Buchcover

Effes

Mata Hari I

SAGA Egmont



Vorrede

Als am 14. Oktober 1917 die Spionin H.21, genannt Mata Hari, im Hofe der Festung Vincennes vor dem Peloton des 26. französischen Jägerbataillons stand, das die Gewehre auf diese ebenso schöne als mutige Frau angelegt hielt, und als nach dem Kommando seines Oberleutnants den in mehr als einer Hinsicht berühmten Körper elf Kugeln durchbohrt hatten, glaubte alle Welt, daß nun dieser Leib der Vergessenheit anheim fallen würde. Er hatte viele erfreut; er hatte aber auch viel Schuld auf sich geladen und deshalb wurde er schließlich gerichtet. Aber eines hatte weder die Prüderie noch die Justiz erreicht: Die Vernichtung des Andenkens. Nach dem Tode dieser merkwürdigen Frau spach man fast mehr von ihr, als man es zu ihren Lebzeiten getan hatte und unseren Tagen blieb es sogar vorbehalten, eine Entdeckung zu machen, die sie auf sehr lange Zeit der Vergessenheit entreißen dürfte.

Es sind die Tagebücher, die intimen Aufzeichnungen, die jetzt, nach vielen Jahren, aus den Tiefen eines Pariser Archives ausgegraben wurden und nun zum erstenmal das Licht der Öffentlichkeit, allerdings auch jetzt nur in beschränktem Maße, erblikken. Ob die berühmte Tänzerin und Spionin die einzelnen Teile desselben bis zu ihrem Tode bei sich behalten konnte oder ob diese Bruchstücke durch eine bestimmte Persönlichkeit gesammelt oder zustandegebracht worden sind, ist nicht mehr zu ermitteln. Als Tatsache kann angenommen werden, daß die bereits reichlich vergilbten, unscheinbaren Blätter bis vor kurzem zwischen verstaubten Akten in einem Depot der Rue des Archives zu Paris schlummerten. Lediglich an Hand des Zettels, der dem Faszikel beigeheftet war, konnte man feststellen, daß es sich um ein verworfenes Aktenbündel handeln mußte, einem der hohen Beisitzer des Conseil de guerre gehörig, der den aufsehenerregenden Prozeß gegen die Spionin „H 21“ geführt hatte.

Der erstaunte Finder dieses Schatzes teilte seine Entdeckung einem befreundeten Journalisten mit, der nach flüchtiger Einsichtnahme erkannte, daß es sich lohnen würde, davon eine Sonderausgabe herauzugeben. Infolge besonderer Umstände sieht sich die Amsterdamer Verlagsdruckerei, die die Herausgabe übernommen hat, in der Lage, gleichzeitig mit der französischen auch eine, allerdings äußerst beschränkte deutsche Ausgabe herstellen zu lassen.

Eigentlich sind es mehrere Tagebücher, recht ausführliche, völlig ungeschminkte Bekenntnisse, geradezu erstaunliche Beichten, die die berühmte Frau, spontan ihrer Eingebung folgend und noch unter den frischen Eindrücken stehend, niedergeschrieben hat; Blätter voll unglaublich lebenssprühenden Ausdrucks, in rousseauischer Selbstentblößung, immer rückhaltlos offen und nichts beschönigend, nichts verschweigend. Sie reflektieren mit Spiegeltreue, ebenso realistisch als überzeugend, die einzelnen Epochen dieses an Sensationen wahrlich nicht armen Daseins wider, das die komplizierten Charaktere einer „grande amoureuse“ und unergründlichen Sphinx, eines liebestollen Weibes und berechnenden Dämons vereinigt. Diese Tagebuchblätter wurden in den verschiedensten Epochen ihres Lebens verfaßt und unterscheiden sich untereinander, stilistisch und dem Inhalt nach, genau so wie die einzelnen Schicksalsphasen, die diese merkwürdige Frau gelebt hat, die krassesten Gegensätze aufweisend und wie die aneinander gereihten Lebensbeichten mehrerer Frauen – durchaus keiner Durchschnittsnaturen – anmutend. Welche Höhen, welche Tiefen kannte diese Spielerin! Die immer alles einsetzte, um alles gewinnen zu können und die ihr niedrigstes Spiel stets mit ihrem Körper zu zahlen bereit war, ja, die ihre höchste Partie mit dem Leben beglich, nach all diesen heißen, unter dem Hochdruck der Sinne dahinströmenden Jahren zur Begleichung der letzten Ehrenschuld furchtlos ihr Herz den Gewehrschlünden darbot … Mata Hari war „beau joueur“ – sie lächelte und bezahlte. Welch ein Schicksal! Es ist kein Wunder, daß gerade das Abenteuer dieses irritierenden Lebens in ungezählten Romanen eingefangen wurde, daß gerade diese so sehr im Zwielicht stehende Gestalt einer großen Tänzerin, Spielerin und Erotikerin immer wieder dem Spießer im süßlichen und abgegriffenen Klischee dargeboten wurde. Unzulänglich und vollkommen mißverstanden. Man kannte eben die geheimen Blätter nicht, die hier erstmalig die Öffentlichkeit unterrichten sollen, welch heißes Herz in dieser liebestollen Brust, in diesem brünstigen Leib geschlagen hat, von dem so lange niemand wußte, ob es einer geheimnisvollen Tempeltänzerin des fernen Java – oder einer nüchternen Friesin, einer Tochter des illusionslosen Nordens gehörte. Wie anders schildern uns die wahren, diese echten und wirklich intimen Tagebücher die Heldin so vieler Erlebnisse! Und wir erleben endlich die innerliche Mata Hari, nicht nur die Tänzerin und die Spionin, nein: die Frau, ungeschminkt und hüllenlos, die Frau, wie sie nicht einmal ihre Liebhaber kannten. Wir sehen sie nackter als sie es bei ihren schon legendär gewordenen Tänzen war, wir lernen ihren Körper kennen, bis ins kleinste, geheimste Fältchen, wie ihn selbst die erste Reihe ihres staunenden, zeitgenössischen Publikums trotz schärfster Gläser, trotz hellsten Rampenlichtes nicht zu erspähen vermochte … Wir stellen staunend fest, wie ungeheuer realistisch diese Frau zu schreiben imstande war. Wie überzeugend klingt die Erklärung ihres hemmungslosen Trieblebens, das sie unter anderem immer wieder veranlaßte, sich bei jeder Gelegenheit gänzlich zu entkleiden, um – auch vor gänzlich Fremden – einen plötzlichen pantomimischen Einfall zu skizzieren. Diese Tagebücher reichen von den ersten Stilproben des Backfisches, der in der prüden holländischen Kleinstadt heranwächst, bis zu den letzten Aufzeichnungen der großen Kurtisane. Aber dazwischen liegen Romane. Eine unglaubliche Ehe, ein Leben in Indien, Triumphjahre in Paris und in den anderen Großstädten des Ruhmes, die unergründliche Geschichte geheimnisvoller Beziehungen … Leidenschaft und Wollust, Höhepunkte künstlerischer Freuden, Ekstasen zügelloser Sinnenlust, Ehrgeiz, in Abgründe abgleitend – zwischen diesen Polen schwankt eine glühende, brünstige Seele. Nichts ist ergreifender und aufrüttelnder als diese Blätter, die in so überdeutlicher Sprache die Wandlung einer Frauenseele aufzeigen.

Kein noch so libertiner Schriftsteller Frankreichs würde es wagen, diese Ausdrücke, diese köstlichen detaillierten Schilderungen niederzuschreiben, von denen jede Seite der – allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Tagebuchblätter berichten. Einmal ist es die junge Frau, die „um ihren Mann etwas bieten zu können“, die Eindrücke und Verirrungen der Pubertätsjahre schildert, einmal ist es die geschundene Frauenseele, der gepeinigte, gequälte Körper, dann kommt die heranreifende Künstlerin auf ihre Erfahrungen mit der Fauna der Pariser Lebewelt zu sprechen, um als saturierte Liebeskünstlerin die letzten Geheimnisse zu lüften, und schließlich kommt die mysteriöse Freundin eines Thronfolgers und des Chefs der Spionage einer großen europäischen Macht zu Worte. Aber das Erstaunlichste bildet die Lebendigkeit ihres Stiles, die Gewandtheit ihres Ausdruckes, von einer Weitherzigkeit und von einer vor nichts zurückschreckenden Lust am Detail erfüllten Schreibweise, die dieses Memoirenwerk zum aufschlußreichsten Beitrag weiblicher Psyche machen. Vom Naiven bis zum Abwegigen, es gibt nichts, was von dieser Frau nicht versucht, ausgekostet, beschrieben worden wäre …

Der Herausgeber

I. Die Legende …

Paris, im Mai 190 … Nun bin ich meiner Rolle ganz sicher. Die Nervosität, die mich anfangs immer beschlich, wenn ich auf meine „eigentliche Heimat“, das geheimnisvolle Indien, zu sprechen kam, ist verschwunden. Ich bin geschmeidig in mein zweites Ich geschlüpft, es restlos ausfüllend. Es sitzt nun da vor diesen Leuten, die Mund und Augen aufsperren, füllt seine Haut prall aus und sonnt sich behaglich, ohne jede Spur von Angst, man könnte ihm nicht jedes Wort glauben, auch nur eines in Zweifel ziehen. Ich befürchtete noch vor kurzem, meine Inkarnation würde auf die Pariser, diese geborenen Skeptiker, lediglich als Bluff wirken, als Saisonsensation, wie das Kuplet des Jahres oder wie die große Attraktion im Olympia … Nichts dergleichen. Und mein Tanz? Haben sie ihn auch nur begriffen, können sie auch nur seine choreographischen Umrisse sinnlich wahrnehmen – oder werden sie eines Tages die Geheimnisse der Schritte, dieser absichtlich so eng bemessenen Bewegungen, dieses getanzten Kunstwerkes, das Indien wie eine steinerne Partitur in der ungeheuren Bibliothek seiner Tempelwände für Jahrtausende aufbewahrt, restlos verstehen? Ich müßte eigentlich fragen: wird sich der Dolmetsch finden, der geniale Übersetzer, der ihnen meine so genau berechneten Wendungen übersetzen, kommentieren wird? Ach, was wissen diese Pharisäer mit ihrer mehr oder minder zufriedenstellenden Verdauung von meiner Kunst – von meiner Berufung …

„Mata Hari“! Ist der Name nicht ein Programm? Wie schön und weich sprechen sich doch die Silben aus! Ein wenig eintönig die ersten drei Takte, auf dem matten Olivgrün des gedehnten „A“ ruhend, aber dann kommt das zwitschernde, helle, ganz leise, noch kindlich spitze Jubeln des „I“. M-a-t-a-h-a-r-i … „Augenstern des Morgenrots“! Meine Schwäche für alles Poesievolle hat mich diesen Namen wählen lassen – ach, ich meine, diese liebenswürdige Vorliebe für Zartes hat ihn mich lieben gelehrt … Ich bekam ihn doch, wie ein Geschenk, aus Tausenden auserwählt, von Priestern, die meine Eltern gut berieten. Er vereint zwei Rätsel dieser Welt: das Juwel, den glitzernden Edelstein, den Shiva in die toten Höhlen einsetzte, weil ihn der Mensch dauerte, der die herrliche Bewegung der kriechenden Schlange, die selige Weise der heiligen Elefanten, die mystische Form der Blätter der Lotosblume nicht sehen konnte. Und wie prächtig setzt mein schöner Name diesem Lichte jenes andere, gewaltige gegenüber, das über die Erde und die Welten gebietet, das grausam vernichtet, aber alles wiedergebiert, das die Sterne verdunkelt, aber die Tempel vergoldet! Jedoch, nicht das unerträgliche Gestirn in seiner schrecklichen Größe, sondern nur sein erster Augenaufschlag, trotz seiner Riesenhaftigkeit sanft und lieblich wie die Hirschkuh oder die Milch des Mohns, ‚Morgenröte‘ heiß ich, ein Name, auf den ich so stolz bin. Ihr sanfter Farbenschatz ist wie der leise Hauch, der die Wange der Jungfrau schmückt, himmlisches Rosenblatt, zeigt es die Farbe des Weines dunkler Reben mit Milch vermischt, noch nicht die Rubinglut des Feuers, des rauchenden Opferblutes. Ist es nicht schön, wenn Eltern, aus Frömmigkeit arm, dem Kinde einen Namen mitgeben, besser als Reichtum? Dessen es stolz sein kann in jedem Alter, einen lieblichen Namen, nicht zu kindisch, nicht zu steif? Meine ersten Gedichte – ich sagte sie auf und bewegte mich im Klange der Verse, die mir Musik waren, – enthielten als schönsten Reim immer das indische Wort, das sich mit meinem Namen paart und das im Dialekte der malabarischen Küste „Seligkeit“ bedeutet. Mata Hari – ich werde nicht müde, den Leuten zu erzählen, was dieser Name eigentlich bedeutet, für mich bedeutet; manchmal weise ich auch darauf hin, daß er dem Liebenden große, ganz große Möglichkeiten gäbe, wenn er sich seinerbedienen würde, bedienen wollte … Ich entsinne mich nicht, daß es in Juffuapatam noch ein Mädchen dieses Namens gab, ich hoffe sogar, daß er in keiner einzigen Stadt an den Ufern der heiligen Flüße oder der Küste der Fiebermeere ausgesprochen wird – außer, er wird verwendet, um mir etwas zu sagen, oder, um mich zu rufen, sei es zum Gebet oder zum Tanz. Aber das ist für mich dasselbe.

Ich habe die Frömmigkeit von meinem Vater geerbt, einem Abkömmling der frömmsten Kaste, der Kaste der Brahmanen. Man nannte ihn nicht ohne Grund Assirvadam, was so viel wie „Gottes Segen“ heißt, er war auch ein Segen für seine kleine Familie, für seine Umgebung überhaupt.

Er hatte meine arme Mutter sehr geliebt, die ich durch meine frühzeitige Geburt gemordet habe, als sie selbst im zarten Alter von vierzehn Jahren stand. Ich weiß, man wird bei dieser Erwähnung in Europa lächeln, aber es ist Tatsache, daß sie schon mit dreizehn Jahren heiratete, ja, noch mehr, daß sie damals schon eine berühmte Bajadere war, in den Diensten des Tempels der Kanda Swany; und wer diesen Tempel kennt, kann mich verstehen und an meinen Worten nicht länger zweifeln. Auch der blasierte Europäer wird von seinen gleichsam überirdischen Massen ergriffen, von seiner Ehrwürdigkeit gerührt, wenn er nur einmal die grauen Fliesen des seit Jahrhunderten im beschaulichen Dämmer liegenden Vorhofes betreten hat, die schweigenden Steine, die im Schatten der nachbarlichen Baumgiganten grünlich erschimmern, in die feuchte Schwüle des nahen Urwaldes gebettet wie in ein riesiges Aquarium …

Die unsterbliche Kunst der Khmer hat Bauwerke aufeinandergetürmt, einer einzigen Plastik ähnelnd. Der von tausenden und abertausenden Figuren bedeckte Sandstein zeigt ein buntes Göttervolk, in zeremonieller Geste erstarrt, ein Gewimmel von Leibern, Gliedern und Rümpfen, das wohl verwirrt, aber niemals ermüdet. Unsere Mönche besehen diese Figuren ein Leben lang und ihre kletternden Blicke kommen nur auf der Kolossalstatue Shivas zur Ruhe, auf dessen Fußsohlen sie eifervoll die in Perlmutter eingelegten heiligen Legenden studieren …

Dieser „Wat“ ist mir der heiligste, denn er war die Bühne der Kunst meiner Mutter. In seinem Dämmerlicht schwang ihr zarter, schmaler und brauner Körper, der dem meinen geglichen haben soll, in den geheiligten rhythmischen Zuckungen, die Wishnus Lieblingssprache durch in die Luft geschriebene Schriftzeichen ausdrücken. Sie wurde von Priestern bewundert, die sich nichts anmerken ließen, aber das „Volk“ murmelte um so beifälliger, all diese bei uns verehrten Idioten, Leprakranken, Händler mit dünnem Blattgold, rosa Betel, süßem Opium, Arekanüssen oder faulen Eiern … Sie tanzte zum Ruhme des „Vollkommenen“, zum Vergnügen des Pöbels, der nicht ohne erhebendes Gefühl die ihm nur halbverständlichen Gesten der kompliziert gebogenen Finger, das Gleiten edler Tradition gemäß gesetzter Fußsohlen verfolgte.

Wie liebte ich das stumme, aber für mich so beredte Volk der Statuen! Und besonders die Tiere, die listige Schlange, den stets zornigen Löwen mit dem Schnörkel im Schnurrbart und dem muskulösen Hinterteil, so nervig und zierlich gemeißelt, wie die stählernen, schmalen Lenden des heiligen Stieres.

Wie liebte ich es, mich auf einer der sieben Terrassen, die sieben Paradiese Krishnas verwirklichend, zu verlieren, meinen Träumen nachzuhängen, mich als seine Lieblingstänzerin zu sehen, vor dem siebenstöckigen Goldthrone tanzend, „Ihm“ zum Ruhme … Jede der Terrassen erhebt sich auf steinernen Lotosblumen, die auf steinernem Wasser schwimmen … Statt der Treppen sanfte Hänge aus Stein, in die prachtvoll geballte Wolken gezeichnet sind und über die die „Hocherhabenen“ emporschweben, ohne gemeine, irdische Stufen benützen zu müssen. Oft huschte ich ins Ankleidezimmer, das die köstlichen Toiletten des „Vollkommenen“ beherbergte. Er wird für jede Jahreszeit anders gekleidet, für die Zeit der Dürre liegen Haarnetze und Perlenhalsbänder bereit, Gewänder aus kostbaren Brokaten, so dick wie Elefantenhaut. Herrliche Ringe in Gigantenmaßen, die allein seinem Gigantentum gerecht werden, funkeln wie die Edelsteine seiner Augen. Ach, diese Augen des großen Shiva! Ich betrachtete seine heilige Statue am liebsten von unten, zu seinen Füßen kauernd, ich belauerte die berückend weiche Linie seiner zum Auge zu zurückweichenden Wange und weidete mich an der heiteren Schönheit, die von seiner Schläfe ausstrahlte. Unter dem halbgesenkten Lide leuchtet der glühende Schimmer des Goldblattes über dem weißen Email des Auges, in dessen Mitte der ungeheuer große, funkelnde Edelstein der Iris schwimmt. Wenn die im Abendwinde leise wogenden Feigenbäume das Schattenspiel auf seinen Wangen in ein zartes Schmunzeln verwandelten, dann glaubte ich oft, sein großes Auge ruhe auf mir und sehe mich mit Wohlgefallen. Dann gehorchte ich sofort dem Gebieter über Leben und Tod und entkleidete mich … Soll ich es eingestehen, daß ich schon damals hoffte, schön zu sein? Ich glaubte auch, tanzen zu müssen und in dieser Stunde war es, da ich den Dämon in mir entdeckte, meine Kunst, die mich zwang – kann ich es heute noch begreifen? Unter den Augen der Gottheit! von den geheiligten Rhythmen abzugehen und einige Schritte zu wagen, profane Schritte, die mir nicht die Priester gelehrt hatten … Niemals werde ich vergessen, wie ich dann atemlos im Staube lag, des Blitzstrahles gewärtig, der die Schuldige treffen würde, mit blinder Sicherheit treffen mußte … Aber das alles war viel später.

Wie oft wurde ich gefragt, wie man diese Tänze erlernt! Ich antwortete, daß man ihrer inne wird, wie einer Religion: man versucht sich die Riten einzuprägen, man beobachtet die strengen, zeremoniellen Übungen und das Übrige muß man sich in der Hingabe an den Gott selbst holen …

Ja, auch die Traumzustände, in der wir schon als kleine Novizen durch Einatmen betäubender Dämpfe versetzt wurden, halfen, denn sie schufen in uns die Willenlosigkeit, die unser Lehrmeister brauchte, um den Körper der kindlichen Tänzerin zu meistern. Kaum ein paar Jahre alt, wurde ich mit zehn anderen Mädchen in das große unterirdische Gemach der Shivapagode gebracht, um den ersten Unterricht zu empfangen. Wohlgemerkt, es war kein Tanzunterricht im Sinne des Europäers, der es meist nicht erfaßt hat, daß der indische Tanz nichts anderes bedeutet, als eine Kette aneinandergereihter zeremonieller Gebärden, die im streng eingehaltenen Kanon wechseln. Wir wurden allmählich mit der tiefen blumenhaften Bedeutung der Zeichen bekannt, die die durch verschiedene Stellung der bizarr abgebogenen Finger entstehenden Gebärden versinnbildlichen sollten; wir mußten uns unaufhörlich die Sprache dieser seit Jahrtausenden geheiligten Gesten einprägen, um nur ja keinen Schnitzer zu machen, wenn wir vor der Statue des „Vollkommenen“ oder auch vor dem Thron des Regenten tanzen würden. Ein derartiger Fehler war ärger in den Augen der Gottheit, als der lächerlichste Akzent eines Tibetaners, eine einzige unrichtige Gebärde kreischte laut in den Ohren der eingeweihten Priester, gefährlicher dem Glauben, als wenn ein Taubstummer durch ein falsches Zeichen seiner Sprache ein folgendschweres Mißverständnis herbeiführt …

Es war immer einer der älteren Priester, der uns von rückwärts bei den Ellbogen hielt und mit vorgestrecktem Hals die wohlriechenden, aber berauschenden Dämpfe einatmen ließ, die uns vor dem Beginn der Übungen in den geeigneten Zustand versetzen sollten. Nun mußten wir die Bewegungen der bereits geweihten Tänzerinnen zu kopieren suchen, die sie uns maschinell und scheinbar ohne je zu ermüden, unaufhörlich vorzeigten. Mit schwerem Kopf, ach ja, aber mit heiligem Eifer ruderten wir Kleinen mit unseren mageren Ärmchen durch die Luft, mit täglich wachsendem Ehrgeiz. Der Nachmittag war Gesangsübungen gewidmet und man hielt uns an, dabei endlose Girlanden aus süßlich duftenden Jasminblüten zu winden, die zur Ausschmückung des Tempels verwendet wurden. Ich gedenke gerne dieser reinen Jahre, sie verrannen wie graue Perlen, ihre sanften Stunden hüpften leichtbeschwingt über die nur gedachten Grenzen, die die Monate aufrichteten. Aber dann kam das Jahr der Reife. Und ich, gerade ich wurde als „auserwähltes“ Geschöpf angesehen, das dem großen Shiva geweiht werden sollte. Oh, unbegreifliche Ehre – sicherlich verdankte ich sie dem unerschütterlich frommen Lebenswandel meines Vaters und den zarten Bitten, mit denen meine Mutter im Paradies der Lotosblumen zu meinen Gunsten alle einflußreichen Geister bestürmte!

Jetzt begann eine andere Art des Unterrichts. Ich mußte die Gesänge unserer heiligen Literatur studieren, die unzählgen Verse des Prem Sagar, deren Glut meine Sinne verwirrte, mich jedoch über vieles menschlich aufklärte. Ich gewann Einsicht in die Beziehungen der Geschlechter zueinander, und war erstaunt, wie anders diese Welt sich mir darstellte, wie unendlich die Zahl der Lüste sein konnte, die die Menschen beherrschen, diese aber noch lange nicht so zahlreich waren wie die Mittel und Wege, die sie sich erdachten, um ihrer Herr zu werden oder sie zu befriedigen … Ich drang in die roten Geheimnisse, die das Mysrerium des Körpers ausmachen, ich lernte die wahre Bedeutung jener seltsamen Zonen an ihm kennen, die mir vertraut, aber doch seit je so unheimlich waren, daß ich nur ganz heimlich eine scheue Berührung wagte, als wäre es nicht mein Körper, den ich betastete, sondern der eines Schläfers, und dessen Erwachen für mich furchtbar sein könnte. Ich las mit meinen Lehrern die Szenen Kalidasas und mußte aufhorchen, als man mir die Zartheit der Empfindung erklärte, die diese wie aus Mondstrahlen gewebten Dichtungen erfüllt. Ich lernte, ohne zu wissen wie es der Europäer benennt, alle psychologischen Feinheiten dieser Welt kennen, neben denen die Erzeugnisse der raffiniertesten Pariser Bühnenkunst wie plumpe Bauernstücke wirken. Ich lernte dort die Leidenschaften nach Duft und Farbe einteilen, sie in ein klares System stellen wie Pflanzen: Blau, so verkündete man mir, sei die Farbe der Liebe, Weiß die der Wonne, die Zärtlichkeit war rosenfarben, natürlich, der Mut des Helden aber Rot wie Blut … Ich lernte die Personen nach ihrer Kaste zu unterscheiden, jede sprach in diesen Schauspielen ihre eigene Sprache, wenn die eine Schicht die andere nicht verstand, mußte ein Dolmetsch vermitteln und die herrlichen Reden übersetzen. Oh, wie köstlich lang waren diese Akte! Und aus wie vielen solchen Teilen setzten sich meine Lieblingsstücke zusammen! Eines hatte zwanzig Akte und nichts an ihm gemahnte an die plebejische Hast, mit der eines dieser leeren Schauspiele europäischer Bühnen heruntergehaspelt wird. Später dann lernte ich das Wunderbarste des indischen Theaters kennen: die Darstellung. Sie erreichte einen Gipfel der Wahrheit, sie spielte nicht mehr, sie lebte auf der Bühne, die ihr zur Welt wurde. Die Liebenden liebten sich wirklich, sie liebten sich auf der offenen Szene, als wären sie allein in ihrem Schlafraum und die Zuschauer konnten die Glut und die Kraft des Liebhabers, die Künste der Geliebten ganz genau beurteilen. Und es wurde auch gehaßt, wie in der Wirklichkeit, bei Kämpfen floß wirkliches Blut. Ich verliebte mich für mein ganzes Leben in die Köstlichkeiten des Singhazan Battici, des Bakta Mal. Wir lernten, ohne zu bemerken, wie schwer die Materie eigentlich war, in die wir so unversehens eingeführt wurden.