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eISBN 978-3-947612-13-0

Copyright © 2018 mainbook Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Gerd Fischer

Covergestaltung und Illustrationsrechte: Lukas Hüttner

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Buch

Der Frankfurter Student der Zahnmedizin Adrian Palmström beginnt kurz nach der Jahrtausendwende eine externe Doktorarbeit am Franz Weidenreich-Institut für Anthropologie.

Sehr bald fällt ihm das extravagante und wissenschaftlich fragwürdige Verhalten des dortigen Chefs, Prof. Dr. Dr. Fritsch von Blücher, auf, der erst seit Kurzem im Besitz eines zweiten Doktortitels ist.

Palmström kommen Zweifel, ob es beim Erwerb dieses Titels beziehungsweise der hierfür vorgelegten Erstbeschreibung eines fossilen Halbaffen mit rechten Dingen zuging, zumal ihm von einem Institutsmitarbeiter und einem Gaststudenten entsprechende Vorbehalte übermittelt werden.

Während er immer tiefer in ein undurchsichtiges Geflecht aus akademischen Seilschaften, Betrügereien, Fälschungen und Feindschaften eindringt, merkt er nicht, wie er seine eigene, bislang makellose Laufbahn zu untergraben beginnt …

Davidson Blacks Universitätsroman beruht auf wahren Begebenheiten.

Davidson Black

Schädelfall

Ein Frankfurter Universitäts-Skandal

Roman

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Epilog

1

Wer ich bin? – Ich bin der C4-Professor der Anthropologie und Humangenetik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main!“

Adrian Palmström tat, als würde er den ebenso schrill wie belehrend klingenden Worten, welche aus dem Raum links von ihm an sein Ohr drangen, keine Beachtung schenken. Stattdessen nahm er die Bescheinigung entgegen, die die vollendet vogelscheuchenhafte, aber freundliche Vorzimmerdame ihm über den Tresen reichte, bedankte sich und trat wieder auf den Gang hinaus, um das Institut zu verlassen. Auch wenn er den Gesprächsfetzen, den er zufällig gerade mit angehört hatte, in einem nachgeordneten Bereich seines Kurzzeitgedächtnisses sogleich zu drehen und zu wenden begann, interessierte ihn momentan etwas anderes, nämlich eine der beiden professoralen Unterschriften, die den Genehmigungsbogen in seiner Hand zierten. Es war die von Professor Dr. Dr. Wägerich, der nicht nur der prominenteste Interessenvertreter der deutschen Zahnärzteschaft war, sondern vor allem der big boss der zahnmedizinischen Fakultät am Uni-Klinikum. Adrian spürte Erleichterung – bedeutete diese Signatur etwa, dass Wägerich ihm keine Scherereien bereiten wollte? Wahrscheinlicher war es wohl, dass der Namenszug en passant, aus einem permanenten professoralen Vielbeschäftigten-Modus heraus, seinen Weg auf die vom Unterzeichnenden gar nicht gelesene Bescheinigung gefunden hatte. Wie auch immer, alle von Adrian befürchteten Verzögerungen konnte man damit als hinfällig betrachten.

Die zweite Unterschrift bezeichnete jenen Professor, den er bislang noch nicht gesehen, aber dessen eigenartige Stimme er gerade aus dessen Dienstzimmer gehört hatte. Adrian durchquerte die Glastür, auf der in roten Blockbuchstaben Franz Weidenreich-Institut stand, ignorierte den Lift und ging die Treppen ins Erdgeschoss hinunter, während er dem abgeholten Formular einen geeigneten Platz in seinem Rucksack zuwies. Aus seinem Kurzzeitgedächtnis verlagerten sich die beiden soeben aufgeschnappten Sätze in den Vordergrund – ihr semantischer Gehalt ebenso wie die Stimmlage, in der sie ausgesprochen worden waren. Beides irritierte Adrian: zum einen, weil er die eigenartig hohe, vor Selbstbewusstsein nur so strotzende Stimme keinem passenden Menschentypus zuordnen konnte, zum anderen, weil die Aussage »ich bin der C4-Professor« ein bedeutungsleeres Element enthielt – Adrian wusste schlicht nicht, was »C4« bedeutete; er war sich sogar nicht einmal sicher, diesem gerade gehörten Phonem die richtigen Satzzeichen zuzuweisen. War das so richtig, wie er es sich in diesem Moment vorstellte – ein Buchstabe, eine Zahl? Oder würde ein Eingeweihter an dieser Stelle eine andere Zeichenfolge visualisieren – zum Beispiel viermal hintereinander den Buchstaben C? Er musste Jana fragen, die er gleich treffen wollte. Oder nein, halt – war ihm unten am Eingang, beim Betreten des Gebäudes, nicht auch schon irgendeine Abkürzung aufgefallen, mit der er nichts anzufangen gewusst hatte? Konnte die so belehrend intonierte Selbstbeschreibung vielleicht damit zusammenhängen?

Adrian blieb vor der Informationstafel im Erdgeschoss stehen, auf der sämtliche im Gebäude verteilten Institutionen, Personen und Raumnummern vermerkt waren. Was er las, und auch bei seiner Ankunft schon gelesen hatte, half ihm nicht weiter:

PROFESSOR DR. (UCLA/USA) A. A. A. FRITSCH VON BLÜCHER

Eben dieses »UCLA« hatte er nicht einordnen können. Ihm kam keine Idee, was das bedeuten konnte – ebenso wenig wie »C4«. Adrian grübelte eine Weile, dann gab er es auf und ging durch die große Flügeltür nach draußen in die Sonne. Er würde schnell genug lernen, was mit diesen Kürzeln gemeint war. Zum Dazulernen waren die vier Wochen schließlich gedacht, in denen er in diesem Gebäude, genauer gesagt oben im dritten Stock, als »Externer« die Datenerhebung seiner zahnmedizinischen Doktorarbeit angemeldet hatte.

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Jana Rixdorf bemerkte sofort das gelöst wirkende Lächeln auf Adrians Gesicht, als dieser sein Fahrrad abschloss und in ihre Richtung hinübersah. So hatte sie ihn schon eine ganze Weile nicht mehr erlebt – auf der Stelle fühlte sie sich entspannter, lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und schob ihre Sonnenbrille nach oben. Adrian zwängte sich auf seine typisch steife Art zwischen den rammelvoll besetzten Tischen der anderen Cafébesucher hindurch und setzte sich mit einem knappen „Hi“ zu Jana, die ihm die Karte zuschob.

„Und, Römer oder Merowinger?“, fragte sie.

„Römer“, antwortete Adrian aufgeräumt, ohne – auch dies leider typisch für ihn – den Blick von der Getränkekarte zu lassen.

„Offenbar zu Ihrer vollen Zufriedenheit, Herr Kandidat Palmström.“

„Wie? – Ja, natürlich. Moment noch.“

Sein irritiertes kurzes Aufblicken war nur das, worauf Jana gewartet hatte – denn auch wenn sie ihn schon seit Jahren kannte, konnte sie sich an seiner Irisfärbung einfach nicht sattsehen. Dieses besondere Blau kannte sie sonst nur von Flugreisen, vom Schweben über der Wolkenschicht. In der Schule hatte sie von einem philosophisch angehauchten Geschichtslehrer gelernt, das »Existieren« von »ek-sistere« abzuleiten sei, was wiederum so viel wie »heraus-ragen« bedeutet. Das passte gut zu Adrian, fand sie. Rein körperlich war er ziemlich unauffällig, lag von der Größe her eher unter dem Durchschnitt und hatte eine Statur, die sich geradezu in der Normalverteilung auflöste. Aber spätestens wenn man ihn von nahem ansah, lenkten seine fast platinblonden Haare und seine breite, gewölbte Stirn die Aufmerksamkeit des Betrachters unweigerlich auf seine Kopfregion. Und da musste sie dann auch bleiben, denn in seinen hellblau leuchtenden Augen schien seine ganze Existenz konzentriert – dieses intensive Stratosphärenblau überstrahlte den physischen Rest. Der Effekt war so stark, dass man Adrians routinemäßige Gegenmaßnahmen verstehen konnte: Er wirkte oft desinteressiert, vermied dann, einen direkt anzusehen, und hatte sich überdies einen recht müde wirkenden Standardblick mit zugekniffenen Lidern zugelegt. Falls das nicht reichte, griff er auch gerne zu Sonnenbrillen oder tief ins Gesicht gezogenen Caps; umso froher war Jana, dass er gerade nichts von alledem tat und sich ausgesprochen wohl zu fühlen schien. Adrian teilte der an den Tisch herangetretenen Kellnerin seine Bestellung mit, griff in eines seiner Rucksackfächer und legte die unterschriebene Genehmigung zur Aufnahme seiner zahnmedizinischen Dissertationsschrift auf den Tisch.

„Die Unterschrift war schon drauf. Wägerichs Sekretariat muss es so rübergeschickt haben. Bin ich froh, dass ich zu dem nicht mehr hindackeln muss.“

„Ist doch super.“ Jana runzelte die Stirn, als sie den Namen des zweiten Unterzeichnenden las. „Und dieser von Blücher? Wie ist der?“

„Ich hab den gar nicht zu Gesicht bekommen. Zuerst hat mich die Sekretärin zu ein paar Mitarbeitern reingeschickt, in ‘nen großen Raum mit so langen Reihen von Spülbecken, in dem sich die Knochenkisten bis zur Decke gestapelt haben. Einer von den Leuten da, ein netter Diplomand namens Jens, hatte mich schon erwartet – hat mir Kartons mit Schädel- beziehungsweise Kiefermaterial gezeigt und mich gefragt, ob mir die Römer oder die Merowinger lieber seien. Als das geklärt war, bin ich wieder zu der Vorzimmertussi, die hat mir gleich die Bescheinigung ausgehändigt, und das war’s.“

„Kein Termin mit dem Prof?“

„Nein, war gar kein Thema. Die Zahnmediziner kriegen einfach ihr Knochen- und Zahnmaterial, können messen und fotografieren, und wenn sie fertig sind, müssen sie nur bestätigen, dass sie eventuell entliehene Stücke zurückgebracht haben. Ganz easy. Ich mach morgen noch meinen Pflichtbesuch beim lieben Onkel, und sobald das Wochenende rum ist, hab ich vier Wo-chen Zeit für die Datenerhebung.“

„Hm. Dann war das wohl doch eine gute Wahl.“

„Klar. Alles, was mich auf Abstand von Wägerich hält, ist gut. Übrigens, ich hatte beim Weggehen noch ein komisches Erlebnis. Als ich im Sekretariat gerade die Genehmigung bekam, war aus dem Nebenzimmer die Stimme von dem Prof zu hören. Das klang echt ulkig, wie ein Beschwerde-Anruf. Ungefähr so: »Wissen Sie, wer ich bin? Ich bin der C4-Professor für Anthropologie in Frankfurt am Main!«.

Jana warf laut auflachend den Kopf zurück.

„Den Rest hab ich nicht mitbekommen, ich bin natürlich so-fort rausgegangen“, ergänzte Adrian. „Aber sag mal – was genau meint der Typ mit »C4-Professor«?“

„Das ist seine Gehaltsstufe“, antwortete Jana. „C4 ist die höchste, die es für Professoren gibt. Absolut peinlich, das so raushängen zu lassen.“

„Okay“, murmelte Adrian stirnrunzelnd. „War mir nicht klar. Egal. Und bei dir und Paul geht’s nun auch bald los?“

„Ja, auch nächste Woche. Die Chaotengruppe vor uns ist immer noch am machen – haben schon wieder eine Serie vermasselt und müssen ihren letzten Durchgang wiederholen. Aber sobald die fertig sind, übernehmen wir den Raum.“

„Na also. Dann ist für uns drei ja alles wieder in der Spur.“

Adrian nahm sein Getränk von der Kellnerin entgegen, stieß mit Jana auf erfolgreiches Promovieren an und gab ihr das, was sie schon seit langem als sein Aufmerksamkeitsmaximum kannte: einen stratosphärenblauen Blick, in dem Müdigkeit ebenso fehlte wie jegliches Aufscheinen von Hintergedanken.

2

Es war schon deutlich nach elf Uhr morgens, als Hany Bouhired den Gebäudetrakt am Ende der Siesmayerstraße betrat und im bereitstehenden Lift den Knopf für den dritten Stock betätigte. Seine Arbeitsdisziplin hatte im Verlauf der letzten Tage deutlich nachgelassen, aber als Gastforscher genoss er alle Freiheiten, und außerdem durfte er mit dem, was er in den vergangenen Wochen geschafft hatte, durchaus zufrieden sein. Die letzte Version seines Artikels über den Vergleich nordafrikanischer und europäischer Halbaffenfossilien war praktisch fertig; er hatte ihn vorgestern an seinen Mentor und Mitautoren Arnaud Vergès, Professor für Paläontologie an der Universität Bordeaux, abgeschickt. Nun hatte er endlich Zeit, sich den interessanten nordamerikanischen Primatenfossilien zu widmen, von denen das gastgebende Institut eine ganze Reihe von Abgussmaterial besaß, und die Hany im Gegensatz zum afrikanischen und europäischen Fundmaterial viel weniger vertraut waren. Er verließ den Lift, durchschritt die Glastür mit der Aufschrift Franz Weidenreich-Institut und begrüßte Jens Bischwiller, der ihm gerade auf dem langen zentralen Gang entgegenkam, mit Handschlag – Jens war während Hanys nunmehr ablaufender Aufenthaltszeit zur für ihn wichtigste Bezugsperson geworden. Dann betrat er den großen Raum, in dem er mit anderen Studenten, Diplomanden und Doktoranden seinen Arbeitsplatz hatte, fuhr seinen Rechner hoch und erbat im schräg gegenüber liegenden Sekretariat den Schlüssel für die Vitrinen mit den Gipsabgüssen.

Aus den Glasschränken, in einem seitwärts versetzten Nebenraum, entnahm Hany drei kleine Pappschachteln mit Abgussmaterial, die mit »Palaechthon nacimiento (Torrejon, N. A.)«, »Macrotarsius montanus (Cold Springs, N. A.)« sowie »Purgatorius ceratops (Harbicht Hill, N. A.)« beschriftet waren, trug diese zu seinem Tisch und setzte sich. Das letztgenannte Exemplar interessierte ihn am meisten, aber bevor er es näher betrachtete, kam Hany ins Sinnieren und merkte bald, dass ihm der Gattungs- sowie der Artname des Exemplares im Kopf herumgingen. Als Paläontologe konnte er mit dem Artnamen ceratops etwas anfangen – schließlich kannte so ziemlich jedes Kind auf der Welt Triceratops, den Dreihorn-Saurier. Aber die Bedeutung des Gattungsnamens Purgatorius war ihm nicht klar, und so recherchierte er darüber erst mal im Internet. Er war amüsiert, als er schließlich die Bedeutung fand: „Purgatorium“ war in manchen christlichen Glaubensvorstellungen ein reinigendes Feuer, durch das menschliche Seelen hindurchgehen mussten, um in den Himmel zu gelangen. Offenbar hatten die Beschreiber des Tieres das große Massenaussterben am Ende der Kreidezeit vor Augen gehabt, welches oft mit einem Asteroideneinschlag und starker vulkanischer Aktivität in Verbindung gebracht worden war – also einem Flammentod für unzählige Lebewesen. Purgatorius hingegen war ein kleines Säugetier, das während dieses Massensterbens nicht ausgelöscht, sondern im Gegenteil hier erst die Bühne der Evolution betreten hatte, also vor etwa 65 Millionen Jahren – es war sozusagen durch das reinigende Feuer hindurch gegangen und hatte sich zu höheren Säugetierformen weiterentwickelt. Der Gedanke daran ließ Hany in nachdenkliche Träumereien verfallen, denn theoretisch bestand die Möglichkeit, dass die gesamte heutige Menschheit nicht existieren würde, wenn bestimmte kleine Säugerarten wie Purgatorius beim so verheerenden kreidezeitlichen Massenaussterben keine Wege gefunden hätten, irgendwie durchzukommen und zu überleben.

Der laute Klingelton seines Handys und das darüber entstehende, kollektive Amüsement der anderen im Raum tätigen Knochen- und Zahn-Erkunder riss ihn fast vom Stuhl.

„Eindeutig ein algerisches Handy“, bemerkte sein Sitznachbar Jens trocken, während Hany unter einer neuen Welle von Heiterkeit seine Jackentaschen durchwühlte. Bei den sehnsuchtsvollen maurischen Klängen, die sein Mobiltelefon aussandte, handelte es sich mitnichten um das Werk nordafrikanischer Musiker, sondern um das zweier Briten Namens Coleman und Dudley, über die Hany weiter nichts wusste – das Stück hieß In a timeless place; er hatte während seines vorangegangenen Gastforscher-Aufenthaltes in London gefallen daran gefunden und es als Klingelton gebucht. Aber angerufen worden war er in dieser ganzen langen Zeit kein einziges Mal, und spätestens als er im Display sah, dass der eingehende Call von seinem Bruder Mahdi kam, fühlte er eine seltsame Angst in sich aufsteigen – wenn Mahdi ihn aus Paris anrief, statt eine Mail oder SMS zu schicken, dann musste es äußerst dringend sein. Instinktiv behielt Hany seine Jacke unter dem Arm, als er den Raum verließ und gang-abwärts Richtung Treppenhaus eilte.

Dort angekommen, atmete er tief durch. Das da am anderen Ende der Verbindung war nicht sein kleiner Bruder in Not, sondern sein kleiner Bruder in Hochform. Ein grelles Sprachbild nach dem anderen hervorbringend und ständig von Ironie zu Selbstironie wechselnd entfaltete er seine Story, seine Überraschung, seine breaking news. Irgendwann musste Hany sich am Treppengeländer festhalten, weil ihm alles zu viel wurde.

„Moment, Bruder, jetzt warte mal. Die Einzelheiten kannst du mir immer noch erzählen, das wird sonst viel zu teuer. Sag mir einfach nur: bist du sicher, absolut sicher?

Er hätte sich die Nachfrage sparen können, denn Mahdi hatte diesen Punkt gleich zu Beginn seines Berichtes gewürdigt. Aber Hany wurde, während sein Bruder eine Salve betont blumiger Beteuerungen und provokativer Gegenfragen auf ihn losließ, immer schwindeliger zumute, denn vor ihm tat sich langsam das eigentliche Problem auf, um das es hier ging – ein komplexes Problem, für welches keine einfache Lösung in Sicht war.

„Okay, stopstopstop Mahdi, ist schon gut, ich glaub dir ja. Ich muss das Arnaud erzählen – ich hab ihm dummerweise vorgestern schon mein Manuskript geschickt. Ich muss ihn irgendwie dazu bringen, den Text nochmal zu ändern. Gut dass du angerufen hast – vorerst nichts Schriftliches darüber, hörst du? Ich gebe dir Bescheid, sobald ich eine Reaktion von Arnaud habe. – Danke, du bist wirklich fantastisch. Alles Gute, mein Lieber. Alles Gute.“

Die Verbindung brach ab, und Hany merkte, dass er immer noch nicht begreifen konnte, was er gerade gehört hatte. Er schaute sich um, auf die Glastür mit der Aufschrift Franz Weidenreich-Institut. Dann steckte er sein Handy ein, zog seine Jacke an und ging eilig die Treppen hinab. Er war so durcheinander, dass er zunächst nicht zu den anderen in den Arbeitsraum zurückkehren wollte. – Außerdem, war es nicht schon fast zwölf? Gutes Timing für eine kleine Mittagspause.

Unten angekommen entschied Hany sich für eine Route, die er bisher noch nie genommen hatte. Er wollte die Siesmayerstraße vermeiden, um dort nicht den anderen über den Weg zu laufen, sobald diese ihrerseits die Mittagspause antraten. Stattdessen verließ er das Institutsgelände in entgegengesetzter Richtung, den kurzen Streckenabschnitt entlang der Umzäunung des Palmengartens hoch zur Miquelallee nehmend, wo die Fußgängerampel prompt auf Grün schaltete und ihn einlud, einfach weiter geradeaus in die Ditmarstraße hineinzugehen. Er merkte kaum, was er tat, da er bereits im Treppenhaus damit begonnen hatte, im Kopf alle möglichen Formulierungen durchzuspielen, mit denen er Arnaud eine nachträgliche Änderung des gemeinsamen Manuskripts, vor allem aber der verdammten Stammbaumgrafik, überzeugend verkaufen konnte. Mindestens zwei Schwierigkeiten waren hierbei zu lösen: Erstens war Arnaud Vergès ein Fachmann, der sich bestimmt nicht leicht bluffen ließ, und zweitens war er für Hany eine Art Vaterfigur – nicht nur für ihn, sondern auch für seinen Bruder Mahdi. Die Sache war, je mehr man sie durchdachte, außerordentlich verzwickt; es war unvorhersagbar, ob er überhaupt noch irgendeine Kontrolle über die Situation hatte.

An der Kreuzung Am Leonhardsbrunn stehend fiel Hany zum ersten Mal auf, dass er sich in einer Art Villenviertel befand. Niemand war zu sehen, keine Autos fuhren; ohne die Verkehrsgeräusche der hinter ihm liegenden Miquelallee wäre es totenstill gewesen – fast wie in einer Kulissenwelt. Irritiert drehte Hany sich um und sah zurück Richtung Palmengarten und Institutsgebäude, dahin, wo er eben noch vor seinen nordamerikanischen Abgüssen gesessen hatte, bevor Mahdis Anruf seine morphologisch-fachliche Fokussierung so nachhaltig pulverisierte.

Alles wirkte auf einmal ganz unwirklich. Er konnte nicht glauben, dass er hier stand, in Europa, in Deutschland – er hatte keine Ahnung, wie sich all das für ihn ergeben hatte. Es war einfach passiert. Kindheitserinnerungen standen plötzlich vor seinem inneren Auge, und Hany musste unwillkürlich lächeln, als ihm klar wurde, wann er zum ersten Mal in seinem Leben von Deutschland gehört hatte: im Sommer 1982. Sechs Jahre alt war er damals gewesen. Es war die Zeit, als das erste Gruppenspiel der Fußball-Weltmeisterschaft heranrückte und die Spannung schon Wochen vorher mit Händen greifbar schien. Alle redeten nur über diesen Auftakt, Algerien gegen Deutschland. Gegen die seit Ewigkeiten unbesiegten Deutschen sei nichts zu machen, lernte Hany – er hatte nicht die geringste Vorstellung darüber, was das für ein Land war, wo es lag oder warum seine Bewohner so gut Fußball spielen konnten. Aber alle, die sich in dieser Hinsicht auskannten, ließen ihn unmissverständlich wissen, dass es bei dieser ersten Begegnung nur darum ging, nicht all zu hoch zu verlieren. Danach dann würde es in den beiden anderen Spielen gegen die als eher mittelmäßig geltenden Mannschaften aus Österreich und Chile darauf ankommen, die benötigten Punkte fürs Weiterkommen zu holen.

Was mit dem Anpfiff dieses Spiels heraufzog, waren völlig verrückte sechs Tage, die ihn – so schlussfolgerte er jetzt mit bitterem Lächeln – eigentlich recht gut auf sein weiteres Leben eingestellt hatten. Die Welt kippte mehrfach hintereinander vom Kopf auf die Füße, nichts war so, wie es schien, es gab keine Sicherheiten, keine Autorität von Kennern und Experten mehr. Das Auftaktmatch war bis heute eine der schönsten Erinnerungen seines Lebens, denn das Wunder, von dem er in der Nacht davor heimlich geträumt hatte, wurde Wirklichkeit. Nicht nur, dass die immer mutiger werdenden Algerier bis zu 54. Minute das Null zu Null hielten, nein, Nationalheld Madjer schoss dann sogar das erste Tor. Alles explodierte in ungehemmter Begeisterung – so etwas hatte er noch nie erlebt. Es war zu unglaublich, um wahr zu sein, und deshalb hatte es beinahe etwas naturgesetzliches, als in der 67. Minute das 1:1 fiel – das Universum schien seine angestammte Ordnung zurück zu erlangen. Aber nur dreiundzwanzig Sekunden später krachte es erneut auseinander, und diesmal endgültig: Belloumi traf zum 2:1 für Algerien, und die Mannschaft brachte dieses sensationelle Resultat irgendwie über die Zeit. Was beim Schlusspfiff los war, konnte man nicht in Worte fassen, und Hany sah Dinge, die er beim besten Willen nicht einordnen konnte – jüngere Männer, die mit von irgendwoher hervorgeholten Gewehren Freudensalven in die Luft schossen, und respektable ältere Erwachsene, die vor Glück hemmungslos weinten. Sämtliche Menschen um ihn herum schienen wie auf Flügeln zu schweben, und Hany schwebte mit – tagelang war er wie elektrisiert.

Alles schien jetzt möglich. Wer Deutschland schlug, der konnte auch Weltmeister werden. Aber im zweiten Spiel wurde die enorme neue Erwartungshaltung sofort ad absurdum geführt, denn Österreich gewann völlig verdient mit 2:0. Für das dritte Spiel gegen Chile war nach diesem widersinnigen Hin und Her keine Voraussage möglich, und entsprechend verlief es dann auch: Algerien startete furios und zog in der ersten Halbzeit mit 3:0 davon, die Stimmung kochte ähnlich über wie im Deutschland-Spiel. Aber in der zweiten Halbzeit kam Chile rasch auf 3:2 heran, und die letzten dreißig Minuten wurden ein grausames Zittern, bevor endlich Schluss war. Beim Abpfiff glaubten alle, es sei vollbracht: Zwei Siege aus drei Spielen, damit musste man doch weiterkommen?

Nein. Die Sache wurde ein Präzedenzfall für die Ewigkeit, denn dies war die letzte WM der Geschichte, in der die finalen Gruppenspiele nicht zeitgleich stattfanden. Deutsche und Österreicher, die später als Algerien und Chile antreten mussten, konnten sich das für beide Seiten benötigte 1:0 vorher ausrechnen und schoben sich, nachdem das Pflichttor gefallen war, den Ball in einem achtzigminütigen Nichtangriffspakt nur noch zu – das Dauerpfeifkonzert der empörten Stadionbesucher schamlos ignorierend. Das war’s. Was so wundervoll begonnen hatte, endete in einer großen Farce, einer abgrundtiefen Enttäuschung.

Dieses schmerzhafte Gefühl führte Hany zurück in die Gegenwart. Seine spontanen Erinnerungen passten wirklich gut. Es ging um ein falsches Spiel – nur mit dem Unterschied, dass er diesmal Bescheid wusste und keinesfalls zu den Betrogenen gehören wollte.

3

„Bei einem Anthropologen?“

Onkel Willy hatte sich verwundert umgedreht und sah Adrian mit missbilligend zusammengezogenen Brauen an.

„Ja“, erwiderte sein Neffe, der bereits am Kaffeetisch Platz genommen hatte. „Ich denke, Paläoanthropologe wäre die genauere Bezeichnung. Da liegt wohl der Schwerpunkt an seinem Institut. Ist jedenfalls nach einem Forscher benannt, der einst in China den Homo erectus untersucht hat: »Franz Weidenreich-Institut«.“

„Warum machst du deine Doktorarbeit nicht bei einem Zahnmediziner? Und was sagt dein Vater dazu?“

Onkel Willy hatte sich wieder dem Schrank mit dem teuren Kaffeeservice zugewandt und fuhr fort, Tassen und anderes Geschirr hervorzuholen. Adrian fühlte Ärger in sich aufsteigen und hätte beinahe genervt den Kopf geschüttelt, aber er ließ es bleiben, denn möglicherweise war er ja in irgendeinem Spiegelbild sichtbar – sei es im Glas des Geschirrschrankes, für das sein Onkel immer das seltsame Wort „Durchsicht“ gebrauchte, oder in den blankgeputzten Silbertellern, die darin aufgereiht waren. Dafür, dass er seinem Ärger kein mimisch-gestisches Ventil verschaffen konnte, erlaubte er sich, eine gewisse Schärfe in seine Antwort zu legen:

„Onkel Willy, jetzt mal ehrlich: Wenn man in unserem so geliebten Familienstudium irgendwo gewisse künstlerische Freiheiten hat, dann bei der Doktorarbeit, oder? Du hättest die Anthropologen mal sehen sollen – die lachen über das, was wir Zahnmediziner machen. In vier Wochen die Datenerhebung für die gesamte Dissertation, das ist für die ein Scherz. Die Biologiestudenten planen Jahre für ihre Doktorarbeit ein.“

„Ich hoffe, du lässt dir auf diese Weise nicht suggerieren, dass deine Berufung weniger wert sei als die ihre“, antwortete sein Onkel in Verteidigung der gemeinsamen Zunft, während er Adrian eine Tasse zuschob und Kaffee eingoss. „Das Medizinstudium ist sehr viel anspruchsvoller als das Biologiestudium, und nach dem Erwerb der nötigen Kenntnisse geht es darum, so schnell wie möglich für die Patienten da zu sein. Deshalb ist es höchst sinnvoll – und hat nichts mit geringerer Leistung zu tun! – dass die Struktur der letzten Qualifikationsschrift auf einen vergleichsweise kurzen Zeitraum berechnet ist.“

„Natürlich“, nickte Adrian. „Und genau das meine ich ja: Nur in diesem kurzen Zeitraum hat man endlich mal thematische Freiheiten. Vom Wissen her sind wir nach den Abschlussprüfungen auf einem sehr einheitlichen Stand, das muss so sein als Mediziner. Aber dieses Standardwissen in einem ungewöhnlichen Kontext anzubringen, bevor es in die Berufsroutine geht – die Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen. Ungefähr fünf bis zehn Prozent der Zahnmediziner fertigen an anderen Orten als dem Klinikum ihre Doktorarbeit an. Ich hab sofort zugegriffen, als die Rede von diesem Anthropologischen Institut war. Wahrscheinlich würden es noch viel mehr machen, wenn medizinische und biologische Institute nicht so weit voneinander entfernt lägen. Aber aus purer Bequemlichkeit am Klinikum zu bleiben, nur weil man da alles schon kennt und weiß, wo welche Labore und Geräte stehen oder was für Macken die Betreuer haben – das ist für mich nun wirklich kein Argument. Und übrigens, Papa stört das gar nicht. Der ärgert sich eher darüber, dass ich immer noch nicht klar gesagt habe, wo ich praktizieren will.“

„Ist mir bekannt – er hat sich bei mir schon beklagt“, bekam Adrian wie zur Bestätigung seiner vorangegangenen Gefühlsaufwallung zu hören. „Und, hast du wenigstens eine Präferenz? Urbaner oder ländlicher Raum?“

„Ich weiß es wirklich nicht. Zwei meiner besten Freunde haben sich auch noch nicht festgelegt. Ich würd gern in ihrer Nähe bleiben, wenn’s geht.“

„Das klingt, als sei mindestens eine der beiden besten Freunde eine Frau“, lächelte Willy versonnen.

„So ist es“, antwortete Adrian mit der sanftmütigsten Stimme, die er gerade hinbekam. Sein Onkel war seit zwei Jahren Witwer, also ging es bei diesem Thema darum, positiv zu bleiben. Dass sein Verhältnis zu Jana etwas komplizierter war, als es gerade anklang, war jetzt nicht von Belang.

„Es ist seltsam“, murmelte Willy zwischen zwei Schlucken Kaffee und nach einigem Sinnieren. „Als du Anthropologe gesagt hast … ja … und vor allem, Anthropologe in Frankfurt! Jetzt fällt’s mir wieder ein. Ich war vor zwanzig Jahren mit Rita im Tennisverein, da spielte eine Dame, deren Namen ich leider vergessen habe. Es hieß, sie sei Ingenieurin, aber vielleicht war es irgendetwas Spezielleres. Jedenfalls war sie bald darauf weg, um in der Schweiz Karriere zu machen – bei SIPUNC.“

„Mit SIPUNC-Bohrspitzen hab ich mein halbes Studium verbracht“, antwortete Adrian.

„Das Unternehmen war damals noch nicht so groß, kein Vergleich zu heute. Galt aber damals schon als äußerst innovativ und aufstrebend. Jedenfalls, was ich sagen wollte: Die Frau hatte, bevor sie die Uni verließ, gewaltigen Ärger mit einem Professor. Kein Zahnmediziner, das weiß ich genau. Sondern mit einem aus dem biologischen Fachbereich – mit einem Anthropologen.“

„Was denn für einen Ärger?“

„Ich hab das nicht von ihr direkt erfahren. Rita und ich kannten sie nur von ganz wenig Smalltalk, dann war sie schon nicht mehr im Verein. Vielleicht war übertriebenes Gerede dabei, bei dem, was mir dann später zu Ohren gekommen ist. Jedenfalls ging es um die Bearbeitung von fossilen Knochen mit sehr feinen Bohrspitzen, auf dem damals technisch neuesten Stand. Mit dem abgebohrten Material sollte man Alter oder Fundlage der Knochen bestimmen, oder beides, ich weiß es nicht mehr. Der Witz war jedenfalls, dass sie an dem betreffenden Institut eine höchst anspruchsvolle Apparatur aufgebaut hatte, ihre Arbeit daran aber aus Sicherheitsgründen für längere Zeit unterbrechen musste, weil die Bruchfestigkeit der verwendeten Spitzen noch nicht ausreichend erprobt war. Genau, es ging um spezielle Inkrustationen der Knochenoberfläche – bombenharte mineralische Beläge, in denen irgendwelche Mikrofossilien eingeschlossen waren, die beim Abbohren nach Möglichkeit nicht zerstört werden durften. Jedenfalls war die ganze Installation eine Zeit lang technisch deaktiviert, und angeblich wusste nur sie, wie man sie wieder zum Laufen bringt. Später hat sie dann aber erfahren, dass in mehreren Publikationen dieses Professors behauptet wurde, es seien Bohrungen plus Analysen der abgelösten Beläge mit ihrer Apparatur vorgenommen worden – also in dem Zeitfenster, in dem das Gerät gar nicht einsatzfähig war. Das hat sie dann wohl irgendjemandem in der höheren Universitätshierarchie gemeldet, als Verdacht auf wissenschaftliches Fehlverhalten.“

„»Verdacht« klingt aber etwas dünn, oder?“

„Es hatte wohl mehr den Charakter einer Schlammschlacht. Hörte sich irgendwie so an, als ob sie erst mal alles zusammengetragen hätte, was sich sonst noch finden ließ – unter anderem, dass besagter Professor Ergebnisse bei anderen Forschern einfach abschreiben und als eigene ausgeben würde. In der Kombination waren das jedenfalls sehr schwere Vorwürfe – mögliche Datenfälschung plus Plagiarismus, das überschreitet natürlich jede Grenze.“

„Und was ist draus geworden?“

„Nichts, soweit ich weiß. Der Tenor war, dass sie aus Enttäuschung dem Unibetrieb den Rücken gekehrt habe und in die freie Wirtschaft gegangen sei. Von einer Entlassung oder Sanktionierung dieses Professors war jedenfalls nicht die Rede. – Wie heißt denn dieser Anthropologe, bei dem du gelandet bist? Wenn ich den Namen höre, fällt‘s mir vielleicht wieder ein.“

„Professor von Blücher.“

„Nein, auf keinen Fall.“ Onkel Willy schüttelte entschieden den Kopf. „Nein, dann kannst du beruhigt sein, der war es nicht. Den Namen hätte ich mir weiß Gott gemerkt.“

„Warum?“

„Adrian, ich bitte dich! Von Blücher, eine unserer ganz großen geschichtlichen Figuren! Die napoleonischen Kriege haben mich als Schüler ungeheuer fasziniert – an die Epoche kam für mich vorher und nachher nichts heran, so spannend fand ich die. Da habe ich zum ersten Mal verstanden, was Idealismus bedeutet. Häufig wird das ja sehr individuell ausgelegt. Aber streng genommen geht es um allgemeine höhere Ideen, für die jeder Einzelne bereit sein muss, sein Leben zu geben. Die Opferzahlen damals waren ja geradezu maßlos … Völkerschlacht bei Leipzig zum Beispiel, ach … aber alle hatten diese Idee des Fortschritts vor Augen, für die zu sterben sich lohnte – erst die Franzosen, weshalb sie so motiviert und erfolgreich kämpften, dann auch die Deutschen. Idealismus, das bezeichnet, wenn man es in diesem Zusammenhang durchdenkt, eine Stufenleiter von Ideen, von unten nach oben. Die jungen Männer damals waren sozusagen bereit, für eine der mittleren Stufen zu sterben, damit nachfolgende Menschengenerationen dann für die nächsthöhere kämpfen können, und so weiter. Weil sie fest daran geglaubt haben, dass es am Ende diese letzte, oberste Stufe gibt – das von Gott gewollte Ziel der Geschichte, bei dessen Erreichen die Menschheit so tief geläutert und gerecht organisiert ist, dass es nie wieder Krieg und Elend geben wird.“

„So hab ich das nie gesehen … Die späteren Kriege standen aber nicht mehr in diesem Geist, oder?“

„Nun, man hat wohl immer wieder versucht, diesen Geist heraufzubeschwören. Aber angesichts der schrecklichen Opferzahlen will man natürlich auch irgendwann mal greifbare Fortschritte erleben, und die blieben spürbar aus. Der Geist der Restauration nach den napoleonischen Kriegen war ein Tiefschlag für wahrhaft idealistisch empfindende Menschen. Nein, ich denke es war nie wieder so stark wie damals. Die Kriege blieben, aber die Stufenleiter, die war weg. Oder anders gesagt – ja, ich glaube, das ist ein gutes Bild, das mir gerade einfällt: Die Stufenleiter erwies sich als in sich zurückgebogen – sprich, als ein Hamsterrad. Ein sinnloser Krieg nach dem anderen, aber kein höheres Ziel mehr. – Schau dir jetzt den Angriff auf den Irak an, eine furchtbare Schande. Unterstützt von Ländern, die vorgeben, für Demokratie und Fortschrittlichkeit zu stehen – wer glaubt denen das?“

„Ich bestimmt nicht“, bestätigte Adrian grimmig.

„Ich auch nicht – nein, wie könnte man auch. Keiner würde das heutzutage glauben. Sogar die, die sich für solche Eroberungskriege positionieren, wissen um die Lügen – nehmen sie aber aus diesen oder jenen Gründen billigend in Kauf, aus Gier, aus Hass auf andere Nationen und Kulturen, warum auch immer. Da waren die Franzosen unter Napoleon oder die Deutschen zu Zeiten der Fürstentümer ganz anders. Ich glaube, wir können uns heute gar nicht mehr vorstellen, was die tief in ihrem Innersten empfunden haben müssen. Die meisten werden den Krieg ja aus tiefster Seele verabscheut haben, verstehst du – er ist schließlich das, was überwunden werden sollte, für immer. Aber trotzdem sahen sie sich gezwungen, an einem beispiellosen Kriegsgeschehen teilzunehmen: alles für die Idee des ewigen Friedens. – Ja, an so etwas, an diese ganze geschichtliche Tragik muss ich stets denken, wenn ich einen Namen wie »von Blücher« höre.“

„Seltsam“, sinnierte Adrian. „Ich bin mir sicher, dass wir in der Schule immer nur »Blücher« gesagt haben, nicht »von Blücher«. Ich sehe es geradezu gedruckt vor mir: »Der Herzog von Wellington und Feldmarschall Blücher besiegen Napoleon in der Schlacht bei Waterloo«.“

„Kann gut sein, das glaube ich dir gerne – der Adel wird hierzulande ja nicht mehr sonderlich geschätzt“, lachte Onkel Willy. „Nein, ganz sicher: der Mann war ein von Blücher. Kennst du den Satz nicht: »Der Rittmeister von Blücher kann sich zum Teufel scheren«?“

„Nein – von wem ist der?“

„Von niemand geringerem als Friedrich dem Großen! Bevor von Blücher später ein Kriegsheld wurde, ist er nämlich in hohem Bogen aus der Armee geflogen.“

„Wieso das?“

„Nun, er hatte sich gegenüber seinem obersten Dienstherren respektlos verhalten. Er konnte erst in die Armee zurückkehren, nachdem Friedrich gestorben war – der kannte in der Angelegenheit kein Pardon.“

Adrian kratzte sich am Kopf. Mit einem unguten Gefühl im Bauch fiel ihm wieder ein, was er weder seinen Eltern noch seinem Onkel erzählt hatte – die wahren Gründe, warum er nicht am Uni-Klinikum promovieren wollte und stattdessen an das Anthropologische Institut in der Siesmayerstraße ausgewichen war.

4

„Er ist völlig ausgerastet“, sagte Jana matt.

„Adrian ausgerastet? Wie soll ich mir das denn bitte vorstellen?“ lachte die Stimme ihrer besten Freundin Yvette, genannt Yvi, am anderen Ende der Leitung. Yvi hatte Zahnmedizin nach zwei Semestern abgebrochen, und Jana hatte sie erst kurz danach im gemeinsamen Tennisverein richtig kennengelernt.

„Du sagst es, Yvi“, erwiderte Jana. „Ich hätte das so auch niemals erwartet. Vor allem nicht einem Großkopferten wie Wägerich gegenüber.“

„Wägerich, echt? – Jetzt erzähl schon, was passiert ist.“

„Ich sollte mit Paul zusammen den Raum beziehen, in dem dieser neue Rechner und die 3D-Modelliereinheit für Zahnersatz stehen. Die Zweiergruppe vor uns hatte ja schon seit Wochen überzogen, weil sie mit dem Programm immer wieder Fehler gemacht haben und ihre Reihen x-mal wiederholen mussten. Paul und ich sollten an dem Morgen eigentlich neue Komponenten für Modelliermassen aus dem Labor holen und in dem Raum deponieren, damit wir für unsere eigenen Versuchsreihen alles am Ort haben und demnächst loslegen können. Aber dann hat Paul mich angerufen, dass er krank ist, und so habe ich Adrian gefragt, ob er Zeit hat mir zu helfen. Wir haben also zu zweit das ganze Zeug rübergetragen; ein Assistent hat uns den Raum aufgeschlossen und das Computerprogramm gestartet, um es uns zu erklären. Ich habe ihm aber gesagt, dass Adrian nicht zum Promotionsteam gehört und dass es besser wäre, wenn man uns die Bedienung zeigen könnte, sobald Paul wieder gesund ist. Er war natürlich einverstanden und wollte den Rechner schon wieder herunterfahren, aber Adrian hat ihn gebeten, ihn anzulassen, damit er sich selbst noch ein wenig mit dem Modellierprogramm beschäftigen kann. Jedenfalls war der Assistent irgendwann weg, Adrian hat am Rechner gesessen und rumgeklickt, und ich war damit beschäftigt, die verschiedenen Modelliermassen in den richtigen Schubladen unterzubringen. Und da ist es dann passiert.“

„Was denn?“

„Eigentlich eine totale Slapsticknummer. Wägerich ist vorbeigekommen, hat uns beide in dem Raum gesehen und gedacht, wir wären die beiden Planlosen, die seit Wochen so viele Fehler gemacht und Unmengen Material verschwendet hätten. Er stand plötzlich in der Tür und hat auf Adrian eingeschimpft – du weißt ja, einer seiner typischen Alphamännchen-Auftritte. Jedenfalls …“

Jana unterbrach sich, da sie Yvi laut auflachen hörte.

„Er hat Adrian mit einer anderen Person verwechselt?“, fragte ihre Freundin ungläubig.

„Adrian hatte ein Cap auf, vielleicht lag’s daran“, antwortete Jana. „Aber Wägerich war sowieso länger im Ausland, ich glaube, er wusste gar nicht, wer genau vor uns in dem Raum gearbeitet hat. Er muss an dem Morgen irgendwas über Materialverschwendung am Modellierer erfahren haben, ist kochend vor Wut vorbeigekommen, und bevor Adrian und ich noch wussten, wie uns geschieht, war’s auch schon zu spät. Dabei wäre die Situation ganz einfach zu lösen gewesen, wenn wir ihm sofort erklärt hätten, dass es sich um eine Verwechslung handelt, aber dummerweise habe ich gerade in einer Ecke des Raumes vor einer Schublade gekniet, als das Gezeter losging. Deshalb hat Adrian geantwortet – aber leider nicht so, wie es ein vernünftiger Mensch tun sollte.“

Yvi prustete los, obwohl Jana die Details erst noch zu liefern hatte.

„Ich weiß, das klingt alles komisch – war es in dem Moment aber gar nicht. Adrian war am Anfang wohl genau so erschrocken wie ich über das plötzliche Gemecker, aber dann hat er wie aus dem Nichts volles Programm zurückgekartet. Hat Wägerich glatt ein »Sind Sie endlich fertig? Ich kann Ihre dumme Wichtigtuerei nicht mehr ertragen!« vor den Latz geknallt.“

„Oh nein!“, entfuhr es Yvette.

„Wägerich war natürlich perplex. Dann hat er irgendwie ein »Was haben Sie da gerade gesagt?« vom Stapel gelassen, ein ziemlich Drohendes natürlich, aber Adrian hat nur »Die Wahrheit, Herr Professor« geantwortet, sich von ihm weggedreht und den Rechner heruntergefahren. Und dann ging’s erst richtig los. Ich selber war so erschrocken über Adrians Verhalten, dass ich wie gelähmt war und nichts sagen konnte.“

„Oh weh – und was ist dann passiert?“

„Wägerich hat geschrien, dass Adrian sich sofort wieder zu ihm umdrehen soll, dass sein Verhalten Folgen haben werde und er »hier nicht promovieren« kann. Adrian hat ungebremst zurückgeschrien »Begreifen Sie endlich, dass ich hier gar nicht promovieren will!« – und dann kam noch irgendetwas mit »bestimmt nicht bei jemandem, der öffentlich behauptet, dass soundso«, den Teil habe ich leider akustisch nicht mitbekommen. Er hat das Wägerich aus nächster Nähe ins Gesicht gefaucht, während er sich an ihm vorbei gedrängt und den Raum verlassen hat. Der war natürlich sprachlos. Adrian hat ihm dann noch ein »Ihnen gehen ja schnell die Argumente aus, aber bei Ihrer Fernsehshow hatten Sie ja auch keine« an den Kopf geknallt und ist den Gang runter abgehauen.“

„–Wie? –Was?“ Yvette konnte sich vor Lachen kaum einkriegen.

„Das mit der Fernsehshow erklär ich dir gleich. Jedenfalls kam jetzt mein peinlicher Auftritt. Ich bin aufgesprungen und habe Wägerich erklärt, dass wir nicht die aktuelle Gruppe, sondern die Nachfolgegruppe in diesem Raum sind, genauer gesagt, dass nur ich zu der Nachfolgegruppe gehöre, Adrian aber nicht. Ich fürchte, ich habe mich da ziemlich egoistisch verhalten. Ich hab das nämlich irgendwie so formuliert, als hätte Adrian nur zufällig am Rechner gesessen und als ob ich ihn gar nicht richtig kennen würde. Dafür schäme ich mich, muss ich sagen. Ich hab mich verhalten wie jemand, der um jeden Preis den mighty big boss beschwichtigen und einfach nur seinen eigenen Arsch retten will. Ich hab Wägerich dann sogar angelogen, von wegen Adrian hätte gerade familiäre Probleme, und er solle von daher bitte Verständnis haben und ihm alles nachsehen. – Kannst du dir das vorstellen?“

Yvette schwieg einige für Jana qualvolle Sekunden, dann aber antwortete sie sehr nüchtern:

„Weißt du, wenn Adrian dich völlig unnötig in eine dermaßen peinliche Situation bringt, dann ist es irgendwo auch verständlich, wenn du dich in dem Moment erst mal von ihm distanzierst. Da mach dir jetzt bitte nicht mehr Vorwürfe als nötig – und die Ausrede mit den »familiären Problemen« ist keine Schande, denn damit hast du versucht, Adrian zu schützen. Das war keineswegs völlig egoistisch von dir. – So. Und nun erklär mir mal, was mit Adrian los ist. Warum flippt der einfach aus, und was war da mit Wägerich und Fernsehen?“

„Ach, ich habe keine Ahnung“, stöhnte Jana. „Also, was Adrian angeht: er hängt seit Wochen ziemlich eng mit dieser peinlichen Nervensäge Alexander von Korf zusammen, falls der dir noch was sagt.“

„Das ist doch dieser Posertyp, der damals das Parodontitis-Referat bei uns gehalten hat – der promoviert jetzt in der Dermatologie, oder?“

„Er hat die Absicht, ja – falls er vor lauter Beschäftigung mit seinen Egoproblemen jemals dazu kommen sollte. Über den von Korf-Kanal jedenfalls hat Adrian was über chinesische Billigimplantate herausgefunden, die angeblich im großen Stil von deutschen Dentallaboren eingekauft werden. Und dann natürlich von den Zahnärzten auch eingesetzt – angeblich mit Vergiftungsfolgen bei den betroffenen Patienten. Das ist der Grund, warum er so einen Hass auf Wägerich hat und den jetzt sogar ganz offen zeigt. Wägerich hat kürzlich in ‘nem TV-Interview bestritten, dass das Zeug aus China gesundheitsgefährdend sei; er soll sinngemäß gesagt haben, das Billigimport-Problem sei existent, aber die Qualitätsunterschiede seien gering und die Patienten bräuchten sich keine Sorgen zu machen. Adrian meint, er hätte Beweise dafür, dass in Wahrheit jede Menge Grund zur Sorge besteht – und er ist sich anscheinend sicher, dass Wägerich das ebenfalls klar sein muss. Was summa summarum bedeuten würde, dass Wägerich die Öffentlichkeit wissentlich belügt.“

„Au weia. Ist da was dran?“

„Das wüsste ich auch gern. Von Korf ist ein totaler Wichtigtuer, ein spätpubertierender Blödmann – so einem würde ich erst mal kein Wort glauben. Aber Adrian … Ich weiß nicht. Er ist manchmal etwas weltfremd. Ich hab mich kürzlich mit ihm unterhalten, da wusste er zum Beispiel nicht, dass »C4« die höchste Besoldungsstufe für Professoren ist. Was fachliche Dinge angeht, ist er riesig, aber um alles, was nach dem Studium kommt und mit dem konkreten Berufsleben zu tun hat, scheint er sich nicht zu kümmern – das interessiert ihn kein Stück.“

„Er verlässt sich auf seine Eltern“, mutmaßte Yvi.

„Ja, in dem Punkt macht er es sich bequem“, stimmte Jana missmutig zu. „Aber zurück zu der von Korf-Story. Da es hier letztendlich um medizinische Inhalte geht, gibt es mir natürlich zu denken, dass Adrian von der Sache offenbar fest überzeugt ist. Er würde sich wohl kaum so aufführen, wenn er nicht ganz sicher wäre, dass die Vorwürfe wahr sind. Jedenfalls halte ich es für undenkbar, dass von Korf ihm mal eben ein Haufen Lügenmärchen auftischen könnte und Adrian ihm alles abnimmt – einen solchen Einfluss hat er nicht auf ihn. Es ist genau umgekehrt, ich hab die beiden ja erlebt. Von Korf hat einen Narren an Adrian gefressen und will ihm gefallen. Ich fürchte, er klaut in der Dermatologie Patientendaten und breitet sie dann mit stolzgeschwellter Brust vor Adrian aus. – Das kann ich förmlich vor mir sehen, was da zwischen den beiden abläuft.“

„Hm. Und du meinst, Adrian würde solche illegalen Aktionen dulden – oder gar unterstützen?“