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Die Autorin Lele Frank – sie selbst bezeichnet sich als Schreibwerkerin - wurde 1957 in Bad Kreuznach geboren, ist Bauingenieurin und hat über 35 Jahre in dieser Ellbogen-Branche gearbeitet. Ende 2012 gab sie Beruf und Firma aus persönlichen und gesundheitlichen (ausgebrannt) Gründen auf. Nach dem Ende einer dramatischen Beziehung entdeckte sie, die Liebe und Leidenschaft, Bücher zu schreiben. Mit ihrem ersten Buch

„Tanz der Optimisten“, das eigentlich nur einen therapeutischen Zweck erfüllen sollte, hat sie sich ins Leben zurückgeschrieben.

Sie lebt an der Ostsee und bezeichnet ihre jetzige Tätigkeit als:

„Das Leben genießen.“

„Er liebt mich, er liebt mich schlicht“,

ist nichts weiter als die wahren Wahrheiten einfach noch wahrer und wahrhaftiger zu verdrehen; sie einzufangen und niederzuschreiben in der Annahme, es möge sich - hoffentlich - keiner finden, der sich darin erkennen kann oder könnte.

Oder etwa doch…? Ist alles am Ende doch viel wahrscheinlicher als angenommen? Weniger gelogen als geglaubt und erlaubt? Dem launischen Leben auf sein Tun geschaut und, leise lächelnd, den Kopf geschüttelt, um dann so zu tun als habe man nichts gehört und gesehen. Das ist schließlich ein probates Mittel sich vor seiner eigenen Wahrheit zu drücken und temporär, sowie gelegentlich, zu erblinden für die Wahrhaftigkeit der Wirklichkeit. Und mal ganz ehrlich…: sind wir nicht alle ein bisschen… unfehlbar? Ein bisschen wunderbar und vollkommen, und im (Irr)-Glauben gefestigt immer das Richtige- das Gute zu tun, ganz selbstlos natürlich und voller Liebe und Nächstenliebe, verzehrend nach Reflektion und Applaus? Ja, so wird es sein. Wir sind vollkommen. Das Gegenteil zu behaupten wäre eine infame Lüge.

Abhängigkeit und Lobbyismus findet sich selbst in der allerkleinsten Zelle der Beziehung, Partnerschaft, Ehe oder Verbrüderung. Dumm nur, wenn man aus purer Gewohnheit die Liebe in ihrer reinsten Form, mit hinein in diese kühle Schale wirft. In diesem Gefäß würde sie umkommen und sterben, die Liebe.

Aber… an Humor soll es hier nicht mangeln, ist er doch - in seiner sauberen, aufrichtigen Form - stets ein Pflaster zur Hand.

Lele Frank

Kurzgeschichten - Beziehungskisten

© 2017 Lele Frank

Umschlag, Illustration: © Lele Frank

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

Paperback: ISBN 978-3-7439-5457-1
e-Book: ISBN 978-3-7439-5458-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis:

Alles, Schweizer Käse

Mein Mann heißt Maria

Der Letzte macht das Licht aus

Buntes Herz

Die vier Seiten eines Dreiecks

Das Alibi des schwulen Engels

Der schiefe Turm von Lisa

Das verpfuschte Kind

Quo vadis, Domine

Luzi und der blaue Luftballon

In Hamburg sagt man Tschüss

Theo kann’s nicht lassen

Liebe x Zweck = teuer

Alle Personen in diesen Kurzgeschichten sind frei erfunden, oder etwa nicht…

(leise Vermutung)

Alles, Schweizer Käse

“Ob ich ihn denn nicht endlich heiraten wolle”, fragte der mich, stell dir vor. Ganz offiziell will er die Sache haben, stell dir vor. Nein! Das kann sich niemand vorstellen, echt nicht. Was um Himmels Willen denkt der sich überhaupt, dieser halbverhungerte Gigolo”, faucht sie empört ins Telefon.

“Der kann doch nicht ganz bei Trost sein, der”, ereifert sie sich weiter und legt, eine nachdrückliche Betonung,, auf das letzte Wort.

“Hat seinen Kopf doch nur, damit es oben nicht hineinregnet und es irgendwo, eine sinnvolle Stelle hat, wo er etwas zu essen hineinstopfen kann, der. Auf meine Kosten natürlich, stell dir vor”, stänkert sie noch abschließend, höchst entrüstet, und auf Zustimmung hoffend in den Hörer.

Aurora - so heißt die ebenso attraktive wie wohlhabende Anklägerin besagter Umstände, tritt wankend von einem baren pedikürten Fuß auf den anderen hin und her, und bemerkt nicht dass sie, vor lauter Aufregung, ihren weißen Kater viel zu feste an sich drückt, und der – sein Name ist Bogard – seit Minuten versucht, sich das behaarte Katzen-Leben zu retten. Als es ihm nun doch zu eng und Zuviel wird, befreit er sich unter Zuhilfenahme seiner scharfen Krallen, aus dem Würgegriff seines erzürnten, aufgebrachten Frauchens und springt, mit einem beherzten Satz, auf und davon, um die nächste Ecke.

Im sicheren Abstand einer Sofalänge sitzt die vornehm zurückhaltende Tuléar-Hündin, die von sich selbst glaubt, eine waschechte, ausgewachsene Löwin zu sein. Sie beobachtet, vornehm distanziert, wie immer, das etwas seltsame Schauspiel, das sich vor ihren dunklen Äugelein hier auftut. So außer sich, hatte Lakschmi – gerufen wurde sie simpel und kurz nur Laki – die schöne Dame, die täglich die köstlichsten Leckereien darbot und extra nur für sie alleine zum Einkaufen ging wenn etwas fehlte, noch nie im Leben gesehen. Die sonst eher ruhige Sanftmut persönlich – damit war Aurora gemeint - ließ nun sogar ihre Stimme in Höhen schwingen, wo es für so zarte Ohren wie die von Lakschmi, langsam anfing etwas unangenehm zu werden. Ihre Augen suchten aufmerksam nach Bogart¸ aber, der nicht gerade domestizierte, eigenwillige und etwas eingebildete Kater, schien durch den offenen Spalt der Terrassentür verschwunden zu sein. Pech!

„Nun…?“, schrillte die sich überschlagende Stimme der barfüßigen Aurora, ungehalten und stark erregt in die Telefonmuschel, nah ihres Mundes.

„Nun was?“, fragte die, aus der typischen Lethargie einer desinteressierten Zuhörerin aufgeschreckte, ziemlich beste Freundin, am anderen Ende der Telefonleitung.

„Was du dazu sagst, will ich wissen. Also wirklich… hörst du mir überhaupt zu?“

Agathe, so der Name der ziemlich besten Freundin, war so betrübt in ihre eigenen Gedanken versunken, dass sie wirklich das Ende von Auroras Beschwerde verpasst hatte. Gerade erst heute Morgen war ihr Ehemann Gerhard, zum werweißwievielten Male, ohne ein Wort des Grußes, geschweige denn unter Beigabe eines Kusses, hurtig durch die Haustüre geschlüpft, als gelte es einer großen Katastrophe zu entrinnen. In letzter Zeit benahm er sich höchst merkwürdig, um nicht zu sagen: geheimnisvoll und unverständlich. Nun, genaueres Hinsehen oder Beobachten dieser neumodischen, hoffentlich nur temporären Verhaltensabart, wollte sich Agathe lieber ersparen. Das würde sich sicherlich in Bälde wieder legen und er, der Gatte, würde zu den hübsch alten und vertrauten Gewohnheiten ihrer bewährten Ehe, zurückkehren als sei nichts gewesen. Vermutlich war es nur eine kleine Krise in der typischen Mitte des männlichen Lebens. Immerhin waren sie bald seit fast fünfundzwanzig Jahren verheiratet und die Silberne stand an. Und außerdem: Wenn man zu genau hinsah, es zu eng betrachtete, konnte man unter Umständen Dinge sehen, die unterm Strich niemandem nutzen; am wenigsten ihr selbst, beschloss Agathe und sah erblindet weg.

Wäre das herannahende Unglück ihrer Freundin Aurora, nicht so ungemein spannend gewesen, dann hätte es womöglich passieren können, dass sie, Agathe, aus Versehen versehentlich entdeckt hätte, dass ihr lieber Ehemann Gerhard, seit über einem Jahr ein handfestes Verhältnis mit einer Golfspielerin aus seinem Club hatte. Alle Welt wusste es; alle. Sie, Agathe, wollte nicht.

Und nun schien doch alles schief zu gehen. Agathe hörte nur mit einem Ohr zu, was ihre Freundin erzählte, weil sie ihr – das konnte sie nicht einmal vor sich selbst zugeben, so sehr schämte sie sich selbst über ihre Gendanken – eigentlich ein winzig kleines Unglück an den Hals wünschte. Diese Frau, so fand Agathe, hatte doch überhaupt keine Ahnung wie gut es ihr ging. Und außerdem: Es war in ihren Augen schon fast ein Affront vom lieben Gott – sie nahm das sehr persönlich - gegen sie selbst, dass sie nie im Leben, so klassisch schön aussehen konnte und würde, wie ihre angeblich beste Freundin Aurora. Was sie auch anstellte, neben Aurora sah sie immer aus wie eine plumpe Sennerin, die, gerade die Verführungen der Modewelt entdeckt hatte und noch nicht wusste damit umzugehen.

Dieser schräge, allerdings unverschämt gut aussehende Drystan, war genau der richtige Mann gewesen. Er kam Agathe wie gerufen. Im Nullkommanix hatte er Auroras Herz im Sturm erobert, sie umschmeichelt, sie bezirzt, sich unentbehrlich im Haushalt gemacht und sich, sukzessive, so peu a`peu bei ihr eingenistet. Ganz schleichend. So, dass man es ihm gar nicht übel nehmen konnte. Die blanke Unehrlichkeit schillerte ihm aus den hinreißend veilchenblauen, wachen Augen. Nur Aurora sah darin die weißen Wolken des Himmels vorüberziehen.

Agathe riet ihrer Freundin mit warmen Worten zu dieser, naja… sagen wir mal: etwas ungleichen Verpaarung. Fakt ist, dass Aurora von zu Hause aus, mit einem höchst angenehmen Wohlstand ausgestattet worden ist, wogegen Drystan, der attraktive Prototyp eines unendlichen Versagers, sozusagen von der Hand in den Mund- oder von einem Bett ins nächste lebte. Seine äußerst ansprechende Optik machte ihm das Leben enorm leicht. Er wusste wie man auf Kosten anderer durchs Leben schlidderte. Selbst, war ihm im Leben, nichts gelungen was erwähnenswert gewesen wäre. Nichts. Noch nicht einmal als er sich als eleganter Zuhälter versuchte hatte. Selbst hier hatte er kläglich versagt. Und dann kam da eines Tages diese herrliche Frau auf ihn zu. Nein, so war es nicht. Sie kam nicht auf ihn zu, sondern sie fiel vom Himmel in der Form, dass sie bereits an einem der Tische saß, und nicht einmal bemerkt hatte, dass Drystan auf der Bildfläche auftauchte. Ihre Augen waren ganz und gar auf die ungehorsame Tuléar-Hündin gerichtet. Sie sah nicht – mit keinem Blick, dass er, Drystan, eigentlich schon einen anderen Tisch angesteuert hatte, bevor er sie entdeckte und den Kurs änderte. Im Handumdrehen hatte Drystan die Hunderasse auf seinem internetfähigen Smart-Phone ausfindig gemacht, schnell alles wissenswerte überflogen und sich gemerkt, nicht lange gefackelt oder überlegt, und sich aufgemacht Aurora zu fragen, ob er, gnädigst, an ihrem Tisch platznehmen dürfe, es sei ja schließlich nichts dabei. Er durfte.

Und von da an blieb er offensiv am Ball. Faszination über irgendwas oder irgendwen vorzuspielen, war ihm längst in Fleisch und Blut eingesickert. Aurora bemerkte nichts von seinem Spiel. Sie verfiel Zusehens in so viel zärtliche Aufmerksamkeit und stürzte nach obenhin ab.

Und nun… Nun ärgerte sich Agathe grün und blau. Nun ist Aurora ihm, dem schönen Drystan, anscheinend auf die Schliche gekommen. So ein verdammter Mist aber auch. Agathe fühlte sich augenblicklich, auf der Stelle wieder schlecht, weil sie jetzt alles davonschwimmen sah, worüber sie, ihr eigenes filigranes Glück, so hervorragend definieren konnte. Wie sollte sie nun ihr eigenes, verlogenes Klischee noch decken, wenn sie nichts Schadhaftes mehr sah, an dem sie sich messen- und vergleichen konnte? Wie?

Agathe unternahm einen zaghaften Versuch, Aurora zu beruhigen und vom Gegenteil zu überzeugen. Sie müsse sich irren und womöglich steigere sie sich in irgendetwas hinein, was es in Wirklichkeit überhaupt nicht gäbe, dozierte sie aufmunternd. Alles würde sich sicherlich bald aufklären, meinte sie zu wissen. Sie solle ihm doch nur eine Chance geben und nicht vorschnell urteilen. So eine wundervolle Beziehung gäbe man auch nicht so leichtfertig auf, sie müsse jetzt mutig kämpfen, riet sie selbstlos. Schließlich sei sie, Aurora, ja auch keine dreißig Jahre mehr jung, und sie solle es sich gut überlegen ob sie, so einen Leckerbissen wie Drystan, so ohne weiteres aus dem Hause jagen wolle.

Es dauerte nur einen winzig kleinen- etwas längeren Augenblick, bevor das von Agathe Gesagte, in Auroras Synapsen platznahm. Zuerst wanderten ihre Augenbrauen in die zentrale Mitte ihrer wohlgeformten Stirn, dann wurde ein tiefer Graben, zwischen eben beiden Augenbrauen, deutlich und markant sichtbar. Einmal, zweimal atmete sie bis tief unter die nackten Füße und dann, betrachtete sie fragend und zweifelnd, sekundenlang den Telefonhörer, den sie ein klein wenig von sich weghielt, um ihn besser sehen zu können. Entsetzt wollten ihre Augen aus dem Höhlen springen: Das schlägt dem Fass den Boden aus, dachte sie enttäuscht von so wenig Freundschaft, die ihr hier von Agathe, auf derart hinterhältige Weise entgegenschlug. Ihre ziemlich beste schlechte Freundin riet ihr, bei einem Mann zu bleiben, welcher sie nicht nur schamlos und ohne jeden Skrupel ausgenutzt hatte, sondern am Ende noch versuchte, sie um eine milde Gabe in sechsstelliger Höhe zu bitten. Für eine Eisdiele… Für eine Champagner-Eisdiele. Hier in Bern. Als gäbe es in Bern keine Eisdielen weit und breit, geschweige denn einen vernünftigen, trinkbaren Champagner zu verkonsumieren. Als warte die Stadt auf einen wie Drystan. Für wie blöd und unterbelichtet hielt er sie eigentlich? Dieses abgekartete Spiel war so offensichtlich und dumm, dass es ihr, der geübten Weltmeisterin in Gutgläubigkeit, sogar auffiel. Die Zweifel, die sich ihr auftaten, waren allesamt begründet und am Ende richtig vermutet. Der Vermieter angeblicher Gewerbefläche, war ein sehr guter und wohlvertrauter Freund von Drystan. Und besagter, augenscheinlicher Vermieter, war noch nicht einmal rechtskräftiger Eigentümer der erwähnten Räumlichkeiten, sondern nur der Verwalter, so schlecht und recht; mehr nicht als doch, auf jeden Fall aber nicht mehr lange. Und außerdem schon mehrmals insolvent, was sich sogar bis zur ahnungslosen Aurora herumgesprochen hatte. Bern ist schließlich keine Weltstadt; keine Metropole in der man sich ganz anonym verlieren kann. In Bern kennt sich der ein- oder andere Menschenkreis, zumal dann, wenn man ein so auffälliges Paar darstellte, wie es Aurora mit ihrem Galan Drystan gewesen ist. Die Menschen drehten sich gerne und neidvoll nach ihnen um, wenn sie ihnen begegneten, nach so viel harmonisierender Schönheit, die man so selten zu Gesicht bekam. Man sah nicht alle Tage optisch homogene Paare, verliebt durch die Straßen pilgern und auch noch miteinander reden. In dieser beschaulichen, langsamen Stadt war Aurora wer; längst vor Drystan, der erst seit vier Jahren in der Stadt lebte. Man kannte ihren Vater und hielt was von ihm. Aurora hatte ihm – auch wenn sie sich kaum an ihn erinnern konnte, weil er starb als sie noch ein kleines Kind war – den Ursprung ihrer heutigen Aussage zu verdanken, dass sie auch reich geworden sei, ohne dafür unnötig zu schwitzen. Zwar meinte sie das stets – mit einem Augenzwinkern - im Scherz, ahnte aber nicht, dass gerade deswegen, selbst der gefühlt freundliche, loyale Freundeskreis, hier und da, wenn auch für Aurora unsichtbar - den Neid von der Leine ließ.

Nun hatte sie den Beweis aus allererster Hand, respektive aus schnurlosem Telefonhörer: Man meinte es nicht aufrichtig und ehrlich mit ihr. Was war das denn für eine ziemlich beste Freundin, die ihr dazu riet durchzuhalten und Drystans Wünschen nachzugeben. Was? Was wollte sie ihr damit suggerieren? Das Glück? Die Liebe? Wirklich Liebe? Oder am Ende Verderben?

Was war Agathe eigentlich für eine Freundin? Von welcher Qualität war sie. Wo hatte sie in der Vergangenheit unbegrenzte Loyalität gezeigt, oder sich Zeit genommen wenn Aurora sie brauchte? Wie oft erzählte sie von eigenen Sorgen, wenn überhaupt? Die Antwort, welche Aurora sich selbst geben musste, dauerte keine volle Sekunde. Nie! Agathe stellte ihr eignes Leben immer nur als unantastbares Perfektions-Gebilde dar; als ihren Erfolg mit ihr als Ursache. Aurora traf eine alles verändernde Entscheidung die sie für angemessen hielt. Sie nahm den Hörer wieder ans Ohr und sagte:

„Agathe… höre mir doch einmal kurz zu und lasse mich – wenn`s sich einrichten lässt, bitte ganz kurz ausreden. Es dauert nicht lange.“

Agathe bemerkte zunächst den Ernst in Auroras Stimme nicht, und meinte sagen zu müssen, dass sie es doch nur gut mit ihr meine. Um Liebe zu kämpfen, das würde sich doch immer lohnen.

„Agathe“, sagte Aurora nochmals vergeblich in den Hörer. Aber die Freundin plapperte unbeeindruckt weiter, in dem sie Aurora die Zukunft in den schillerndsten Farben ausmalte. Fehlte nur noch, dass sie Zukunftsprognosen über die Rentabilität besagter Eisdiele anstellte. Agathe, die pensionierte, ehemalige Kindergärtnerin. Von betriebswirtschaftlichen Dingen, genaugenommen, so viel Ahnung wie ein Lurch vom Ponyreiten.

„Hör` zu“, schrie Aurora, für sie, die eher leise Frau völlig unüblich, in den Hörer. Normalerweise verlor sie nie die Fassung, behielt immer die Contenance im Blick, die gute Erziehung. Dezente Unauffälligkeit im Dialog mit Stil sind ihr ganz wichtig. Ganz still, ganz ruhig wurde es auf der anderen Seite, dort wo die ziemlich beste Freundin, erstaunt und nicht wenig erschrocken, ihren Hörer kurz vom Ohr riss und ihn anstierte.

„Agathe“, sprach Aurora nun wieder so sanft wie man es von ihr kannte; oder glaubte sie zu kennen. „Agathe, liebste Freundin“, säuselte sie, gefährlich leise geworden. „Ich will dir jetzt mal etwas sagen, was dein und mein Leben, ab sofort, verändern wird. Hörst Du bitte gut zu?“

Agathe nickte am anderen Ende der Leitung, was Aurora natürlich nicht sehen konnte, weil sie ja nicht hellsichtig war, dieses Schweigen jedoch richtig interpretierte. Sie stellte sich Agathes lauerndes Gesicht bildlich vor, wie sie, auf eine weitere Sensation hoffend, neugierig die Ohren spitzte und sich schon eine weitere schlechte Empfehlung zurechtlegte.

„Leck mich am Arsch“, sagte Aurora in aller Ruhe und legte den Hörer sachte auf.

Irritiert von diesem tiefen Seufzer des Ausatmens, hob Laki interessiert das Köpfchen und beobachtete die Dame dort am Telefon, die ihr geliebtes, angebetetes Frauchen war, und die mit ungekannter Lautstärke, ganz plötzlich, herzlich auflachte.

Aurora grinste Laki liebevoll an und sagte: „Na…? Was meinst du zu der ganzen Sache, mein Liebling. Brauche wir eine ziemlich beste Freundin, die uns in Wirklichkeit überhaupt nicht liebt?“

Laki war mit dieser Frage nun etwas überfordert, zumal ihr die Konsequenzen nicht hinreichend bekannt waren. Sie hatte es gut getroffen, in ihrem himmlischen Hundeleben; ihr fehlte es an nichts. Anstandshalber und pflichtbewusst, gab sie – um ihre Anteilnahme zu signalisieren – ein ebenso charmantes wie verlegenes Niesen von sich, was wohl eine Zustimmung bedeuten sollte. Zärtlich strich Aurora dem Hündchen über sein anmutiges Köpfchen und flüsterte, mehr zu sich selbst:

„Nein… das brauchen wir nicht.“

Mein Mann heißt Maria.

„Hast du den Otto Hörbiger angerufen - den Fernseh-Hörbiger, du weißt schon, den, mit den Fernsehern und Hifi-Dingens“, ruft Rainer Maria die Treppe hinunter zu seiner Frau. Seine Stimme klingt recht ungehalten, man möchte fast sagen wirsch. Karola, die Gattin von Rainer Maria, ist gerade nicht auf Empfang. Sie schielt während des Kochens, wenn man so dazu sagen darf – es gibt selbstgeöffnete TK-Pizza, wie immer am Freitagabend - immerzu auf den kleinen Flachbildschirm, welcher dekadenter Weise, in der Küche, auf dem kleinen Stückchen freie Wand, neben dem Fenster, schon fast in der Ecke des Raumes installiert ist, und verfolgt aufmerksam die Angebote von QVC, über die allerneuesten Schlankstütz-Modelle in den Farben Schwarz, Weiß und Haut. Dieses Mal gibt es die Modelle im Dreierpack, zum gleichen Preis wie man sonst für zwei bezahlen muss; also eins geschenkt. Karola braucht unbedingt noch ein Model in Weiß; jetzt wo der Sommer vor der Tür steht. Zwei dieser Nerv tötenden und atemraubenden Speckröllchenbezwinger hat sie bereits. Schwarz und Hautfarben liegen sie, meist einsam, in der hinteren Schublade des Bügelzimmers in relativer Sicherheit, damit Rainer Maria sie nicht gewahrt. Karola ist sich sicher: würde Rainer Maria ihr kleines Geheimnis entdecken, würde er auf der Stelle ein paar demütigende Worte übrig haben, wo er doch sonst immer, bestätigend, zu ihr sagt: es sei schon in Ordnung, dass sie so an Gewicht zugelegt habe. Aber vermutlich sagt er das nur deshalb, damit Karola nicht auf die Idee kommt, ihren Gatten etwas näher zu beäugen. Rainer Marias äußere Hülle lässt, in den letzten paar Jahren, nämlich einiges zu wünschen übrig. Sein Schmerbrauch dehnt sich, in aller Stille, langsam aber stetig aus. Diese Tatsache ist auch bei sieben Dioptrien nicht mehr zu ignorieren. In den zählbar wenigen Momenten seiner selbstkritischen Beurteilung, fliegen Rainer Maria, hier und da, zwar gute Vorsätze an, die leider – gibt er sich selbst, ohne mit den Wimpern zu zucken, leider ohne eine gewisse, notwendige Ernsthaftigkeit zu – keine Chance haben zu ihm vorzudringen. Er befände sich, so sagt er untere der Maske eines Scherzes, nun in dem Alter, wo ihn der Anblick eines kühlen Blonden, weit mehr beeindrucken könne als der Anblick einer kühlen Blonden. Die wertlosen Lacher, die er für diese abgedroschene Bemerkung meist erntet, die gefallen Rainer Maria. Er genießt solche Aufmerksamkeiten, solche Lacher sehr gerne, weil er sie, vom eigentlich vorhandenen Desinteresse am Aussehen seiner Person, nicht unterscheiden kann.

Man müsste eigentlich zugreifen, überlegt Karola, verführbar wie sie nun einmal ist, verwirft aber diesen Gedanken schnell wieder, weil ihr Mann - Rainer Maria heißt er, wie wir nun wissen - nicht unbedingt mitzukriegen braucht, wieviel Geld sie für diesen temporär helfenden Unfug zum Fenster hinauswirft. Im Grunde braucht sie diese Helferlein nicht wirklich, denn ob sie nun eine sechsundvierzig oder achtundvierzig trägt, macht den Kohl auch nicht fett. Außerdem: sie gehen ja ohnehin kaum aus; höchstens mal zu den Veranstaltungen im hiesigen Fußballverein. Und in ihrem Bekanntenkreis kennt man ihre Schwachstellen. Dort braucht sie auch nichts zu vertuschen oder einzuzwängen. Hinzu kommt noch -und dies ist Letztlich das k.o. Kriterium für die Order eines weißen Models, dass sie jedes Mal pitschnass geschwitzt ist, bis diese Nerv tötenden Speckröllchenbezwinger, endlich an Ort und Stelle sitzen, um dort ihre heilige Pflicht zu erfüllen. Am liebsten riefe Karola jedes Mal die Feuerwehr zur Hilfe, damit sie unterstützend Hand anlegten, so unkomfortabel lässt sich diese Unterwäsche anlegen.

„Meine Güte, hast du mich jetzt erschreckt“, schnauft Karola ganz blass geworden, und fasst sich, mit beiden Händen ans hämmernde Herz. Von ihren Überlegungen: ob, oder ob nicht, war sie derart abgelenkt und gedankenverloren, dass sie nicht bemerkt hatte, wie Rainer Maria die Küche betrat. Natürlich barfuß, wie immer. Im hohen Bogen flog die Salami durch den Raum.

Rainer Maria steht ganz plötzlich hinter ihr und sagt laut und ungehalten, der fliegenden Salami hinterherblickend:

„Na…? Was ist denn jetzt, verfluchtnocheins. Hast du nun, oder hast du nicht?“

„Was denn“, fragt sie, wie von einem anderen Stern. „Was soll ich denn haben?“

„Na, den Fern-seh-Hör-bi-ger-an-ge-ru-fen. Was ist da drinnen in deinem leeren Schädel, was?“

Dabei macht Rainer Maria eine Geste, die vermutlich jeder vernünftig aufgestellten Frau, das helle Feuer aus den Augen getrieben hätte. Er tippt Karola, drei Mal hintereinander, mit dem Zeigefinger an ihre Stirn, so fest, dass sie einen Schritt zurückmachen muss, weil der Druck seiner frechen Hand, unbeson nen hoch ist. Die Acht- und Respektlosigkeit seiner Frau gegenüber, hatte Rainer Maria, und seine immer schlechter werdenden Manieren, für einen kurzen Moment lang im Sticht gelassen.

Karola, eine wirkliche Seele von Frau, lässt sich das alles gefallen und entschuldigt sich noch bei ihrem Mann, obwohl sie den Hörbiger längst angerufen hat, der im Übrigen schon auf dem Wege zu ihnen ist. Was für ein Arsch, denkt sie nur. Damit hat sich ihre Rebellion auch schon erledigt, Rainer Marias benehmen zu monieren.

Er hat es wirklich sehr gut getroffen, dieser fettleibige, ungehaltene Fußball-Fan, dem die Haare aus der Nase wachsen, die den Weg auf den Kopf nicht mehr gefunden haben. Dem Maria… dem Rainer Maria, der so viel von sich selbst hält, weil er, in der naheliegenden Kreisstadt, eine mittelgroße Filiale eines Baumarkts leiten darf, dem geht es wirklich gut. Alleine sein Vorname, auf den er in Vollständigkeit ausgesprochen, höchsten, ja allerhöchsten Wert legt, lässt jedermann und jederfrau auf eine intellektuelle Begegnung hoffen, der man sich, nach einem Wimpernschlag nur, nach einem ersten Satz nur, in einer großen Enttäuschung herumbaumeln sieht und zu verkraften hat welche Simplizität sich einem hier entgegenstellt. Da gibt es nichts mehr dran zu deuteln…: Rainer Maria ist ein dämliches, unsensibles Stück Mensch, mit den unübersehbaren Attributen zur Acht- und Taktlosigkeit. Empathisch gesehen ist er ein Totalschaden, und dümmer als alle noch dämlicheren, dickhäutigen, zur Faulheit neigenden Polizisten dieser westlichen Welt zusammen; und das will, weiß Gott etwas heißen.

Warum ausgerechnet Polizisten hier erwähnt werden, muss man kurz erklären:

Rainer Marias ursprünglicher und eigentlicher Berufswunsch war damals - als er wirklich noch jung und motiviert war, und im Saft stand wie ein einjähriger Gummibaum - einmal ein ganz berühmter Robin-Hood-Polizist zu werden. Einer, der sich für die schwachen und hilflosen Menschen einsetzen wollte. Seine Vorstellungen über diesen Beruf, waren derart romantisch verpeilt, dass er gleich die erste Aufnahmeprüfung völlig vergeigte. Man hatte bei der Polizei schon genügend Dummköpfe herumlaufen die sich, zu gerne, vor dem lästigen, endlosen Schreibkram drückten und hinter der starren Barriere der Bürokratie, sowie unerklärbarer Gesetze und Paragraphen versteckten. Man brauchte hierbei, weiß Gott, keine weitere Verstärkung mehr. Rainer Maria bekam keine zweite Chance, obwohl man, in diesem Berufsstand wirklich, auf intellektuell- und empathischer Ebene, winzig kleine Brötchen backen darf, ohne dass es großartig auffällt.

Karola hatte den Hörbiger, so wie ihr Rainer Maria es aufgetragen hatte, erreicht. Ein berechtigte Grund dafür, dass sie das erledigen musste, war schnell erklärt: Wenn nämlich Rainer Maria dort selbst vorgesprochen hätte, dann würde die Störung des launischen Fernsehers, für heute jedenfalls, nicht mehr beseitigt werden. Sein, ihm fehlender Charme und seine fordernde Art, machten dem selbstbewussten Rainer Maria, nicht selten einen fetten Strich durch geplante Rechnungen. Karola hingegen, konnte mit ihrer lieblichen Art und Weise, einen Haifisch zum Häkeln überreden. Sie war ein wirklich liebevolles, Frieden liebendes, harmoniesüchtiges Engelchen. Und wäre sie sich ihrer angenehmen Wirkung bewusst gewesen, hätte sie es zu einer schönen, etwas korpulenteren, selbstbewussten Frau geschafft. Das wäre dann allerdings das Ende ihrer Ehe gewesen, denn: Klaus Maria fühlte sich immer sofort bedroht von so viel Selbstbewusstsein. Er lebte noch in der, ihm anerzogenen, alten Tradition der Rollenverteilung. Und so sparte er auch nicht mit dümmlichen Äußerungen im Alltag, wenn er – was wirklich selten vorkam – mit Karola einen kleinen Bummel durch die sommerliche Stadt machte.

Um ein Beispiel hinzuzuziehen, an dieser Stelle eine kurzer Blick auf Rainer Marias Sichtweise: Singlefrauen, die sich erdreisten außerhalb der trauten vier Wände feste Nahrung zu sich zu nehmen, sind ohnehin schon die Verwahrlosung bewährter Werte in unserer Gesellschaft, denkt Rainer Maria in voller Überzeugung, dass seine Ansichten die einzig wahren sind; aber Singlefrauen über fünfzig, alleine essend an einem Tisch der öffentlichen Gastronomie, das ist wirklich skandalös. Das geht eigentlich überhaupt nicht. Das bringt sein eigenes, banales Selbstbewusstsein, völlig aus dem Gewicht. Er spart auch in Anwesenheit seiner Frau nicht mit entsprechenden Kritiken, ja er beginnt sogar über jene Objekte, die ihm da so herausfordernd ins Auge stechen, erniedrigend abzulästern und sie zu denunzieren. Da kennt er nix, der Rainer Maria aus gut bürgerlichem, katholischem Hause. Da kennt er nur die bewährte Ordnung und die Moral, ist er überzeugt - während er einer vorbeigehenden Passantin, die sich in eine wirklich enge Sommerhose gezwängt hat, äußerst interessiert und schamlos auf den Allerwertesten schielt und zweimal schluckt, weil dieser Anblick seine Lenden aufheizt.

Und seit geraumer Zeit, so klagt er, hat er sich mit einem wirklich ärgerlichen Phänomen auseinanderzusetzen, beinahe täglich. Frauen… Frauen, die ganz frech in den Baumarkt hereinstolzieren, und so tun – man stelle sich das einmal vor – als wüssten sie genau was sie suchten. Ungeheuerlich… das war wirklich ungeheuerlich, fand Rainer Maria entsetzt. Was sich hier so langsam für Moden einschlichen, dass konnte auf Dauer nicht gesund sein. Das nicht. Wo verkommen wir da noch hin, wenn alles aus dem Ruder läuft

Nun… Kommen wir wieder zurück zum Fußball-Samstag-Abend, im gepflegten, gutbürgerlichen Hause des Marktleiters Rainer Maria Frickes, nebst seiner - mitten im Klimakterium befindlichen Gattin Karola. Zu zwei erwachsenen, unabhängigen Kindern hatte man es gebracht. Beide jedoch - schon seit vielen Jahren - längst (fluchtartig) aus dem Hause; der Kommandozentrale, wie sie das elterliche Heim bezeichneten. Der Familienhund, ein störrischer Rauhaardackel Namens Emil, war erst kürzlich an Altersschwäche eingegangen. Wohnhaft war man in einem mittelgroßen, beschaulichen Örtchen mit einer Pizzeria, einem Quelle-Shop, einem Hofladen mit kleiner Gastronomie, einem Klempnerbetrieb in dritter Generation und einer Mangelstube, die vermutlich aus Altersgründen bald schließen würde. Besagtes Dörp, befand sich neuneinhalb Kilometern von der hundertzwanzigtausend Einwohner zählenden Kreisstadt entfernt, wohin man, mit einem abbezahlten, stattlichen Opel-Kombi der Mittelklasse, welcher für alle gut sichtbar vor der Haustüre geparkt stand, jederzeit hingelangen konnte.

Fußball: Karola sieht ihrem Gatten mitten ins Auge, nur um seine Abwesenheit festzustellen. Das kennt sie schon. Er kaut auf seiner Pizza herum, ohne den köstlichen Geschmack festzustellen, den Karola mit einem letzten Firnis aus frischen Zutaten, zum Beispiel einer fliegenden Salami, obendrauf, auf die TK-Pizza gezaubert hat. Der Salat steht noch unberührt neben Rainer Marias Teller. Dort wird er, für heute zumindest, auch stehenbleiben. Grünzeug liegt ihm nicht. Es habe keinen Nutzen, behauptet er.

Rainer Maria ist mit der Aufstellung der Mannschaft beschäftigt, die er – wie so oft – nicht gutheißen kann. Er weiß es besser, ist Rainer Maria von sich, fest überzeugt. Er hätte es anders gemacht.

Ohne sich bei Karola zu bedanken, steht er auf und geht ins Wohnzimmer, wo der Hörbiger gerade seine sieben Sachen zusammenpackt. Der Hörbiger, der unverschämte Kerl, hatte doch tatsächlich Rainer Maria gebeten, das Zimmer zu verlassen. Er ginge ihm auf den Senkel mit seiner Besserwisserei, behauptete der Hörbiger frech, sich seiner Überlegenheit bewusst. Also, verzog sich der Hausherr - angewiesen auf den guten Willen des Fernsehtechnikers, gehorsam maulend in die Küche, um dort, mit seiner Frau das Abendessen zu verzehren, wo er prompt von ihr, an seinen Salat neben seinem Teller, erinnert wurde. Das fehlte ihm noch. Wie soll man denn, vor so einem wichtigen Spiel, bei der Sache sein und auch noch Salat freiwillig essen? Das Grünzeug kostet nur unnötiges Geld und bringt, nahrungstechnisch betrachtet, kaum einen Gewinn für den Körper des jeweiligen Essers, erklärte Rainer Maria besserwisserisch. Sie solle ihn bitteschön in Ruhe damit lassen. Auf seiner Stirn zog ein Gewitter auf. Man konnte es sehen, wenn man Rainer Maria lange genug kannte. Da war eine ganz bestimmte, unruhige Ader; mittendrauf. Hörbiger im Wohnzimmer, die fehlerhafte Mannschaftsaufstellung, den überflüssigen Salat neben dem Teller -, alles zusammen, das war Zuviel. Vielleicht könnte ein zweites Bierchen die Unannehmlichkeiten wieder gerade biegen.

„Karola“, rief Rainer Maria in Richtung Küche. Mehr Worte bedurfte es nicht nach so langer Zeit des ehelichen, symbiotischen Zusammenlebens. Karola wusste Bescheid. Sie eilte zum Kühlschrank und nahm, mit ihren rauen Händen, die zweite Flasche Bier heraus, um sie ihrem Mann zu bringen. Mitten in ihrer Bewegung hielt sie inne, drehte sich um und sah auf ihre Hände herab. Aus heiterem Himmel, einfach so, eine Eingebung sozusagen. Um nicht ins zerstörerische Selbstmitleid zu stürzen, überlegte sie sich einen spontanen, ungeplanten Aktivismus, indem sie ins Wohnzimmer ging und den Hörbiger fragte, ob er denn auch ein kaltes Bier trinken möchte. Die Arbeit sei, so wie es aussieht, ja erfolgreich erledigt und draußen… draußen sei es ja immer noch so heiß, obwohl die Stunde schon auf neunzehn Uhr zulief. Dabei vermied Karola den Blickkontakt zu ihrem Mann mit voller Absicht. Rainer Maria würde ihre eigenmächtige Gastfreundschaft ärgern, dass wusste Karola mit aller Gewissheit. Er, der bequeme Gatte, wollte nämlich nicht länger gestört werden; in einer Stunde würde das Spiel beginnen. Karola rieb sich - nervös von ihrer eigenmächtigen Aktion, die Hände ohne es zu bemerken. Ein paar, gerade erst zur Welt gekommene, unsichtbare Flusen Gehässigkeit, schwebten ungesehen auf den Parkettboden. Eine völlig neue Gefühlswelt riss, nach Karolas Ego schnappend, weit den gierigen Rachen auf.

„Danke nein, Karola“, sagte der Hörbiger lächelnd zu diesem, durchaus schmackhaften wie freundlichen Angebot. „Karin wartet schon längst mit dem Abendbrot auf mich. Nur deinetwegen habe ich diesen kleinen Auftrag noch erledigt. Sonst hätte ich beileibe, lange schon den Feierabend genossen. Man ist ja schließlich nicht mehr der Jüngste, nicht wahr? Und Sonnabend steht in meinem Kalender. Das bedeutet für Gewöhnlich, dass um sechzehn Uhr nachmittags, der Bleistift im Büro fällt. Und wir wollen danach, nach dem Abendbrot, noch ein schönes, ungesundes Eisbecherchen mit Amarenakischen, bei unserem Italiener vertilgen; die Karin und ich. Und mit etwas Glück gewinnen heute Abend die Italiener, dann wird dort der Teufel los sein und es gibt etwas zu sehen und zu feiern. Und baden will ich auch noch schnell; den Schmutz der Woche hinter mir lassen, du verstehst das sicher.“

Karola nickte schweigend, womit sie ihre Akzeptanz ausdrücken wollte. Beklommen und betrunken von so vielen- an sie gerichteten Worten, voller Aufmerksamkeit, mit gehaltenem Blickkontakt und an einem Stück gesprochen, ging sie, wie in Trance, zurück in die Küche um ihre Arbeit zu beenden.

Ob er zu Hause mit seiner Karin auch so viel redete, der Hörbiger? überlegte sie. Ob das nicht vielleicht ein bisschen zu übertrieben war und nur dem äußeren Eindruck diente, den er, der Hörbiger, hier hinterlassen wollte? Nein, entschied Karola. Wenn sie sich das Gesicht von Karin, vor ihr inneres Auge holte, dann sah sie eine Frau mit entspannten Gesichtszügen, die unglaublich gerne lachte und ohne Hemmungen drauflos schwatzte. Ihr Lachen war ansteckend, erinnerte sich Karola, die nur drei Jahre älter ist als die Frau von Hörbiger.

In ihrer Brust fühlte Karola einen leichten, beklemmenden, undefinierten Schmerz, ohne zu wissen oder zu ahnen, dass sich hier gerade, ein Neidgefühl ein Plätzchen verschaffte. Ein ganz neues- kein gutes Gefühl, dass sie so, noch nie verspürt hatte.

Drinnen im Wohnzimmer saß Rainer Maria, immer noch, in einer Art Lähmung erstarrt, und glotzte mit leerem Blick, auf den – Dank Hörbigers schneller und unbürokratischer Hilfe – einwandfrei funktionierenden Bildschirm. Eigentlich wartete er auf die Nachrichten. Rainer Maria war es ziemlich egal was vorher über den Bildschirm flimmerte, solange er sich nur nicht hektisch bewegen musste, bei der Hitze. Aber was der Hörbiger da gerade vom Stapel gelassen hatte, dass ließ ihm doch das dicke, langsame Blut in den Adern gefrieren: Wenn die Italiener gewinnen? Wenn…? Unglaublich! Hatte er das wirklich und wahrhaftig gesagt? War diesem hirnlosen Fernsehfuzzi überhaupt klar, dass es sich ums Halbfinale der Weltmeisterschaft handelte? War der noch ganz bei Trost in der Birne? Und was wollte der machen, der weichgespülte Hanswurst, was? Mit seiner Karin ein Eischen essen gehen? Ein Eischen - kein Eis, wie normale Menschen, nein: ein Eis-chen. Mit Amarenakirschen? Beim Italiener…? Heilige Maria Mutter Gottes und ein Stückchen vom Josef, welche Drogen nahm der zu sich, der Hörbiger? Wer hatte dem denn ins senile Gehirn geschissen, überlegte Rainer Maria, gebeutelt vom blanken Entsetzen in der breiten, schwer atmenden, immer fetter werdenden, behaarten Brust. Das konnte doch wirklich nicht wahr sein; das musste er doch eben geträumt haben.

So, in diese unfassbaren Ungeheuerlichkeiten vertieft und gefesselt, bekam Rainer Maria nicht mit, dass Karola die Treppe nach oben- dort wo die Schlafzimmer und das Bad lagen, hinaufstieg, ohne noch vorher bei ihm vorbeizuschauen und zu fragen, ob er denn auch alles habe was zu (s)einem zünftigen Fernseh-Fußball-Abend so dazugehöre. Rainer Maria wäre niemals auf die Idee gekommen, selbst für sein Wohlbefinden zu sorgen. Wozu hatte er denn eine Ehefrau? Wozu sonst war er verheiratet? Wozu hatte er, all die Jahre, die Ernte seiner Arbeit in diese Familie investiert? Das hatte schon alles seine richtige Ordnung, befand er. Das hatte alles seinen Platz. Karola hatte ihren Platz. So sollte es bleiben, bis zum Sankt Nimmerleinstag am Ende seines eigenen Endes.

Grundgütiger, stöhnte Karola erschöpft, die ersten Schweißtropfen auf der Stirn. Resigniert starrte sie auf den Speckröllchenvertuscher, den sie vorhin, klammheimlich aus der Schublade gefischt- und mit nach oben genommen hatte. Dieses Vorhaben war ebenso unnötig wie aussichtslos, entschied sie nach kurzer Überlegung der Erkenntnis, welch eine qualvolle Tortur ihr bevorstehen würde, wenn sie auf dieses Utensil nicht freiwillig verzichtete. Niemals im Leben würde sie dahineinpassen. Niemals. Und was, wenn Rainer Maria plötzlich Gefühle hätte, und es würde ihn überkommen, so ganz plötzlich und wahrhaft unverhofft. Was würde er bei der Sichtung dieser Panzerung wohl sagen? Diesen Gedanken verwarf Karola allerdings sofort wieder. Dazu würde es gewiss nicht kommen. Eher würden sich die Eisbären im Zoo das Fell herunterreißen, um fortan, nackt durchs Gehege zu pilgern. Karola wollte auch ihre Überlegungen, wann sie denn das letzte Mal mit Rainer Maria in näherem Kontakt gelegen hatte, nicht weiter vertiefen. So weit zurück, entschied sie, würde ihr Gedächtnis nicht reichen. Sie war ein wenig aus der Übung was Erinnerungen in die Vergangenheit betraf, so sehr war die Gegenwart in ihrer Dominanz manifestiert und allgegenwärtig.

Karola setzte sich erschöpft auf die Bettkante. Ihr Blick fiel auf ihr eigenes Gesicht, das sie im Spiegel des Kleiderschrankes, zwangsläufig ansehen musste. Breit und bieder war es geworden, das einst so liebliche Antlitz. Unehrlich. Unehrlich sich selbst gegenüber, das wusste sie nur zu gut. Wo war ihr verkümmertes, schüchternes Selbstbewusstsein stecken geblieben, falls sie überhaupt je eines besessen hatte? Und war das jetzt alles? War es so? Blieb es so und würde sich, niemals wieder, etwas ändern?

Es war und ist kein wirkliches gutes Zeichen, wenn die Tendenz der Kommunikation, sich der Einsilbigkeit zuneigt. Auch das war Karola glasklar. Ihre Ehe lag, unbestritten, seit Jahren schon, auf dem trockenen- staubigen Boden der alltäglichen Tatsachen. Sie hätte genauso gut auf der Stelle sterben können, stellte Karola in diesem Moment eigener Betrachtung fest. Sie würde nichts, aber auch rein gar nichts verpassen. Die Kinder und Enkelkinder lebten ohnehin ihr eigenes Leben. Und wenn sie, Karola, den Mut hätte ehrlich zu sich selbst zu sein, dann war die Tochter damals, regelrecht aus dem bürgerlichen Mief geflohen. Die Streitereien, damals an der Tagesordnung, machten ein Zusammenleben unmöglich. Kräche mit dem Vater – auch weil er so schroff mit der Mutter umging – waren am Ende, für keinen in der Familie noch länger auszuhalten. Sie zog schon mit achtzehn Jahren von zu Hause aus, heiratete den erstbesten Kerl der an ihr geschnuppert hatte, ließ sich von ihm ein Kind und ein Zweites machen, und wiederholte - mit sehr, sehr großer, wahrscheinlicher Wahrscheinlichkeit, - dieselben Fehler vor denen sie, so Hals über Kopf, aus dem elterlichen Ehedesaster, auf und davongelaufen war.

Der Sohn, ein eher verschlossener, ruhiger Mensch, war in jungen Jahren beim Militär hängengeblieben, hat dort, als Schlosser im Schiffsbau, eine mittelmäßige Karriere gemacht und ging anschließend, zusammen mit einer langweiligen Frau, nach Kiel. Dort leben sie bis heute ein zufriedenes, ereignisloses, Leben als dreiköpfige Musterfamilie. Vaters ganzer Stolz war der Sohnemann dennoch. Der Patriot in der Familie, wie Rainer Maria immer, mit stolz geschwellter Brust, herumposaunte. Der Sohn, der alles aufrechterhalten würde, wenn es um eine unverzichtbare Ordnung ging, glaubte er zu wissen. Dabei schien er zu vergessen, dass es sich keineswegs um eine höhere Laufbahn handelte. Solche Nebensächlichkeiten verdrängte er gekonnt. Der Sohn beließ es dabei. Eine Korrektur der väterlichen Sichtweise, fand er, sei niemandem von Nutzen. Vater und Sohn standen sich – auch optisch - nahe, zumindest aber zweckgebunden. Wenn der Sohn den Weg nach Hause fand, wusste er, dass sich auf dem Nachhauseweg, mindestens ein Hunderter in seiner Jackentasche befand, den der Vater dem Sohn, heimlich und ungesehen wie er glaubte, zugesteckt hatte.

Mutter und Sohn hingegen, begegneten sich mit einer oft gelebten Variante der Liebe. Auf der einen Seite Mitleid mit einer Spur Verachtung allem Schwachen gegenüber, auf der anderen Seite blinde Vergebung und tiefe mütterliche, grenzenlose Liebe. Eine recht wertlose Allianz, die im Falle von Auseinandersetzungen, seitens des Sohnes, leicht ins parteiergreifende abdriften konnte, weil der sich zum Ernährer der Familie hingezogen fühlte. Fad, und auf eigene Weise feige und oberflächlich, so war der Umgang. Ein leeres Mutter-Sohn-Verhältnis, gestützt von erwarteter und gelebter Rücksichtnahme auf die vorhandenen Umstände, die Rollenverteilung der Eltern betreffend. Ebenso untrennbar wie unfruchtbar, würde sich an Karolas Beziehung zu ihrem Sohn, nichts ändern können. So war es und so bleib es, solange sie ihn, den Sohn, so betrachtete und behandelte wie ihren Mann.

Und mit einem Mal macht Karola ihren Rücken gerade. Sie versucht sich, mutig und entschlossen, selbst in die Augen zu blicken, ohne dass sie sich für sich selbst schämt. Diese kleine Zwischenbilanz in ihren Gedanken hatte eine, bislang unentdeckte, Flamme in ihr entzündet.