Herzmomente

Herzmomente

Emma S. Rose

Leocardia Sommer

Für alle, die nicht nur mit den Augen sehen.

Ein Licht, das von innen her leuchtet, kann niemand auslöschen.

Kuba

Inhalt

Prolog

1. Elisabeth

2. Paula

3. Elisabeth

4. Paula

5. Elisabeth

6. Paula

7. Elisabeth

8. Paula

9. Elisabeth

10. Paula

11. Elisabeth

12. Paula

13. Elisabeth

14. Paula

15. Elisabeth

16. Paula

17. Elisabeth

18. Paula

19. Elisabeth

20. Paula

21. Elisabeth

Epilog

Nachwort

Danksagung

Prolog

Wie es ist, nie mehr das Gesicht eines geliebten Menschen oder die satten Farben einer grünen Wiese sehen zu können? Ganz ehrlich, ich weiß es nicht.

Doch ich werde es bald wissen, denn ich erblinde.

Der Prozess schreitet langsam und allmählich fort und doch viel zu schnell - es wird immer viel zu schnell sein

Mein erster Gedanke gilt meiner Tochter. Was wird werden, wenn ich ihr keine Stütze mehr sein kann, sondern zu ihrem Klotz am Bein werde?

Nie hätte ich gedacht, mit Ende Dreißig einen Punkt zu erreichen, an dem ich noch einmal von vorne beginnen muss. Ich werde lernen, meine Sinne zu trainieren, um meinen Alltag zu meistern, genau wie ich den Gedanken zulassen muss, nie mehr selbst Auto fahren zu können und auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Ich werde kein Buch mehr lesen, kein Kino oder Theater mehr besuchen und meinen Beruf nicht mehr ausüben können. Nie mehr einen Sonnenuntergang bewundern, die Farbenpracht einer Blumenwiese oder das Türkis des Meeres sehen.

Aber vor allen Dingen werde ich nie mehr in den Gesichtern anderer Menschen lesen und so ihre kleinsten Gefühlsregungen wahrnehmen können. All diese Dinge, die bisher so selbstverständlich für mich waren - diese tausend Kleinigkeiten - werden mir nicht mehr möglich sein.

Der Gedanke, hilflos zu sein, ist furchteinflößend.

Leben ist mehr als sehen! Diesen Satz habe ich einmal gelesen und nicht darüber nachgedacht. Heute denke ich sehr viel darüber nach. Wie ich darüber denke? Fragt mich noch einmal, wenn es dunkel ist

1

Elisabeth

Ich schreckte hoch und hielt stöhnend inne, weil sich mein Nacken mit einem ziehenden Schmerz bis hinunter zur Schulter zu Wort meldete. Mist, falsch gelegen, schoss mir durch den Kopf, bis ich bemerkte, wie unangenehm feucht sich mein Haaransatz und das T-Shirt anfühlten. Kein Wunder, denn ich hatte von Paula geträumt. In meinem Traum war meine gerade mal achtzehnjährige Tochter hochschwanger gewesen und hatte mir tränenüberströmt gebeichtet, keinen Vater für ihr Kind zu haben.

Umso erleichterter war ich darüber, aufgewacht zu sein und nur geträumt zu haben. Langsam drehte ich mich zur Seite und versuchte, einen Blick auf den Wecker zu erhaschen, doch irgendwie wollten meine Augen schon wieder nicht so wie ich. Trotz mehrfachem Blinzeln waren lediglich schemenhafte Umrisse zu erkennen. Zumindest dämmert es schon, schoss mir durch den Kopf, doch der Wecker hatte noch nicht geklingelt, also kniff ich die Augen wieder zusammen und ließ mich zurück aufs Kissen fallen.

Du bist einfach noch zu müde. Ich gähnte herzhaft und hätte um ein Haar laut über mich selbst gelacht. Wie konnte Frau nur so dankbar darüber sein, lediglich geträumt zu haben? Ich machte mir einfach viel zu viele Sorgen.

Alles war gut. Meine Tochter lag im Zimmer neben mir und schlief. Ich war kurz aufgewacht, als sie gegen halb drei Uhr morgens nach Hause gekommen war. Paula hatte sich mit ihren Freunden getroffen, um die Abi-Abschlussfeier zu planen. Und obwohl ich das wusste, konnte ich nicht anders, als darüber zu grübeln, mit wem sie die Zeit verbracht hatte. Vielleicht erging es ja all den anderen Müttern genauso. Irgendwie machte ich mir immer Gedanken und das nicht zu knapp. Die Vorstellung, Paula könnte plötzlich tatsächlich völlig aufgelöst vor mir stehen und erzählen, sie sei schwanger, war allgegenwärtig. Ja, natürlich traute ich ihr zu, sich um Verhütung zu kümmern, doch immer wieder kam mir in den Sinn, wie es mir damals ergangen war. Auch Tom und ich hatten verhütet - immer -, bis auf dieses eine Mal. Sechs Wochen später hatte ich die Gewissheit, sehr jung Mutter zu werden und genau das wollte ich für meine Tochter nicht. Sie sollte sich Zeit lassen mit dem Kinderkriegen, sollte ihr Studium beenden und einen guten Job ergattern. Dann konnte sie sich immer noch bewusst dafür entscheiden, Mutter zu werden. Es sollte ihr erspart bleiben, von einem Mann, der sie vermeintlich liebte, sitzengelassen zu werden. Sie sollte sich nicht von ihrem Traum verabschieden müssen, wie auch immer der aussah. Dies alles wollte ich meiner Paula ersparen und nur deshalb machte es mir eine Heidenangst, sie mit ihrem Freund zusammen zu sehen.

Kein Wunder, dass Max auf Paula stand, schließlich war aus meinem kleinen, süßen Mädchen eine wunderschöne, junge Frau geworden, was natürlich auch der Männerwelt nicht verborgen blieb.

Max Derscheid. Allein beim Klang seines Namens entstanden sofort nicht gerade jugendfreie Bilder in meinem Kopf, die die beiden engumschlungen, wild knutschend und völlig entrückt zeigten. Und selbstverständlich waren sie in meiner Vorstellung auch nicht mehr in der Lage zu verhüten. Mist. Ich wollte mich von diesen Ängsten nicht überwältigen lassen, doch es passierte einfach und dass, obwohl ich meine Tochter zu einer selbstständig denkenden, jungen Frau erzogen, die ihr Leben selbstbestimmt lebte.

Was, wenn dieser zugegebenermaßen gutaussehende, junge Mann sie genug begeisterte, um sich fest an ihn zu binden? Denn so wie ich diesen Max einschätzte, war er noch äußerst unreif und verplant - obwohl, eigentlich kannte ich ihn doch gar nicht wirklich.

»Hör auf damit«, sagte ich zu mir selbst und setzte mich auf. Zeit aufzustehen und diese zweiflerischen, wirren Gedanken beiseite zu schieben. Es war Wochenende und deshalb blieb Paula und mir genügend Zeit, um ein gemütliches Mutter-Tochter-Frühstück zu zelebrieren, bevor wir beide unsere samstäglichen Aktivitäten aufnahmen. Ich musste einkaufen gehen und hatte jede Menge Wäsche zu waschen, während Paula den Gehsteig fegen wollte, damit die Nachbarn keinen Grund zur Beanstandung hatten.

Genervt blinzelte ich in Richtung Fenster. Dieser Schleier über meinen Augen wollte sich heute gar nicht verziehen. Dieses Phänomen hatte ich in letzter Zeit schon öfter beobachtet, genau wie die Tatsache, wie schnell meine Augen in letzter Zeit ermüdeten. Zum Glück hatte ich für nächste Woche sowieso einen Augenarzttermin. Vielleicht hatte sich meine Sehkraft schon wieder verschlechtert, was kein Wunder wäre, so viel Zeit, wie ich am PC verbrachte. Mein Arbeitsplatz als Schadenssachbearbeiterin bei einer großen Versicherung bestand quasi fast nur aus Bildschirmarbeit. Und auch wenn dieser Job mir inzwischen immer weniger Spaß bereitete, so deckte er doch jeden Monat unseren Tisch und bezahlte uns das Dach über dem Kopf, schließlich verdiente ich dort überdurchschnittlich gut.

Verflixt. Es war bereits nach zehn Uhr, was mir ein erneuter Blick auf den Wecker verriet. So lange hatte ich eigentlich gar nicht schlafen wollen. Mit schmerzender Schulter schlurfte ich zum Fenster, zog den Rollladen hoch und wurde sofort mit gleißender Helligkeit bestraft, die schmerzhaft in meine Augen stach.

»Willkommen Sonne, ich liebe dich auch«, murmelte ich verdrossen und wandte mich ab. Eine heiße Dusche würde mich jetzt auf jeden Fall auf Touren bringen, also ab ins Badezimmer. Der kurze Seitenblick in meinen bodenhohen Spiegel erwies sich als fataler Fehler. Wer hätte gedacht, wie alt man im hellen Licht aussehen konnte. Verschwitzt und zerknittert, mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen starrte mich mein Spiegelbild an.

In Gedanken ging ich schon die Dinge durch, die ich einkaufen musste und nahm mir vor, sie gleich zu notieren, um nicht wieder etwas zu vergessen.

Ich zog die Tür auf und erschrak, weil ich um ein Haar mit meiner Tochter zusammengestoßen wäre.

Im Gegensatz zu mir wirkte sie wesentlich frischer, obwohl sie die Nacht zum Tag gemacht hatte. Beneidenswerte Jugend, dachte ich und seufzte erneut. Manchmal wäre es schon schön, noch einmal so jung zu sein.

»Morgen, Mom. Auch schon auf?«, flötete Paula fröhlich, allerdings ohne mich dabei anzusehen. Stattdessen starrte sie konzentriert auf das Handy in ihrer Hand.

Wenigstens besitzt sie noch die Freundlichkeit, guten Morgen zu sagen. Das tun sicher nicht mehr alle Kinder, dachte ich bei mir und bog im Gang in die entgegengesetzte Richtung ab. »Morgen«, brummte ich und griff im Vorbeigehen nach meiner Brille, die auf dem kleinen Flurtischchen lag. »Gib mir zehn Minuten. Du kannst ja schon mal Kaffee kochen und Tee für alle Nicht-Koffein-Junkies aufsetzen.« Dann floh ich vor einer weiteren morgendlichen Gute-Laune-Attacke ins Badezimmer.

Mist. Ich wollte nicht derart schlechtgelaunt sein. Aber irgendwie fühlte ich mich nicht besonders gut - nicht richtig fit, mit schmerzender Schulter und dem Wissen, dringend zum Augenarzt zu müssen. Dann war da noch diese ständige Sorge um das Wohl meiner Tochter, die darauf mit absolutem Unverständnis reagieren würde, falls ich auch nur ansatzweise davon anfinge. Natürlich war mir klar, wie dumm es war, doch was sollte ich dagegen tun?

Gott, wieso hatte mich niemand darauf vorbereitet, wie schwer es war, loszulassen? Kein Mensch hatte mir erzählt, wie viele Sorgen man sich als Mutter macht. Sorgen, die niemals aufhören, weil man sein Kind liebt. Es war nun mal so - solange es dem Kind gutging, ging es auch einem selbst gut und ich war sicher, so erging es den meisten Eltern.

Hör. Sofort. Damit. Auf. Frustriert über mich selbst riss ich mir das verschwitzte Shirt und den Slip von Leib und beförderte beides in hohem Bogen auf den Wäscheberg, der sich neben dem überquellenden Wäschekorb auftürmte. Das würde ein langer Samstag werden

Fünfzehn Minuten später fühlte ich mich wesentlich besser. Zum Glück. Schließlich wollte ich keinesfalls, nur wegen meiner übersensiblen Anwandlungen einen Streit mit Paula riskieren, der meine seltsame Verfassung nur verschlimmern würde. In letzter Zeit war es sowieso schon schwieriger zwischen uns geworden. An manchen Tagen fand ich einfach keine gesunde Balance zwischen mütterlicher Fürsorge und dem dringenden Bedürfnis, sie unbedingt beschützen zu wollen und so krachte es schon das eine oder andere Mal. Also hatte ich mir vorgenommen, unbedingt daran zu arbeiten, auch wenn es nicht einfach werden würde.

Die Dusche hatte gutgetan und das heiße Wasser meinen Schmerz im Nacken so gut wie vertrieben. Außerdem war mir die Idee gekommen, heute Abend ins Kino zu gehen und eventuell hatte Paula ja sogar Lust, mitzukommen. Gutgelaunt ging ich ins Schlafzimmer und schlüpfte in frische Kleidung. Verlockender Kaffeeduft lag in der Luft und meine Laune hob sich noch mehr. Plötzlich fühlte ich mich richtig gut - vergessen waren all die miesepetrigen Gedanken, die mich gerade noch beherrscht hatten.

»Guten Morgen, mein Schatz. Jetzt bin ich völlig wach. Hast du auch Lust auf Müsli? Oder magst du lieber Toast? Und vielleicht ein Ei?« Gutgelaunt plapperte ich, was das Zeug hielt, was mir den ungläubigen Blick meiner Tochter einbrachte.

Ȁhm, Moment. Wer bist du und was hast du mit meiner Mom gemacht

»Meinst du die Frau, die vorhin im Bad verschwunden ist? Die habe ich gegen ein neues Modell ausgetauscht. Ich hoffe, das war dir recht«, gab ich munter zurück. Im Handumdrehen hatte ich alle notwendigen Frühstücksutensilien auf den Tisch gestellt und das Wasser für die Eier aufgesetzt. »Du, sag mal. Hättest du vielleicht Lust, heute Abend mit mir ins Kino zu gehen? Ich kann später gleich mal nachschauen, was läuft, aber ich bin sicher, wir finden einen Film, der uns beiden gefällt

»Mhm. Weiß nicht. Eigentlich wollte ich mich mit Max treffen. Seine Eltern leben doch in Scheidung und ich glaube, er hat Redebedarf

Ich wusste es! Kaum hatte Paula den Namen Max erwähnt, war meine gute Laune wie weggewischt, vergessen die Absicht, zu versuchen, loszulassen. Auch alle guten Vorsätze, sie nicht mit meinen eigenen Ängsten zu konfrontieren, waren vergessen. »Natürlich, war ja klar.« Enttäuscht steckte ich den Kopf in den Vorratsschrank, um das Müsli hervorzukramen. Gleichzeitig verschaffte mir dies ein wenig Zeit, um nicht gleich mit der Kirche ins Dorf zu fallen.

»Wie meinst du das

Ich wandte mich langsam um und sah Paula an, die gespannt auf meine Antwort wartete.

»Ich dachte mir schon, dass du keine Zeit hast«, antwortete ich ausweichend, doch Paula wäre nicht Paula, wenn sie dieses Manöver nicht prompt durchschaut hätte.

»Mom. Sei ehrlich. Was hast du wirklich gemeint

»Du kennst meine Meinung zu dem Thema Jungs, mein Schatz. Ich finde es zu früh und nicht richtig, sich derart fest auf jemanden einzulassen, zumindest nicht zu diesem Zeitpunkt. Ihr habt beide noch nicht einmal die Schule ganz abgeschlossen

Paula schnaubte wenig damenhaft. »Aber dir ist schon klar, dass es keine drei Monate mehr bis zur Abschlussfeier sind? Wir haben bereits die Bewerbungen für die Unis geschrieben. Es findet quasi schon jetzt kein Unterricht mehr statt

Paulas Einwand stimmte, doch das wollte ich natürlich nicht zugeben. »Ja, natürlich weiß ich das. Was ich jedoch nicht weiß - was will Max eigentlich nach der Schule machen? Habt ihr darüber schon gesprochen?« Meine Taktik war ebenso klar wie unfair. Ich versuchte, das Augenmerk meiner Tochter auf die Unzulänglichkeit ihres Freundes zu lenken, doch dummerweise ging der Schuss nach hinten los, wie ich schon wenige Sekunden später ernüchtert feststellen musste.

»Ja, haben wir. Max hat sich hier an der Uni beworben

Mist. Der Versuch war fehlgeschlagen. Max’ Vorhaben klang nach einem guten, soliden Plan. Aber ich gab nicht auf. »Hat er denn schon einen Arbeitgeber gefunden?«, setzte ich nach und schämte mich ein wenig, weil ich hoffte, sie würde darauf mit einem klaren NEIN antworten müssen.

»Stell dir vor - ja, das hat er. Aber das ist hier nicht das Thema, oder? Es geht wie immer darum, dass Männer nur das Eine wollen, nicht wahr? Und natürlich sind sie alle gleich. Max wird mich auch schwängern und sitzenlassen, so wie Tom damals dich. Das ist es doch, wovor du dich fürchtest.« Beleidigt erhob sie sich. Ihre gute Laune war wie weggefegt. »Ach Mama. Wieso musst du immer wieder deine schlechten Erfahrungen mit ihm auf mich und meinen Freund projizieren? Max ist nicht wie er. Kein bisschen

Ich atmete tief durch. Schon spürte ich, wie mein Nacken sich wieder verkrampfte, so wie es mein Herz gerade tat. Wieso nur? Wieso nur konnte ich es nicht einfach lassen? Paula hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Natürlich dachte ich daran, wie falsch es damals bei mir gelaufen war. Ich hatte nicht die Möglichkeit, alle meine Träume zu verwirklichen. Ich hatte große Pläne, wollte die Welt sehen. Doch dann kam alles ganz anders.

»Du hast recht, mein Schatz. Vergiss, was ich gesagt habe und setz‘ dich wieder. Lass uns wenigstens gemeinsam frühstücken, bevor du gehst, okay?« Bittend sah ich sie an.

Paula betrachtete mich einen Augenblick, seufzte leise und nahm wieder Platz. »Gut, aber bitte fang nicht wieder davon an. Ich weiß, was ich tue, auch wenn ich erst achtzehn bin

»Schon achtzehn, mein Schatz, schon. Manchmal wünschte ich, du wärst wieder fünf oder sechs

»Echt jetzt?« Paula schüttelte entrüstet den Kopf. Dann lachte sie, wobei ihre schulterlangen, blonden Locken nur so flogen. »Gerade vor ein paar Wochen meintest du noch, wie sehr du dich für mich freust, den Führerschein geschafft zu haben

»Das stimmt auch. Darüber bin ich auch sehr froh. Es macht mich stolz, sehr sogar. Da fällt mir ein, hast du mit deinem Vater gesprochen

»Nein, noch nicht.« Paulas Antwort kam zögerlich und sie sah mich dabei nicht an. »Ich habe beschlossen, ihn nicht anzurufen. Ich werde mir ein kleines, günstiges Auto von meinem eigenen Geld kaufen

Paula nannte ihren Erzeuger stets nur Tom. Das Wort Papa oder Vater hatte sie nur während ihrer ersten Lebensjahre benutzt, später war er lediglich Tom für sie - ein Mann, der pünktlich seine Unterhaltszahlungen überwies und es uns so ein wenig leichter machte. Und obwohl Tom einige Versuche unternommen hatte, zu Paula eine Vater-Tochter-Beziehung aufzubauen, schien sie daran kein Interesse zu haben. Daran war nicht zuletzt Tom selbst schuld, der Paula bei einem seiner Besuche - sie war damals zwölf gewesen - ganz stolz ein Bild seiner neuen Familie gezeigt hatte. Paula war völlig verstört nach Hause gekommen und hatte mir erzählt, zwei Stiefgeschwister zu haben und wie glücklich sie zusammen mit IHREM Vater und seiner neuen Frau ausgesehen hätten.

»Verstehe«, murmelte ich nachdenklich. Wieder einmal zeigte sich deutlich, wie wenig Paula von ihrem Vater hielt. Sie wollte ihm nichts schuldig sein und noch nicht einmal das versprochene, erste Auto von ihm annehmen. »Weißt du schon, welches Modell es werden soll

»Och, halt so ein älteres Modell, vielleicht ein VW Polo oder ein Opel Corsa. Sowas kleines eben

Ich sah sie alarmiert an. »Wie meinst du das, ein älteres Modell? Wie alt

»Keine Ahnung. Eben alt genug, damit ich es mir leisten kann. Max wird mir bei der Suche helfen und sich das Auto anschauen, bevor ich es kaufe, also keine Bange

Max. Schon wieder er. Ich schluckte meinen Ärger hinunter und zählte innerlich bis zehn. Es wäre schön gewesen, wenn sie mich zuerst gefragt hätte. »Wisst ihr denn, auf was ihr achten müsst?« Bleib ruhig und lass sie erst ausreden.

»Keine Ahnung«, gab Paula zurück. Es war ihr anzuhören, wie genervt sie von meiner Fragerei war. »Aber darüber kann ich mich ja vorher informieren.« Sie sah mich mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. »Alles besser, als Tom zu fragen, findest du nicht? Ich möchte nichts von ihm. Und schon gar nicht so etwas Großes

Okay, das konnte ich sogar verstehen. Allerdings würde sie dafür ihre Ersparnisse opfern, die sie dringend für ihr Studium benötigte.

»Mhm.« Vorsichtig, ermahnte ich mich selbst. Jetzt bloß nicht vorwurfsvoll werden. »Was hältst du eigentlich von einer Jahreskarte für die Straßenbahn? Wenn du hier zur Uni gehst, brauchst du gar kein Auto, oder

»Nein, nicht unbedingt«, gab Paula widerwillig zu. Dann sah sie auf ihren Kaffeebecher und fügte leise hinzu: »Aber was ist, wenn ich auf eine andere Uni gehe

Mir blieb fast das Herz stehen. Natürlich hatte ich so etwas schon befürchtet, doch meine Sorgen immer wieder abgetan. Weshalb sollte meine Paula so etwas tun, wenn die Unis hier in der Gegend genauso gut waren? Alleine die Vorstellung, sie nicht mehr jeden Tag um mich herum zu haben, tat unendlich weh, doch damit musste ich mich früher oder später wohl sowieso auseinandersetzen.

Und als ob meine Tochter ahnte, dass genau dieses Problem mich gerade innerlich zerriss, sagte sie: »Weißt du was? Ich komme mit ins Kino. Ich sag‘ Max schnell Bescheid und dann suchen wir uns einen Film aus, okay

2

Paula

Irritiert seufzte ich auf und presste die Handballen auf meine Augen. Ein feiner, penetranter Kopfschmerz nistete sich in meiner Stirn ein, als ich auf die Briefe starrte, die in den vergangenen Tagen eingetrudelt waren. Eigentlich hätte ich mich freuen müssen - als ich vor Wochen meine Bewerbungen an die diversen Unis schickte, hatte ich nicht im Leben daran gedacht, überall Zusagen zu bekommen. Und das war nicht einmal arrogant gemeint, vielmehr einfach ...

Naiv? War das das richtige Wort?

Ich hatte einen verdammt guten Notenschnitt und der hatte mir nun so ziemlich jede Tür geöffnet, für die ich mich interessiert hatte. Meine Entscheidung wurde dadurch allerdings alles andere als leichter ...

»Paula? Bist du soweit

Die Stimme meiner Mom drang gedämpft durch die Zimmertür, und obwohl ich keinen Grund hatte, irgendetwas zu verheimlichen, zuckte ich zusammen. Meine linke Hand flog auf den Stapel Briefe, bedeckte sie halbwegs, als würde ich tatsächlich etwas verstecken wollen.

Vor meiner Mom, die vor der verschlossenen Tür stand.

Ich seufzte auf. »Ja, natürlich!«, rief ich mit glockenheller Stimme, die im krassen Gegenteil zu meinem Gefühlswirrwarr stand, und erhob mich schwerfällig von meinem Schreibtischstuhl. Vermutlich war es gar nicht verkehrt, dieses Thema zu verschieben - ich musste mich früh genug entscheiden.

Es war einer dieser gemeinsamen Abende. Nicht, dass Mom und ich nicht viel Zeit miteinander verbrachten, ganz im Gegenteil, aber unabhängig von unserem gemeinsamen Alltag hatten wir schon vor Jahren diese Tradition eingeführt. Ein- bis zweimal im Monat verbrachten wir unseren Mutter-Tochter-Abend zusammen. Wir hatten dabei schon alles Mögliche gemacht - Kino, schick essen gehen oder auch weniger schick, wir hatten auch sogar, kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag und in den Schulferien, gemeinsam eine Cocktailbar aufgesucht. Mann, mir waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen, als Mom mich dorthin verfrachtet hatte. Als ich sie daraufhin als »coole Else« bezeichnet hatte, wäre sie beinahe postwendend wieder umgedreht.

Ein Schmunzeln schlich in mein Gesicht, als ich an jenen Abend dachte. Nur flüchtig streifte mein Blick ein letztes Mal die Briefe, die auf meinem Schreibtisch lagen, und dann kehrte ich ihnen endgültig den Rücken zu.

Wir aßen bei unserem Lieblingsgriechen. Auch das kam ziemlich regelmäßig vor. Andere empfanden das vielleicht als spießig oder langweilig, doch wir genossen eben Gutes, wenn wir wussten, wo es das zu finden gab.

Nach außen hin mussten wir wirken wie immer - wir redeten und lachten viel, wir bestellten sogar nahezu das Gleiche wie sonst auch ... doch etwas war anders.

Ich spürte es.

Obwohl ich mal wieder mit den jüngeren Kellnern kokettierte und Mom mit dem Chef des Hauses, der dann gerne ab und an einen Ouzo für uns springen ließ, sah ich doch sehr deutlich diese Stressfalten in ihrer Stirn. Wenn man sich sein Leben lang kannte, lernte man, die Zeichen des anderen mehr als gut zu deuten.

»Ist alles okay, Mom?«, fragte ich zum wiederholten Male und ließ meine Mutter nicht aus den Augen, versuchte, jede noch so kleine Regung aufzufangen, die sie womöglich verriet. Doch da war nichts.

»Herrgott, Paula, natürlich ist alles okay!«, gab sie zurück, und man hörte ihrer Stimme an, dass sie ungeduldig wurde. »Wie oft willst du mich das denn noch fragen

Ich seufzte auf und spreizte meine Finger entschuldigend. »Sorry. Es ist nur so ein Gefühl.« Möglichst schwungvoll deutete ich auf ihren Teller. «Isst du den Krautsalat noch, oder kann ich den Rest haben

Der Themenwechsel schien zu funktionieren - Mom lachte auf und schob mir dann ihren Teller zu, damit ich den Salat mopsen konnte. Ich hatte eine Schwäche für das Zeug - eine, die ich nicht von ihr geerbt haben konnte, denn von allen Salatsorten, die sich auf einem Teller tummelten, bevorzugte sie wirklich jede einzelne gegenüber dem weißen Kraut.

Sogar das dunkelrote, krause Zeug, bäh!

»Kann es sein, dass du gerade lediglich von deiner Nervosität ablenken willst

Was für ein Einwand! Ich schaffte es nur mit viel Mühe, meine Augen deshalb nicht zu verdrehen. »Mom, du weißt doch, dass ich mir keine großen Sorgen um die Prüfungen machen muss

Das stimmte nur so halb. Ja, ich musste mir keine Sorgen machen, denn ich war wirklich gut und hatte auch schon den Großteil des Stoffes verinnerlicht. Aber dennoch ... in meinem ganzen Leben hatte ich noch keine derart wichtige Prüfung bestanden (abgesehen vom Führerschein, durch den ich beinahe mit wehenden Fahnen geflogen wäre, doch das war eine andere Geschichte), und das schüchterte mich natürlich etwas ein. Ich wollte jedoch nicht, dass meine Mom an mir zweifelte.

»Das weiß ich, mein Schatz, aber gleichzeitig kann ich mir nicht vorstellen, dass du deshalb nicht nervös wirst. In zwei Wochen um diese Zeit hast du schon deine schriftlichen Prüfungen hinter dir. Das ist nicht mehr lange

Ich konnte nicht anders und seufzte entnervt auf. »Ich bin nicht nervös, okay? Aber du musst mich auch nicht so grausam daran erinnern

Ein leises, wissendes Lachen entkam meiner Mutter. »Alles klar, Paula. Kommt nicht mehr vor

Warum nur hatte ich den Eindruck, als wenn sie mir kein einziges Wort glaubte?

Erst, als wir ein Dessert zum Nachtisch bekamen, wie immer ein kleiner Gruß aus der Küche, nur eben am Ende einer Mahlzeit, dachte ich wieder darüber nach, dass meine Mom etwas stiller und blasser wirkte als sonst. Ihr Ablenkungsmanöver, meine Prüfungen betreffend, hatte zumindest zeitweise funktioniert. Nur weil ich mir auf die Zungenspitze biss, konnte ich verhindern, ein weiteres Mal nachzufragen, was ihr tatsächlich auf dem Herzen lag, stattdessen schaufelte ich mit gespielter Verzückung die Quarkcreme in meinen Mund, obwohl in meinem Bauch eigentlich gar kein Platz mehr war für irgendeine Form der Nahrung. Und als der Kellner kam, um uns abzukassieren, wirkte sie auf einmal wieder so normal wie immer, dass ich mich ernsthaft fragte, ob ich mir diesen Schatten in ihrem Gesicht wirklich einfach nur eingebildet hatte.

In dieser Nacht lag ich noch sehr lange wach. Selbst als ich anfing, ein paar nette, wenn auch unverfängliche Nachrichten mit Max auszutauschen, konnte ich mich nicht recht beruhigen. Irgendwie schien dies sogar meine innere Unruhe nur zu verstärken.

Wir hatten in den vergangenen Wochen viel Zeit miteinander verbracht, sehr zum Leidwesen meiner Mutter. Dabei wusste sie, wenn überhaupt, nur von der Hälfte unserer Treffen. Auch hatte ich ihr nie erzählt, wer genau eigentlich Teil meiner Lerngruppe war - und noch weniger, dass ich einen Teil der Lernzeit mit Sicherheit nicht mit dem Stoff verbracht hatte, den ich noch in mein Hirn zu prügeln versuchte.

Bei dem Gedanken an Max färbten sich meine Wangen hellrosa.

Max versuchte, mich mit lieben Nachrichten aufzumuntern, obwohl er gar nicht so recht wusste, was genau mich eigentlich bedrückte. Er hatte so eine Art - fürsorglich irgendwie, bemüht - die ihn von anderen Jungs in seinem Alter abhob. Er war nicht nur daran interessiert, dumme Sprüche zu klopfen und cool zu sein vor seinen Kumpels, indem er uns Mädels offen auf die Titten starrte oder blöde Kommentare abließ. Stattdessen hatte er etwas ruhiges, verletzliches an sich. In einer anderen Stadt wäre er deshalb vielleicht von den anderen Jungs ausgelacht worden, doch hier, in unserem Viertel und auf unserer Schule, funktionierte es herrlich. Die meisten Mädels waren scharf auf ihn, das wusste ich. Und dennoch interessierte er sich nur für mich. Diese Erkenntnis löste ein warmes Kribbeln in meiner Magengrube aus.

Ich wusste, dass Mom das alles sehr alarmiert hätte, weshalb ich nicht darüber sprach. Vermutlich wurde es dadurch aber nicht besser. Ich hätte ihr zum Beispiel durchaus sagen können, dass ich eine brave, brave Tochter war und immer noch Jungfrau, doch vermutlich wäre sie so oder so ausgeflippt.

Als Max mir nun anbot, vorbeizukommen und zu kuscheln, da ich dann sicher auf andere Gedanken kommen würde, Zwinker, Zwinker, war ich mir zumindest fast sicher, dass das nur rein hypothetisch gemeint war. Natürlich hätte ich mich niemals in meine Klamotten geschmissen, um seinem Angebot nachzukommen, auch wenn ein Teil von mir kurz mit diesem Gedanken spielte. Ein sehr kleiner Teil zwar, aber immerhin.

Doch leider würde es mir nicht weiterhelfen, mich in seine Arme zu flüchten, ganz im Gegenteil. Das, was mich so sehr beschäftigte, was mich am Tage so nervös gemacht hatte und mir nun den Schlaf raubte, war eine ganz und gar fürchterliche Entscheidung - und zwar eine, die ich leider so ziemlich alleine treffen musste. Eine, die mir sowohl von Max als auch von meiner Mom nicht leichter gemacht werden würde, ganz im Gegenteil. Mom und ich hatten so ein enges Verhältnis, waren uns so nahe. Es war nur verständlich, dass ihr die Vorstellung, dass ich fortziehen könnte, nicht behagte. Manchmal machte es mir ja sogar selber Angst. Gleichzeitig wusste ich jedoch, dass es Zeit wurde, mich zu lösen.

Ich musste mich bald entscheiden, auf welche Universität ich gehen würde, und das würde maßgeblichen Einfluss auf mein direktes Umfeld haben.

Würde ich hierbleiben? Ich hatte mich an derselben Uni beworben wie Max auch, nur für einen anderen Studiengang. Oder würde ich mich für eine der anderen entscheiden? Ich hatte die Wahl - vor Ort bleiben, wenige Kilometer wegziehen oder gleich ein ganz schönes Stück.

Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich mich entscheiden sollte.

Die Entscheidung fiel schließlich wenige Tage später, wie nicht anders zu erwarten war, dank Mom.

Ich saß gerade im Wohnzimmer und überflog meine Notizen zur Erlebnispädagogik nach Montessori, als sie von der Arbeit kam, seufzend und gestresst und irgendwie müder als sonst. Ohne ein weiteres Wort fiel sie plumpsend neben mir auf die Couch und lehnte ihren Kopf nach hinten. Ich sah aus dem Augenwinkel, wie sie ihre eigenen Augen zusammenkniff, ehe sie sich energisch durchs Gesicht rieb und so ein wackeliges Lächeln zutage beförderte.

»Hey, mein Schatz. Wie war dein Tag

»Ganz okay«, gab ich zurück, schaffte es jedoch nicht gerade, überzeugend zu sein.

Sie lachte kurz auf. »Dann können wir uns ja die Hand reichen. Hast du noch viel zu tun? Wie wäre es, wenn wir nachher Pasta machen und uns einen Film anschauen

»Ich wollte eigentlich noch -«, begann ich, führte den Satz jedoch nicht aus. Das musste ich auch nicht, denn meine Mutter war schneller.

»Zu Max?«, presste sie seufzend hervor. »Meinst du nicht, du solltest dich jetzt lieber auf deine Prüfungen konzentrieren

Normalerweise konnte ich besser mit solchen Situationen umgehen, doch meine Nerven waren langsam wirklich angespannt wie Drahtseile, und die Überfürsorglichkeit meiner Mutter ging mir gehörig auf den Keks. »Und da denkst du, ein Film mit dir wäre besser, oder was? Willst du mich parallel abfragen, oder wie hast du dir das vorgestellt? Sollen die Nudeln in mathematische Formeln gelegt werden

Ich wusste, dass ich zu weit ging, noch ehe die Worte ganz ausgesprochen waren, doch in diesem Moment war ich einfach viel zu frustriert, um dem Beachtung zu schenken. Genervt warf ich meine Unterlagen auf den Tisch und rieb meine Nasenwurzel.

»Dünnes Eis, mein Schatz, und schon gar nicht in diesem Ton. Du weißt genau, dass ich es so nicht gemeint habe«, empörte sich meine Mutter und ich glaubte ihr aufs Wort - sie meinte es nie böse, ganz sicher nicht, doch irgendwann reichte es einfach. Es wurde zu viel. Ich spürte es allzu deutlich: Ich wurde wirklich und wahrhaftig erwachsen. Bald würde ich einen neuen Lebensabschnitt einläuten und studieren gehen, die bisherige Fürsorglichkeit meiner Mom fände also ein Ende.

Die Worte formten sich erst in meinem Kopf, dann sogar in meinem Mund, ehe ich es verhindern konnte.

»Ich ziehe aus

Für einen Moment herrschte Schockstarre - alles schien die Luft anzuhalten, nichts zählte mehr. Nichts außer diesem Ausdruck von Verwirrung und anschließender Verletztheit in den Augen meiner Mom.

»Was?«, brachte sie schließlich hervor, und ihre Stimme wirkte perplex und traurig zugleich. Als hätte sie es wirklich nicht kommen sehen.

»Ich habe mehrere Zusagen bekommen«, redete ich weiter, obwohl ich nicht wusste, ob das ein Fehler war oder nicht. »Es wäre gut, wenn ich woanders studiere. Ich muss meine eigenen Wege gehen. Ich muss eigene Fehler machen können und muss erwachsen werden. Mom, ich weiß, dass du es nur gut meinst, aber ...« Du erdrückst mich. Genau das wollte ich sagen, denn so empfand ich in diesem Moment, doch ich wollte auch nicht überzogen reagieren. Ich wollte sie nicht verletzen, das war das letzte, was ich wollte. Umso mehr schmerzte es, die Träne zu sehen, die sich aus ihrem müden, linken Augenwinkel löste.

»Bist du dir ganz sicher?«, fragte sie mit leiser Stimme nach.

Obwohl ich mir überhaupt nicht sicher war - ich wusste ja nicht einmal, woher diese Entscheidung plötzlich kam -, nickte ich, tat ganz überzeugt. »Ja. Es ist richtig so, davon bin ich überzeugt

»Und alles nur wegen Pasta«, murmelte meine Mutter, und in diesem Moment war auch mir zum Heulen zumute.

»Hey, Paula.« Wie üblich begrüßten wir uns mit einem kleinen Kuss, als ich durch Max’ Haustür schlüpfte. Wir hatten uns nur wenige Stunden nicht gesehen, und doch stellte er mir dieselbe Frage wie immer. »Wie war dein Tag

»Ganz okay«, nuschelte ich ihm zu und ignorierte das Ziehen in meiner Magengrube, als ich das Funkeln in seinen Augen sah. Ich wusste, was das bedeutete. Wie viel ich ihm bedeutete. Und ich wusste auch, dass meine Augen ähnlich aussahen, wenn ich ihn anblickte. Aber gerade war das nicht unbedingt das, was ich sehen wollte. »Ich muss mir dir reden

Vermutlich war es die Art und Weise, wie ich diese furchtbar klischeehaften Worte aussprach, auf jeden Fall erkannte Max sofort, dass es nicht um die üblichen kleinen Dramen einer fast erwachsenen Frau ging, denn sein Gesichtsausdruck wechselte ziemlich schnell von entspannt zu wachsam. Ich fühle, wie mein Herz zerbrach. Er wusste vermutlich, was nun kommen würde. Diese Gewissheit machte es mir nur leider nicht einfacher.

»Wollen wir ... hochgehen?«, brachte er hervor, und alleine die Unsicherheit in seiner Stimme ließ mich fast schon bereuen, was ich nun zu tun gedachte.

Ich nickte ihm nur zu und folgte ihm dann. Er ließ eindeutig seine Schultern hängen.

»Du gehst weg, oder

Seine Zimmertür war noch gar nicht richtig hinter uns ins Schloss gefallen, als er mich bereits mit seinen Worten konfrontierte. Ich hatte fest eingeplant, ihn behutsam darauf vorzubereiten, und nun nahm er mir all meine zurechtgelegten Worte vorweg?

Mein Blick glitt über sein aufgeräumtes Zimmer, nahm die typischen männlichen Accessoires auf. Blind starrte ich auf die Pinnwand hinter seinem Schreibtisch, auf der ein Bild von uns beiden im Zentrum prangte. Von einer Party, auf der wir uns auch nähergekommen waren, betrunken grinsend aneinandergepresst, mit schwitziger Stirn und fröhlichen Augen.

»Jep«, brachte ich schließlich lahm hervor.

»Wohin?«

»Paderborn?« Ich hasste, dass es eher wie eine Frage denn wie eine Feststellung klang, doch das war eigentlich auch kein Wunder. So wirklich konnte ich vermutlich niemanden mit meiner Entscheidung überzeugen. Warum zur Hölle wählte ich diese Stadt - die kleinste Großstadt, wie sie sich schimpfte - im tiefen Ostwestfalen, 350 Kilometer von Zuhause entfernt, wenn ich auch noch ganz andere Angebote hatte? »Die sollen eine der besten Fakultäten haben, was Medienwissenschaften betrifft«, erinnerte ich ihn und auch mich daran, warum ich mich überhaupt dort beworben hatte. »Und die Stadt hat Charme, soweit ich die Bilder beurteilen kann. Ich schätze, dort könnte es nett werden

Max trat näher - wollte mich in den Arm nehmen, da war ich mir sicher -, doch kurz vorher schien er es sich anders zu überlegen. Sein Blick trübte sich. »Du könntest auch hier studieren. Unsere Uni bietet Medienwissenschaften ebenfalls an. Und sie hat auch nicht den schlechtesten Ruf

Ich schüttelte traurig meinen Kopf. »Ich weiß, aber ich muss das tun.« Für mich. Wieder ein Gedanke, den ich unausgesprochen ließ. Auch so schien Max schon genügend unter meiner Entscheidung zu leiden. Verdammt, ich hasste das. Gleichzeitig spürte ich aber auch mit jeder verstreichenden Minute, wie ich mich mit der Entscheidung, wegzugehen, immer besser fühlte.

Ich sah zu, wie ich Max das Herz brach, und für einen weiteren Augenblick fragte ich mich, ob das zwischen uns nicht längst schon mehr war, als ich jemals gedacht hatte, doch dann schloss ich meine Augen, um das Ganze von mir zu schieben. So hatte es meine Mutter ja auch gesagt, oder nicht? Vor genau so etwas hatte sie mich gewarnt, ich tat also eigentlich genau das Richtige, indem ich nicht für Max (oder für sie) hierblieb, nicht wahr?

»Okay«, war schließlich alles, was Max dazu sagte. Und dann nahm er mich wirklich in den Arm. »Es gefällt mir ganz und gar nicht, aber, verdammt, ich kann dir nicht vorschreiben, hier zu bleiben

Einmal mehr überraschte er mich. Max war in vielerlei Hinsicht so viel mehr als ich. Erwachsener, klüger. Ich hatte mit mehr Widerstand gerechnet, mit Streit, stattdessen schluckte er den Schmerz für mich hinunter.

Erneut zweifelte ich meine Entscheidung für einen winzigen Augenblick an, als mein Herz irgendwie doch brach, und ich gab mich seiner Umarmung hin.