen und Einen. Diese Hochschulen sind ja nicht Schulen der Weisheit, sie sind Schulen des Wissens; aber stillschweigend setzen sie das von ihnen nicht Lehrbare, das Erlebenkönnen, das Ergriffenseinkönnen, das Goethesche Erstaunen eben doch voraus, und ihre besten Geister kennen kein edleres Ziel, als wieder Stufe zu eben solchen Erscheinungen wie Goethe und anderen echten Weisen zu sein.

4904.jpg

Osterluzeifalter

Die Schmetterlinge nun, von denen hier die Rede sein soll, sind gleich den Blumen für viele Menschen ein sehr bevorzugtes Stückchen Schöpfung, ein besonders geschätztes und wirksames Objekt jenes Erstaunens, ein besonders lieblicher Anlaß zum Erlebnis, zum Ahnen des großen Wunders, zur Verehrung des Lebens. Sie scheinen, gleich den Blumen, recht eigens als Zierde, als Schmuck und Juwel, als kleine funkelnde Kunstwerke und Loblieder von höchst freundlichen, anmutigen und witzigen Genien erfunden und mit zärtlicher Schöpferwollust ausgedacht worden zu sein. Man muß schon blind oder aber sehr verhärtet sein, um beim Anblick der Schmetterlinge nicht eine Freude, einen Rest von Kinderentzücken, einen Hauch des Goetheschen Erstaunens zu empfinden. Und das hat gewiß gute Gründe. Denn der Schmetterling ist ja etwas Besonderes, er ist ja nicht ein Tier wie alle anderen, er ist eigentlich überhaupt nicht ein Tier, sondern bloß der letzte, höchste, festlichste und zugleich lebenswichtigste Zustand eines Tieres. Er ist die festliche, die hochzeitliche, zugleich schöpferische und sterbensbereite Form jenes Tieres, das vorher schlafende Puppe und vor der Puppe gefräßige Raupe war. Der Schmetterling lebt nicht, um zu fressen und alt zu werden, er lebt einzig, um zu lieben und zu zeugen, dazu ist er mit einem unerhört prachtvollen Kleide angetan, mit Flügeln, die viele Male größer sind als der Leib und die in Schnitt und Farben, in Schuppen und Flaum, in einer höchst mannigfaltigen und raffinierten Sprache das Geheimnis seines Daseins ausdrücken, nur um es intensiver zu leben, um das andere Geschlecht zauberischer und verführerischer zu locken, das Fest der Fortpflanzung strahlender zu begehen. Diese Bedeutung des Schmetterlings und seiner Prächtigkeit ist zu allen Zeiten von allen Völkern empfunden worden, er ist eine einfache und eindeutige Offenbarung. Und weiter wurde er, weil er ein festlicher Liebender und ein strahlend Verwandelter ist, Sinnbild zugleich der Kurzlebigkeit wie der ewigen Fortdauer, wurde den Menschen schon in früher Zeit zum Gleichnis und Wappentier der Seele.

Nebenbei sei festgestellt: das Wort »Schmetterling« ist weder sehr alt, noch ist es in vielen deutschen Mundarten gemeinsam gewesen. Man hat dieses merkwürdige Wort, das etwas höchst Lebendiges und Energisches und daneben auch etwas Rohes, ja Unpassendes hat, früher nur in Sachsen und vielleicht in Thüringen gekannt und gebraucht, es ist erst im 18. Jahrhundert in die Schriftsprache eingegangen und allgemein geworden. Süddeutschland und Schweiz haben es vorher nicht gekannt, hier war der älteste und schönste Name für den Schmetterling: Fifalter (auch Zwiespalter), aber weil die Sprache der Menschen ebenso wie die Sprache und Schrift auf den Falterflügeln nicht ein Werk des Verstandes und der Berechnung, sondern der schaffenden und dichtenden Spielkräfte ist, hat sich die Sprache hier wie bei allen Dingen, die das Volk liebt, nicht mit einem Namen begnügt, sondern ihm mehrere, ja viele gegeben. In der Schweiz wird noch heute der Schmetterling meistens entweder Fifalter oder Vogel (Tagvogel, Nachtvogel) oder Sommervogel genannt. Wenn schon das ganze Geschlecht der Falter so mannigfache Namen trug (es gibt auch die Namen Butterfliege, Molkendieb und eine Reihe anderer), so kann man sich denken, wie viele, nach den Landschaften und Mundarten wechselnde Namen es erst für die einzelnen Arten der Schmetterlinge gibt – oder bald wird man sagen müssen: gab, denn gleich den einheimischen Blumennamen sterben sie langsam aus, und wären unter den Knaben nicht immer wieder Freunde und Sammler der Falter, so würden diese zum großen Teil wundervollen Namen allmählich ebenso verschwinden, wie in vielen Gegenden der Reichtum an Schmetterlingsarten seit der Industrialisierung und seit der Rationalisierung der Landwirtschaft ausgestorben und verschwunden sind.

006.tif

Waldwiesen-Vögelchen