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Oh, süßer Klang

INHALT

Wien 1775. Vor einigen Jahren hat Baron Karl von Tiefenthal seinen älteren Sohn Thaddäus aus gesundheitlichen Gründen enterbt und fortgeschickt. Der jüngere Bruder Gabriel stellt sich als Verschwender heraus und enttäuscht den Vater noch mehr. Karl möchte Thaddäus wieder aus der Verbannung zurückholen.

Zur selben Zeit ist Joseph Lafarche mit den umfangreichen Hochzeitsvorbereitungen seiner Verlobten Marie nicht einverstanden. Die Planung dauert ihm zu lange, denn er will sie endlich zu der Seinen machen. Er folgt ihr unwillig zu den Abendveranstaltungen, zu denen Marie als Mitglied eines Musikensembles eingeladen ist. Während Joseph überlegt, wie er seine Ziele schneller erreichen kann, kommt es zu einem dramatischen Vorfall mit einer der Musikerinnen. Commissär Ferenc Korenyi spannt Joseph, ohne zu zögern, für die Ermittlungen ein. Tatsächlich gibt es bald eine Spur: Sie führt zur Familie von Tiefenthal ...

 

 

Beata Solanger widmet sich der Zeit von Maria Theresia. Ihre Romane entführen Sie in den damaligen Alltag und das Leben in Wien.

 

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Impressum

Besuchen Sie uns im Internet: www.editiohistoriae.at

1. Auflage – Copyright © 2016 editio historiae, Verlag MMag. Dr. Marianne Acquarelli, 1120 Wien

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden – das gilt auch für Teile daraus.

Redaktion und Layoutgestaltung: MMag. Dr. Marianne Acquarelli

Titelbild: catervamusica@web.de, Geige mit Blume (2), Quelle: www.piqs.de, http://piqs.de/fotos/194762.html

Bilder: Engel mit Geige, Quelle: https://pixabay.com/de/engel-zeichnung-geige-antik-913630 / (siehe hier);
Saitenmacher: Kupferstich von Christoph Weigel von www.billerantik.de mit freundlicher Genehmigung (siehe hier)

Zitat: http://www.musikzug-moehnsen.de/zitate.html

Lektorat: Mag. Andrea Jank-Hofbauer

Satz: Adobe InDesign bei editio historiae

E-Book-Konvertierung: www.Satzweiss.com, D-66121 Saarbrücken

ISBN ePUB: 978-3-9504278-0-6

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Wirklich gelebt haben:

Ignaz von Maurer: Criminal-Senatspräsident im Jahr 1786, im Roman: Criminal-Gerichtsvorsteher

 

Peter Fiebich: Criminal-Detektiv im Jahr 1786, im Roman: Detektiv

 

Amadeus Woffen: Criminal-Commissär im Jahr 1786, im Roman: beigegebener Polizey-Beamter (Offiziant)

 

Josef Anton Haderer: Polizey-Aufseher ab 1774

 

Carlo Broschi „Farinelli“: italienischer Kastratensänger (1705-1782), der zu seiner Blütezeit mit Auftritten in europäischen Königshäusern Erfolge feierte.

 

Antonio Uberti „Porporino“: berühmter deutsch-italienischer Kastrat (1719–1783).

 

Joseph Haydn: berühmter österreichischer Komponist (1732-1809). Als Kind war er Mitglied im Chor von St. Stephan und wurde später Hofmusiker der ungarischen Familie Esterházy.

Wirklich gegeben hat es:

Schranne: Stadt- und Landesgericht von Wien von 1473 -1839 auf dem Hohen Markt (früher Marckt).

 

Apotheke „Zum roten Krebs“: eine der ältesten Apotheken Wiens mit Sitz am Hohen Markt, ab 1712 im Besitz der Familie di Pauli. 1754 übernahm Ignaz Gabriel di Pauli von Enzebühl die Apotheke, ab 1782 wurde sie von dessen Enkel Anton di Pauli geführt.

 

Kaufgewölbe „Zur Silbernen Schlange“: auf dem Hohen Markt gelegen, gehörte bis 1804 dem Handelsmann Jakob Jagaditsch.

 

Malefizspitzbubenhaus: bestand von ca. 1480 bis 1785, Schergenhaus und Untersuchungsgefängnis in der ehemaligen Himmelpfortgasse.

 

Hetztheater: 1755 wurde „am Weißgerber“ ein Amphitheater aus Holz für die Abhaltung von Kämpfen mit teilweise exotischen Tieren gebaut. Es bot ungefähr 3000 Personen Platz. Trotz der hohen Eintrittspreise erfreute sich die Attraktion großer Beliebtheit. 1796 brannte das Hetztheater vollständig ab. Es wurde nicht wieder aufgebaut. Die Hetzgasse im 3. Wiener Gemeindebezirk erinnert heute noch daran.

Esterházy-Keller: Stadtheuriger seit 1683, existiert noch heute im Haarhof im 1. Wiener Gemeindebezirk.

 

Krankenhaus der Barmherzigen Brüder: das älteste Ordensspital Wiens, es wurde 1614 gegründet und wird noch heute im 2. Wiener Gemeindebezirk betrieben.

 

Café Taroni: im Jahr 1750 hat Jean „Schani“ Taroni die Erlaubnis erhalten, am Graben vor seinem Café, das nur Männern zugänglich war, ein Zelt aufzustellen, um den Damen im Sommer Erfrischungen, Eis und Kaffee anzubieten. Daher kommt die noch heute gebräuchliche Verwendung „Schanigarten“ für eine Sitzgelegenheit im Freien bei einem Gastwirten.

 

Zucht- und Arbeitshaus: das Haus wurde 1670 zur „Verbesserung der Sitten und Verminderung des Bettels“ eingerichtet. Zur Abschreckung konnten Eltern ihre ungeratenen Kinder für die Erteilung eines Denkzettels vorführen lassen. Das Zucht- und Arbeitshaus bestand mit Unterbrechungen bis ins 19. Jahrhundert. Gegen Ende fungierte es als Strafhaus für Männer.

 

Gasthaus „Zum wilden Mann“: war eine der besseren Wirtschaften Wiens. Es befand sich in der Kärntner Straße 17, später wurde es in ein Hotel umgebaut, das bis 1873 bestand.

 

Spittel Berg: der Name leitet sich von einem Bürgerspital ab, das auf dem Spital Berg gestanden hatte. Nach der Türkenbelagerung 1683 wurden außerhalb der Stadt günstige Wohnmöglichkeiten errichtet. Schon nach kurzer Zeit hatte sich dort ein übles Viertel mit blühender Kellnerinnenwirtschaft (Prostitution) entwickelt.

 

Gasthaus „Zu den drei Hacken“, zählt zu den ältesten Gastwirtschaften der Stadt Wien, existiert noch heute: 1010 Wien, Singerstraße 28.

Maße und Geldeinheiten:

1 Wiener Fuß = 316, 08 mm ist gleich 12 Zoll

1 Wiener Zoll = 26, 34 mm ist gleich 12 Linien

 

1 Pfund = 560 g

 

1 Gulden (fl.) ist unterteilt in 60 Kreuzer (kr.)

 

 

 

Quellen: Felix Czeike, Historisches Lexikon Wien, Band 1-5 (Wien 2004) und Leopold Tatzer, Das k.k. privilegierte Hetzamphitheater unter den Weissgerbern (Wien 1969).

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Vorwort
 
 

B

is zum Anfang des 20. Jahrhunderts war die Welt der Musik ein von Männern dominiertes Feld. Ausgehend von Entscheidungen seitens der katholischen Führung war Frauen das öffentliche Musizieren und Singen untersagt. Vor allem der Gesang in den Gotteshäusern war nur Knaben- und Männerchören gestattet. Zur Erhaltung von besonders schön klingenden Stimmen wurden viele Knaben vor dem Einsetzen des Stimmbruchs einer Kastration unterzogen. Viele überlebten den riskanten Eingriff nicht oder litten lebenslänglich unter den körperlichen Veränderungen, die durch das Fehlen des Testosterons hervorgerufen wurden. Manche Kastraten wurden übermäßig groß oder neigten zu ungesunder Leibesfülle.

In den Anfängen wurden Kinder aus Waisenhäusern für die Ausbildung herangezogen, später kam es zu regelrechten Rekrutierungen durch sogenannte Eunuchenhändler, die armen Familien ihre Söhne für wenig Geld abkauften. Diesen Knaben war nur mehr wenig Einfluss auf ihr Leben beschert. Gerade eine Handvoll von Tausenden schaffte tatsächlich den Sprung zum gefeierten Sänger. Die namenlose Masse versuchte, als schlecht bezahlte Chormitglieder, als Darsteller bei Gauklertruppen oder auch mit Prostitution ein Auskommen zu finden. Neben diesen kaum aussichtsreichen Möglichkeiten waren Kastraten auch vom normalen Leben ausgeschlossen. Aufgrund eines päpstlichen Impotenzdekrets aus dem 16. Jahrhundert war ihnen die Verehelichung untersagt. Erst 1903 erließ Papst Pius X. die Bestimmung, dass nur mehr Knaben für die Besetzung der hohen Stimmen herangezogen werden durften. Das bedeutete das Ende der Kastraten und des grausamen Geschäfts mit ihnen.

Wer die Musik liebt,
kann nie ganz unglücklich werden.

Franz Schubert
(1797-1828)

1

Im Zimmer der Baronin von Tiefenthal
Jänner 1775

M

it betont gelangweilter Miene steckte Frieda eine Haarlocke in ihrer Frisur fest. „Und hat er wieder das Porträt angestarrt?“ Sie sah in den Spiegel und würdigte den Kammerdiener ihres Schwiegervaters keines Blickes.

Emil Pohanka nickte eifrig. „Ja, fast den ganzen Vormittag, Baronin. Wie es scheint, hat der gnädige Herr die Hoffnung nicht aufgegeben.“

Frieda presste verärgert die Lippen zusammen. Doch sie ließ sich nur kurz gehen. Schon einen Wimpernschlag später glätteten sich ihre Züge wieder. Um jeden Preis wollte sie ihren beginnenden Fältchen Einhalt gebieten. Mit einer geübten Bewegung klappte sie ihre Reispuderdose auf. „Du weißt, was das bedeutet, wenn mein Mann dem Baron nicht als sein Erbe nachfolgt?“

Der lang gediente Kammerdiener schlug die Augen nieder. „Ja, Frau Baronin. Ich denke schon.“

Wütend drehte sich Frieda zu Pohanka um. „Nein, du weißt gar nichts. Du weißt nicht, wie es ist, von einem unbedeutenden Einkommen leben zu müssen, das dich in die Verbannung auf irgendeinen Landsitz in der Provinz zwingt. Ohne Einkaufsmöglichkeiten, ohne gesellschaftliche Kontakte und ohne jegliche Aussicht auf Zerstreuungen. Das Mittagessen mit dem Dorfpfarrer gilt dort schon als Sensation!“ Frieda drehte sich wieder zu ihrer Psyche, aber sie änderte ihren Blickwinkel auf den Spiegel und fixierte den Dienstboten. „Für deine Sorte sieht es nicht viel besser aus.“

Diesmal gelang es Frieda nicht rechtzeitig, den bitteren Zug um ihren Mund zu verbannen. Sie sah Pohanka mit eisigem Blick an. „Rede ihm diesen Glauben an eine“, Frieda würgte das nächste Wort fast hervor, „Genesung von Thaddäus doch endlich aus!“ Sie knallte den Deckel ihrer Puderdose aufgebracht zu. „Es ist doch nun schon über zwei Jahre her, dass der Baron seinen Sohn auf das Landgut in Keszthely[1] geschickt hat.“ Frieda verdrehte die Augen. „Als ob der Plattensee etwas gegen diese schwere Form der Melancholie ausrichten könnte.“ Sie sprang heftig von ihrem Schemel auf und ging aufgebracht in ihrem Boudoir hin und her. „Gabriel wird meinem Schwiegervater nachfolgen. Er hat Karl nicht so wie Thaddäus enttäuscht. Und er versteht das Geschäft so gut wie jeder andere.“

 

Friedas höchstes Ziel war es, dass die Belieferung der gesamten k. k. Armee mit Unterbekleidung für die Soldaten in die richtigen Hände ging. Wenn man in naher Zukunft vom „Wäschebaron“ sprach, sollte Gabriel von Tiefenthal damit gemeint sein und nicht mehr Karl oder — Gott bewahre sie vor diesem Schicksalsschlag — Thaddäus.

Der Kammerdiener hob verzweifelt die Schultern. In seinem Kopf rasten die Gedanken. Was sollte er sagen, ohne den zweifelhaften Charakter des Ehemanns der Baronin ins Spiel zu bringen? Der gnädige Herr jammerte täglich mehrmals über die Eskapaden und den verschwenderischen Lebensstil seines jüngeren Sohnes Gabriel und dessen Frau.

Baron Karl Ernst von Tiefenthal bereute den Bruch mit seinem Erben bitterlich und hatte sich die Rückkehr von Thaddäus zu seiner letzten Lebensaufgabe gemacht.

Emil Pohanka steckte in der Klemme. Auf der einen Seite fühlte er sich durch viele Jahre des Dienens an seinen Arbeitgeber gebunden und auf der anderen Seite war dieser Stern im Sinken. Auf wen sollte er setzen? Pohanka genoss die Vorzüge seiner Spitzelei. Die zusätzlichen Münzen, die ihm die Baronin für seine Informationen gab, polsterten sein Einkommen in angenehmer Weise auf. Doch was geschah, wenn Thaddäus tatsächlich wieder auftauchte?

Moritz von Leutgeben, der pingelige Sekretär von Karl von Tiefenthal, hatte schon klargestellt, dass er auf eine Rückkehr des älteren Sohnes hoffte.

Emil verband mit diesem Schreiberling eine jahrelange Hassfreundschaft. In ihrer Sorge um den Gesundheitszustand des gnädigen Herrn zogen sie mehr oder weniger an einem Strang, doch bei vielen anderen Punkten lagen ihre Absichten die Reichweite eines Kontinents auseinander. Von Leutgeben verabscheute Frieda von Tiefenthal, denn seiner Meinung nach war sie nur eine emporgekommene Landpomeranze, die nach einem Titel und vor allem Geld gestrebt hatte. Trotzdem würde Moritz seine Stelle vermutlich behalten können, denn er administrierte das Wäscheimperium praktisch allein.

Aber Gabriel hatte seinen eigenen Kammerdiener und Thaddäus wahrscheinlich auch. So war Emils Zukunft nach dem Tod seines Herrn mehr als ungewiss. Pohanka musste sich um jeden Preis für die Baronin unverzichtbar machen. Er seufzte innerlich.

Der Kammerdiener verneigte sich förmlich und antwortete endlich: „Gewiss, Frau Baronin. Die fortschreitende Krankheit wird den gnädigen Herrn von allzu vielen Taten abhalten.“

Frieda hob zur Antwort nur leicht die Augenbraue. Nach ihrem Geschmack ging der körperliche Verfall ihres Schwiegervaters viel zu langsam vor sich. Dabei hegte sie schon seit Monaten berechtigte Hoffnungen. Der Umstand, dass Tiefenthals Leibarzt den vielen Zucker im Körper seines Patienten diagnostiziert hatte, war ihr sehr gelegen gekommen. Vielleicht musste sie dem naschsüchtigen Karl noch mehr süßes Gebäck heimlich zustecken?

Sie nickte knapp und deutete Pohanka zu gehen. „Versuche trotzdem, auf ihn einzuwirken, und zögere nicht, ihn zu verwöhnen.“ Sie lächelte süßlich. „Viel ist dem alten Mann ja nicht mehr geblieben.“

Der Kammerdiener verneigte sich und eilte erleichtert aus dem Zimmer. Auf dem Gang holte er tief Luft und drückte die Schultern bewusst wieder nach unten. In seinem Magen stach es jedes Mal unangenehm, wenn er bei der Baronin vorsprechen musste. Er hasste diese Frau, aber er brauchte sie.

Nach mehreren Atemzügen schlug er den Weg zur Küche ein. Es war Zeit für den Nachmittagskaffee des Barons. Er zog seine feinen Handschuhe aus der Rocktasche, um sie überzustreifen. Sein Blick fiel auf die weißlichen Ringe, die sich seit einiger Zeit auf seinen Fingernägeln zeigten. Da er sich sonst gut fühlte, gab er nichts weiter drauf.

„Hast du frische Kekse gebacken, Ildikó?“ Pohanka arrangierte die Kaffeekanne auf einem silbernen Tablett. Irritiert entdeckte er einen bräunlichen Fleck. Er verschob das Spitzendeckchen ein wenig. Die Rüge für das Hausmädchen, das das Silber putzte, musste warten. Die aus Ungarn stammende Köchin klapperte mit einem Topfdeckel und zeigte dann auf die Vorratskammer. „Im Regal links, Emil. Aber nur eines, wie der Doktor gesagt hat.“

Pohanka zuckte mit den Schultern und nahm einen zierlichen Porzellanteller, der vom Muster her zum restlichen Geschirr passte. In der Kammer steckte er zuerst selbst ein Gebäck in den Mund und ließ sich Zeit, drei weitere herauszunehmen.

Dann stolzierte er grußlos aus der Küche und steuerte die große Marmortreppe an. Die Hausknechte und Stubenmädchen sollten die hintere Dienstbotentreppe nehmen. Emil stand weit über ihnen.

Von Leutgeben sah auf, als Pohanka in die Bibliothek kam. Er entdeckte die Kekse und hob mit verärgerter Miene einen Finger. Emils Gesicht blieb ausdruckslos, doch er stellte das Tablett beim Sekretär ab. Moritz griff nach den überzähligen Süßigkeiten und ließ sie wie jeden Nachmittag, an denen er Emil erwischte, in einer Dose verschwinden. Und wie jeden Nachmittag schüttelte er dabei tadelnd den Kopf.

„Sie sind doch extra mit diesen Spezialzutaten und wenig Zucker gebacken“, raunte Pohanka beleidigt.

Der Sekretär verdrehte genervt die Augen. „Das ist ja der Grund, warum dem gnädigen Herrn dieses eine Gebäck gestattet ist. Sonst gäbe es gar nichts.“

Emil begrüßte den Baron, der eingewickelt in eine Decke auf seinem Lieblingssessel vor dem Kamin saß.

„Oh, Emil, mein Kaffee. Wie wunderbar.“ Von Tiefenthal schnaufte verächtlich. „Er schmeckt ohne Zucker zwar entsetzlich bitter, aber immerhin.“

„Ich habe mir erlaubt, Ihnen ein wenig Freude zu bereiten“, sagte der Kammerdiener so leise, dass Moritz es nicht hören konnte.

„Mein guter, treuer Emil. Bitte gieße gleich etwas für mich in die Untertasse.“

„Habt Ihr Post bekommen, gnädiger Herr?“

„Oh, ja. Es regnet viel am Plattensee.“

Emil nickte höflich und trat einen Schritt zurück. Er schielte zum Schreibtisch, doch von Leutgeben kratzte mit der Feder in einem der Abrechnungsbücher. Wo war der Brief von Thaddäus?

„Gibt es ...“, Pohanka räusperte sich, „irgendwelche Neuigkeiten, von Leutgeben?“

Moritz sah auf und kniff kurz die Augen zusammen. „Nächste Woche kommt der Hafner und schaut sich den Kamin im blauen Gästezimmer an. Der Hausknecht hatte gemeldet, dass er raucht.“

Im blauen Gästezimmer? Das war doch Thaddäus‘ Zimmer gewesen. War das etwa ein möglicher Hinweis auf eine baldige Rückkehr des älteren Sohnes?

Emil nickte ungeduldig. „Sonst noch etwas?“, hakte er nach. Der Sekretär tauchte die Feder ins Tintenfass und lehnte sich zurück. Er antwortete mit einer unglaublichen Arroganz: „Nichts, was in deine Agenden fällt, Pohanka.“ Der Kammerdiener fühlte sich genauso abgekanzelt, wie von Leutgeben es beabsichtigt hatte. Emil schluckte seinen Stolz herunter und versuchte es mit einem kumpelhaften Gehabe.

„Meine Agenden, was? Da gehört der Kamin ja wohl auch nicht dazu. Hab dich nicht so. Lass mich wissen, was sich tut“, flüsterte er eindringlich. Er warf einen kurzen Seitenblick auf den gnädigen Herrn, um zu sehen, ob das Gespräch ihn stören könnte. Doch von Tiefenthal knabberte selig an seinem Keks und kümmerte sich nicht um seine Umgebung.

Moritz seufzte übertrieben geduldig. „Es tut sich nichts, um deine Ausdrucksweise zu gebrauchen. Für morgen hat der gnädige Herr den werten Baron Lafarche zu einem Besuch gebeten.“ Er sah auf die große Standuhr und deutete mit dem Kinn ungefähr in die Richtung. „So um diese Zeit.“

Pohanka kicherte. „Der reiche Wäschebaron trifft den noch reicheren Kaffeebaron. Wollen sie gemeinsam ihr Geld zählen?“

Moritz zischte verärgert: „Sch! Wirst du das wohl endlich lassen! Es interessiert niemanden, was du auf der Gosse aufgeschnappt hast.“

Nun schwoll Emil doch der Kamm. „Komm mir ja nicht mit deinem vornehmen Getue, von Leutgeben.“ Er spie den niederen Adelstitel beinahe aus. „Du weißt selbst, dass sich die Schreiberlinge vom Wienerischen Diarium[2] diese Bezeichnungen ausgedacht haben.“

Der Sekretär legte die Fingerspitzen aufeinander und sah sein Gegenüber übertrieben milde an. „Ein langjähriger Freund unseres Herrn erweist ihm die Ehre eines Besuchs anlässlich des neuen Jahres.“

Emil presste verärgert die Lippen aufeinander. Er spürte, dass er keine Informationen bekommen konnte und wandte sich wieder dem Baron zu. Von Tiefenthal ließ sich Kaffee nachschenken und berichtete seinem Kammerdiener vom erwarteten Besuch. „Kannst du mir bitte einen besonders schönen Rock rauslegen? Ich kenne Egmont zwar schon mein halbes Leben lang, aber ein wenig Eitelkeit gönne ich mir doch.“ Der Baron lachte angestrengt und entließ seinen Diener.

Emil nickte von Leutgeben nur ruppig zu und eilte zu seiner nächsten Aufgabe. An der zufallenden Flügeltür hielt er kurz inne.

„Brauchen Sie mich heute Abend, gnädiger Herr?“, vernahm Pohanka von Moritz.

„Nein, nein ...“ Die Tür fiel mit einem Klicken ins Schloss. „Wunderbar“, dachte Emil, „der Herr von und zu übernachtet nicht in seiner Kammer.“

 

Dann stand es ihm frei, später in aller Ruhe den Schreibtisch in der Bibliothek zu durchsuchen. Er musste den Brief unbedingt finden, damit er der Baronin die gewünschten Neuigkeiten überbringen konnte.

2

Im Palais Tiefenthal

Z

wei Wochen später war Frieda ihren Zielen noch kein Stück nähergekommen. Die Informationen von Pohanka waren nur spärlich gewesen. Je mehr sich die Hinweise verdichtet hatten, dass Karl fest entschlossen war, Thaddäus zurückzuholen und damit Gabriels und ihre Zukunftsaussichten zu vernichten, desto verschlossener hatte sich von Leutgeben gezeigt.

Frieda ärgerte sich über ihren schon lange zurückliegenden Wutausbruch vor dem Sekretär. Damit hatte sie die letzte womöglich vorhandene Sympathie des Angestellten ihres Schwiegervaters verspielt. Von Leutgeben grüßte sie zwar noch, wechselte aber sonst kein Wort mehr mit ihr. Sie war bei dieser Quelle vollkommen von dem Trottel Pohanka abhängig.

Gabriel schwelgte in seiner üblichen Ahnungslosigkeit und begnügte sich mit knappen Berichten über den Fortgang des Wäscheimperiums. Solange er genug Geld für seine Umtriebigkeiten am Spittel Berg hatte, fand er keinen Grund für Besorgnis.

Seine Frau hingegen zerbrach sich sehr wohl den Kopf darüber, wie sie das Vermögen endlich in ihre Hände bekommen konnte. Denn sie wollte sich nicht länger mit den bescheidenen Zuwendungen ihres Schwiegervaters zufriedengeben. Wie sollte sie auch mit nur 4.000 Gulden[3] im Jahr ihr Auslangen haben? Die Schneider, Hutmacher und Kurzwarenhändler waren allesamt geldgierige Hyänen. Wenn sie nicht jedes Mal zumindest einen kleinen Teil der Schulden, die sie vielerorts angehäuft hatte, abtrug, bekam sie keine neuen Sachen mehr. Nein, so konnte es nicht weitergehen. Sie wollte alles.

Ein schüchternes Klopfen ließ Frieda aufblicken. „Herein!“, herrschte sie ungehalten. Eine blutjunge Magd öffnete zögerlich und stand unentschlossen mit einem Kübel Wasser in der Tür. Die Baronin zeigte auf ihre Badewanne. „Da hin, du ungeschickter Trampel!“ Das Mädchen nickte und tat wie ihm geheißen. Frieda kniff die Augen zusammen und sah das unscheinbare Ding an. „Du bist neu hier?“

„Ja, ich Eszter. Nichte von Köchin. Komme Ungarn.“

„Ah, ja“, Frieda winkte gelangweilt ab. „Ich habe davon schon gehört. Ildikó wollte dich als zusätzliche Küchenhilfe hier haben.“

 

Sie trat hinter den Paravent und murmelte. „Wann kommt Edith endlich?“ Frieda hasste die Trödelei ihrer Zofe. Sie hörte das Wasser in die Wanne plätschern.

Plötzlich fiel ihr etwas ein. Sie kam wieder hinter dem Wandschirm vor. „Warte. Warst du bisher nicht am Landgut in Keszthely?“

Eszter nickte. „Igen ... äh ... ja. Waschen Geschirr.“

Frieda zuckte mit den Achseln. „Kann ja nicht viel gewesen sein. Es ist ja nur der junge Herr Baron dort.“

Das Mädchen sah sie mit großen Augen an. Langsam schüttelte Eszter den Kopf. „Nicht verstehen.“

Frieda verdrehte genervt die Augen. „Ich sagte, dass ja nur der junge Baron, Thaddäus von Tiefenthal, dort lebt. Und da gibt es nicht viel zu tun, du dummes Ding. Ich hoffe, ich muss mich nicht allzu oft mit dir abgeben.“

Eszter war von ihrer Tante auf den lausigen Charakter der Herrin vorbereitet worden. Sie biss sich auf die Lippen, bevor sie antwortete: „Nein, niemand da. Immer nur Dienstleute.“

Aufbrausend wie eine Furie fuhr die Baronin zu ihr herum und riss beide Arme hoch. „Was soll das heißen? Es war niemand da?“

Die junge Magd ließ den Eimer scheppernd fallen und schlug erschrocken die Hände vor ihr Gesicht, weil sie fürchtete, die Herrin würde zuschlagen.

Eszter floh entsetzt aus dem Raum. Frieda trat wütend gegen den Kübel und kreischte wie eine Verrückte: „Pohanka!!“

Sie kochte vor Wut. Diesen elenden Wurm würde es teuer zu stehen kommen, dass er seine Aufträge nicht ordentlich ausgeführt hatte. Frieda riss eine ihrer Truhen auf und griff nach ihrer Reitgerte.

„Ihr habt gerufen, Frau Baronin?“ Der Kammerdiener verneigte sich tief, um im nächsten Augenblick unter dem Hieb der Pferdepeitsche aufzujaulen. Pohanka riss schreiend die Arme hoch und versuchte den Schlägen zu entkommen.

„Du widerwärtiger Verräter! Du intrigantes Schwein!“ Die Baronin keuchte vor Anstrengung.

„Was habe ich getan? Was habe ich getan?“, wimmerte Pohanka.

„Was du getan hast? Du hast mich belogen und betrogen! Laut dieser neuen Spülmagd ist Thaddäus gar nicht mehr in Ungarn. Wo ist er dann?“ Frieda hatte die Gerte weggeworfen, doch sie war noch nicht fertig. Sie holte aus und verpasste dem Kammerdiener eine schallende Ohrfeige. „Du weißt etwas und du hast mich absichtlich im falschen Glauben gelassen.“ Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger. „Sprich oder du bist noch heute deine Stellung los!“

Emils Augen weiteten sich vor blanker Angst. „Nein“, sagte er weinerlich. „Nein, ich weiß doch nichts.“ Er hob seine Handflächen nach oben. „Ich habe Euch doch von jedem Brief, den der Herr Baron geschrieben oder erhalten hat, sofort berichtet. Auch von dem letzten, in dem der Herr Baron noch einmal angedeutet hat, dass der junge Herr Thaddäus wieder in Wien willkommen ist.“

Frieda hatte sich etwas beruhigt und sah Pohanka finster an. „Und alle diese Briefe sind nach Ungarn gesendet worden?“

Der Diener nickte. „Ja, ausnahmslos alle. Leutgeben hat jeden Brief mit der Adresse des Landguts beschriftet.“

Die Baronin kniff die Augen zusammen. „Und Leutgeben war dann auch derjenige, der die Post an den Kurier gesandt hat?“

Pohanka hob leicht die Schultern. „Das zählt zu seinen Aufgaben, ja.“ Die Stellen, wo die Baronin ihn mit der Peitsche getroffen hatte und seine Wange brannten, aber er wagte es nicht hinzugreifen, um sie nicht noch mehr gegen sich aufzubringen. Er musste die Züchtigung, ob verdient oder nicht, widerstandslos schlucken.

„Dieser Leutgeben könnte mehr wissen. Wir müssen zuerst herausfinden, wie lange Thaddäus überhaupt in Keszthely gewesen ist. Weder mein Schwiegervater noch sonst jemand von uns ist seitdem wieder dort hingefahren.“ Frieda begann in ihrem Zimmer hin- und herzuwandern. „Wann hat Thaddäus das Landgut verlassen? Aber die wichtigste Frage ist: Wo ist er jetzt?“ Die Baronin schwang herum. „Ich bin mir sicher, dass dieser dahergelaufene Sekretär etwas mit der Sache zu tun hat. Er könnte die Briefe weiß Gott wohin geschickt haben.“

„Äh, wohin denn, Frau Baronin?“ Pohanka ließ seine Hand schnell sinken, denn er hatte sich nun doch über die schmerzende Wange gerieben.

„Dorthin, wo sich Thaddäus gerade aufhält, du Schwachkopf!“ Frieda tippte ungeduldig mit dem Fuß auf den Boden. „Hast du jemanden, dem du vertraust und der etwas für dich erledigen kann?

Emil dachte kurz nach und dann nickte er. Die Baronin kam wieder mit erhobenem Zeigefinger auf ihn zu. „Wage es ja nicht, mich reinzulegen.“

„Nein, nein. Einer meiner Neffen ist noch zu jung für eine Stelle. Er kann etwas für mich erledigen. Was soll es denn sein?“

„Von Leutgeben. Ich muss ab jetzt über jeden seiner Schritte Bescheid wissen. Er geht doch ständig ein und aus. Und etliche Male in der Woche ist er auch über Nacht weg.“

„Ja, bei seiner Mutter“, murmelte Pohanka.

„Und wo ist das?“, fragte Frieda scharf.

Der Kammerdiener hob zur Antwort wieder nur die Schultern. Er war erneut nicht vorbereitet und die nächste Ohrfeige landete klatschend auf seiner bereits malträtierten Wange. Pohanka schnaufte gepeinigt auf. Woher nahm diese Furie nur so viel Kraft? Ihre schrille Stimme ließ seine Ohren klingen: „Dann finde es raus, du Nichtsnutz!“

Der Kammerdiener floh auf den Gang und lehnte sich schwer atmend an die Wand. Der Gedanke an eine neue Stelle nach dem Tod des Barons drängte sich wieder in den Vordergrund.

Pohanka schüttelte den Kopf. Selbst wenn sich diesen Schritt überlegte, war er immer noch der mercé[4] der Baronin ausgeliefert. Denn wer würde ihm sonst ein gutes Zeugnis ausstellen?