Sissi Flegel

Red Hot Curry

Roman

CURRY [ˈkʌri]

Vermutlich ist das Wort eine englische Ableitung des indischen Wortes KARI, das Gewürzsoße bedeutet. Für Inder ist ein Curry ein Gericht in pikanter, dickflüssiger Soße, die mit Garam Masala gewürzt ist. Jede Region hat ihre, jeder Haushalt seine ganz spezielle Mischung. Für Europäer ist ein Curry sowohl ein Gericht als auch eine fertig zu kaufende Mischung aus bis zu 30 Gewürzen wie Kurkuma, Ingwer, Kardamom, Koriander, Zimt 

Das Beste, was man von Reisen nach Hause bringt, ist die heile Haut.

(Aus Persien)

1. Kapitel

Den Baum links bearbeitete ein energischer Specht, rechts hinter mir knackte das Unterholz, sodass ich fast eine Rotte ausgehungerter Wildschweine auf Futterpirsch wähnte, ein mir nicht bekannter Vogel krächzte, als wäre er eine Nacht in einer verrauchten Kneipe versumpft, und ein paar Ameisen wanderten mit unbekanntem Ziel über meinen Oberschenkel. Ich bewegte mich nicht, ich lauerte auf den Augenblick, an dem die ersten Sonnenstrahlen zwischen den Bäumen durchdringen würden. Dann würde ich schießen 

Während ich wartete, dachte ich an meinen Traum. Nie habe ich ihn aus den Augen verloren, nie habe ich ihn zugunsten eines anderen Ziels aufgegeben. Er war schuld an wütenden Auseinandersetzungen mit meinem Freund und meiner Mutter, er hat mich bis zum Abitur begleitet und sogar meine Berufswahl beeinflusst. Der absolute Wahnsinn ist, dass er endlich wahr wird. Bald. Fast sofort. In ein paar Wochen. Jetzt, mit dem Abitur in der Tasche und volljährig, sind die Bedingungen erfüllt, die er mir vor sechs Jahren gestellt hat. Er muss zu seinem Wort stehen. Er wird es tun.

DANN LEBE ICH MEINEN TRAUM!

Am liebsten wäre ich wie toll herumgetanzt, aber das ging im Moment nicht. Ich kauerte am Boden und wartete geduldig, denn gleich war er da, der entscheidende Augenblick. Wie von unsichtbaren Fäden gezogen, schob sich der rote Ball über den Hügel … und im nächsten Augenblick glitzerten Wasser und Morgendunst wie flüssiges Silber, waren die Bäume in Gold getaucht. Ich drückte mehrmals auf den Auslöser.

Zufrieden legte ich die Kamera in die Fototasche und klopfte Grashalme und Rindenstückchen von meiner Jeans. Das Bild würde gut werden; es hatte verdammt gut zu sein, ich brauche es für meine Mappe: Ich will Fotografin werden und bewerbe mich im besten Atelier der Stadt.

 

Es war ein sonniger Spätsommertag. Ich band meine rotblonde lockige Mähne, die mir bis über die Schultern reicht und mein persönliches Highlight ist, mit einem signalroten Tuch zusammen und steckte vorsichtshalber den kleinen Block mit den Notizen in die Tasche meiner Jeans. Die Aufzeichnungen habe ich meiner Mutter Julie zu verdanken. An meinem zwölften Geburtstag riet sie mir: «Lila, wenn du wirklich mit deinem Vater nach Indien fliegen willst, schreib das Datum, die Uhrzeit und den Wortlaut seines Versprechens auf. In sechs Jahren erinnert er sich nicht mehr daran.»

Bestens vorbereitet, voller Vorfreude und wahnsinnig aufgeregt, schwang ich mich aufs Rad und gondelte in die Innenstadt, um mich im Café Klatsch mit meinem Vater zu treffen. Trat ich aufs linke Pedal, rief ich: «Er muss sein Versprechen wahr machen», trat ich aufs rechte, brüllte ich: «Er wird sein Versprechen wahr machen!»

Ich wusste aus Erfahrung, dass mein Vater – geschieden, seit Jahren ohne neue Lebensgefährtin (soweit es meine Mutter und ich wussten) – gerne vergaß, was ihm gerade nicht in den Kram passte. Und da ich keine Ahnung hatte, ob ihm sein vor sechs Jahren gegebenes Versprechen gerade recht kam, war ich darauf gefasst, kämpfen zu müssen.

Als ich um die Ecke bog, sah ich ihn schon an einem der Tischchen sitzen und auf mich warten. Zu uns nach Hause kam er nie, und zu sich lud er mich nicht ein. Weiß der Geier, weshalb; mag sein, dass es bei ihm nicht aufgeräumt war. Bei uns wollte er York nicht begegnen, dem Lebensgefährten meiner Mutter.

Er stand auf, als ich mich zwischen den Tischchen zu ihm durchschlängelte. Mein Vater war ein gutaussehender Mann. Schlank, einen Meter achtzig groß (mindestens!), mit breiten Schultern, schmalen Hüften, grünen Augen und dunkelblondem Haar. Die Größe hat er mir nicht vermacht, ich bin knappe ein Meter sechzig klein, aber die grünen Augen und die Locken habe ich von ihm. Seine sind kurz geschnitten und liegen immer wie eine Kappe an seinem Kopf. Zur Begrüßung nahm er mich in die Arme. Wie immer freute ich mich darüber, denn die Leute denken dann: Eleganter Herr mit grauen Schläfen trifft jugendliche Liebhaberin.

Auf meinen Vater bin ich stolz. Er joggt, spielt Golf und ist heute braun gebrannt, sodass die Frage naheliegt, ob er ein paar Tage Urlaub am Strand gemacht hatte.

Obwohl er sehr kontrolliert ist, fegte ihn das fast aus dem Korbstühlchen. «Wo denkst du hin, Lila!? Ich arbeite!»

«Ist ja gut!»

Er winkte dem Kellner und beruhigte sich nur langsam, was mich wunderte, denn normalerweise ist er wirklich nicht der Mensch, der schnell explodiert. Na ja, dachte ich, vielleicht hat er heute einen schlechten Tag.

Nachdem wir die Bestellung aufgegeben hatten – Darjeeling-Tee für ihn, einen Eiskaffee für mich –, wollte er wissen, wie es mir gehe. Ich zitierte Botho Strauß. «Ach, Papa. Alles ist wie immer. Nichts klappt.»

Er hob die Augenbrauen. «Das tut mir leid für dich.»

Die Antwort fand ich dünn, sehr dünn sogar. Von einem Vater kann man mehr verlangen, finde ich. Zum Beispiel eine interessierte Nachfrage, was denn nicht klappe.

Er nahm den Tee ohne Milch und Zucker, auch Zitrone lehnte er ab. «In Indien trinkt man gerne süßen, gewürzten Tee mit einem Schuss Milch, aber ein richtig guter Darjeeling wird pur genossen.»

«Sag bloß.» Ich wusste, dass er gute Weine über alles schätzt; aber seit wann war er Teekenner? «Warst du mal in Darjeeling? Hast du die berühmten Plantagen gesehen?»

Er verschluckte sich, hustete, was ihm als Vorwand diente, meine Fragen zu überhören. «Du hast also das Abitur bestanden? Ich gratuliere!»

«Nicht mit 2,0, sondern mit 1,9», antwortete ich stolz. «Und achtzehn bin ich auch.»

«Stimmt.»

«Ja. Einen Ausbildungsvertrag hab ich bereits.» Ich scharrte mit den Füßen und räusperte mich. «Na ja, so gut wie. Nächste Woche bekomme ich endgültig Bescheid.»

«Schön. Sehr schön. Fotografin möchtest du werden, nicht wahr?»

«Ja.» Ich saugte kalten Kaffee durchs Röhrchen. «Die Lehre beginnt, wenn wir aus Indien zurück sind.» Ich blickte auf und sah ihm direkt in die Augen.

Er konnte nicht anders: «Du willst unbedingt dorthin?»

«Hör mal! Seit sechs Jahren freue ich mich drauf! Du hast mir die Reise unter zwei Bedingungen versprochen: Ich muss das Abitur bestehen und achtzehn Jahre alt sein. Die Bedingungen habe ich erfüllt.» Ich funkelte ihn an. «Jetzt musst du dein Versprechen wahr machen.»

Er hob die Augenbrauen. «Muss ich das?»

Der Zeitpunkt war gekommen; ich legte den Block mit meinen Aufschrieben neben seine Teetasse. «Hier. Datum, Zeit und Inhalt deines Versprechens.» Ich kreuzte die Arme vor der Brust und wartete.

Mein Vater ist seit vielen Jahren Geschäftsführer einer mittelständischen Firma mit zwei Niederlassungen in Indien. Mindestens viermal im Jahr fliegt er nach Bombay, und das nächste Mal will ich mit!

«Pa, Indien ist mein Traum!»

«Hm. Tja, wenn es dir so ernst ist … Lila, bei mir im Hotel kannst du nicht wohnen. Ein junges Mädchen mit einer langen rotblonden Mähne … also, das geht in Indien nicht. Als du zwölf warst …», er tippte auf den Block und lächelte schief, «konnte ich nicht ahnen, wie hübsch du mal werden würdest.»

Danke für das Kompliment; der Punkt ging an ihn.

Er räusperte sich. «Lila, hör zu. Da ich höchstens drei Tage in Bombay zu tun habe und dann nach Nasik fahre, habe ich mal bei Rotenbergs vorgefühlt.»

Ich staunte. Er hatte sich an sein Versprechen erinnert und war aktiv geworden, bevor ich bedrohliche Geschütze auffahren musste. Mein Vater überraschte mich, aber ich ließ mir nichts anmerken.

«Rotenberg?» Ich runzelte die Stirn. «Christine Rotenberg?»

Er nickte. «Fritz Rotenberg ist Direktor unserer Niederlassung in Bombay. Du erinnerst dich an seine Tochter Christine? Ich nahm an, dass ihr etwa gleich alt sein würdet.»

«Pa, sie war in meiner Klasse!» Christine Rotenberg – so alt wie ich, blond, kurze, schnittlauchglatte Haare, fröhlich, unkompliziert und eine super Sportlerin, so hatte ich sie in Erinnerung. «Was ist mit den Rotenbergs?»

«Bei ihnen wirst du wohnen.»

Der kleine Löffel, mit dem ich das Vanilleeis unter den Kaffee rührte, fiel mir aus der Hand. «Ich soll bei einer Familie untergebracht werden? Pa, das kannst du mir nicht antun. Ich bin über achtzehn, ich bin erwachsen, ich bin eine selbständige Frau!»

Ich bin weiß Gott selbständig! Als meine Mutter nach der Scheidung ihren Job als Maklerin hochpreisiger Immobilien aufbaute, war ich oft mir selbst überlassen. Ich lernte mehr, als nur Spiegeleier in die Pfanne zu hauen; ich kann so gut wie alles, sogar Auto fahren. «Wir befinden uns im einundzwanzigsten Jahrhundert, falls dir das entgangen sein sollte. Schon vor hundert Jahren ist Alexandra David-Neel allein nach Indien gereist. Bis nach Lhasa ist sie gekommen, und wenn du meinst …»

Er setzte die Tasse ab. «Du wirst bei Rotenbergs wohnen, Lila. Christine freut sich auf dich; sie kennt sich aus, kann dir alles zeigen, ihr werdet viel Spaß zusammen haben. Und, wie gesagt, ich habe in Nasik zu tun.» Er lächelte.

Das Lächeln brachte mich vollends auf die Palme. Ich hasse es, wenn jemand mein Leben ohne meine Zustimmung organisiert. «Falls es am Geld liegen sollte, Pa, kann ich meine Hotelrechnung selbst bezahlen.»

«Das Taj Mahal? Das bezweifle ich.» Das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. «Was hast du gegen die Rotenbergs? Sie sind alle sehr sympathisch.»

«O ja! Nur dass Frau Rotenberg unter einem ausgeprägten Ordnungs- und Sauberkeitsfimmel leidet. Wenn ich daran denke, wie oft ich mir bei ihr die Hände waschen musste, dann wird das in Indien zur allumfassenden Sucht geworden sein. Pa, ich kann mit Christine vieles unternehmen, aber bei Rotenbergs werde ich nicht wohnen.»

«Ich stehe zu meinem Versprechen. Es kommt aber nur zu meinen Bedingungen zustande.»

Leider bin ich nicht der Typ, der seinen Vater mit Tränchen und einer süßen Schnute um den Finger wickeln kann. Geht es um ein tolles Foto, bin ich unbegrenzt leidensfähig und habe die Geduld und Ausdauer eines sanftmütigen Engels; davon abgesehen neige ich aber zu Temperamentsausbrüchen und unüberlegten Reaktionen, wenn es nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle. «Du bist ein autoritärer Macho! Im Umgang mit einer emanzipierten Frau stehst du auf der Stufe eines Neandertalers! Wir sind keine behüteten, unmündigen Püppchen, wir wissen, was wir wollen!»

«Ich weiß auch, was ich will», entgegnete er kühl. «Dazu kommt, dass mir, im Gegensatz zu dir, die indischen Verhältnisse bekannt sind. Mein Angebot kennst du: Indien zu meinen Bedingungen. Anfang Oktober. Zehn, vierzehn Tage. Lass mich wissen, wie du dich entscheiden wirst. Meine Handynummer hast du.»

Noch niemals in meinem achtzehnjährigen Leben war ich so wütend gewesen. Als er bezahlt hatte, aufstand und zu seinem Auto ging, hätte ich ihm am liebsten meinen Eisbecher hinterhergeworfen. «Schon mal was von Gleichberechtigung und Mündigkeit gehört?», schrie ich ihm nach.

Er drehte sich nicht um, hob nur die Hand, machte mit den Fingern die Geste des Geldzählens und rief mir über die Schulter zu: «Das Recht hat der, der die Kasse hat!»

Ich zitterte vor Wut, ich fluchte auf meine leichtsinnige Mutter, die sich vor neunzehn Jahren von einem Neandertaler schwängern ließ, und hätte am liebsten den Leuten an den anderen Tischen die Zunge rausgestreckt, weil sie ungeniert gafften: So ein Schauspiel in aller Öffentlichkeit bekam man nicht alle Tage geboten.

Geld! Immer wieder kam er mit seinem Geld. Ich hatte auch Geld!

Leider nicht genug; ich wusste, es würde nur für den Flug reichen. Ich müsste einen Kleinkredit aufnehmen oder jemanden anpumpen.

Ich radelte schnellstens nach Hause, um meine finanziellen Möglichkeiten abzuchecken. Ich würde Indien erleben. So viel stand fest.

I have a dream, flüsterte ich und lehnte das Rad an die Hauswand.