Buchcover

Poul Nørgaard

Lone unterwegs

SAGA Egmont




In den beiden ersten LONE-Büchern haben wir erfahren, wie zwei gehässige Schulkameradinnen die Ursache wurden, daß Lone den netten Gutsbesitzer Winge traf, der sie in den Sommerferien auf sein Gut Ravenstrup einlud.

Dieses Erlebnis wurde ein Wendepunkt in Lones Dasein. Gemeinsam mit Kirsten, der gleichaltrigen Tochter des Gutsbesitzers, und Bent, dem Sohn des Futtermeisters, lernte sie hier zum erstenmal das Leben auf einem großen Hof kennen, und als die herrlichen Sommerferien vorbei waren, schlug der Gutsbesitzer vor, daß sie, zusammen mit ihrem Vater, in den Weihnachtsferien wiederkommen sollte.

Lone hatte es auch wirklich verdient, einmal hinauszukommen und richtige Ferien zu genießen, denn zu Hause war immer mehr als genug zu tun.

Lones Vater besaß früher ein kleines Lebensmittelgeschäft, doch konnte er der Konkurrenz nicht standhalten und mußte schließlich eine Stellung als Buchhalter annehmen, und zwar ausgerechnet bei Herrn Andersen, dem Konkurrenten. Aber er verdiente so wenig, daß er nur mit größter Sparsamkeit die kleine Stadtwohnung und den Lebensunterhalt bezahlen konnte.

Lone hat keine Mutter mehr, und so muß sie selbst saubermachen und kochen, wenn sie von der Schule nach Hause kommt.

In den Weihnachtsferien haben Lone, Kirsten und Bent sich eine Belohnung verdient; deshalb versprach ihnen der Gutsbesitzer für den nächsten Sommer eine Autorundfahrt durch Jütland, und auf dieser Reise wollen wir sie jetzt begleiten.

1

Die Sonne brannte auf den großen Schulhof herab. Der Hitze wegen hatten die Mädchen das Spielen aufgegeben und standen nun in kleinen Gruppen beieinander, um eifrig die bevorstehenden Sommerferien zu besprechen.

Tove Simonsen strich sich mit einem Seufzer das Haar aus der Stirn. „Ah! Ich zerlaufe bald. Jetzt müßte man am Strand liegen! Aber wenn ich am Freitag endlich dort bin, dann regnet es sicher in Strömen. Wo wirst du eigentlich heuer deine Sommerferien verbringen, Lone?“

„Ich bin wieder zu meiner Freundin, Kirsten Winge, auf Fünen, eingeladen“, antwortete Lone, und es freute sie, dieses Jahr ganz ohne Umschweife und entschieden antworten zu können. „Wir wollen …“

„Au! Darfst du dieses Jahr wieder den Gutsbesitzer auf Ravenstrup besuchen?“ unterbrach Tove sie bewundernd. „Du bist wirklich ein Glückspilz. In den Weihnachtsferien bist du doch auch dort gewesen, nicht?“

„Ach ja, du hast gut reden“, mischte sich eine dritte ins Gespräch. „Wenn es dort wirklich so ist, wie du in deinem Aufsatz geschrieben hast, dann muß es herrlich sein.“

Sie dachte an Lones Aufsatz nach den letzten Sommerferien: „Meine Ferienerlebnisse“. Er war nämlich so frisch und lebendig gewesen, daß der Lehrer ihn der Klasse vorgelesen und Lone eine glatte Eins gegeben hatte.

Der Aufsatz war eine Kleinigkeit gewesen. Sie hatte nicht an die Decke zu starren und am Federhalter zu kauen brauchen, um sich mühselig zu erinnern. Nein, es war mehr als genug geschehen in den wundervollen fünf Wochen, die sie auf dem großen Hof, am Strand und im Wald verbracht hatte. Und alle waren dort so nett zu ihr gewesen, daß sie ohne weiteres das ganze Aufsatzheft darüber hätte vollschreiben können.

Aber unter welch aufregenden Umständen sie voriges Jahr, wenige Tage vor den Sommerferien, auf dem Heimweg von der Schule den Gutsbesitzer kennengelernt hatte, davon hatte sie in ihrem Aufsatz nichts erwähnt.

Über diese Begebenheit wußten außer ihr nur Grete und Else Bescheid, und die beiden würden bestimmt nicht darüber sprechen.

„Herrlich ist gar kein Wort dafür“, antwortete Lone. „Und dieses Jahr darf ich sogar mit der Familie nach Jütland fahren.“

„Nach Jütland?“

„Ja, der Gutsbesitzer hat uns eine Rundfahrt mit dem Auto durch Jütland versprochen. Und Bent kommt auch mit“, fügte Lone eifrig hinzu.

„Bent? – Ach ja, der rothaarige Sohn des Futtermeisters, den du so drollig beschrieben hast. Wieso darf der denn auch mitkommen?“

„Tja“, antwortete Lone ausweichend. „Das ist eine lange Geschichte.“ Sie hatte keiner ihrer Schulkameradinnen erzählt, warum Gutsbesitzer Winge Kirsten, Bent und sie selbst zu der bevorstehenden Autofahrt durch Jütland eingeladen hatte, denn dann hätte sie erklären müssen, warum sie damals mitten in der Nacht oben im Kirchturm waren. Und das würden die anderen ja doch nicht verstehen. Sie würden vielleicht dumm zu kichern anfangen und glauben, draußen auf dem Land sei man noch abergläubisch wie im grauen Mittelalter, und bei Bent müsse eine Schraube locker sein. Nein, es kam gar nicht in Frage, daß ihre besten Freunde von den Schulkameraden lächerlich gemacht würden.

„Warum hast du uns davon überhaupt nichts erzählt? Schieß mal los“, forderte Tove.

„Och, weiter nichts Besonderes.“ Lone warf mit einem Ruck ihr langes dunkles Haar zurück. „Das werden übrigens Bents letzte Ferien sein, denn er kommt jetzt aus der Schule, und dann will er zur See.“

„Du hast aber doch gesagt …“ In diesem Augenblick klingelte es, und alle stürmten in die Klassenzimmer.

2

Vier Tage später erwachte Lone in Kirstens Zimmer auf Ravenstrup. Die Sonne schien zum offenen Fenster herein, und die Vögel zwitscherten draußen im Efeu, der sich bis zum Giebel hinaufrankte.

Sie rieb sich die Augen und sah auf die Uhr. Es war erst fünf. In drei Stunden würden sie also abfahren.

Sie drehte sich auf die andere Seite und versuchte wieder einzuschlafen. Doch es wollte ihr nicht gelingen. Die Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum, so sehr freute sie sich. Sie konnte es noch gar nicht fassen, mindestens acht Tage im Auto kreuz und quer durch Jütland fahren zu dürfen.

Lone war noch nie in Jütland gewesen, und mit Autofahren war sie auch nicht verwöhnt, deshalb war ihre Freude verständlich.

Am liebsten hätte sie Kirsten geweckt, um sich die Wartezeit mit einem Schwätzchen über die bevorstehende Fahrt zu vertreiben, doch als sie sich im Bett aufsetzte und sah, daß Kirsten ruhig schlief, gab sie den Gedanken auf. Kirsten lag auf dem Bauch, genau wie ein Hund, und ihr volles Haar lag wirr über dem Kopfkissen.

Eigentlich war es herrlich, daß keine von ihnen wußte, wohin in Jütland die Fahrt gehen würde. Das sollte eine Überraschung sein, hatte der Gutsbesitzer gesagt, als Lone ihn gleich nach ihrer Ankunft fragte, ob sie auch nach Esbjerg kämen. Denn dort sei ihr Vater geboren worden, und es wäre doch hübsch, das Haus kennenzulernen, in dem er als Junge mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder Torben gespielt habe, der jetzt tot sei. Das heißt, man nahm an, daß er tot sei, denn seit fünfunddreißig Jahren habe niemand mehr von ihm gehört. Er sei nämlich als Fünfzehnjähriger ausgerissen und gegen den Willen seines Vaters zur See gegangen.

Eigentlich seltsam, daß sie überhaupt keinen Onkel hatte wie fast alle anderen. Aber ihre Mutter hatte keine Brüder gehabt und ihr Vater nur seinen Bruder Torben.

Ohne es zu merken, mußte Lone doch wieder eingeschlafen sein, denn plötzlich erwachte sie durch das Geräusch von klappernden Eimern unten im Hof. Das mußte der Milchwagen sein, der von der Weide heimkam. Dann war es also halb sieben. Jetzt dauerte es nur noch anderthalb Stunden bis zur Abfahrt, da konnte sie Kirsten wohl ruhig wecken.

Punkt halb acht meldete der Fahrer, Herr Svendsen, daß der Wagen fahrbereit sei und vor der Tür stehe.

„Haben Sie den Benzintank aufgefüllt und alle vier Reifen nachgesehen?“ fragte der Gutsbesitzer.

„Alles in Ordnung, Herr Winge! Sicherheitshalber habe ich auch die Zündkerzen und den Vergaser gereinigt und den Ventilatorriemen nachgezogen.“

„Gut, Svendsen. Tragen Sie bitte die Koffer hinaus und bringen Sie alles im Gepäckraum unter.“

Kirstens großer Schäferhund folgte ihr mit den Augen, als sie den Mantel anzog.

„Nein, Flax, du kannst nicht mitkommen. Du mußt schön brav zu Hause bleiben und auf alles aufpassen.“

Verwalter Westergaard, der oben im Büro des Gutsbesitzers gewesen war, um die letzten Anweisungen entgegenzunehmen, streichelte den Hund. „Ich werde mich schon um Flax kümmern, solange du weg bist, Kirsten. Er kann aufs Feld mitkommen, das tut er ja so gern.“

Der Gutsbesitzer setzte sich ans Steuer, und Frau Winge nahm neben ihm auf dem Führersitz Platz.

„Na aber, du wirst dich doch nicht auf das unbequeme Ding setzen!“ rief Kirsten, als Bent sich bescheiden auf einem der Klappstühle niederlassen wollte. „Es ist reichlich Platz hier auf dem Rücksitz zwischen Lone und mir.“

„Seid ihr jetzt soweit?“ fragte der Gutsbesitzer. Dann ließ er den Motor an und schaltete den Gang ein.

„Es ist richtig spannend, daß wir gar nicht wissen, wohin die Reise geht!“ meinte Lone, als sie sich der Brücke über den kleinen Belt, Lillebeltsbroen, näherten. Malerisch schwang sich ihr ansehnlicher Bogen über das blinkende Wasser.

Lone genoß die Fahrt in vollen Zügen. Es war strahlendes Wetter, und die Landschaft war ein ganz neues Erlebnis für Lone.

Durch Ortschaften und Täler fuhren sie weiter nach Silkeborg, wo sich der Himmelsberg mächtig über die blinkenden, waldbekränzter. Seen erhob.

„Wollen wir nicht halten und uns ein bißchen umsehen?“ schlug Frau Winge vor. „Du fährst ja, als ob der Teufel hinter uns her wäre.“

„Wir haben keine Zeit, uns aufzuhalten“, wandte der Gutsbesitzer ein. „Du weißt ja, daß sie uns zum zweiten Frühstück erwarten!“

Kirsten spitzte die Ohren. „Wer erwartet uns, Vati?“