Huxley, Aldous Moksha

PIPER

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Neuauflage einer früheren Ausgabe

Sunyata, Jubal, Winona, Yuriel,

Joaquin und allen anderen

Kindern der Zukunft gewidmet

Übersetzt aus dem Englischen von Kyra Stromberg

ISBN 978-3-492-97662-6

Mai 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

© Michael Horowitz & Cynthia Palmer 1977

Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel »Moksha. Writings on Psychedelics and the Visionary Experience 1931–1963«, Chatto & Windus, London 1980

© der deutschsprachigen Ausgabe Piper Verlag GmbH, München 1983, 1998

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»Aber derjenige, der das dritte Mantra von OM betrachtet, erblickt Gott, wie er wirklich ist, wird ein Erleuchteter und gewinnt moksha. Ebenso wie die Schlange von ihrer gealterten Haut befreit und wieder neu wird, so genießt der Jogi, der das dritte Mantra verehrt, befreit von irdischer Mühsal, von seinen Sünden und weltlichen Schwächen und frei, um mit seinem Geistleib durch das ganze Universum Gottes zu streifen, für alle Zeiten die Herrlichkeit des Alles-durchdringenden-alles-wissenden-Geistes. Die Betrachtung des letzten Mantra beglückt ihn mit moksha oder Unsterblichkeit.«

Aus dem Mandukyopanishat. Das ist Die Darstellung des OM des Großen Heiligen Namens des Höchsten Wesens in den Veden.

»Und jetzt öffnet nochmals die Augen und schaut auf Nataraja dort oben auf dem Altar. Schaut genau hin. Ihr habt bereits gesehen, dass er in seiner oberen Rechten die Trommel hält, mit der er die Welt ins Dasein ruft, und in seiner oberen Linken trägt er das zerstörende Feuer. Leben und Tod, Ordnung und Verfall, völlig unvoreingenommen. Aber schaut jetzt auf das andre Paar von Shivas Händen. Die untere Rechte ist erhoben und die Handfläche nach außen gewendet. Was bedeutet diese Gebärde? Sie bedeutet: ›Fürchtet euch nicht; es ist gut so.‹ Aber wer, bei gesundem Menschenverstand, würde sich nicht fürchten? Wer könnte vorgeben, dass das Böse und das Leiden gut sind, wenn sie doch ganz offenbar das gerade Gegenteil davon sind? Nataraja kennt die Antwort. Schaut jetzt auf seine untere linke Hand. Mit ihr weist er auf seine Füße. Und was tun seine Füße? Schaut genau hin, und ihr werdet sehn, dass er seinen rechten Fuß – platsch! – auf ein greuliches kleines, kaum menschliches Geschöpf gesetzt hat – den Dämon Muyalaka. Muyalaka ist ein Zwerg, aber ungeheuer mächtig in seiner Bösartigkeit, die Verkörperung der Unwissenheit, die Offenbarung besitzgieriger Selbstsucht. Zertreten wir ihn, brechen wir ihm das Rückgrat! Und genau das tut Nataraja. Mit seinem rechten Fuß zertritt er das kleine Ungeheuer. Aber gebt acht, es ist nicht der rechte, nicht der Fuß, der zertritt, auf den er mit dem Finger weist; er weist auf seinen linken, den Fuß, den er im Tanz sogleich vom Boden heben wird. Und warum weist er auf ihn? Warum? Dieser erhobene Fuß, diese tänzerische Herausforderung an die Anziehungskraft der Erde – er ist das Symbol der Erlösung, des moksha, der Befreiung. Nataraja tanzt in allen Welten zugleich – in der Welt der Physik und Chemie, die Welt alltäglicher, allzu menschlicher Erfahrung und endlich in der Welt des So-Seins, des geistes, des hellen lichts.

Aus Aldous Huxleys Eiland

Vorwort

Als Mitte der fünfziger Jahre Aldous Huxleys Essays Die Pforten der Wahrnehmung und Himmel und Hölle erschienen, fand ich darin Erfahrungen beschrieben und Ideen formuliert, die mich seit der Entdeckung des LSD elf Jahre zuvor in Gedanken unausgesetzt beschäftigt hatten.

Zu jener Zeit war LSD bereits im Zusammenhang mit der Medizin, der Biologie, der Pharmakologie und der Psychiatrie in großem Rahmen wissenschaftlich erforscht worden, und es waren bereits über tausend Arbeiten darüber publiziert worden. Aber mir schien, dass eine wesentliche Wirkungskraft dieser chemischen Verbindung noch nicht hinreichend beachtet oder erkannt worden war, nämlich ihr Vermögen, visionäre Erlebnisse hervorzurufen. Ich war daher sehr froh zu erfahren, dass eine Persönlichkeit von so hohem literarischen und geistigen Rang wie Aldous Huxley Meskalin genommen hatte, das ähnliche Wirkungen zeigt wie LSD, und diesem Phänomen eine sehr gründliche Studie gewidmet hatte. Meskalinforschung hat es bereits um die Jahrhundertwende gegeben, aber das Interesse an der Droge hat später stark nachgelassen.

Zur gleichen Zeit, zu der Huxley seinen Meskalinversuch durchführte, hielt ich LSD-Sitzungen mit dem weitbekannten deutschen Schriftsteller Ernst Jünger ab, um tiefere Erkenntnisse über die visionären Erlebnisse zu gewinnen, die diese Droge im menschlichen Bewusstsein hervorruft. Ernst Jünger berichtete über seine Erfahrungen in einem Essay mit dem Titel Besuch auf Godenholm (Frankfurt a. M., 1952), der in literarischer Form das Wesentliche seiner Interpretationen enthält. Aldous Huxley liefert hingegen in den genannten Arbeiten nicht nur eine meisterhafte Beschreibung seiner ersten Erfahrungen mit Meskalin, sondern auch eine Bewertung dieser Art von Drogen vom höchsten seelischen und geistigen Standpunkt aus, wobei er soziologische, ästhetische und philosophische Aspekte einbezieht.

Aldous Huxley plädierte in der Tat für den Gebrauch bestimmter Drogen, was einige Leute, die seine Arbeiten nur oberflächlich oder gar nicht kannten, dazu brachte, ihm vorzuwerfen, er sei in gewissem Maße schuld an dem steigenden Drogenmissbrauch oder sogar selbst drogensüchtig. Diese Anklage hat selbstverständlich keinerlei vernünftige Basis, da sich Huxley nur mit Substanzen beschäftigt hat, für die Humphry Osmond den Begriff »psychedelisch« erfunden hat. Das sind die psychotropen Mittel, die bislang in der wissenschaftlichen Literatur als »Phantastika«, »Halluzinogene« oder »Psychotomimetica« bezeichnet wurden. Es sind keine narkotischen suchterzeugenden Substanzen wie das Opiat Heroin oder wie Kokain mit ihren zerstörerischen Folgen für Körper und Geist, vor denen Huxley nachdrücklich warnte.

Psychotrope Substanzen pflanzlichen Ursprungs waren in Mexiko bereits seit Tausenden von Jahren als heilige Drogen bei religiösen Zeremonien und als magische Tränke mit Heilwirkung in Gebrauch. Die wichtigsten dieser psychedelischen Substanzen sind: Meskalin, das im Peyote-Kaktus vorkommt; Psilocybin, das ich aus den heiligen mexikanischen Pilzen, Teonanacatl mit Namen, isoliert habe; und natürlich LSD. Trotz der Tatsache, dass LSD (Lysergsäurediäthylamid) eine halbsynthetische Substanz ist, die ich im Labor aus Lysergsäure herstellte, die im Mutterkorn, einem Pilz, der Roggen befällt, enthalten ist, gehört es aufgrund seiner chemischen Zusammensetzung wie auch seiner psychotropen Wirkungsweise zu der Gruppe der heiligen mexikanischen Drogen. Diese Klassifizierung ist außerdem noch dadurch gerechtfertigt, dass wir in einer anderen heiligen mexikanischen Droge, im Ololiuqui, die Wirkstoffe Lysergsäureamid und Lysergsäurehydroxyäthylamid festgestellt haben, die, wie die chemischen Bezeichnungen zeigen, dem Lysergsäurediäthylamid eng verwandt sind.

Ololiuqui ist der aztekische Name für den Samen einer bestimmten Art der Purpurwinde. LSD kann als eine Ololiuqui-Droge mit stärkerer Wirkung gelten. Denn während die aktive Dosis des Ololiuquibestandteils Lysergsäure 2 mg ausmacht (0,002 g), lässt sich die gleiche Wirkung mit nur 0,05–0,1 mg LSD erreichen.

Es waren die tiefen bewusstseinsverändernden psychischen Wirkungen von Peyote, Teonanacatl und Ololiuqui, welche die Indianer Lateinamerikas mit solcher Hochachtung und Ehrfurcht vor diesen Drogen erfüllten und sie veranlassten, sie mit einem Tabu zu belegen. Nur eine im rituellen Sinne reine Person, jemand, der durch langes Fasten und Beten vorbereitet war, hatte das Recht und die Qualifikation, diese Drogen zu nehmen, und nur in so einem gereinigten Körper konnte sich die göttliche Natur der Drogen entfalten, während die Unreinen das Gefühl hatten, wahnsinnig oder todkrank zu werden.

Es war Aldous Huxleys Bestreben, zu zeigen, wie die diesen heiligen Drogen innewohnende Kraft für das Wohl der Menschen genutzt werden könnte, die in einer technologischen, mystischer Offenbarung feindlichen Gesellschaft leben. Die in diesem Band versammelten Essays und Vorträge werden ein besseres Verständnis seiner Ideen bewirken. Nach Huxleys Ansicht sollte die Einnahme von psychedelischen Substanzen Teil eines »angewandten Mystizismus« sein, den er mir in einem Brief vom 29. Februar 1962 so beschrieb:

… eine Methode, die dem Einzelnen helfen soll, das Beste aus seinem transzendentalen Erlebnis zu gewinnen und von seinen Einsichten in die »andere Welt« bei den Angelegenheiten »dieser Welt« Gebrauch zu machen. Meister Eckhart schrieb, dass das, »was durch Kontemplation gewonnen wird, mit Liebe weitergegeben werden muss«. Im Wesentlichen müssen wir das entwickeln – die Kunst, mit Liebe und Verstand das weiterzugeben, was wir in der Vision und in dem Erlebnis der Selbsttranszendenz und des Einsseins mit dem Universum gewonnen haben.

In seinem letzten, äußerst bewegenden Buch Eiland beschreibt Aldous Huxley, wie eine Kultur beschaffen sein muss, in der psychedelische Substanzen – in dem Roman nennt er sie moksha-Medizin – auf eine zuträgliche Weise angewandt werden könnten. Moksha ist daher ein sehr passender Titel für dieses Buch, für das wir den Herausgebern sehr dankbar sein müssen.

Albert Hofmann

Burg i. L., Schweiz

TEIL I

VORKENNTNIS

KAPITEL 1

1931

Eine Abhandlung über Drogen

Aldous Huxley

Phantastica, Louis Lewins epochemachender Bericht über die weltweit konsumierten psychedelischen Drogen, erschien 1931 in englischer Sprache. Irgendwann in jenem Jahr – entweder als in London sein erstes Stück Die Welt des Lichts herausgebracht wurde, oder als er an der französischen Riviera Schöne neue Welt schrieb – entdeckte Aldous Huxley dieses Buch. Es ist anzunehmen, dass Lewins Abhandlung Aldous Huxley als Einführung in die Geschichte der Drogen und ihrer Wirkungen diente, obwohl noch zweiundzwanzig Jahre vergehen sollten, bis er seine ersten Selbstversuche mit Meskalin machte – und Lewin mit der ersten Zeile des Buches, das aus diesem Experiment hervorging, Tribut dafür zollte. (Es gibt keinerlei Beweis für Francis Kings Behauptung, dass Aleister Crowley in den zwanziger Jahren Huxley in Berlin mit Meskalin bekannt machte). Huxleys erste Veröffentlichung über den Konsum von Drogen berührt Themen, zu denen er in seinen späteren Arbeiten immer wieder zurückkehren wird, so: den weit verbreiteten und tiefgreifenden Gebrauch von Drogen; die Bedeutung von Drogen bei religiösen Zeremonien; die menschliche Neigung, gelegentlich der Alltagswelt zu entfliehen; das Problem der Abhängigkeit; das Versagen von Verboten; und die Drogen der Zukunft.

Gestern entdeckte ich in einem Buchladen, verstaubt und unbeachtet auf einem der oberen Regale, die schwergewichtige Arbeit eines deutschen Pharmakologen. Das Buch war nicht teuer. Ich bezahlte und trug den nicht gerade vielversprechend aussehenden Schatz nach Hause. Es war ein dickes Buch, reich an Material und in seiner Art ein Schulbeispiel dafür, wie literarischer Stil keinesfalls sein sollte. Strenggenommen ein unlesbares Buch. Trotzdem las ich es von Anfang bis Ende mit wachsendem leidenschaftlichem Interesse. Denn dieses Buch war eine Art Enzyklopädie der Drogen. Opium und seine neuen Derivate; Morphium und Heroin; Kokain und das mexikanische Peyote; Haschisch aus Indien und dem Nahen Osten; das Agarik aus Sibirien; der Kawa aus Polynesien; der Betel Ostindiens; der jetzt überall verbreitete Alkohol; Äther, Chloralhydrat, das Veronal unserer westlichen Welt – keine einzige Droge war vergessen. Als ich auf der letzten Seite angekommen war, wusste ich einiges über Geschichte, Verbreitungsgebiete und Art der Zubereitung sowie über die körperlichen und seelischen Wirkungen all der köstlichen Gifte, mit deren Hilfe sich Menschen in einer unfreundlichen Welt ihre flüchtigen und fragwürdigen Paradiese errichtet haben.

Die Geschichte des Drogenkonsums stellt eines der merkwürdigsten und auch – wie mir scheint – der bezeichnendsten Kapitel in der Naturgeschichte der Menschheit dar. Überall und zu allen Zeiten haben Menschen Mittel gesucht und auch gefunden, um der Wirklichkeit ihrer gewöhnlich langweiligen und oft auch äußerst unerquicklichen Existenz für kurze Zeit zu entkommen: zu einem Urlaub außerhalb von Raum und Zeit, in der Ewigkeit von Schlaf oder Ekstase, im Himmel oder in einem Zwischenreich visionärer Fantasien. »Irgendwo, irgendwo außerhalb der Welt.«

Drogengenuss spielt, das ist bedeutsam, eine wichtige Rolle in fast allen primitiven Religionen. Die Perser, vor ihnen die Griechen und wahrscheinlich die alten Hindus, benutzten Alkohol, um religiöse Ekstase zu erreichen; die Mexikaner verschafften sich ihre beseligenden Visionen durch den Genuss eines giftigen Kaktus. Ein Giftpilz erfüllte die sibirischen Schamanen mit Begeisterung und ermöglichte ihnen, in Zungen zu reden. Und so fort. Alle Andachtsübungen der späteren Mystiker sind dazu bestimmt, die wundersamen Wirkungen der Drogen allein durch psychische Kräfte hervorzurufen. Wie viele der gegenwärtigen Vorstellungen über Ewigkeit, Himmel, übernatürliche Zustände stammen letztlich von Drogenkonsumenten?

Der primitive Mensch untersuchte die pharmakologischen Möglichkeiten, dieser Welt zu entkommen, mit wirklich erstaunlicher Gründlichkeit. Unsere Vorfahren ließen kaum ein natürliches Stimulans, Rausch- oder Betäubungsmittel unentdeckt. Not macht erfinderisch; der Primitive verspürte, genau wie sein zivilisierter Nachfahr, ein so dringendes Bedürfnis, gelegentlich der Realität zu entkommen, dass die Entdeckung der Drogen ihm nahezu aufgezwungen wurde.

Alle bekannten Drogen sind heimtückisch und schädlich. Der Himmel, in den sie ihre Opfer führen, verwandelt sich schnell in eine Hölle von Krankheit und moralischem Verfall. Zuerst töten sie die Seele, dann nach wenigen Jahren den Körper. Wie kann man dem abhelfen? »Verbot«, antworten alle heutigen Regierungen im Chor. Aber die Ergebnisse von Verboten sind nicht ermutigend. Die Menschen empfinden ein so dringendes Bedürfnis, gelegentlich Urlaub vom Alltag zu nehmen, dass sie fast zu allem bereit sind, um sich die Mittel zur Flucht zu verschaffen. Die einzige Rechtfertigung für Verbote wäre ihr Erfolg; aber Verbote sind nicht erfolgreich und können es, so wie die Dinge liegen, auch nicht sein. Der einzige Weg, die Menschen vor zu hohem Alkoholkonsum oder der Abhängigkeit von Morphium oder Kokain zu bewahren, wäre, ihnen einen wirksamen, aber unschädlichen Ersatz für diese köstlichen und (in der gegenwärtigen unvollkommenen Welt) notwendigen Gifte zu verschaffen. Der Mensch, der ein solches Mittel erfindet, wird zu den größten Wohltätern der leidenden Menschheit gezählt werden.

KAPITEL 2

1931

Auf der Suche nach einem neuen Lustgefühl

Aldous Huxley

Huxley lebt an der französischen Riviera und beobachtet die Sitten und Gewohnheiten einer genusssüchtigen Gesellschaft, für die Alkohol und Kokain die bevorzugten Drogen sind, als er in diesem kurzen Essay – einem Nebenprodukt der Arbeit an Schöne neue Welt – im Ton spielerischer Ironie eine »himmlische, weltverändernde Droge« beschreibt, die Wissenschaftler der Zukunft entdecken könnten.

Die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts entdeckte die Methode des Entdeckens, und unser Zeitalter ist folgerichtig das Zeitalter der Erfindungen. Ja, das Zeitalter der Erfindungen; wir werden nicht müde, diese Tatsache zu verkünden – und dennoch ist es noch keinem gelungen, ein neues Lustgefühl zu erfinden.

Kürzlich, während eines Aufenthalts an der französischen Riviera, einer Gegend, die in den Reiseprospekten als die eigentliche Heimat des Vergnügens angepriesen wird, ging mir diese merkwürdige und ziemlich bedrückende Tatsache zum ersten Mal auf. Rund fünfundsechzig Kilometer entlang der Mittelmeerküste – von der italienischen Grenze bis zu den Bergen von Esterel – haben sich in ein ungeheures Vergnügungsgebiet verwandelt. Oder, um genauer zu sein: man hat daraus einen ungeheuren, weit auseinandergezogenen Vorort gemacht – den Vorort von ganz Europa und den beiden Amerikas –, der sich hier und da zu städtischen Kernen wie Menton, Nizza, Antibes, Cannes konzentriert. Die Franzosen haben eine hohe Begabung für Eleganz, aber auch für Hässlichkeit. Es gibt keine scheußlicheren Vororte auf der ganzen Welt als die rund um die französischen Städte. Die ausgedehnte banlieue der Riviera macht keine Ausnahme von der Regel. Die chaotische Verkommenheit dieser sich lang hinziehenden bürgerlichen Slums ist glücklicherweise einzigartig. Die Städte sind natürlich sehr viel gelungener als die mit ihnen verbundenen Vororte. Eine gewisse, auf gefällige und absurde Weise altmodisch-kitschige Großartigkeit ziert Monte Carlo; Nizza ist weiträumig, hell und lebendig; Cannes feierlich-pompös, so als sei es sich seiner teuren Eleganz bewusst. Und alle sind sie mit den ausgefeiltesten und teuersten Möglichkeiten ausgestattet, um ihren Gästen Vergnügungen zu bieten.

Während ich mich amüsierte, oder vielmehr versuchte, mich inmitten dieses Vergnügungsbetriebs zu amüsieren, kam ich zu dem niederdrückenden Schluss, dass es keine neuen Vergnügungen gibt. Der Gedanke kam mir, wie ich mich erinnere, an einem düsteren Winterabend, als ich aus dem Restaurant des Ambassadeurs in Cannes heraustrat und in einen dieser heulenden halb alpinen, halb maritimen Winde geriet, die an bestimmten Tagen die Croisette und die Promenade des Anglais zu einer unangenehm genauen Nachahmung der Wuthering Heights machen. Ich stellte plötzlich fest, dass wir, soweit es Vergnügungen betrifft, nicht besser dran sind als die Römer oder die Ägypter. Galilei und Newton, Faraday und Clerk Maxwell haben, was das betrifft, umsonst gelebt. Die großen, die moderne Vergnügungsindustrie beherrschenden Aktiengesellschaften können uns nichts bieten, was sich wesentlich von den Zerstreuungen unterscheidet, die einst die Konsuln dem römischen Volk offerierten, oder von dem, was Trimalchios’ Kuppler für das Amüsement der gelangweilten und übersättigten Reichen zur Zeit Neros inszenieren konnten. Und das, obwohl es mittlerweile Kino, Grammofon, Radio und alle möglichen anderen Mittel zur Unterhaltung der Menschheit gibt. Die Apparate, die diese Unterhaltung vermitteln, sind zweifellos ganz modern; nichts Ähnliches hat es früher gegeben. Aber daraus folgt noch nicht, dass die Art der Unterhaltung, die sie reproduzieren und verbreiten, ebenfalls modern ist. Sie ist es keineswegs. Diese neuen Geräte machen einzig und allein Drama, Pantomime und Musik – womit sich die Menschheit seit undenklichen Zeiten unterhalten hat – einem breiteren Publikum zugänglich.

Eine derartige mechanisch reproduzierte Unterhaltung ist billig und wird deshalb in solchen Vergnügungszentren wie der Riviera nicht gefördert. Deren einziger Zweck ist es, die Reisenden zu veranlassen, in einem Minimum an Zeit ein Maximum an Geld auszugeben. Deshalb werden an derlei Plätzen Drama, Pantomime und Musik in der ursprünglichen Form – wie einst unseren Vorfahren – dargeboten, ohne Zwischenschaltung mechanischer Wiedergabegeräte. Und auch die übrigen Vergnügungen dort sind nicht weniger traditionell. Es wird zu viel gegessen und getrunken; man starrt auf halb oder völlig nackte Tänzerinnen und Akrobaten in der Hoffnung, den abgestumpften sexuellen Appetit anzuregen; es wird getanzt; man veranstaltet Spiele oder sieht ihnen zu. Vorzugsweise sind es recht grausame und wilde Spiele; Tiere zu töten, war schon immer der Sport der Reichen und, wenn sie die Möglichkeit hatten, auch der Armen. Nicht weniger traditionell ist das andere seltsame, für die Riviera so charakteristische Amüsement – das Glücksspiel. Glücksspiele müssen mindestens so alt sein wie das Geld; ja, ich könnte mir vorstellen, noch viel älter – so alt wie die Menschheit selbst oder jedenfalls so alt wie die Langeweile, so alt wie das Verlangen nach künstlichen Erregungen und Gefühlen.

Offiziell beschließt das die Liste der von der Unterhaltungsindustrie an der Riviera angebotenen Vergnügungen. Aber man darf nicht vergessen, dass all dieses für diejenigen, die dafür zahlen, sozusagen in einem ganz bestimmten Gefühlsbereich angesiedelt ist – im Lust-Schmerz-Komplex des Snobismus. Die Tatsache, dass man fähig ist, den Zutritt zu exklusiven (sprich teuren) Unterhaltungsetablissements zu bezahlen, verschafft den meisten Menschen eine beträchtliche Befriedigung. Sie finden es schön, an die arme und vulgäre Masse draußen zu denken, genauso, wie laut Tertullian und anderen Kirchenvätern die Seligen es genießen, von Himmelsbalkonen auf die Verrenkungen der Verdammten unten in der Hölle hinabzusehen. Stolzgebläht genießen sie es, unter den Erwählten zu sitzen oder selbst die Erwählten zu sein, deren Namen in den Gesellschaftsspalten der kontinentalen Ausgabe der Daily Mail oder der in Paris erscheinenden New York Herald Tribüne stehen. Snobismus ist zwar oft die Quelle qualvoller Schmerzen, aber er ist ebenso die Quelle eines erlesenen Vergnügens. Dieses spezielle Amüsement wird in solchen Gegenden großzügig angeboten und bildet eine Art Hintergrund für alle anderen Vergnügungen.

Nun gibt es diese für solche Orte typischen Vergnügungen, einschließlich des Snobismus, seit undenklichen Zeiten – bestenfalls sind es Variationen althergebrachter Themen. Wir leben im Zeitalter der Erfindungen; aber die professionellen Entdecker waren nicht fähig, sich eine völlig neue Art auszudenken, unsere Sinne zu reizen oder in uns angenehme Gefühle hervorzurufen.

Aber das ist schließlich nicht so erstaunlich, dachte ich weiter, als ich, gegen den Sturm ankämpfend, meinen Weg auf der Croisette fortsetzte. Unsere physische Ausstattung ist annähernd so geblieben, wie sie vor zehntausend Jahren war. Zwar hat sich unser Bewusstsein beträchtlich verändert; ganz offensichtlich werden niemals alle Möglichkeiten der menschlichen Psyche gleichzeitig verwirklicht. Geschichte ist, neben vielem anderen, die Aufzeichnung aufeinanderfolgender Verwirklichungen, Versäumnisse und neuer Verwirklichungen dieser nahezu unzähligen Möglichkeiten in jeweils anderem Zusammenhang und in verschiedenster Zusammensetzung. Aber trotz dieser Veränderungen (die üblicherweise, wenn auch zu Unrecht, psychische Evolution genannt werden) sind die einfachen, instinktiven Gefühle, ebenso wie die Sinne, an die sich die Veranstalter solcher Vergnügungen richten, bemerkenswert beständig geblieben. Es ist die Aufgabe der Veranstalter, eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner für die Unterhaltung zu finden, die eine möglichst große Zahl von Menschen, ungeachtet ihrer besonderen psychischen Zu- oder Abneigungen, befriedigen soll. Eine derartige Unterhaltung darf, so viel ist sicher, nicht differenziert sein. Sie muss auf die einfachsten der allen Menschen gemeinsamen Eigenschaften wirken, auf die körperlichen und seelischen Grundzüge einer Person, nicht auf die Persönlichkeit. Nun ist die Zahl der Wirkungen auf das, was ich das »große Unpersönliche« nennen möchte und was alle menschlichen Wesen gemein haben, eng begrenzt, so eng, dass, wie sich herausgestellt hat, unsere Erfinder bisher unfähig waren, irgend etwas Neues zu erfinden. Es gibt ein einziges – zweifelhaftes – Beispiel für ein neues Vergnügen; ich werde darauf noch zu sprechen kommen. Wir sind immer noch mit den Amüsements zufrieden, die unsere Vorfahren in der Bronzezeit entzückt haben. (Nebenbei, einige gute Gründe sprechen dafür, dass unsere Arten des Zeitvertreibs denen der Bronzezeit tatsächlich unterlegen sind. Die modernen Vergnügungen sind völlig profan und besitzen nicht die geringste kosmische Bedeutung, wogegen die der Bronzezeit meistens religiöse Riten darstellten und von denen, die an ihnen teilnahmen, als höchst bedeutungsträchtig empfunden wurden.)

Soweit ich erkennen kann, müsste das einzig mögliche neue Vergnügen durch die Erfindung einer neuen Droge herbeigeführt werden – einen wirkungsvolleren und weniger gefährlichen Ersatz für Alkohol und Kokain. Wäre ich Millionär, würde ich eine Gruppe von Wissenschaftlern damit beauftragen, nach dem idealen Rauschmittel zu forschen. Wenn wir etwas einatmen oder schlucken können, das fünf oder sechs Stunden täglich unsere Vereinsamung als Einzelwesen aufheben und uns mit unseren Mitmenschen in einer Aufwallung glühender Zuneigung versöhnen könnte, etwas, das uns das Leben in jeder Hinsicht nicht nur lebenswert, sondern göttlich schön und bedeutend erscheinen ließe, und wenn diese himmlische, die Welt verändernde Droge so wäre, dass wir am nächsten Morgen frisch und munter aufwachten – dann, so scheint mir, wären all unsere Probleme (und nicht nur das eine kleine Problem der Entdeckung eines neuen Vergnügens) vollkommen gelöst und die Erde würde zum Paradies werden.

Einer solchen neuen Droge am nächsten käme – und wie unermesslich weit entfernt ist das vom idealen Rauschmittel! – die Geschwindigkeitsdroge. Geschwindigkeit, scheint mir, verschafft uns das einzige wirklich moderne Vergnügen. Zugegeben, die Menschen haben Geschwindigkeit immer genossen; aber ihre Freude war, bis vor ganz kurzer Zeit, begrenzt durch die Höchstgeschwindigkeit des Pferdes, die bei knapp fünfzig Kilometer pro Stunde liegt. Nun kommt uns diese Geschwindigkeit auf einem Pferd viel schneller vor als hundert Kilometer im Zug oder hundertsechzig Kilometer im Flugzeug. Der Zug ist zu groß und fährt zu gleichmäßig, das Flugzeug ist zu weit entfernt von einer unbeweglichen Umgebung, um dem Reisenden eine sehr intensive Empfindung der Geschwindigkeit zu verschaffen. Das Auto ist klein und dem Erdboden nahe genug, um als berauschender Geschwindigkeitserzeuger mit dem galoppierenden Pferd konkurrieren zu können. Die Rauschwirkung der Geschwindigkeit ist auf dem Pferderücken bei etwa dreißig Stundenkilometern, im Auto bei zirka hundert bemerkbar. Wenn das Auto etwa hundertzwanzig überschritten hat, empfindet man ein noch nie dagewesenes Gefühl – ein Gefühl, das kein Mensch je empfunden hat, der nur die Fortbewegung auf dem Pferderücken kannte. Es wird stärker und stärker mit zunehmender Geschwindigkeit. Ich selbst bin mit dem Auto nie viel schneller als hundertdreißig Kilometer pro Stunde gefahren; aber diejenigen, die einen stärkeren Schnelligkeitsrausch genossen haben, sagen, dass jeden, der die Möglichkeit hat, die Hundertsechzig-Kilometer-Grenze zu überschreiten, neue Wunder erwarten. Wann das Vergnügen zu Unbehagen wird, weiß ich nicht. Jedenfalls lange bevor die fantastischen in Daytona Beach[1] üblichen Geschwindigkeiten erreicht werden. Dreihundertundzwanzig Stundenkilometer zu fahren – das muss eine absolute Tortur sein.

Hierin gleicht natürlich die Geschwindigkeit allen anderen Vergnügungen; frönt man ihnen bis zum Exzess, schlagen sie in ihr Gegenteil um. Jedes einzelne Vergnügen hat sein entsprechendes Missvergnügen, kann sich in Langeweile oder Abscheu verkehren. Die ausgleichende Kehrseite des zu großen Geschwindigkeitsrausches muss, so vermute ich, eine schreckliche Kombination aus heftigem physischem Unbehagen und sehr starker Angst sein. Nein, wenn man sich schon auf Exzesse einlässt, ist man wahrscheinlich besser beraten, sich an das althergebrachte Überfressen zu halten.

[1] Daytona Beach = berühmte Rennstrecke an der Küste von Florida. (A.d.Ü.)

KAPITEL 3

1932

Soma

Aldous Huxley

In dem futuristischen Roman Schöne neue Welt wird eine angeblich »vollkommene Droge« kommerziell entwickelt und in großem Umfange vertrieben. Huxley nannte sie »Soma« nach der ältesten bekannten Droge, die in der Rigveda, der alten Hindu-Schrift, als berauschender Trank erwähnt wird: »Ein sehr starkes alkoholisches Getränk… das durch Gärung einer Pflanze gewonnen und wie die Pflanze selbst als heilig verehrt wird.« (Lewin, Phantastica). R. G. Wasson hat später nachzuweisen versucht, dass für das Soma-Gebräu der die Psyche anregende Pilz Amanita muscaria verwendet wurde. In einem Interview im Jahre 1960 hat Huxley erklärt, das »Soma« seines Romans sei eine »frei erfundene Droge«, die keinerlei Ähnlichkeit mit Meskalin oder LSD habe und »auf dreierlei Weise wirkt: euphorisierend, halluzinogen und beruhigend – eine völlig unmögliche Kombination«.

»Jetzt haben wir den Weltstaat, Fordtagsfeiern, Vereinigungssingereien und Eintrachtsandachten.«

»Herrford, wie ich sie hasse!« dachte Sigmund Marx.

»Und es gab einen sogenannten Himmel. Das hielt aber die Menschen nicht ab, ungeheuer viel Alkohol zu trinken.«

»Wie Fleisch, wie ein Stück Fleisch.«

»Und es gab eine sogenannte Seele und eine sogenannte Unsterblichkeit.«

»Frag doch Henry, woher er ihn hatte!«

»Trotzdem spritzten sie sich Morphium ein und schnupften Kokain.«

»Das allerschlimmste ist, dass sie selbst sich als ein Stück Fleisch betrachtet.«

»Zweitausend Pharmakologen und Biochemiker erhielten einhundertachtundsiebzig nach Ford Forschungsmittel aus öffentlichen Geldern.«

»Wie finster der Mensch dreinsieht«, sagte der Prädestinationsassistent und wies auf Sigmund Marx.

»Sechs Jahre später wurde das ideale Rauschmittel bereits fabrikmäßig hergestellt.«

»Wir wollen ihn ein bisschen aufziehen.«

»Euphorisierend, narkotisierend, angenehme Halluzinationen weckend.«

»Warum so düster, Marx?« Der Klaps auf seine Schulter ließ Sigmund zusammenfahren und aufblicken. Henry Päppler war’s, dieses Schwein! »Wissen Sie, was Sie brauchen? Ein Gramm Soma.«

»Alle Vorzüge des Christentums und des Alkohols, ohne deren Nachteile.«

»Herrford, am liebsten möchte ich ihn erwürgen!« dachte er. Aber er sagte nur höflich: »Nein, danke!«, und wies das angebotene Tablettenröhrchen zurück.

»Urlaub von der Wirklichkeit nehmen, wann immer man will, und dann wieder in den Alltag zurückkehren, weder von Kopfschmerzen noch von Mythologie geplagt.«

»Bedienen Sie sich!« drängte Päppler. »Bedienen Sie sich doch!«

»Die Stabilität war damit völlig gesichert.«

»Ein Kubikzentimeter vertreibt zehn Miesepeter.« Der Prädestinator zitierte eine alte Schlafschulweisheit.

»Nun musste man nur noch dem Altern beikommen.«

»Verfluchte Bande, verfluchte!« schrie Sigmund Marx.

»Aber, aber!«

»Gonadenhormone, Frischzellen, Magnesiumsalze –«

»Vergessen Sie nicht: Ein Gramm versuchen ist besser als fluchen!« Lachend gingen sie hinaus.

»Sämtliche physiologischen Symptome des Greisenalters sind beseitigt. Und zugleich mit ihnen natürlich auch –«

»Vergiss nicht, ihn wegen des Malthusgürtels zu fragen!« mahnte Stinni.

»– alle psychischen Eigenheiten alter Menschen. Heutzutage bleibt der Charakter während des ganzen Lebens unverändert.«

»– noch zwei Runden Hindernisgolf spielen, bevor es dunkel wird. Habe es sehr eilig.«

»Ob bei der Arbeit oder beim Spiel – unsere Kräfte und Gelüste sind mit sechzig dieselben wie mit siebzehn. In der schlechten alten Zeit resignierten die bejahrten Leute, zogen sich von der Welt zurück, warfen sich der Religion in die Arme und vertrieben sich die Zeit mit Lesen und Nachdenken. Stellen Sie sich das vor: mit Nachdenken!«

»Idiotische Schweinebande!« murmelte Sigmund Marx vor sich hin, während er durch den Korridor zum Aufzug ging.

»Heutzutage – sehen Sie, das ist wahrer Fortschritt! – arbeiten die alten Leute, erfreuen sich ihrer sexuellen Triebe, sind immer beschäftigt, das Vergnügen lässt ihnen keine Musse, keinen freien Augenblick, um sich hinzusetzen und nachzudenken. Und selbst wenn sich durch einen unglückseligen Zufall ein Loch in der ununterbrochenen Folge ihres Zeitvertreibs auftut, ist immer Soma zur Hand, das köstliche Soma! Ein halbes Gramm genügt für einen freien Nachmittag, ein Gramm fürs Wochenende, zwei Gramm für einen Ausflug in die Pracht des Orients, drei Gramm für eine dunkle Ewigkeit auf dem Mond. Und wenn sie zurückkehren, sind sie bereits über den Abgrund hinweg, stehen auf dem sicheren Boden täglicher Arbeit und Unterhaltung, eilen von einem Fühlkino ins andere, von einem pneumatischen Mädchen zum nächsten, von elektromagnetischem Golf zu –«

[…]

Die Gruppe war jetzt vollzählig, der Eintrachtskreis geschlossen und ohne Fehl. Mann, Frau, Mann, ein endlos wechselnder Ring um den Tisch. Zwölf Menschen, bereit, eins zu werden, zu verschmelzen, ihre zwölf Einzeldasein an ein größeres Sein zu verlieren.

Der Vorsänger erhob sich, schlug ein T und drehte die synthetische Musik an: leise, endlose Trommelschläge und ein Orchester – Aus- und Einbläser und Über- und Unterstreicher –, das schallend die kurze, unentrinnbare Melodie der ersten Eintrachtshymne immer von neuem wiederholte. Wieder und wieder – nicht mehr das Trommelfell fing den pochenden Rhythmus auf, sondern das Zwerchfell. Das Drängen und Schmachten der Harmonien erregte nicht das Gemüt, sondern die Eingeweide, den Unterleib. Abermals schlug der Vorsänger ein T und setzte sich. Die Andacht hatte begonnen. Die diesem Zweck geweihten Somatabletten wurden in die Mitte des Tisches gelegt. Der Eintrachtskelch, gefüllt mit Erdbeereiscremesoma, ging von Hand zu Hand, und zwölfmal wurde mit dem Spruch »Ich trinke auf meine Auflösung« daraus getrunken. Dann sang man zu synthetischer Orchesterbegleitung die erste Eintrachtshymne:

Ford, wir sind zwölf, o mach uns eins

Wie Tropfen im Gemeinschaftsquell;

Lass laufen uns im Strom des Seins

Schnell wie dein 12-PS-Modell!

Zwölf inbrünstige Strophen. Der Kelch machte zum zweitenmal die Runde. »Ich trinke auf das Größere Sein« lautete jetzt der Spruch. Alle tranken. Unermüdlich spielte die Musik. Die Trommeln dröhnten. Das Aufschreien und Aufeinanderprallen der Harmonien wurde zur Besessenheit in den hinschmelzenden Eingeweiden. Man stimmte die zweite Eintrachtshymne an:

Komm, Größres Sein, du Trost der Massen,

Und schmilz uns zwölf zu einem hin;

Wenn unser Einzelsein wir lassen,

Ist es des Größern Seins Beginn.

Abermals zwölf Strophen. Unterdessen begann das Soma seine Wirkung zu tun. Die Augen glänzten, die Wangen glühten, das inwendige Leuchten einer alles umfassenden Güte offenbarte sich auf jedem Gesicht durch ein glückseliges, einladendes Lächeln. Sogar Sigmund fühlte sich ein wenig hinschmelzen. Als sich Morgana Rothschild ihm strahlend zuwandte, gab er sich die größte Mühe, zurückzustrahlen. Aber diese Augenbraue, diese schwarze Einswerdung, war leider noch immer da und ließ sich nicht wegleugnen, so sehr er sich auch anstrengte. Er war noch nicht genügend hingeschmolzen. Ja, wenn er zwischen Monisma und Drahtleite gesessen hätte … Zum drittenmal kreiste der Kelch. »Ich trinke auf Sein Nahen«, rief Morgana Rothschild, bei der diesmal zufällig die Zeremonie begann. Ihre Stimme war laut und überschwenglich. Sie trank und reichte Sigmund den Kelch. »Ich trinke auf Sein Nahen«, wiederholte er bei dem ehrlichen Versuch, das Nahen zu spüren. Doch der Gedanke an die Augenbraue verfolgte ihn, und das Nahen lag für ihn noch in grauenhafter Ferne. Er trank und reichte Marlene Deterding den Kelch. »Es wird wieder ein Misserfolg«, sagte er sich. »Ich weiß es.« Aber er tat sein möglichstes, um zu strahlen.

Der Kelch hatte die Runde gemacht. Der Vorsänger gab mit erhobener Hand ein Zeichen, man stimmte die dritte Hymne an:

Oh, freuet euch voll Überschwang:

Das Allerhöchste nahet sich.

Schmelzt hin bei dieser Trommeln Klang,

Denn ich bin du, und du bist ich!

KAPITEL 4

1936

Propaganda und Pharmakologie

Aldous Huxley

Gehirnwäsche war ein Thema, auf das Huxley immer wieder zurückkam. Das Anwachsen des Faschismus in den dreißiger Jahren veranlasste ihn zu einem längeren Essay, Schriftsteller und Leser, der einen Abschnitt über die neuesten Methoden einer chemischen Bewusstseinsvergewaltigung enthielt. Sogar nach seinen positiven Erfahrungen mit psychedelischen Substanzen fuhr er, zwei Jahrzehnte später, fort, vor dem Phänomen einer »pharmakologischen Attacke« zu warnen.

… Die Propagandisten der Zukunft werden vermutlich Chemiker, Physiologen und auch Schriftsteller sein. Eine Kapsel, die dreiviertel Gramm Chloral und dreiviertel Milligramm Skopolamin enthält, erzeugt in der Person, die sie einnimmt, eine Lenkbarkeit, die dem Zustand einer tiefen Hypnose ähnelt. Alles, was dem Patienten in dieser künstlich herbeigeführten Trance suggeriert wird, dringt bis in die tiefste Tiefe des Unbewussten und kann eine anhaltende Veränderung der normalen Denk- und Fühlweise bewirken. In Frankreich, wo man die Methode einige Jahre lang experimentell anwendete, stellte man fest, dass zwei- bis dreimalige Suggestionen unter Chloral-Skopolamin-Wirkung sogar die Gewohnheiten von Alkoholkranken und von unheilbaren Sexualtriebtätern verändern können. Eine Besonderheit dieser Droge ist, dass die Amnesie, die auf die Einnahme folgt, retrospektiv ist, das heißt: der Patient erinnert sich auch nicht mehr an einen Zeitraum, der nur wenige Stunden vor der Einnahme der Droge liegt. Lässt man jemanden die Kapsel unvorbereitet einnehmen, so wird er fest an die Suggestion glauben, die er während seines Stupors aufgenommen hat, ohne gewahr zu werden, auf welchem Wege seine erstaunliche Bekehrung bewirkt worden ist. Ein Propaganda-System, das Pharmakologie mit Literatur verbindet, könnte eine vollständige und unfehlbare Wirkung haben. Der Gedanke ist äußerst beunruhigend …

KAPITEL 5

1944

Eine unendliche Bewusstseinslosigkeit

Aldous Huxley

Huxleys Roman Zeit muss enden enthält eine bemerkenswerte, prophetische Beschreibung eines Zustandes nach dem Tode, welcher der Ich-Auslöschung unter der Wirkung einer stärkeren Droge verblüffend ähnelt.

Es war kein Schmerz mehr fühlbar, es war nicht mehr nötig, nach Luft zu ringen, und der Fliesenboden der Toilette hatte aufgehört, kalt und hart zu sein.

Jeglicher Laut war verstummt, und es war ganz finster. Aber in der Leere und Stille bestand noch immer eine Art von Bewusstsein, ein schwaches Gewahrsein.

Gewahrsein nicht eines Namens oder einer Person, nicht gegenwärtiger Dinge, nicht irgendwelcher Erinnerungen an die Vergangenheit, nicht einmal eines Hier oder Dort – denn es gab nichts Räumliches, nur ein Da-Sein, dessen einzige Dimension dieses Wissen war, besitzerlos und besitzlos und allein zu sein.

Das Gewahrsein erkannte nur sich selbst und sich selbst nur als die Abwesenheit von etwas anderem.

Erkenntnis erstreckte sich in die Abwesenheit, die ihr Objekt war. Erstreckte sich in die Finsternis hinaus, weiter und weiter. Erstreckte sich in die Stille. Unbeschränkt. Es gab keine Grenzen.

Das Erkennen erkannte sich als eine grenzenlose Abwesenheit innerhalb einer anderen grenzenlosen Abwesenheit, die nicht einmal Gewahrsein besaß.

Es war die Erkenntnis einer immer vollständigeren Abwesenheit, einer immer qualvolleren Entbehrung. Und sie war gewahr durch eine Art wachsenden Hungers, aber eines Hungers nach etwas, das nicht existierte; denn sie war nur Erkenntnis von Abwesenheit, von reiner, völliger Abwesenheit.

Abwesenheit währte immer länger werdende Dauern. Dauern von Ruhelosigkeit, Dauern von Hunger. Dauern, die sich ausdehnten und immer weiter ausdehnten, je heftiger die rasende Unersättlichkeit wurde; die sich verlängerten zu Ewigkeiten der Verzweiflung.

Ewigkeiten der unersättlichen, verzweifelten Erkenntnis von Abwesenheit innerhalb von Abwesenheit, überall und immer, in einem Dasein von nur einer Dimension …

Und dann war jählings noch eine Dimension da, und das Immerwährende hörte auf, das Immerwährende zu sein.

Das, worin das Gewahrsein von Abwesenheit sich erkannte, das, wovon es umschlossen und völlig durchdrungen war, war nicht mehr eine Abwesenheit, sondern war die Anwesenheit eines andern Gewahrseins geworden. Das Gewahrsein von Abwesenheit erkannte sich als erkannt.

In der dunklen Stille, in diesem Entleertsein von allen Sinnesempfindungen, begann etwas, es zu kennen. Anfänglich sehr matt, aus unermesslicher Ferne. Allmählich aber näherte sich die Anwesenheit. Die dämmerige Mattheit jenes anderen Erkennens wurde heller, und mit einmal war das Gewahrsein ein Gewahrsein von Licht geworden – Licht der Erkenntnis, von der es erkannt wurde.

In dem Gewahrsein, dass da etwas andres war als Abwesenheit, fand die Angst Beruhigung, der Hunger Befriedigung.

Anstelle völliger Entbehrung war da dieses Licht, war da diese Erkenntnis, erkannt zu sein. Und diese Erkenntnis, erkannt zu sein, war eine befriedigte, ja sogar wonnevolle Erkenntnis.

Ja, es war Wonne, erkannt zu sein, auf diese Weise eingeschlossen zu sein in eine leuchtende Gegenwart, auf diese Weise durchdrungen zu sein von einer leuchtenden Anwesenheit.

Und weil das Gewahrsein in sie eingeschlossen war, ganz von ihr durchdrungen war, bestand auch eine Identifizierung mit ihr. Das Gewahrsein wurde nicht nur von ihr erkannt, sondern erkannte mit ihrer Erkenntnis.

Kannte nun nicht Abwesenheit, sondern die leuchtende Verneinung von Abwesenheit, nicht Entbehrung, sondern Seligkeit.

Hunger war noch immer da, Verlangen nach noch mehr Erkenntnis einer noch völligeren Verneinung von Abwesenheit.

Verlangen, aber auch die Stillung von Verlangen, auch Seligkeit. Und dann, je mehr das Licht zunahm, Sehnsucht nach noch tieferer Befriedigung, nach noch höherer Seligkeit.

Seligkeit und Sehnsucht, Sehnsucht und Seligkeit. Und durch immer länger werdende Dauern hellte sich das Licht immer mehr aus Schönheit zu Schönheit. Und die Wonne, zu erkennen, die Wonne, erkannt zu sein, steigerte sich mit jeder Steigerung dieser umarmenden und durchdringenden Schönheit.

Heller, immer heller, durch aufeinanderfolgende Dauern, die sich zuletzt zu einer Ewigkeit der Wonne ausdehnten. Eine Ewigkeit strahlender Erkenntnis, gleichbleibender äußerster Seligkeit. Für immer und ewig.

Allmählich aber begann das Gleichbleibende sich zu verändern. Das Licht verstärkte seine Helle. Die Anwesenheit wurde eindringlicher, die Erkenntnis erschöpfender und vollständiger.

Unter dem Andrang dieser Verstärkung war das wonnevolle Gewahrsein, erkannt zu sein, das wonnevolle Teilhaben an dieser Erkenntnis, bis an die äußersten Grenzen seiner Seligkeit gedrängt, angedrängt mit einem immer stärkeren Druck, bis zuletzt diese Grenzen nachzugeben begannen und das Gewahrsein sich jenseits ihrer befand, in einem andern Dasein. In einem Dasein, wo die Erkenntnis, in eine leuchtende Gegenwart eingeschlossen zu sein, eine Erkenntnis davon geworden war, von einem Übermaß von Licht bedrängt zu sein. Wo diese verklärende völlige Durchdringung als eine von innen her sprengende Kraft wahrgenommen wurde. Wo die Erkenntnis so eindringlich leuchtend war, dass das Teilhaben daran die Fähigkeit dessen, was teilhatte, überstieg.

Die Gegenwart näherte sich, das Licht wurde noch heller.