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1. Kapitel.

»Oh, wende deine Strahlenaugen
        Von meinem bleichen Angesicht;
Ich darf ja meinen Blick nicht tauchen
        Zu tief in das verzehrend Licht. –
Wenn unter deiner Wimper Schatten
        Der Liebe mächt'ge Sonne winkt,
So muß mein armes Herz ermatten,
        Bis es in Wonne untersinkt.«

Von den südlichen Ausläufern der Pyrenäen kommend, trabte ein Reiter auf die altberühmte Stadt Manresa zu. Er ritt ein ungewöhnlich starkes Maultier, und dies hatte seinen guten Grund, denn er selbst war von hoher, mächtiger Gestalt. Wer nur einen einzigen Blick auf ihn warf, der sah sofort, daß dieser riesige Reitersmann eine ganz ungewöhnliche Körperkraft besitzen mußte. Und wie die Erfahrung lehrt, daß gerade solche Kraftgestalten das friedfertigste Gemüt besitzen, so lag auch auf dem offenen und vertrauenerweckenden Gesicht dieses Mannes ein Ausdruck, der keinen Glauben an den Mißbrauch so außergewöhnlicher Körperstärke aufkommen ließ.

Sein blondes Haar und seine Züge berechtigten zu der Vermutung, daß er kein Südländer sei; doch war sein Gesicht von der Sonne tief gebräunt, und seine Augen hatten jenen scharfen, umfassenden und durchdringenden Blick, den man nur an Seeleuten, Präriejägern oder sehr weit gereisten Männern zu beobachten pflegt.

Er mochte vielleicht sechsundzwanzig Jahre zählen, doch sein ganzes Wesen atmete jene Ruhe, Erfahrung und Gewißheit, die den Menschen älter erscheinen lassen, als er ist. Seine nach französischem Schnitt gefertigte Kleidung war aus feinen Stoffen, aber bequem gearbeitet, und hinter dem Sattel war ein Reitfelleisen befestigt, das Dinge zu enthalten schien, die dem Reiter wertvoll waren, denn wie unwillkürlich griff er zuweilen danach, um sich zu überzeugen, ob es noch vorhanden sei.

Als er Manresa erreichte, war es bereits am späten Nachmittag. Er ritt durch die alten Mauern und engen Straßen, bis er die Plaza – den Marktplatz – erreichte, wo er ein neugebautes, hohes Haus bemerkte, über dessen Tür in goldenen Lettern zu lesen war,»Hotel Rodriganda«. Der Schärfe seines Rittes nach war zu vermuten, daß er gar nicht beabsichtigt hatte, in Manresa Einkehr zu halten; sobald er aber dieses Schild gelesen, lenkte er sein Tier in kurzem Trab nach dem Tor des Hotels und stieg ab.

Jetzt erst, als sein Fuß die Erde berührte, konnte man seine imposante Erscheinung voll bewundern. Wenn im ersten Augenblick das Herkulische seiner Figur außergewöhnlich erscheinen mußte, so war es doch sogleich die schöne Harmonie seines Gliederbaus, die jenen Eindruck milderte und neben der Bewunderung und Achtung eine freundliche Zuneigung erweckte.

Einige dienstbare Geister eilten herbei, um ihm behilflich zu sein. Er überließ ihnen sein Maultier und trat in den Raum, der für vornehmere Gäste reserviert zu sein schien. Dort befand sich nur ein einziger Mann, der sich bei seinem Eintritt höflich erhob.

»Buenas tardes – guten Abend!« grüßte der Fremde. – »Buenas tardes!« antwortete der Mann. »Ich bin der Wirt. Befehlen Eure Gnaden vielleicht eine Wohnung?« – »Nein, gebt einen Imbiß und eine Flasche Vinto regio.«

Der Wirt erteilte die betreffenden Befehle und fragte dann:

»So wollen Sie heute nicht in Manresa bleiben?« – »Ich reite noch bis Rodriganda. Wie weit ist es bis dahin?« – »Sie werden es in einer Stunde erreichen, Señor. Es sah aus, als ob Sie erst die Absicht hätten, an meinem Hotel vorüberzureiten.« – »Allerdings«, antwortete der Fremde. »Der Name Ihres Hotels hielt mich zurück. Warum nennen Sie Ihr Haus Rodriganda?« – »Weil ich längere Jahre Diener des Grafen war und es seiner Güte verdanke, daß ich mir dasselbe bauen konnte.« – »So kennen Sie die Verhältnisse des Grafen genau?« – »Sehr genau.« – »Ich bin Arzt und stehe im Begriff, mich ihm vorzustellen. Es wäre mir lieb, mich orientieren zu können. Wer sind die Personen, die man auf Schloß Rodriganda antrifft?«

Der Wirt schien, im Gegensatz zu seinen Landsleuten, ein menschenfreundlicher Mann zu sein. Vielleicht war es ihm auch lieb, in der einsamen Nachmittagsstunde eine Unterhaltung zu finden. Redselig antwortete er:

»Ich bin gern bereit, Ihnen jede Auskunft zu geben, Señor. Ich höre an Ihrer Aussprache des Spanischen, daß Sie ein Ausländer sind. Jedenfalls sind Sie von dem kranken Grafen herbeigerufen worden?«

Der Fremde wiegte den Kopf leise hin und her, als sei er zweifelhaft, welche Antwort er geben solle, dann meinte er:

»Es ist so ähnlich, wie Sie meinen. Ich bin ein Deutscher und heiße Sternau, war jedoch längere Zeit erster Assistenzarzt bei dem Professor Letourbier in Paris und wurde dort vor kurzem gebeten, schleunigst nach Rodriganda zu kommen.« – »Ach so! Vielleicht finden Sie den Grafen gar nicht mehr am Leben.« – »Warum?« – »Er ist seit längeren Jahren blind, unheilbar blind, wie die Ärzte sagen, und seit letzter Zeit hat sich auch ein arges Steinleiden bei ihm entwickelt, das neben seiner außerordentlichen Schmerzhaftigkeit schließlich lebensgefährlich wurde. Nur eine Operation kann ihm helfen. Er war bereit, sie vornehmen zu lassen, und rief zu diesem Zweck zwei der berühmtesten Chirurgen an sein Krankenbett, fand aber ganz unerwarteten Widerstand bei seiner einzigen Tochter, Condesa Rosa. Die Ärzte konnten jedoch nicht warten, und gestern hörte ich, daß heute der Schnitt vorgenommen werden sollte.« – »O wehe, so komme ich zu spät!« rief der Fremde, indem er emporsprang. »Ich muß schleunigst fort. Vielleicht ist es noch Zeit.« – »Schwerlich, Señor. Einen solchen Schnitt führt kein Arzt in der Stunde der Dämmerung aus. Übrigens ist es doch möglich, daß man noch gewartet hat, da die gnädige Condesa die Operation von Tag zu Tag verschieben ließ, obgleich die Ärzte, und besonders der Sohn des Grafen, keinen Aufschub gelten lassen wollten.« – »Der Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla hat einen Sohn?« – »Ja, einen einzigen; es ist Graf Alfonzo, der eine lange Reihe von Jahren in Mexiko gewesen ist, wo sein Vater höchst ausgedehnte und reiche Besitzungen hat. Er wurde jetzt nach Hause gerufen, um bei der Operation, die ja den Tod zur Folge haben kann, gegenwärtig zu sein. Graf Emanuel hat natürlich vorher sein Testament gemacht« – »Welche Personen sind außer dem Grafen und seinen beiden Kindern auf Schloß Rodriganda noch erwähnenswert?« – »Da ist zunächst Señora Clarissa, eine sehr entfernte Verwandte des Hauses. Sie ist Oberin des Stiftes der Karmeliterinnen zu Saragossa und zugleich die Duenja der jungen Gräfin, da dieselbe keine Mutter mehr besitzt. Schwester Clarissa ist sehr fromm, wird aber von Condesa Rosa nicht geliebt. Ferner ist da Señor Gasparino Cortejo, eigentlich Advokat und Notar hier in Manresa, der aber sehr viel auf Schloß Rodriganda verkehrt, weil er der Verwalter des gräflichen Vermögens ist. Auch er ist sehr fromm und dabei außerordentlich stolz. Ich könnte auch noch erwähnen den guten Kastellan Juan Alimpo und sein Frau Elvira, treue und brave Leute, die ich Ihnen empfehlen kann. Andere sind nicht zu nennen, da der Graf sehr einsam lebt.« – »Kennen Sie nicht den Namen Mindrello?« – »Oh, den kennt ein jedes Kind. Mindrello ist ein armer, ehrlicher Teufel, den man in Verdacht hat, daß er zuweilen ein wenig Schmuggel treibt; darum nennt man ihn gewöhnlich Mindrello, den Contrebandier. Aber Sie können ihm volles Vertrauen schenken. Er ist besser als mancher andere, der ihn verachtet.« – »Ich danke, Señor. Nach dem, was ich vernommen habe, darf ich mich nicht länger hier verweilen. Buenas noches – gute Nacht!« – »Buenas noches, Señor! Ich wünsche, daß Sie nicht zu spät kommen.«

Doktor Sternau bezahlte das Genossene, ließ sich sein Maultier vorführen, schwang sich hinauf und ritt im Galopp davon.

Der Tag neigte sich bereits zu Ende, so daß Rodriganda vor Einbruch der Dunkelheit schwerlich zu erreichen war. Während das Maultier leicht und flüchtig auf der Straße dahinjagte, griff der Reiter in die Tasche und zog ein zusammengefaltetes Papier hervor. Der Zustand desselben ließ vermuten, daß Sternau die darauf enthaltenen Zeilen bereits sehr oft gelesen habe, dennoch faltete er es jetzt während des Reitens wieder auseinander und las zum hundertsten Mal die von energischer Frauenhand geschriebenen Worte:

»Herrn Doktor Sternau, Paris, Rue Vaugirard 24. Mein Freund!

Wir nahmen voneinander Abschied für das ganze Leben, aber es sind Umstände eingetreten, die mich dringend wünschen lassen, Sie hier zu sehen. Sie sollen dem Grafen Rodriganda das Leben retten. Kommen Sie schnell, schnell, und bringen Sie Ihre Instrumente mit. Kehren Sie bei Mindrello, dem Contrebandier, ein und fragen Sie nach mir. Aber ich flehe Sie an, schnell, sehr schnell zu kommen!

Rosetta.«

Nachdem Sternau das Schreiben gelesen hatte, faltete er es zusammen und barg es wieder in der Tasche. Er ritt jetzt durch einen dichten Eichenwald, aber er sah nicht die Eichen und nicht den Weg, den sie besäumten. Er dachte zurück an Paris und an die Stunde, in der er die Schreiberin des Briefes zum ersten Mal gesehen hatte.

Das war im Jardin des Plantes gewesen, als er, um ein Boskett schreitend, um sich auf die daselbst stehende Bank niederzulassen, dieselbe bereits besetzt fand. Erstaunt und verwirrt von dem Liebreiz der jungen Dame, die er in ihrer Einsamkeit gestört hatte, war er zurückgewichen. Auch sie erhob sich, und nun sah er sich einer Schönheit gegenüber, wie er sie in dieser Vollendung bisher nicht für möglich gehalten hatte. Er, der erfahrene Mann, der Arzt, fühlte, daß seine Pulse stehenblieben, um ihm dann mit zehnfacher Geschwindigkeit das Blut aus dem Herzen nach den Schläfen und in die Wangen zu treiben. Jene Stunde entschied über ihn und auch – über sie. Sie liebten einander unaussprechlich, aber auch ebenso unglücklich. Er durfte sie nur in jenem Garten treffen und sehen. Sie war, wie sie ihm mitteilte, Gesellschafterin der Condesa Rosa de Rodriganda, die mit ihrem blinden Vater in Paris verweilte, und hatte aus Ursachen, die sie ihm nicht nennen konnte, das Gelübde getan, unverheiratet zu bleiben. Er fühlte sich hochbeglückt vor Wonne über ihre Gegenliebe, doch fast wahnsinnig vor Schmerz über ihren unerschütterlichen Entschluß, den er nicht zu fassen und zu begreifen vermochte. Er bat und flehte, er beschwor sie; sie weinte und blieb dennoch fest. Dann reiste sie ab, und er mußte ihr versprechen, sich niemals nach ihr zu erkundigen. Sie wollten für dieses Leben scheiden, um sich in einer anderen Welt als Selige wiederzufinden. Nur ein einziges Mal hatte er sie an sein Herz ziehen und seinen Mund auf ihre Lippen pressen dürfen, aber diese Wonne wurde von dem Schmerz der Trennung beeinträchtigt. Seit jener Zeit hatte er wie ein Riese mit dem Leid gerungen, das sein Herz durchwühlte und sein Leben umkrallte, und es zu keinem Sieg gebracht. Das herrliche Wesen, das er besessen hatte, nur um es wieder zu verlieren, war der Gedanke seiner Tage und der Traum seiner Nächte. Wenn er auch hoffte, daß sein Herz einst noch zur Ruhe kommen werde, so fühlte er doch, daß er diese späte Ruhe mit einem großen Teil seines Lebens bezahlen würde. Und wie sollte sich seine Ahnung erfüllen! Die unbeschreiblichen Gefahren, Leiden und Kämpfe, die seiner ob dieser Liebe harrten, vermochte nur ein Charakter und Held wie Sternau zu tragen und zu überwinden. – Da plötzlich erhielt er ihren Brief. Er las ihn und fühlte alle seine Nerven beben. Ohne zu fragen und zu zagen, packte er sofort das Nötige ein und folgte dem Ruf der Teuren. Obgleich nur eine Gesellschafterin, war sie ihm doch erschienen wie ein holdes, überirdisches Wesen, wie eine jener Feen, deren Augen zuweilen über das arme Leben des Sterblichen hinleuchten wie ein Blick aus Himmelsräumen. Als nun diese Fee gebot, da mußte er gehorchen. Er flog durch das ganze Frankreich; er eilte in rasender Hast über die Pyrenäen, und nun, nun endlich näherte er sich dem Ziel, wo er sie wiedersehen sollte, die Herrliche, die Unvergleichliche, der er zu eigen war mit Seele, Leib und Leben.

Der Galopp des Maultiers war ihm noch zu langsam; er trieb es zu vermehrter Eile, und eben als die Sonne hinter den westlichen Höhen niedertauchte, ritt er in das Dorf Rodriganda ein.

Es hatte ein weit besseres und freundlicheres Aussehen, als es gewöhnlich bei spanischen Dörfern der Fall zu sein pflegt. Die Straße war breit und sauber gehalten, die Häuser des Ortes lugten mit ihren funkelnden Fensterscheiben förmlich einladend aus den wohlgepflegten Blumengärten hervor. Dies war ein Zeichen, daß Graf Emanuel de Rodriganda-Sevilla nicht nur ein Herr, sondern vielmehr auch ein Vater seiner Untertanen sei, der alles tat, um ihr Glück und Wohl zu fördern.

Sternau fragte einen ihm Begegnenden nach der Wohnung Mindrellos und wurde nach dem letzten Häuschen des Dorfes gewiesen. Er sprang vor demselben von dem Tier und trat ein. Die Familie des Contrebandiers befand sich soeben bei einer frugalen Abendmahlzeit.

»Wohnt hier Mindrello?« fragte Sternau. – »Ja. Señor, ich bin es«, antwortete der Mann, indem er sich vom Stuhl erhob.

Er war eine kräftige, untersetzte Gestalt, die jeder Strapaze gewachsen zu sein schien, und sein offenes Gesicht konnte ihm als die beste und zuverlässigste Empfehlung dienen.

»Kennen Sie die Gesellschafterin der Condesa de Rodriganda?« – »Wie heißt sie?« forschte der Spanier mit gespannter Miene. – »Rosetta.« – »Heilige Madonna von Cordova, so sind Sie wohl Señor Sternau aus Paris?« – »Der bin ich.«

Da erhoben sich sämtliche Mitglieder der Familie und streckten Sternau mit einem freudigen Willkommen die Hände entgegen, und sogar die Kleinen wagten sich herbei, um mit lachenden Gesichtern dem Beispiel der Erwachsenen zu folgen.

»Willkommen, herzlich willkommen!« rief Mindrello. »Sie kommen gerade noch zur rechten Zeit. Die gnädige Condesa, ich wollte sagen, die gute Señorita Rosetta ist in großer Angst gewesen. Ich werde sogleich nach ihr senden.« – »Wurde der Graf heute operiert?« – »Nein, noch nicht; die Condesa hat so lange gebeten und gefleht, bis man es noch einmal verschoben hat; aber morgen wird es sicher geschehen. Die Condesa ist ganz überzeugt, daß Sie kommen werden, Señor.« – »So weiß sie von dem Brief, den mir die Gesellschafterin, Señorita Rosetta, geschrieben hat?« – »Ja, hm, natürlich weiß sie es«, antwortete der Spanier mit einer Verlegenheit. »Aber, Señor, wir haben Ihnen für heute ein kleines Zimmerchen fertig gemacht, da oben im Giebel, wo die Blumen vor dem Fenster stehen. Ich werde Sie hinaufführen und Ihnen zugleich ein Abendbrot geben, bevor die Señorita kommt« – »Und mein Maultier?« – »Das wird beim Nachbar einen Platz und auch Futter finden, bis Sie mit ihm in das Schloß ziehen. Wollen Sie mir folgen, Señor?«

Mindrello führte Sternau darauf eine kleine Treppe empor in ein niedriges Gemach, dessen Decke der Arzt mit dem Kopf erreichte, das aber höchst saubergehalten war, in Spanien eine sehr große Seltenheit. Bald wurde das Mahl gebracht, und während desselben konnte Sternau durch das Fenster die herrliche Aussicht auf das Schloß genießen.

Noch aus der Zeit der Mauren stammend, bildete es ein gewaltiges, durch malerisches Kuppelwerk gekröntes Viereck, das trotz der Massigkeit seiner hoch und langgestreckten Fronten so leicht und zierlich gegliedert zum Himmel strebte, als sei es aus leuchtenden Minaretts, mit Rosenblättern verziert gebildet. Von diesem weithin schimmernden Bau stachen die ihn umgebenden dunklen Korkeichenwaldungen außerordentlich effektvoll ab, und wer ihn jetzt betrachtete, als das verglimmende Abendrot seine zauberischen Tinten über ihn warf, der konnte sich in jene Gegenden des Morgenlands versetzt fühlen, wo aus dem ewigen Pflanzengrün die Bauwerke der Kalifen so weiß, rein und unbefleckt emporragen, als ob sie von den Händen der Engel und Seligen errichtet wären.

Der Tag schied aus dem Tal; die Dämmerung verschwand, und der Abend warf seine Schatten über Schloß und Dorf. Sternau brannte das Licht an und prüfte die Instrumente, die ihm Mindrello heraufgebracht hatte, ehe er das Maultier zum Nachbar schaffte. Da hörte er die Stiege leise knarren, und dann klopfte es.

»Herein«, antwortete er.

Die Tür wurde geöffnet, und – da stand sie unter derselben, von dem Licht hell bestrahlt, sie, nach der er sich gesehnt hatte mit jedem Schlag seines Herzens. Sternau öffnete die Arme und wollte der Geliebten entgegeneilen; aber es ging ihm wie damals in Paris. Sie, die einfache Gesellschafterin, stand vor ihm so stolz, so hoch und hehr wie eine Königin; sein Fuß stockte, er wagte es nicht einmal, ihre Hand zu erfassen.

»Rosetta...«

Dieses eine Wort war alles, was er zu sagen vermochte; aber es lag in seinem Ton eine ganze Welt voll Entzücken und – Herzeleid.

Sie stand vor ihm, ebenso ergriffen wie er. Sie sah ihn erbleichen, sie sah, daß er mit der Hand nach seinem Herzen fuhr, sie sah, daß sein Auge größer und dunkler wurde, wie unter einer aufsteigenden Tränenflut, und nun zitterte auch ihre Stimme, als sie fragte:

»Señor Carlos, Sie haben mich noch immer nicht vergessen?« – »Vergessen?« erwiderte er. »Verlangen Sie von mir alles, aber verlangen Sie nicht, daß ich Sie jemals vergessen soll. Sie sind mein Denken und Empfinden, mein Leben und Leiden, und Sie vergessen, das heißt nichts anderes als sterben.« – »Und dennoch muß es sein. Heute aber dürfen wir uns noch sehen, und so will ich Ihnen danken, daß Sie gekommen sind.« – »Oh, Señorita, ich glaube, ich wäre gekommen, und wenn ich auf dem Sterbebett gelegen hätte«, antwortete Sternau in tiefster Bewegung. – »Fast möchte ich Ihnen das glauben, denn auch ich habe erfahren, wie allmächtig die Liebe ist. Aber lassen Sie uns von dem sprechen, was mich veranlaßte, Sie hierher zu rufen.« – »Ihre Zeilen waren unbestimmt. Sie ließen mich vermuten, daß der Graf sich in einer Gefahr befindet. Ich habe dann in Manresa gehört, daß er eine Operation erleiden soll.« – »Allerdings, aber es gibt noch andere Gründe, die mir Besorgnis einflößen, Gründe, die ich nur gegen Sie erwähnen kann, da ich zu Ihnen ein so unendliches Vertrauen besitze. Ich weiß nicht, sondern ich ahne nur, daß der Graf sich auch noch in einer anderen Gefahr befindet, als diejenige ist, die seine Krankheit befürchten läßt; aber nun ich Sie hier bei uns weiß, bin ich ruhig. Es ist mir, als sei mit Ihrem Erscheinen jede Gefahr gewichen.«

Bei diesem Bekenntnis leuchtete sein Auge auf, er streckte ihr beide Hände entgegen und fragte mit bebender Stimme:

»So groß ist Ihr Vertrauen, Rosetta? Oh, dann ist es ja sicher, daß Sie mich noch lieben.«

Sie legte die Hände in die seinigen und antwortete:

»Ja, ich liebe Sie, Carlos, ich liebe Sie noch so innig, wie ich Sie bei unserem Scheiden liebte, und ich werde Sie so innig weiter lieben, bis ich einst diese Erde verlasse. Ich bin Ihnen bisher ein Rätsel gewesen, aber morgen werden Sie imstande sein, dieses Rätsel zu lösen, und dann werden Sie begreifen, daß die Trennung unser einziges Schicksal ist.« – »Warum erst morgen? Warum nicht jetzt?« hauchte er. – »Weil meinem Mund das Wort schwer wird, das Sie morgen erfahren sollen. Carlos, grollen wir dem Schicksal nicht, sondern suchen wir unser Glück in der reinen Freude darüber, daß unsere Herzen einander gehören, obgleich uns die Verhältnisse trennen. Lassen Sie uns ohne Leidenschaft sprechen und zu dem Thema übergehen, das mich zu Ihnen führt.«

Ohne Leidenschaft! Welch ein Verlangen für ihn, auf den die mächtigsten Gefühle einstürmten! Aber er zwang sich, ruhig zu sein, und führte sie zum Sessel.

»Sie sollen hören, was ich von Ihnen wünsche«, begann sie. »Sie wissen, daß der Graf unheilbar blind ist. Zu diesem Leiden ist ein neues und höchst schmerzhaftes getreten; er leidet an einer sehr ausgebildeten Steinkrankheit, und die Ärzte, die wir zu Rate zogen, behaupteten, daß nur die Operation sein Leben retten könne. Er hat sich für diese Operation entschieden und seinen Sohn, den Grafen Alfonzo, aus Mexiko kommen lassen, um ihn noch einmal zu sehen und damit der Erbe anwesend sei, wenn der Schnitt mißglücken sollte. Oh, das klingt so kalt und geschäftsmäßig, während es mir das Herz zerreißt! Ihr Männer spielt mit dem Tod und nennt dies Mut; mir aber schaudert vor einem solchen herzlosen Mut. Condesa liebt den Vater; er war ihr einziger Freund bisher, und sie war seine Hand, die ihn, den Erblindeten, durch das Leben leitete. Sie betet Tag und Nacht zu Gott, daß er gerettet werde, denn sie fühlte eine fürchterliche Angst, daß man den falschen Weg eingeschlagen habe. Die Ärzte sind finstere, kaltherzige Männer, denen sie kein Vertrauen schenkt. Der Notar und Schwester Clarissa, die den Grafen fast keinen Augenblick verlassen, gleichen unheilvollen Dämonen, die nach des Kranken Blut lechzen, und Graf Alfonzo, der Sohn – ach, wie unglücklich, wie sehr unglücklich ist die Condesa!«

Rosetta legte das bleiche Gesicht in die Hände und weinte. Es war nicht jenes laute Weinen, welches das Herz von seiner Last erlöst, sondern jenes stille, das keinen Laut, sondern nur Tränen und immer wieder Tränen hat. Sternau konnte dies nicht länger ansehen, er kniete vor ihr nieder, zog ihr die Hände von den überströmenden Augen und bat mit flehender Stimme:

»Weinen Sie nicht, Señorita. Blicken Sie auf mich: ich bin ein Riese, aber wenn ich weinen sehe, so muß ich vor Schmerz vergehen. Erleichtern Sie Ihr Herz, indem Sie mir alles mitteilen.« –

»Ich werde es tun«, antwortete sie, indem sie sich faßte und ihre Tränen trocknete. Dann fuhr sie fort: »Die Condesa war ein sehr kleines Mädchen, als sie den fortgehenden Bruder zum letzten Mal sah. Es vergingen fast sechzehn Jahre, und nun freute sie sich aus vollstem Herzen über seine Wiederkehr. Er kam, und sie eilte ihm entgegen, um an seine Brust zu fliegen; aber nur einen einzigen Schritt, dann blieb sie halten und vermochte es nicht, ihm ihre Arme entgegenzustrecken. Der vor ihr stand, den durfte sie nicht berühren, sie wußte nicht warum; aber eine innere Scheu sagte es ihr. Das war nicht das Auge oder die Stimme eines Bruders, sein Angesicht war hart, und seine Worte klangen herzlos. Und dann, als sie ihn von Tag zu Tag beobachtete, gewahrte sie die Blicke, die er auf seinen Vater warf. Ein jeder dieser Blicke sagte: Ich laure nur auf deinen Tod! Da wurde ihr Angst, sie ahnte ein Geheimnis, und in dieser Todesangst schrieb sie – bat sie mich, an Sie zu schreiben, damit Sie kommen und helfen möchten.« – »Was ich tun kann, soll geschehen«, versicherte Sternau. »Die Operation wird morgen stattfinden?« – »Ja. Man will sie auf keinen Fall länger hinausschieben.« – »Wann?« – »Ich hörte, daß sie um elf Uhr vorgenommen werden soll.« – »Werde ich vorher den Grafen sehen und sprechen dürfen?« – »Ja, wenn Sie sich bei der Condesa melden.« – »Wann wird sie mich empfangen?« – »Kommen Sie um neun Uhr! – Haben Sie bereits einmal den Stein operiert?«

Sternau lächelte ein wenig.

»Sehr oft, Señorita. Ich glaube sogar, daß man mich für eine Kapazität auf diesem Feld hält.« – »Ist die Operation sehr gefährlich?« – »Um dies sagen zu können, muß man den Fall untersucht haben. Warten wir, bis dies geschehen ist!« – »Ja, warten wir! Ich habe zu Ihnen ein unerschütterliches Vertrauen. Nur Sie allein werden Rettung bringen, wenn Rettung möglich ist.«

Sie erhob sich. Da fragte er traurig:

»Sie wollen gehen, Señorita?« – »Ja; ich werde sonst vermißt. Also um neun Uhr kommen Sie?« – »Ich komme! Darf ich Sie nicht begleiten, Señorita?«

Rosetta besann sich errötend und antwortete:

»Es ist dunkel, und man wird uns nicht sehen. Ja, kommen Sie bis zum Schloß mit!«

Sie verließen das Häuschen, und er reichte ihr den Arm. So hoch und stark er war, so war er doch kaum um einen halben Fuß größer als sie, und wer sie jetzt so nebeneinander dahin schreiten sah, der hätte sie jedenfalls für ein ganz auserlesenes Paar gehalten.

Sie legten ihren Weg unter tiefstem Schweigen zurück, aber desto lauter war die Stimme ihrer Herzen. Er fühlte ihren Arm auf dem seinigen, aber er hätte es nicht gewagt, ihn fester an sich zu ziehen. Es war ihm, als wandle ein überirdisches, unendlich höheres Wesen neben ihm her, ein Wesen, zu dem er anbetend emporschauen müsse. Und als sie endlich vor dem Parktor standen, um Abschied zu nehmen, da zuckte es ihm zwar heiß und verlangend durch die Seele, aber seine Arme blieben gesenkt, und als sie ihm die Hand entgegenstreckte, da zog er diese nur für eine ganz, ganz kurze Zeit an seine Brust, und wagte es nicht, sie mit seinen Lippen zu berühren.

»Gute Nacht, Carlos«, sagte sie.»Ruhen Sie aus von Ihrer Reise!« – »Ausruhen?« fragte er. »Meine Seele ist ruhelos, bis sie die Ruhe des Grabes finden wird. Gute Nacht, Señorita!«

Er wollte gehen, sie aber faßte ihn abermals bei der Hand, trat nahe, ganz nahe an ihn heran und lehnte ihr Köpfchen an seine Schulter. Dann fühlte er ihren Busen an seinem Herzen sich heben und senken und hörte ihre leise gesprochene Bitte:

»Mein Carlos, vergib mir, und sei nicht unglücklich!«

Da umfaßte er sie mit den Händen, zog sie innig an sich und flüsterte:

»Wie kann ich glücklich sein, wenn du mir nicht aufgehen darfst, mein Licht, mein Stern, meine Sonne!« – »Nur unsere Körper werden getrennt sein, unsere Seelen aber haben sich gefunden und werden einander nie verlieren, was auch kommen möge! Gott sei mit dir!«

Darauf trat Rosetta von ihm zurück und schlüpfte in den Park. Er aber stand und lauschte, bis ihre leichten Schritte verklungen waren, bewegungslos noch lange an derselben Stelle bleibend.

10. Kapitel.

»In deiner Liebe ruht mein Glauben,
Ruht all mein inniges Vertrau'n,
Will das Geschick dich mir auch rauben,
Ich werde doch den Himmel schau'n.

In deiner Liebe ruht mein Hoffen,
Ruht meiner Zukunft Heil und Licht.
Steht solch ein Paradies mir offen,
So tret' ich ein und zaud're nicht.

In deiner Liebe ruht mein Leben,
Ruht meine ganze Seligkeit.
O laß, o laß nach dir mich streben,
Und sei mein Eigen allezeit!«

Die Anwesenheit der beiden Gäste brachte in das einsame Leben auf Rodriganda etwas mehr Bewegung und Abwechslung.

Was den Grafen Emanuel betraf, so freute er sich, wenn die jungen Leute auf eine halbe Stunde sein Krankenzimmer teilten, um ihn zu erheitern. Er fühlte sich auf eine ganz unerklärliche Weise zu dem Leutnant hingezogen; auch das stille, sinnige Wesen der Engländerin mutete ihn sympathisch an, und der Umgang mit solchen Personen konnte gar nicht anders als von vorteilhafter Wirkung auf seinen angegriffenen Zustand sein.

Da die drei Ärzte Rodriganda verlassen hatten, so befand er sich unter der alleinigen Behandlung Sternaus, und die Kunst desselben hatte solche Erfolge, daß der Arzt bereits nach einigen Tagen erklärte, daß der Stein entfernt sei. Nachdem der angegriffene Körper sich gekräftigt habe, könne man daran denken, sich auch mit den erblindeten Augen zu beschäftigen.

Das war eine Botschaft, die alle Bewohner des Schlosses in Freude versetzte – die beiden Frommen und Alfonzo ausgenommen, die äußerlich Freude zeigten, innerlich aber zürnten und miteinander Pläne schmiedeten, die Heilung zu verhindern.

Es war eigentümlich, daß die regelmäßig im Park unternommenen Spaziergänge stets zu vieren begonnen wurden und doch zu zweien endeten. Wahrend der Graf auf der Veranda die balsamische Luft genoß, lustwandelten die anderen zwischen Blumen. Da fand sich dann stets der Arzt zu Rosa und der Leutnant zu Amy, ein Umstand, dessen sogar der Graf mit einem liebenswürdigen Scherz gedachte. Mariano fühlte, daß die Liebe mächtig in ihm emporflammte, so daß er sie unmöglich bewältigen konnte, und Amy sah in dem ritterlichen Jüngling die Verwirklichung ihres Ideales, ohne weiter und tiefer über die Gefühle nachzudenken, die ihr Herz beseelten.

So verging über eine Woche, ohne daß irgendein Ereignis von außen her das Stilleben unterbrochen hätte. Man las, man promenierte, man fuhr zuweilen aus, man musizierte, und überall zeigte sich Mariano als ein vollendeter Kavalier. Nur bei der Musik schloß er sich von jeder Beteiligung aus. Er gestand aufrichtig, daß er nicht Klavier spielen könne.

Es war eines Abends, zur Zeit der Dämmerung, der Arzt befand sich bei dem Grafen in dessen Zimmer, Rosa war mit dem Bruder ausgefahren, und der Leutnant hatte wieder, wie oft, in der Galerie vor dem Bild gestanden, das ihm so ähnlich war, da trat er aus der Galerie in die an dieselbe stoßende Bibliothek, in der es bereits ziemlich dunkel war, so daß er nicht bemerkte, daß Amy sich dort befand.

Sie hatte, in einer Fensternische sitzend, vorher in einem Buch gelesen und genoß jetzt die stille Dunkelstunde in jenem Hinträumen, für welche die Dämmerung so sehr geeignet ist. Als sie ihn eintreten hörte, verhielt sie sich ruhig, weil sie glaubte, daß er nur hindurchzugehen beabsichtige. Er aber tat dies nicht, sondern trat an eins der anderen Fenster und blickte hinaus in die Landschaft, von der das scheidende Tageslicht Abschied nahm.

So vergingen einige Minuten in tiefer Stille, dann wandte er sich um, vielleicht um zu gehen, und sein Blick fiel dabei auf eine spanische Gitarre, die in der Nähe des Fensters an der Wand hing. Er nahm sie herab und fand, daß sie gestimmt sei. Rosa liebte dieses Instrument und hatte es am Nachmittag gespielt Er griff einige Akkorde und begann endlich einen spanischen Tanz, bei dessen rauschenden Klängen sich Amy unwillkürlich erhob.

Die Gitarre ist in Spanien ein sehr beliebtes Instrument; sie ist fast in jeder Familie zu finden, und man trifft nicht selten Leute, die eine wirkliche Virtuosität darauf erlangt haben. Auch Amy hatte solche Spieler gehört, so aber, wie der Leutnant, hatte noch keiner gespielt. Darum schlug sie, als das Spiel zu Ende war, die Hände zusammen und rief:

»Bravo! Señor! Das war ja ein Meisterstück! Und Sie sagen, daß Sie nicht spielen können!«

Er war anfangs erschrocken, trat aber doch näher und erwiderte:

»Ah, Señorita, ich wußte nicht, daß Sie anwesend waren. Übrigens habe ich nur gesagt, daß ich nicht Klavier zu spielen verstehe.« – »Aber warum ließen Sie uns nicht wissen, daß Sie ein solcher Künstler auf der Gitarre sind?« – »Weil ich meine eigene Ansicht über die Musik habe.« – »Und welche Ansicht ist dies, Señor?« – »Die Musik ist vorzugsweise die Kunst des Gefühls, des Herzens, und niemand gibt seine Gefühle gern der Öffentlichkeit preis. Ich kann ein Konzert anhören und mich daran erfreuen, aber ich kann nicht meine eigenen Gedanken spielen, um sie hören zu lassen.« – »So sprechen Sie von Ihren eigenen Kompositionen?« – »Ich habe niemals den Namen einer Note lernen mögen. Ich spiele, was mir meine eigene Phantasie eingibt, und das spiele ich nur für mich und nicht für andere.« – »Oh, Sie sind egoistisch. Singen Sie auch?« – »Ja. Was mir der Augenblick eingibt.« – »Sie sind also ein Improvisator! Und niemand darf Sie hören?« – »Gar niemand.« – »Auch – ich nicht, Señor?«

Er schwieg. Da trat sie nahe an ihn heran, legte ihm das kleine Händchen auf den Arm und versetzte:

»Ich möchte Ihnen etwas sagen, was ich sonst keinem sagen würde.« – »Bitte, sprechen Sie!«

Sie zögerte einige Augenblicke und entgegnete mit leiser Stimme:

»Sie können alles, Sie wissen alles; ich habe Sie beobachtet und bin stolz auf Sie gewesen. Aber eine Lücke fand ich doch, und das hat – ja, das hat mich geärgert.« – »Welche Lücke ist das, Señorita?« fragte er lächelnd. – »Sie waren nicht musikalisch. Ein Mann ohne Sinn für Töne kann kein Herz, kein Gemüt haben. Das ist es, was mich ärgerte. Ich wollte Sie so gern fehlerfrei sehen. Und nun ich jetzt bemerkte, daß ich mich geirrt habe, sagen Sie, daß niemand, gar niemand Sie hören dürfe! Señor, lassen Sie mich Ihre Vertraute sein, lassen Sie mich in dem Bild, das ich von Ihnen habe, jene Lücke ausfüllen, die mich so schmerzte!«

Mariano hätte bei diesen Worten laut aufjubeln mögen. Sie gestand ihm, daß sie sich so viel mit seinem Bild beschäftige; es hatte sie geärgert und geschmerzt, daß es etwas geben sollte, worin ihm andere überlegen seien; das machte ihn so glücklich, daß er antwortete:

»Nun wohl, Señorita, ich werde Ihnen etwas vorsingen. Aber was?« – »Was singen Sie am liebsten?« – »Nichts und alles. Ich lerne niemals ein Lied; ich improvisiere nur.« – »Nun, so singen Sie ein – Liebeslied.« – »Dann aber bin ich ja gezwungen, mir eine Dame zu denken, der ich diese Liebe und dieses Lied widme!« – »Natürlich!« meinte sie in heiterem Ton. – »Aber wenn ich nun keine solche Dame kenne?« – »Gibt es wirklich keine, der Sie ein Lied widmen könnten, Señor?«

Er schwieg eine Weile, endlich antwortete er:

»Ja, es gibt eine, und an diese will ich jetzt denken, wenn ich singe.«

Damit führte er sie zu dem Sessel, auf dem sie vorhin gesessen hatte, und schritt ganz in den Hintergrund des Raumes zurück, wo er sich auf einen Diwan niederließ. Dort herrschte bereits ein solches Dunkel, daß sie ihn nicht erkennen konnte.

Es verging eine Weile, und sie ahnte, daß er jetzt an keine andere, als nur an sie allein denke. Nun hörte sie die Saiten klingen, leise und mild, dann stärker, in einzelnen Akkorden und Tönen, die sich suchten und schließlich zu einer Melodie zusammenfanden. Und jetzt hörte sie seine Stimme:

»In deiner Liebe ruht mein Glauben,
Ruht all mein inniges Vertrau'n.
Will das Geschick dich mir auch rauben,
Ich werde doch den Himmel schau'n,
In welchem deines Auges Sonne
Mich grüßt so klar, so hell, so rein,
Voll Prophezeiung süßer Wonne,
Daß du mein Eigen werdest sein.«

Als der erste Ton seines Liedes erschollen war, war Amy erschrocken zusammengezuckt. Das klang ja so süß, so unbeschreiblich mild, das konnte unmöglich die Stimme eines Mannes sein! So blieb es während des ganzes Verses. Nun aber leitete ein kurzes Zwischenspiel nach Moll hinüber, und es erklang lauter und bewegter die nächste Strophe:

»In deiner Liebe ruht mein Hoffen,
Ruht meiner Zukunft Heil und Licht.
Steht solch ein Paradies mir offen,
So tret' ich ein und zaud're nicht.
Das Leid und Weh vergang'ner Zeiten
Sinkt in Vergessenheit zurück.
Und Gottes Segen wird uns leiten
Zu dieses Lebens höchstem Glück.«

Jetzt leitete ein abermaliges Zwischenspiel nach der Durtonart zurück, die Akkorde wurden voller und kräftiger, die Melodie setzte sich aus festen, sicheren Tonmotiven zusammen, und auch die Stimme des Sängers erklang im vollen Brustton:

»In deiner Liebe ruht mein Leben,
Ruht meine ganze Seligkeit!
O laß, o laß nach dir mich streben,
Und sei mein Eigen allezeit.
Trau meines Herzens sich'rem Schlage
Und meines Pulses heil'ger Macht,
Du bist die Sonne meiner Tage,
Und ohne dich ist's um mich Nacht!«

Das Lied war verklungen, und lange Zeit herrschte in dem jetzt dunklen Raum das tiefste Schweigen. Dann aber kam Mariano langsam aus dem Hintergrund herbei, um das Instrument an seinen Platz zu hängen.

»Ist nun die böse Lücke verschwunden, Señorita?« fragte er. – »Oh, vollständig!« meinte sie. »Und dieses Lied gab es vorher nicht? Dieses Lied haben Sie erst jetzt gedichtet und improvisiert?« – »Ja.« – »Und die Melodie auch?« – »Ebenso.« – »Aber, Señor, da sind Sie ja ein wirklicher, ein wahrhaftiger Dichter! Darf ich nun nur eins noch erfahren? An wen war das Lied gerichtet?« – »An – Sie!«

Kaum war das Wort verklungen, so fühlte sie sich von ihm umschlungen, und er zog sie an sich, legte ihr die Hand auf das schöne Köpfchen und sagte:

»Gott segne Sie, Miß Amy! Ich liebe Sie unendlich, aber ich darf jetzt noch nicht davon sprechen. Doch später werde ich Sie in Mexiko oder in jedem anderen Winkel der Erde aufsuchen, um mir das Glück zu holen, das ich nur bei Ihnen finden kann!«

Ein langer, inniger Kuß glühte auf ihren Lippen, die sich nicht sträubten, und dann verließ er die Bibliothek. Sie hörte seine verhallenden Schritte und sank in den Stuhl, wo sie noch lange saß, vor Glück und Freude weinend und die glühenden Wangen in den Händen verbergend.

Später hörte sie das Rasseln eines Wagens. Rosa kehrte mit ihrem Bruder zurück. Sie hatten unterwegs den Briefboten gefunden und von ihm mehrere Briefe und Zeitungen erhalten. Diese wurden an die Adressaten verteilt. Auch an den Advokaten fand sich ein Schreiben vor. Es trug den Poststempel Barcelona und lautete:

»Señor!

Soeben bin ich mit meiner ›Pendola‹ hier eingelaufen. Die Reise hat viel Geld gebracht Ich erwarte Euch baldigst, denn ich möchte die Jahreszeit benutzen und bald wieder in See stechen.

Henrico Landola,
Seekapitän.«

Dieser Brief brachte einen sehr freudigen Eindruck auf den Advokaten hervor. Er ging sofort zu seiner Verbündeten, der Stiftsdame, und rief, als er kaum die Tür hinter sich geschlossen hatte:

»Clarissa, eine frohe Nachricht!«

Sie erhob sich aus der Chaiselongue, in der sie gesessen hatte, und meinte:

»Froh? Das läßt sich hören. Wir haben lange Zeit hindurch nur lauter Betrübnis erfahren müssen. Was ist es, was du bringst?« – »Landola ist da!« – »Der Seekapitän?« – »Ja, er ist glücklich in Barcelona eingelaufen und meldet mir, daß er gute Geschäfte gemacht habe.« – »Hat er auch Mexiko angelaufen?« – »Jedenfalls.« – »Er war in Afrika?« – »Ja, wie vorher.« – »Hat er vielleicht diesen alten Don Ferdinando de Rodriganda getroffen, den wir sterben ließen, damit Alfonzo ihn beerben konnte?« – »Ich weiß es nicht; ich werde es erst erfahren, wenn ich mit ihm spreche.« – »So gehst du nach Barcelona?« – »Nein, ich werde den Kapitän benachrichtigen, nach Rodriganda zu kommen. Unsere Stellung hier ist jetzt so sehr gefährdet, daß ich keinen Tag abkommen kann. Übrigens habe ich auch bereits das Zeichen erhalten, daß der Capitano hier ist. Er will mit mir sprechen.« – »Wann?« – »Wie gewöhnlich, gerade um Mitternacht.« – »Ah«, rief da die Stiftsdame, »da kommt mir ein Gedanke. Wir können jetzt erfahren, ob dieser Leutnant zu dem Capitano in Beziehung steht. Gehört er zu den Briganten, so wird der Capitano die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, mit ihm zu sprechen. Wir müssen ihn beobachten, ob er heute noch nach dem Park geht.« – »Das ist richtig! Dieser Einfall ist ganz vortrefflich!« – »Nicht wahr? Gott sorgt dafür, daß die Seinen nicht zu Schanden werden. Gehe hinab, mein Freund, und sieh nach, wo der Leutnant ist.« – »Ich werde zunächst nach seinem Diener sehen, denn es läßt sich ja denken, daß der Capitano sich an diesen wenden wird und nicht direkt an den Leutnant,« was doch auffällig sein könnte.«

Cortejo ging und konnte keinen besseren Augenblick gewählt haben, denn gerade als er die Treppe niederstieg, kam der Husar sehr eilfertig dieselbe empor und verschwand in dem Zimmer des Leutnants.

»Ah, das ist genug«, murmelte der Advokat. »So einen Eifer legt man nur bei etwas Ungewöhnlichem an den Tag. Ich werde mich fortschleichen und aufpassen.«

Er trat durch das Portal und schritt die von zwei großen Laternen erleuchtete Freitreppe hinab. Zu beiden Seiten derselben gab es dichte Bosketts, in denen sich ein Mensch sehr leicht verbergen konnte. Gasparino Cortejo kroch zwischen die Büsche hinein und legte sich lang zur Erde nieder, so daß er nicht gesehen werden konnte.

Von hier aus war es ihm leicht, jede Person zu erkennen, die das Schloß nach derjenigen Seite, auf der der Park und der Wald lagen, verließ.

11. Kapitel.

Cortejo mochte wohl über eine halbe Stunde gelegen haben, als er sporenklirrende Schritte hörte. Der Leutnant de Lautreville trat unter das Portal, blickte sich vorsichtig um, schritt darauf schnell die Freitreppe hinunter und wandte sich dem Park zu.

»Ah!« entfuhr es den Lippen des Advokaten. »Also doch! Ich muß zunächst sehen, wo sie sich treffen.«

Er verließ sein Versteck, umging den Kreis, der von dem Licht der Laternen beschienen wurde, und huschte dem Leutnant nach. Dieser letztere gab sich keine Mühe, den Schall seiner Schritte zu dämpfen; er hatte hier den Offizier zu spielen und durfte von keinem, der zufälligerweise im Park anwesend sein konnte, für einen Schleicher gehalten werden. Aus diesem Grund war es dem Advokaten leicht, ihm zu folgen.

Nach einer Weile lenkte der Leutnant in einen Seitenweg ein, der direkt nach einer einsamen Birkenhütte führte.

»Richtig!« brummte der Notar. »Dort im Birkenhäuschen treffen sie sich. Zufälligerweise kenne ich den Platz besser als sie und werde sie belauschen.«

Er folgte dem Offizier nicht direkt, sondern huschte über einen offenen Grasplatz, gelangte dann durch eine Birkenpflanzung, wand sich nachher durch ein nicht sehr dichtes Buschwerk und sah nun endlich das Häuschen vor sich. Es lehnte dicht an dem Buschwerk, war klein und nur von dünnen Stämmchen errichtet – infolgedessen konnte man ein jedes nicht allzu leise gesprochenes Wort hören.

Der Advokat kroch ganz an die hintere Seite des Häuschens heran und lauschte. Ah, wirklich, er hörte sprechen. Zunächst vernahm er ganz deutlich die Stimme des Capitano in den halblauten Worten:

»Und du wohnst also auf dem Schloß?« – »Ja«, antwortete die unverkennbare Stimme des Leutnants. – »Wie ist dies so günstig und schnell gekommen?« – »Ich hatte Glück – oder es ist für dich, Capitano, ein Unglück –, die Condesa nebst einer Freundin von zwei Männern zu befreien, welche die beiden Damen angefallen hatten.« – »Ah! Wer waren diese? Gibt es außer uns hier noch andere Briganten? Ich würde ihnen schleunigst das Handwerk legen.« – »Dies ist aus zwei Gründen nicht notwendig. Erstens habe ich ihnen bereits das Handwerk gelegt, und zweitens waren sie nicht fremd, sondern sie gehörten zu uns.« – »Alle Teufel! Wer war es?« – »Henrico und Juanito.« – »Unmöglich! Wie könnten diese es wagen, die Condesa zu beleidigen?« – »Das ist deine oder vielleicht auch nur ihre Sache.« – »Was hast du mit ihnen getan?« – »Den einen erschossen und dem anderen den Schädel gespalten. Sie sind beide tot.« – »Mensch, ist das wahr?« – »Ja.«

Es trat eine kleine Pause ein, bis der Hauptmann in zornigem Ton sagte:

»So hast du also zwei deiner Kameraden getötet! Weißt du, welche Strafe darauf steht?« – »Der Tod«, antwortete Mariano sehr ruhig. »Ich aber habe ihn nicht zu befürchten.« – »Warum nicht? Ah, meinst du vielleicht, daß ich dich schonen werde, weil ich stets nachsichtig gegen dich gewesen bin?« – »Ich verlange keine Schonung, sondern nur Gerechtigkeit. Hast du den beiden Männern befohlen, die Condesa anzufallen?« – »Nein.« – »Nun, so habe ich sie nicht getötet, sondern einfach bestraft.« – »Hast du das Recht dazu? Nur ich als Hauptmann habe Strafen zu verhängen.« – »Ich kannte sie nicht; sie hatten sich mit schwarzen Kapuzen vermummt.« – »So mußtest du trotz dieser Verhüllung denken, daß es Kameraden seien.«

Wieder trat eine kurze Pause ein. Endlich ließ der Leutnant ein ungeduldiges Räuspern vernehmen und sagte in entschiedenem Ton:

»Sie waren auf keinen Fall meine Kameraden. Ich bin kein Mitglied deiner Bande. Du hast mich aufgenommen und erzogen. Ich bin stets bei euch gewesen, aber du hast vergessen, mir den Schwur abzunehmen. Ich habe also euch gegenüber nicht die mindeste Verantwortlichkeit.« – »Gut, so wirst du mir den Schwur baldigst ablegen müssen.« – »Ich zweifle sehr, ob ich es tun werde.« – »Knabe!« dieses Wort kam langsam und pfeifend aus dem Mund des Capitano, der sehr erstaunt war, hier eine solche Widersetzlichkeit zu finden. »Ist dies der Dank für die ungeheuren Wohltaten, die ich dir erwiesen habe?« – »Schweige von der Ungeheuerlichkeit deiner Wohltaten!« stieß der Leutnant in bitterem Ton hervor. »Nennst du es ein Glück, wenn ein Kind seinen Eltern mit Gewalt entrissen und unter Räuber gesteckt wird?«

Der verborgene Lauscher horchte auf.

Ah, er ist's! Und er weiß es auch, daß er geraubt wurde, dachte er.

Auch der Capitano war überrascht. Er schien, wie deutlich zu hören war, vor Erstaunen einen Schritt zurückzutreten und fragte zornig:

»Den Eltern entrissen? Mit Gewalt? Auf wen beziehst du das?«

Mariano sah ein, daß es nicht klug gewesen war, sich so fortreißen zu lassen. Die Vorsicht hätte ihm geboten, gar nicht ahnen zu lassen, daß er jenem Ereignis auf die Spur gekommen sei; da er sich aber von seiner Erbitterung hatte hinreißen lassen, so ging er auch weiter und antwortete:

»Auf mich, auf keinen anderen sonst!« – »Hm, so meinst du also, daß du geraubt worden seist?« fragte der Capitano vorsichtig. – »Geraubt und vertauscht!« – »Ja, das ist möglich. Aber was habe ich dabei zu schaffen? Ich fand dich im Freien und habe bis heute keine Ahnung, wer dich ausgesetzt hat.« – »Lüge nicht, Capitano! Du selbst warst es, der mich raubte!« rief der junge Mann zornig. – »Ich? Beweise es! Ich schwöre es dir, daß ich es nicht war, der dich deinen Eltern nahm!« – »Ja, das kannst du allerdings beschwören, denn ein anderer war es, der mich stahl; aber es geschah in deinem Auftrag.« – »Ich wiederhole: Beweise es!« – »Kennst du nicht einen Mann, der Manuel Sertano hieß? Er stammte aus Mataro.« – »Alle Teufel! Wer hat dir diesen Namen genannt?« – »Ferner: Kennst du das Gasthaus ›L'Hombre grand'‹ in Barcelona? In demselben wurde in der Nacht vom ersten zum zweiten Oktober 18** ein Knabe umgetauscht.« – »Teufel! Wer hat dir dies weisgemacht?« – »Das ist mein Geheimnis!« – »Ich verlange, daß du mir Antwort gibst! Ich habe dich nach Rodriganda gesandt, um diesen Gasparino Cortejo und andere zu überwachen, nicht aber, um Ränke gegen mich zu spinnen, die jeden Grundes entbehren. Ich verlange zu wissen, wer dir diese Lüge gesagt hat!« – »Du wirst es nicht erfahren!« – »Ich werde es erfahren, denn ich habe die Macht, dich zu zwingen!« – »Pah!« Der Leutnant sprach nur diese eine Silbe, aber es lag in ihr eine solche Verachtung und Geringschätzung, daß der Hauptmann zornig rief:

»Glaubst du etwa, mir widerstehen zu können?« – »Das glaube ich allerdings.« – »So werde ich dir das Gegenteil beweisen.« – »Versuche es!« – »Ich befehle dir, sofort nach der Höhle zurückzukehren!«

Der junge Mann ließ ein leises, kurzes Lachen hören und antwortete:

»Das werde ich bleibenlassen!« – »Ah, also offenbare Widersetzlichkeit!« zischte der Capitano. – »Ja, offene!« lachte Mariano abermals. »Ich werde bleiben. Was soll der Graf Rodriganda von dem Herrn de Lautreville denken, wenn dieser wie ein Spitzbube bei Nacht und Nebel verschwindet? Übrigens gefällt es mir in Rodriganda ganz ausgezeichnet und« – fügte er mit Nachdruck hinzu – »es ist mir ganz, als ob ich zur gräflichen Familie gehöre.« – »Mensch, soll ich dich zwingen? Entweder du erklärst augenblicklich, daß du gehorchen wirst, oder ich steche dich nieder!« – »Höre vorher, was ich dir zu sagen habe!« – »Nun?« – »Capitano, ich hege keinen Groll gegen dich«, begann Mariano in ruhigem Ton; »du hast mich zwar dem Boden entrissen, wo der Baum meines Lebens Wurzel zu schlagen begonnen, aber mit deiner Erlaubnis habe ich mir durch den Pater Dominikaner alles aneignen können, was nötig ist, die mir gehörige Stelle wieder einzunehmen und auszufüllen, darum will ich nicht rachsüchtig