Tschingis Aitmatow

Dshamilja

Erzählung

Aus dem Russischen von
Gisela Drohla
Mit einem Vorwort von
Louis Aragon

Insel

Vorwort

Louis Aragon
Die schönste Liebesgeschichte der Welt

Aus dem Französischen von
Traugott König

Es gibt eine Geschichte von Rudyard Kipling, die heißt: »Die schönste Geschichte der Welt«. Sie war die Titelgeschichte einer Sammlung von Geschichten. Mit diesem Buch kam ich, ich mochte etwa zwölf Jahre gewesen sein, nicht zu Rande. Man hatte es mir geschenkt, aber ich konnte mich nicht entschließen, es zu lesen. Und zwar wegen seines Anfangs. Ich las es schließlich doch, mochte mich aber immer noch nicht an die Titelgeschichte heranmachen. Ich wußte nämlich, daß dieser Titel eine Bauernfängerei, daß diese Geschichte nicht die schönste der Welt war, gar nicht sein konnte. Und sie war es auch wirklich nicht. Ich habe das Kipling nie verziehen.

Heute, wo ich sagen will, was ich von Dshamilja halte, zögere ich daher, sie so zu nennen, und dennoch, für mich ist es die schönste Liebesgeschichte der Welt. Deshalb habe ich diese Geschichte übersetzt, wider alle Vernunft und in einer Zeit, die allem, was mich quält, entzogen wurde, und nun liegt sie für den Druck fertig vor mir; es ist die schönste Liebesgeschichte der Welt. Ich mußte es aussprechen. Ich mochte keine andere mehr. Man hätte es einfach auf das Streifband schreiben können, mit meiner Unterschrift. Aber kaum hatte ich diese Worte Die schönste Liebesgeschichte der Welt geschrieben, da wußte ich schon, daß ich mich nicht darauf beschränken könnte.

Ich las die aus dem Kirgisischen übersetzte Novelle in der sowjetischen Zeitschrift Novyj mir vom August 1958. Der Name des Autors war mir unbekannt. Ich informierte mich, und man sagte mir ganz banale Dinge, die mich nicht aufklärten. Es handelte sich um einen literarischen Neuling. Der Schriftsteller Tschingis Aitmatow ist am 12. Dezember 1928 geboren, war also erst 30 Jahre alt, als Dshamilja erschien. Er ist der Sohn eines Angestellten aus dem Dorf Sheker in Kirgisien. Daß er in Sheker zur Schule gegangen ist, dann auf eine Bezirksschule, und daß er mit fünfzehn Jahren, das heißt genau in der Zeit, in der Dshamilja spielt, im Sommer des dritten Kriegsjahres, als es nur noch wenige Männer im Dorf gab, – daß er damals Sekretär des Dorfsowjet war, das alles sagt uns wenig über ihn. 1946 treffen wir ihn in Dshambul, einer Stadt in der Nähe von Kasachstan, auf der Technischen Hochschule, wo er Veterinärmedizin studiert, dann auf dem Landwirtschaftsinstitut von Kirgisien, das er 1953 verläßt. Von diesem Zeitpunkt an bis zum Erscheinen von Dshamilja arbeitet Aitmatow auf dem Experimentiergut des Wissenschaftlichen Viehzuchtforschungsinstituts von Kirgisien. Von 1952 an erscheinen in der Presse seines Landes eine Reihe von Erzählungen, mit denen er in die Literatur eintritt. Aitmatow übersetzt Werke kirgisischer Schriftsteller ins Russische. Daß er von 1956 bis 1958 ein Praktikum am Literatur-Institut »Maxim Gorki« in Moskau absolviert und 1957 in den Sowjetischen Schriftstellerverband aufgenommen wird, das sind vielleicht unentbehrliche Informationen, jedenfalls die einzigen, die ich habe, aber nichts von alldem erklärt, daß irgendwo in Zentralasien ein junger Mann zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Geschichte geschrieben hat, die, ich schwöre es, die schönste Liebesgeschichte der Welt ist.

Hier, in diesem hochmütigen Paris nämlich, dem Paris von Villon, Victor Hugo, Baudelaire, dem Paris der Könige und Revolutionen, dem jahrhundertealten Paris der Maler, wo jeder Stein von einer Geschichte oder Legende erzählt und wo es so viele berühmte Verliebte gegeben hat, daß es mir, wollte ich sie aufzählen, so ginge wie in dem Lied, je ne sais lequel prendre, ich weiß nicht, welchen ich nehmen soll … in diesem Paris, das alles gesehen, alles gelesen, alles erlebt hat, merke ich plötzlich, daß mir Werther, Bérénice, Antonius und Cleopatra, Manon Lescaut, die Education sentimentale oder Dominique nichts mehr bedeuten, weil ich Dshamilja gelesen habe, nichts mehr Romeo und Julia, nichts mehr Paolo und Francesca, nichts mehr Hernani und Doña Sol …, weil ich Danijar und Dshamilja getroffen habe, im Sommer des dritten Kriegsjahres, in jener Augustnacht 1943, irgendwo im Tal des Kukureu, mit ihren Kornwagen, und das Kind Said, das ihre Geschichte erzählt.

Was wissen wir vom kirgisischen Volk? Was wissen wir von diesem Land, das zwischen China, Tadshikistan und Kasachstan eingeklemmt ist? Wo genau ist die Gegend, die wir mit Dshamilja betreten, an welchem Punkt Zentralasiens? Es ist nicht leicht, auf unseren Karten den Fluß Kukureu zu finden. Ein Brief von Sadyk, dem Mann Dshamiljas, der im Krieg ist, gibt gerade noch einen Hinweis, wenn er in jenem orientalischen Stil an die Seinen schreibt: »Ich schicke diesen Brief mit der Post an meine Verwandten in dem blühenden, duftenden Aul Talas«. Aha, es handelt sich also um den Nordosten Kirgisiens (Talaskaja Oblast), um das Gebiet, das an Kasachstan angrenzt, zwischen der Kirgisenkette und der kasachischen Steppe. Ich werde nur den Weg kennenlernen, auf dem Dshamilja, Danijar und Said das Korn zum Bahnhof fahren, das man bei den Truppen so dringend braucht, den Weg vom Aul oder Dorf bis zum Bahnhof jenseits der Felsschlucht, aus der der Kukureu herausbricht. Daß Kasachstan an Kirgisien angrenzt, werde ich nur einer Bemerkung über das Lied Danijars entnehmen können: »Es war ein Lied der Berge und Steppen, bald schwang es sich empor wie die kirgisischen Berge, bald dehnte es sich frei und weit wie die Kasachensteppe.«

Ich werde ahnen, daß die Eisenbahn, die nicht weit von dem Aul am Kukureu vorbeifährt, aber nur auf jenem Bahnhof hält, zu dem die Kornwagen durch die Schlucht fahren, auf einer eingleisigen Strecke verkehrt, weil ich gegen Ende der Geschichte erfahre, daß die Verliebten zur Ausweichstelle gehen, das heißt dahin, wo ein Zug ausweichen kann, um einen entgegenkommenden Zug vorbeizulassen. Und in dieser Steppe und diesen Hohen Bergen oder Schwarzen Bergen gibt es außer den Menschen große Pferdeherden, deren Hengste im Herbst auf der Weide sind, Vieh, das im Sommer in die Berge zieht, Schafe und Ziegen, und was die wilden Tiere angeht, so erfahre ich zufällig bei der Schilderung eines ausbrechenden Sturms: »Langbeinige, dünne Trappen rannten aufgeregt in eine Schlucht.« Ebenso zufällig erfahre ich erst spät, dank dieses Sturmes, woraus die Jurten gemacht sind, in denen die Kirgisen wohnen: »Der Sturm riß die Filzdecke von der Jurte, sie flatterte wie ein angeschossener Vogel …« Ebenso ist es mit den Sitten und der Landschaft. Das Kind Said, das hier spricht, steigt nicht aufs Katheder, um einen ethnologischen Vortrag oder eine politische Vorlesung zu halten. Es ist hier geboren, alles ist ihm natürlich, die Nomadenzeit hat es nicht mehr erlebt, zwei oder drei Jahre vor seiner Geburt muß sie aufgehört haben, aber die Mutter stellt noch jedes Frühjahr die Nomadenjurte im Hof auf, die der Vater als junger Mann gebaut hatte, und räuchert sie mit Wacholder aus. Man lebt unter den Bedingungen der Kolchose, aber ich erfahre nur gerade, daß es einen Kolchosenvorsteher gibt, weil er verbietet, die Pferde auf dem Luzernenacker zu weiden, und einen Brigadeführer Orosmat, der aber viel mehr dadurch charakterisiert wird, daß er ein Bein verloren hat und an einer Krücke geht, als durch seine Beziehungen nach oben, von wo er einen Rüffel bekommt, wenn man den Plan nicht erfüllt.

All das geschieht während des Krieges, des Großen Vaterländischen Krieges, und an der Abwesenheit der Männer, die schwer auf den Frauen und Müttern der Soldaten lastet, ermesse ich die Realität dieses fernen Krieges. Als die Dschigiten, das heißt die Elitereiter, die zugleich ein Schrecken für die Mädchen und die Inkarnation der kirgisischen Ehre sind, aufbrachen mit einem Geklirr von Tausenden von Steigbügeln, riefen die alten Frauen zum Abschied den »Geist unseres Helden Manasa« zu ihrer Hilfe an, dieses Manasa, dessen Legende nicht durch kolorierte Manuskripte auf uns gekommen ist, sondern dessen Heldentaten von Jahrhundert zu Jahrhundert in den Tian-Schan-Bergen durch den Mund der Erzähler überliefert wurden in der großen Trilogie Manasa, Semetei und Seitek – die man erst im vorigen Jahrhundert festzuhalten begonnen hat. Saids Vater verrichtet bei Tagesanbruch, bevor er zu seiner Zimmermannsarbeit geht, nach Mekka gewandt sein vom Koran vorgeschriebenes Morgengebet. Aber das ist alles, was ich von dem religiösen Leben erfahre, das gänzlich vernachlässigt scheint; wir stoßen hier nicht auf Priester, auf Mullahs wie in Kasachstan in der Geschichte von Abaj von Muchtar Auesow oder in Die Henker von Buchara von Sadriddin Aini. Dennoch leben die Sitten des Klans auch im Sowjetischen Aul, wo die Familienältesten, die Aksakals, im Brief des Soldaten, der von der Front schreibt, noch vor der eigenen Frau genannt werden müssen. Niemals ist vom sowjetischen Recht die Rede, sondern man richtet sich nach dem Adat, dem Gesetz des Stammes. In den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts hielt das Adat noch an der Polygamie im Aul fest. Ebenfalls am Rande wird zum Beispiel erwähnt, daß es in der Schule eine Wandzeitung gibt, weil Said für sie zeichnet. Dennoch ist hier alles Kampf des Alten mit dem Neuen. Allerdings, und darin liegt die Größe dieser Erzählung, wird uns dieser Kampf hier hauptsächlich als innerer, als seelischer Kampf gezeigt.

Der merkwürdige Reiz von Dshamilja beruht darauf, daß alles, was wir von einem unbekannten Land, von Männern und Frauen erfahren, die noch eng mit den patriarchalischen Traditionen der Nomaden verbunden und doch ohne Schwierigkeiten schon in die sowjetische Epoche, in ihre Institutionen eingetreten sind, – daß wir das alles von innen erfahren durch Menschen, für die das alles natürlich ist, keiner Erklärung bedarf, so daß der Erzählfluß jene außerordentliche Leichtigkeit gewinnt, die der modernen, an einer Reportagekrankheit leidenden Literatur, in der alles vorher auf Karteikarten geschrieben zu sein scheint, so sehr fehlt.

Soviel zur Atmosphäre in jenen Gegenden, wo wilder Wermut wächst und »der Wind den milchwarmen Honigduft blühender Maisfelder und den Geruch von Äpfeln und trockenem Kuhmist« miteinander mischt. In diesem Land, von dem man nur mit der Stimme Danijars sprechen kann, der Stimme eines Menschen, »der sich lange Jahre von ganzem Herzen nach seiner Heimat gesehnt und unter dieser Sehnsucht gelitten hatte.«

Dann aber ändert sich alles, nimmt alles seine eigentliche Farbe an. Damit beginnt das Unnachahmliche, das ich nicht wiedergeben kann, weil ich nicht Saids Gabe habe, die Gabe des geborenen Zeichners, der ebenso gut Bilder aus seinen Schulbüchern abmalen kann (sagen die anderen Kinder nicht, es sei ganz genauso wie im Buch) wie Danijar und Dshamilja in der Augustnacht? Ich hätte sie gern sehen wollen, diese Zeichnungen Saids, die er ohne jede Ausbildung gemacht hat mit jenem kindlichen Mut der Unkenntnis, auf denen jedoch die Personen so kenntlich, so ähnlich sind! Ich habe Angst, daß die Schule und die Malakademie sein Talent verderben, ihn jene erzählerische Tugend in der Zeichnung und in den Farben verlieren lassen, die sowohl etwas vom Zöllner Rousseau als vom Epos des Manasa haben mußten, jene Unbefangenheit, die die Maler der erschöpften alten Kulturen des Westens wiederzufinden versuchen wie den Weg zu einem verlorenen Paradies.

Hier erhebt sich das Unschätzbare. Hier breitet der Autor, wie Danijar in der Augustnacht, plötzlich seine Seele vor uns aus und jene »Wahrheit des Lebens«, die in Sheker oder Talas wie in Verona oder Troja Liebe heißt.

Jeder Mensch hat nur ein Leben. Tschingis Aitmatow steht noch am Anfang. Aber er wirkt schon so, als berge er die ungeheure Erfahrung der Menschheit in seinem Herzen und seinen Armen. Denn dieser junge Mann spricht von der Liebe wie kein anderer. O Musset, sei eifersüchtig, mein Freund, auf die Augustnacht in den kirgisischen Gefilden! Auf diesen Dreißigjährigen, der von sich sagen kann, daß er keineswegs seine Kraft und sein Leben verloren hat.

Zunächst ist es die Liebe zum Land, zum Leben, so scheint es wenigstens. Wenn ein Vogel singt oder sich mit prächtigen Federn schmückt, so hören wir, die wir vorbeigehen, nur die Musik und sehen nur die Harmonie der Farben. Es mußten erst die Gelehrten mit ihren Studien kommen, damit wir erfuhren, daß dieser Gesang der Liebesgesang war, daß er sich, wie die Pracht der Federn, an das verborgene Vogelweibchen richtete, das zuhört und kommen wird.

Der Bericht von Dshamilja wird uns von einem Kind gegeben, und für das Kind ist die Entdeckung dessen, was in der Seele des Paares vorgeht, das Drama des Paares, das sich noch nicht erkannt hat, auch die Entdeckung des Gefühls überhaupt, die ὀαριστύς des Geistes, alles ist für dieses Kind neu zu erfinden, und deshalb zeigt es uns die Liebe wie ein ganz reines Metall, im Zustand des Entstehens.

Wie nennt Said es auf Anhieb? »Manchmal schien mir«, sagt er, »als seien wir beide, Dshamilja und ich, von ein und derselben unerklärlichen Unruhe ergriffen.« Denn er erlebt jenes Entstehen mit, und er »wünscht und wünscht zugleich nicht«, daß Dshamilja Danijar liebt, er, der nach dem Adat über die Frau seines Bruders, seine Dshene