Buchcover

Christina Wahldén

Verschleppt

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von
Marie-Sophie Kasten

Saga

»Polizisten sind das Beste, was ich kenne. Nach Rhabarbercreme.«

Pippi Langstrumpf

Vorwort

Alle Ereignisse und Personen, die in diesem Buch vorkommen, sind frei erfunden. Auch die Stadt, in der sich der Roman abspielt, ist fiktiv. Aus dramaturgischen Gründen habe ich die tatsächlich existierende Regierungsstadt und die kleineren Ortschaften entlang der Grenze im Norden zu einer einzigen Stadt zusammengefasst.

Ansonsten trägt die Geschichte reale Züge. Einzelne Umstände habe ich verschiedenen großen Zuhältereiprozessen entnommen, die 2003 aktuell waren. Das hier Erzählte hätte passieren können.

Die Fakten sehen wie folgt aus: 2002 sowie beinahe im gesamten Jahr 2003 hat die Polizei im Bezirk Norrbotten keine einzige Untersuchung wegen Zuhälterei oder Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution eingeleitet. Die lokale Polizeidirektion findet an dieser Tatsache eigentlich nichts auszusetzen, da sie der Meinung ist, Prostitution stelle kein entscheidendes Problem dar, und es erfordere allzu große Ressourcen, umfassendere Fahndungen zu betreiben. Darüber habe ich als Kriminalreporterin eine Anzahl Artikel veröffentlicht.

Der Polizeibeamte, dessen Aufgabe es war, den Sexhandel in Norrbotten zu erfassen, wurde versetzt. Die lokale Polizeidirektion kritisierte seine umfangreiche Grundlagenuntersuchung und behauptete, die Angaben seien übertrieben. Deshalb führte die Reichskriminalpolizei im Frühsommer 2003 eine eigene Ermittlung durch. Die zuständigen Beamten der Reichskripo zogen den Schluss, dass die früheren Berichte nicht übertrieben waren, sondern eher noch gemäßigt ausfielen. Daher beschloss der Chef der Reichskripo, dass die eigenen Beamten die Polizei in Norrbotten künftig kontinuierlich bei der weiteren Untersuchung von Sexualdelikten unterstützen und verstärken sollten.

Verschiedene Ermittlungen deuten darauf hin, dass in Nordschweden minderjährige Mädchen zur Prostitution gezwungen werden. Die Abteilung für organisiertes Verbrechen bei der Staatsanwaltschaft Sundsvall leitete unmittelbar nach den Ermittlungen der Reichskripo eine Voruntersuchung wegen des Verdachts auf Zuhälterei ein, die von der Vermutung ausgeht, dass zwei 15- und 16-jährige russische Mädchen Opfer von Frauenhandel geworden sind.

Die polizeilichen Ermittlungen dauern noch an, während dieses Buch geschrieben wird, und Polizei und Staatsanwaltschaft sind verschwiegen, was den Umfang der Untersuchung angeht.

Nach Angaben der Reichskriminalpolizei werden jährlich zwischen zweihundert und dreihundert Frauen und Kinder Opfer des internationalen Menschenhandels in Schweden. Bis Ende des Jahres 2003 wurden lediglich zwei Personen wegen des Deliktes »Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution« verurteilt, das am 1. Juli 2002 in das Strafgesetz aufgenommen worden ist. Es handelt sich dabei um eine Frau und einen Mann, die 2003 vom Gericht in Göteborg verurteilt wurden, weil sie zwei jugendliche Mädchen, das jüngere davon sechzehn Jahre alt, getäuscht und zur Prostitution gezwungen hatten. Das Strafmaß für Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution beträgt mindestens zwei und höchstens zehn Jahre Haft.

Im September 2003 versprach Justizminister Thomas Bodström, dass die Regierung in den nächsten drei Jahren zehn Millionen Kronen für die Bekämpfung von Menschenhandel einsetzen wolle. Das Geld solle der Reichspolizei zugeteilt werden, die dann frei darüber verfügen kann.

Die Regierung sowie verschiedene freiwillige Organisationen betreiben gemeinsam mit Vertretern sämtlicher betroffener Länder diverse Projekte gegen den Frauenhandel in der Region um die Barentssee.

Christina Wahldén

1

Kompakte Dunkelheit umgibt sie. Wie sehr sie auch die Augen aufreißt und starrt, sie sieht nichts. Es riecht nach frischem Holz. Sogar der Boden der Sauna, in die man sie gesperrt hat, besteht aus neuen Holzdielen. Sie fühlt ein Astloch an ihrer Wange. Einige Tropfen Harz sind aus der Planke gequollen, als die Temperatur vorhin bis zur Hundert-Grad-Marke anstieg. Die dumpfe Finsternis, die sie umschließt, ist ganz still.

Unwillkürlich greift sie sich an den Hals, um das Kreuz zu berühren, um Kraft zu schöpfen. Da fällt ihr ein, dass sie es ihr schon vor langer Zeit weggerissen haben. Die Bewegung schmerzt, der ganze Körper tut weh.

Sie hat Todesangst, aber kämpft dagegen an. Nicht, weil ihr Leben besonders viel wert wäre, sondern weil es das ihre ist.

Eben deswegen muss sie, Irina Volkova, besonders viel Prügel einstecken. Und noch anderes, wofür ihr die Worte fehlen. Aber sie kann ihnen nicht nachgeben, nicht jetzt. Wenn sie es tut, ist es vorbei mit ihr.

Irina weiß nicht, was schlimmer ist, das Haus oder die Männer. Das Haus ist ganz neu gebaut, es duftet gut nach frisch geschlagenem Holz, das dachte sie jedenfalls, als sie zum ersten Mal hierher kam. Oder was sie glaubt, gedacht zu haben. Sie erinnert sich nicht mehr so gut daran. Das hier geht schon zu lange.

Es könnte also eigentlich ein gutes Haus sein. Aber der mannshohe Zaun um das große Grundstück deutet darauf hin, dass hier keine Güte wohnt. Die beiden Kampfhunde, die dort draußen hechelnd umherschleichen, wenn die Männer aus verschiedenen Gründen weggefahren sind, bestärken diesen Eindruck. Das Haus steht abgeschieden, geradezu einsam, umgeben von einem dichten Wald auf der einen Seite und einem braunroten Moor auf der anderen. Einmal hat sie in der Dämmerung einen Elch am Rande des Moors gesehen. Irina glaubte trotz der verschlossenen Fenster das Geräusch der enormen, auf das Wasser klatschenden Hufe zu hören, als das Tier langsam durch den Nebel schritt. Sie weiß nicht, wie es dort draußen riecht, aber sie stellt sich vor, dass es frisch und herb nach Gagel und Sumpfporst duftet.

Die Männer. Einer von ihnen ist immer dabei. Sie hat begriffen, dass er es ist, der befiehlt. Sergej. Ein Mann aus Stahl und Eiseskälte, ganz in Leder und Gold gekleidet. Wo sein Gesicht sein sollte, befindet sich nur ein schwarzes Loch. Er hat Dinge mit ihr gemacht, für die sie keine Worte kennt, für die sie keine Worte haben will. Er droht und schlägt, bis selbst eine wie sie genau das tut, was Sergej sagt und will. Bis sie gehorcht.

Oft hat er ein paar Freunde um sich. Besonders häufig einen Schatten, der Sergejs kleinstem Wink folgt, ein Mann, der ihn sich so mächtig fühlen lässt, wie er es gerne hätte. Das denkt Irina, wenn sie ab und zu im Keller, auf dem Boden der Sauna, hinwegdämmert. Sie versucht nicht daran zu denken, dass Sergej auf die Idee kommen könnte, die Sauna einzuheizen. Sie muss versuchen, von hier wegzukommen, bevor das geschieht. Sergej würde das sicher für einen glänzenden Einfall halten.

Heute ist sie allein, jedenfalls in der Sauna. Manchmal hat Sergej neue Mädchen mitgebracht, eines oder zwei auf einmal. Sie sind dann einige Tage geblieben, vielleicht eine Woche, aber immer nur genauso lange, wie es dauerte, sie zu bezwingen. Ist ihr Widerstand gebrochen, müssen sie weiter, damit Sergej keine finanziellen Verluste macht. Aber bevor die Ware weiterbefördert wird, muss sie untersucht werden, um festzustellen, ob sie gut oder schlecht ist. Sergej handelt nur mit den besten Mädchen, nichts anderem. Und um zu wissen, ob sie wirklich die besten auf dem Markt sind, muss er sie zunächst selbst testen. Das versteht sich. Sergej probiert sie immer aus, ein oder mehrere Male. Manchmal sind seine Freunde dabei. Nicht selten werden mehrere Mädchen gleichzeitig von verschiedenen Männern im selben Raum getestet.

Sie wusste, dass die Arbeit, die er ihr bot, die einer Stripteasetänzerin war. Allein das Wort ist für ein jugendliches Mädchen mit einem Kreuz um den Hals schwer in den Mund zu nehmen. Aber es gibt Gründe dafür, warum sie damals dachte, es sei gar kein so schlechter Gedanke, eher ein ganz interessanter. Sie könne es doch zumindest versuchen. Wenn es nicht gut liefe oder sie ihr dumm kämen, könne sie schließlich wieder nach Hause fahren. Wo auch immer sich ihr Zuhause befand.

Es spannt um den Mund herum, als sie in der Dunkelheit leise lacht.

Vielleicht ist sie dabei, verrückt zu werden. Wenn sie es nicht schon ist.

Nicht grübeln.

Sie schließt die Augen, zwingt sich, an einen Sonnenuntergang am Meer zu denken oder an eine paradiesische Insel mit kreideweißem Sand. Dorthin wollte sie anschließend fahren. Wenn sie überlebt hatte. Denn überleben würde sie.

Vorsichtig fährt sie mit der Zunge über die Zähne am Oberkiefer. Hoffentlich hat er ihr wenigstens keinen Zahn ausgeschlagen, als er ihr mit der Schöpfkelle, die im Eimer in der Sauna liegt, einen Schlag versetzte. Die Kelle ist dabei mittendurch gebrochen, und es fühlt sich an, als sei mit ihrem Gesicht dasselbe passiert.

»You must do as I say!«, brüllte er. Zum wievielten Mal weiß sie nicht.

In der Dunkelheit der Sauna kann niemand erkennen, dass sie rot wird. Und niemand kann ihre Tränen sehen. Natürlich wusste Irina, dass man nur mit Hilfe des Mundes Liebe machen konnte. Sie konnte sich nicht richtig vorstellen, wie es sich wohl anfühlte, aber sie glaubte, dass es sanft und weich und feucht sein müsste. Ruhig und behutsam. Sie hatte nicht gedacht, dass sie einen nach Urin stinkenden Penis, dick wie ein Telefonmast, in den Rachen geschoben bekommen würde. Niemals hätte sie sich vorstellen können, dass ein Mann sie festhalten könnte, während ein anderer sie erniedrigte und ein dritter dabei zuschaute. Sie hätte nie geglaubt, dass zwei andere Mädchen zur gleichen Zeit, im selben Raum, Opfer solcher Übergriffe sein würden. Nicht in ihren kühnsten Phantasien hätte sie sich ausmalen können, dass sie gezwungen werden sollte, sich nackt auf zwei anderen verschreckten Schulmädchen aus demselben Wohnviertel herumzuschlängeln, während zwei Männer mit glasigem Blick ihren Samen über sie spritzten.

Niemals hätte sie gedacht, dass sie zuerst anal vergewaltigt werden würde, um direkt im Anschluss zu Oralsex mit einem erigierten Penis gezwungen zu werden, der nicht nur nach Pisse stank, sondern auch von ihren eigenen Exkrementen verunreinigt war. Und all das wurde ihr tief in den Hals gesteckt. Wieder und wieder.

Irina Volkova erbrach sich heftig.

Sergej Björkman, kreativer Unternehmer, in verschiedenen Erwerbszweigen tätig, lachte. Der Mann ohne Gesicht.

Und hier liegt sie nun. Die Hände tasten vorsichtig nach dem Hals. Das Kruzifix ist unwiederbringlich verschwunden.

Sie hört eine Tür zuschlagen, setzt sich abrupt auf, legt sich aber wieder hin, als das Pochen im Gesicht zu stark wird. Sie spitzt die Ohren, fühlt die Angst in der Magengrube. Kommt Sergej? Ist er allein? Hat er einen Mann oder ein neues Mädchen bei sich? Fängt es wieder von vorne an? Ihr Puls rast, ihr Atem geht keuchend.

»Ich, Irina Volkova, werde aus diesem Haus herauskommen. Lebend«, zischt sie leise.

Sie muss mit sich selbst laut reden, sonst wird sie wirklich verrückt. Sie hat trotz allem einen Namen. Irina versucht, eine schöne Erinnerung wachzurufen, aber es gibt so wenige davon: Großmutters Hände, das blanke, unbenutzte Zeichenpapier und die beinahe neue Kreide, die die Großmutter auf dem Markt erstanden hatte.

Es ist ein Glück, dass Großmutter tot ist, denkt sie und erschrickt über sich selbst. Nach all dem könnte sie nie wieder ihrem Blick begegnen, ohne vor Scham und Schuldgefühl in der Erde zu versinken. Vor sich sieht sie den gesenkten Kopf der Großmutter in dem blumigen Schal, eine gelbe Wachskerze in den Händen, in ein stilles Gebet vor der Ikone vertieft.

Herr, erbarme dich meiner.

Irina wird von grellem Licht geblendet, als die Tür zur Sauna aufgerissen wird. Dort draußen steht ein Mann, den sie noch nie gesehen hat. Er lächelt aufreizend. Sie schleudert ihm den Holzeimer entgegen, und einen Moment lang sieht er erstaunt aus. Es knallt ordentlich, und er greift sich an die Stirn. Dann sieht er sie an und lacht laut.

2

Sie steuern den rostbedeckten Wagen die ganze Nacht über Richtung Norden. Zunächst wird der Wald im Herbstregen immer dichter, die Espen leuchten feuerrot. Viel später erheben sich bläuliche Berge aus der Dunkelheit des Waldes, als schwebten sie darüber, auf halbem Weg in den Himmel. Wie enorme gestrandete Wale wirft die Erde sich auf. Dann lichtet es sich, sowohl die Bäume als auch die Autos werden spärlicher. Eine schmale, gerade Straße, umgeben von meilenweitem stramm stehenden Kiefernwald. Kilometer für Kilometer.

Anfangs ist der Ton zwischen ihnen scherzhaft, beinahe albern, wie sie da zwischen Bergen von Gepäck zusammengepfercht sitzen. Keiner von beiden weiß, wie lange sie dort oben bleiben werden. Am besten, man ist auf alles vorbereitet. Sie hat neue Daunenhausschuhe und drei Flanellpyjamas eingepackt. Kälte ist für sie das Schlimmste, was es gibt. Er hat fünfzig seiner besten CDs mitgenommen und die tragbare Stereoanlage.

Sie bittet darum, als Erste fahren zu dürfen, obwohl der schäbige Wagen sein Privatauto ist. Das Einzige, was darin gut funktioniert, sind der CD-Player und das Radio. Sie haben sich für das Auto und gegen das Fliegen entschieden, um zu ihrem Auftrag auf unbestimmte Zeit mehr Sachen mitnehmen zu können. Und sie fahren nachts anstatt tagsüber, um Zeit zu sparen und weil sie dachten, es sei dann weniger Verkehr. Aber die Lastwagen donnern weiterhin durch die Dunkelheit. Hedvig fährt konstant hundertfünfundzwanzig. Sowohl Rafael als auch das Auto knarren, als er versucht, eine für seinen beeindruckenden Körperbau bequeme Position zu finden. Seine Knie stoßen gegen das Handschuhfach und der Kopf gegen das Dach.

»Zweihundertsechs Zentimeter, falls es dich interessiert.« Das ist das Erste, was er sagt, bevor sie überhaupt dazu kommt nachzufragen. Sie überlegt, ob seine Uniform wohl eine Spezialanfertigung ist. So große Größen gibt es bestimmt nicht von der Stange.

Er schließt die Augen und schläft die ersten dreihundert Kilometer über. Dann erwacht er mit einem Ruck und teilt ihr mit, dass er pinkeln muss. Sie halten an einem Gasthaus, aber nur sie benutzt dort die Toilette, er selbst verschwindet im Gebüsch hinter dem Parkplatz und kehrt sichtbar erleichtert, seinen Reißverschluss hochziehend, zurück. Sie essen beide ein Beefsteak mit Zwiebeln, und er trinkt drei Tassen schwarzen Kaffee. Er fragt nicht erst, sondern geht direkt auf die Fahrerseite des Wagens zu. Sie wirft ihm die Schlüssel hinüber und gleitet auf den Beifahrersitz. Es dauert eine Weile, bis sie losfahren können, da er den Sitz maximal nach hinten schieben muss, was bedeutet, dass drei Taschen beiseite gerückt werden müssen. Er dreht die Stereoanlage voll auf. Discomusik für eine neue Generation von Bullen. Keine langweilige Schlagerband oder, noch schlimmer, Oper. Die Bässe vibrieren.

I am not a sinner, nor a saint

not that I will loose my head and faint

Sie starrt verärgert durch das Fenster. Muss sie das noch tausend Kilometer lang ertragen?

»Du, Rafael. Worauf haben wir uns verdammt noch einmal eingelassen?«

Er wirft einen schnellen Blick in den Rückspiegel auf einen Lastwagen, der ein unsinniges Überholmanöver an einem Hang ohne jede Sicht plant. Er betätigt die Bremse und lässt den Lkw mit polnischem Nummernschild vorbeifahren, bevor er auf hundertdreißig beschleunigt. Er muss immer der Beste sein.

»Ein Kamikazeauftrag. Kann lustig werden. Ärger ist garantiert. Diese faulen Penner werden uns hassen«, sagt er munter.

Sie schließt die Augen und versucht zu schlafen. Ohne viel Erfolg. Es hat angefangen zu regnen, und sie friert. Er murrt nicht, als sie ihn bittet, die Heizung höher zu stellen. Er hat beschlossen, eine Weile großzügig zu sein.

Hedvig Ek weiß nicht viel über ihren neuen Kollegen. Sie sind schon eine Zeit lang in derselben Abteilung, aber haben noch nie zusammengearbeitet. Sie kennt die äußeren Fakten über Rafael, dass er aus Lateinamerika stammt und deshalb von der Polizeibehörde gerne als Vorzeigeexemplar benutzt wird, wenn es um ihr Bestreben geht, mehr Leute aus Einwanderungsländern in den Polizeiberuf zu locken. Und er ist geradezu ein Musterbeispiel. Gilt als extrem sprachbegabt und schlau. Aber wie er sich in das Straßenbild im Norden einfügen und verdächtige Personen beobachten soll, ohne sofort aufzufallen, ist ihr ein Rätsel. Wenn man ihn einmal gesehen hat, vergisst man ihn nicht mehr. Er sticht hervor. Rafael Flores Alba, wie sein vollständiger, imponierender Name lautet, spricht manchmal von seiner Mutter Mercedes, aber viel mehr weiß Hedvig nicht über sein Privatleben. Vermutlich wirft er Damen um wie Bowlingkegel. Wenn ihm danach ist. Er ist immer sehr gut gekleidet, wenn er in Zivil ist, kennt sich mit den neuesten Modetrends aus und besitzt wahrscheinlich mehr Paar Schuhe als sie. Ein auf den ersten Blick eitler Mensch mit einer Vorliebe für dicke Goldketten. Ein Anachronismus: Autohändler und Fotomodell in ein und derselben Person. Aber der gammelige Wagen steht in auffallendem Kontrast zu seinem Besitzer.

Er ist nicht leicht zu durchschauen. Viel von dem, was man sagt, lässt er mit einem spöttelnden Grinsen von sich abprallen. Hedvig glaubt verstanden zu haben, dass seine gute Laune eine Art Überlebensstrategie ist, eine Attitüde, hinter der er sich verstecken kann. Wer er wirklich ist, hat sie noch nicht herausgefunden. Sie weiß nur, dass er Discomusik liebt. Ein unglaublich kindischer Typ.

Wenn Rafael an Hedvig denkt, sieht er eine sehr kleine Frau vor sich. Clever und impulsiv. Unglamourös, kein bisschen eitel. Die anderen Kollegen behaupten, sie sei nicht immer so gewesen. Sie habe sich verändert. Manchmal scheint es, als würde sie gegen die ganze Welt kämpfen. Sie trainiert hart, hat eine ungewöhnlich gute physische Kondition. Mindestens so gut wie er selbst. Ist wohl viel geklettert. Oft handelt sie zuerst und denkt dann. Aber sie ist ohne Zweifel intelligent. Er hat sich wie gesagt dazu entschlossen, einen wohlwollenden Eindruck von ihr zu haben. Sie sind hier oben aufeinander angewiesen. Und äußerer Druck vereint ja bekanntlich.

Sie fahren schweigend weiter. Der Regen prasselt gegen die Fenster, die Scheibenwischer bewegen sich in der Dunkelheit monoton hin und her. Nasses Laub, leuchtende Autoscheinwerfer und zum dritten Mal Am I a bad boy, maybe? Am I a sad boy, let’s see. Oder vielleicht zum vierten Mal.

Nach ein paar Stunden hört der Regen auf. Sie halten an einer Tankstelle, die auch als Bäckerei, Imbissbude, Videothek und Postamt fungiert. Es ist zwei Uhr nachts. Der Kaffee schmeckt nach Zyanid. Er trinkt zwei Tassen. Sie kippt ihren in ein Gebüsch neben der Einfahrt zur Autowaschanlage. Das grelle Licht in der Tankstelle bildet einen scharfen Kontrast zur Nachtschwärze außerhalb.

Rafael joggt zwischen den Benzinpumpen hin und her. Wie ein großer, nasser Seehund zwängt er sich prustend durch die Wagentür. Sie beißt die Zähne zusammen, sagt nicht, dass sie friert. Trotz Daunenjacke, Wollmütze und Handschuhen. Wie dumm, dass sie die Wollsocken ganz unten in die Reisetasche gepackt hat.

Sie sieht wirklich zu lächerlich aus in all diesen Kleidern, denkt Rafael. Und ihre Verärgerung lässt sie nur noch lächerlicher erscheinen. Warum trägt sie diese alberne Mütze? Was soll das geben, wenn’s erst richtig Winter wird?

Sie fahren weiter. Sie sitzt am Steuer.

»Sollen wir Elche zählen?«, fragt Rafael.

Hedvig starrt in die Dunkelheit. Nach siebzig Kilometern hat sie noch keinen einzigen entdeckt. Sie haben sich wahrscheinlich schon lange schlafen gelegt. Also unterhalten sie und Rafael sich zur Abwechslung eine Weile.

»Was haben sie nur zu verbergen?«, wundert sich Hedvig.

Er schüttelt den Kopf und fährt sich durch das dunkle, kräftige Haar.

»Glaubst du an Verschwörungstheorien?«, fragt er.

Sie starrt auf die weißen Mittelstreifen, die ihr entgegenschießen.

»Nein.«

»Gut, dann sind wir schon zwei. Wir halten uns zunächst zurück und beobachten. Lassen sie glauben, dass wir nicht sehr gefährlich sind. Versuchen, die Strukturen zu erkennen. Dann können wir direkt zum Angriff übergehen.«

Sie fahren wieder eine Weile schweigend.

»Aber es ist doch trotzdem seltsam«, sagt sie und gähnt.

Er atmet ganz kurz ein. Es ist, als würde selbst die Sprache spärlicher, je weiter sie nach Norden kommen.

»Ja.«


Es ist früher Morgen, als sie bei Gunnar Rantatalo, dem Mann, bei dem sie sich eingemietet haben, auf dem Hof vorfahren. Sie sind von der Durchfahrtsstraße abgebogen und auf einem schmalen Schotterweg gelandet, der am väterlichen Gutshof von Gunnar Rantatalo endet. Rundum stehen gerade, stille Bäume.

Der Stall ist das erste Gebäude, an dem sie vorbeikommen, aus der Ferne hören sie das Muhen der Kühe, als sie die Autotüren zuschlagen. Unter einem Blechdach stehen ein Traktor und einige andere Maschinen, deren Bezeichnung Hedvig nicht kennt. Hinter dem Wohnhaus, das sich direkt vor ihnen befindet, liegen die Weiden verlassen da. Um den Stall herum springt eine weiße Katze mit einem entzündeten roten Auge. Weiter hinten im Schatten sitzen weitere scheue und struppige Exemplare.

Zuerst klopfen sie an die Haustür, die nicht verschlossen scheint; Rafael drückt sie auf und ruft ein vorsichtiges »Hallo?« in den Flur hinein.

Keine Antwort.

Sie gehen zurück zum Stall. Die Katzen stieben wie verschreckte Kanonenkugeln auseinander und verschwinden in einer zugewachsenen Laube, als die zwei sich nähern. Im Stall brennt Licht. Die Kühe wühlen im Futter und starren sie mit mahlenden Kiefern glotzäugig an. Sie scheinen gerade gefüttert worden zu sein.

»Hallo?«

Noch immer keine Antwort. Aber von der Rückseite des Stalls hören sie ein mürrisches Gemurmel. Rafael steckt den Kopf hinaus. Draußen, mitten auf dem Misthaufen, steht ein krummer, magerer Mann mit Händen groß wie Bratpfannen und scheint mit seinen kräftigen Händen etwas abzumessen.

»Fünfeinhalb Meter, verdammt ...«

»Entschuldigung.«

Der Mann zuckt zusammen und starrt sie an. Dann strömen die Worte aus ihm heraus, als habe man einen Eispfropfen aus einem Fluss gezogen:

»Wenn nicht diese verdammte, blöde EU wäre, würde ich gut zurechtkommen. Aber nein, eine Dungabdeckung muss absolut sein, ohne Dungabdeckung geht es nicht, versuch das mal, diesen Froschfressern zu erklären, dass wir hier fünfhundert Jahre, ja sogar tausend Jahre, glücklich ohne Dungabdeckung gelebt haben, zum Teufel. Und dann kommen die mit ihren verdammten arroganten Forderungen. Sonst kriegen wir keine Unterstützung. Pfui Teufel«, sagt er wütend und mit Nachdruck.

Der Mann spuckt eine Ladung dunkelbraunen Kautabak vor Rafaels ordentlich geputzte Schuhe.

»Wir suchen Gunnar. Wir bräuchten nur nach Gunnar Rantatalo zu fragen, hat er am Telefon gesagt.«

Der Alte schiebt sich die Mütze in den Nacken und blinzelt sie an. »Ja, aber zum Teufel«, sagt er, beinahe verwundert, »Gunnar Rantatalo bin doch ich.«

Er betrachtet sie von oben bis unten. Sie weiß, was er denkt. Der Alte sagt nichts, aber besinnt sich und streckt eine schwielige Hand aus. Er reicht sie Rafael.

»Hallo, ich heiße Rafael Flores Alba.«

»Was sagen Sie?« Der Alte bleibt verwundert stehen.

»Das ist Spanisch, könnte man sagen.«

»Aha, aha. Ach so.«

»Ich habe wegen des Hauses angerufen.«

»Ja, ja, natürlich, der Schlüssel hängt drinnen neben der Tür. Können Sie ihn selbst holen?«

Hedvig reicht ihm die Hand, und er nimmt sie zögernd. Er weiß schließlich, wo sie arbeitet. Würde schlecht aussehen, wenn er sie nicht grüßte.

»Hedvig Ek«, sagt sie.

Er nickt schweigend, zieht Luft zwischen den Zähnen ein und sagt dann:

»Ja. Ich kann nicht mit zum Haus gehen, sehen Sie. Ich muss mich um diese verdammte Betonabdeckung kümmern, bevor das Jahr zu Ende ist, und wenn es anfängt zu schneien, kann man sie nicht mehr gießen. Es ist zu blöd. Ich habe oben die Heizung angemacht, aber es zieht womöglich leicht. Kommen Sie vorbei, wenn etwas ist. Wie lange bleiben Sie?«

»Das ist noch unklar. So lange es nötig ist.«

Gunnar spuckt den restlichen Tabak mit einem kräftigen Schnauben aus und wischt sich den Mund am Ärmel seines karierten Flanellhemdes ab.

»Wenn Sie einen guten Rat hören wollen, dann können Sie genauso gut gleich wieder umkehren und nach Hause zurückfahren. Hier gibt es nichts zu ermitteln. Nicht das kleinste bisschen. Gäbe es etwas, hätten sich unsere Jungs hier schon darum gekümmert.«

Rafael nickt.

Sie gehen hinauf zum Wohnhaus und finden ein Schlüsselbund, das mit Gunnars Beschreibung übereinstimmt. Auf dem Weg zurück zum Auto zischt Rafael Hedvig zu: »Ich könnte wetten, dass er eine illegale Anlage zum Schnapsbrennen hat, die in irgendeiner Scheune vor sich hin brodelt. Danach werde ich mich an einem freien Tag einmal umsehen.«

Ihr Haus liegt einige hundert Meter oberhalb von Gunnars Hof. Es war das Einzige, was sich außer einem Hotel so kurzfristig auftreiben ließ. Sowohl Hedvig als auch Rafael waren gegen ein Hotel, da sie meinten, es sei besser, so wenig wie möglich aus der Menge hervorzustechen, um ihren Auftrag hier oben ausführen zu können. So kamen sie zu dieser Bruchbude, einer baufälligen Altenteilhütte am Waldrand, bei der die rote Farbe abblättert und der Garten verwuchert ist. Das lange, nasse, strohige Gras liegt in großen unordentlichen Büscheln da. Hinter dem Haus fängt unmittelbar der Wald an. Wie viele arme, dürre Bäume gibt es in diesem Land? Aber setzt man sich auf die feuchte Vortreppe, hat man einen einzigartigen Blick. Man sieht weit über die Felder, ein Stück dahinter kann man einen See erahnen, und auf der anderen Seite erhebt sich hinter dem Wald ein Berg. Es ist still. Absolut still. Der Gedanke daran, dass sie nicht wissen, wie lange sie hier bleiben werden, erscheint ihnen ein wenig unwirklich.

Hedvig schließt die wettergegerbte Tür auf und tritt ein. Ihr Atem hängt ihnen beiden wie eine dunstige Wolke vor dem Mund, und Hedvig fragt sich, ob Gunnar tatsächlich geheizt hat. Die Küche ist die schmutzigste und schäbigste, die sie je gesehen hat. Niemand hat darin auch nur einen Finger gerührt, seit sie vor bestenfalls fünfzig Jahren renoviert wurde.

Die ganze Baracke scheint in Braun gehalten zu sein. Brauner Kunststoffboden, braune Tapeten, braune, flickenbesetzte Sitzmöbel mit ungewissem Innenleben. Das ist wahrscheinlich der einzige Vorteil der Kälte im Haus: dass die eine oder andere Milbe hoffentlich draufgegangen ist.

Rafael schlängelt sich die steile Treppe in den oberen Stock hinauf, und sie hört ihn mit schweren Tritten herumschlurfen, dass es in den Wänden und im Boden knackt. Er ruft nach ihr, und sie folgt ihm. Dort oben befinden sich ein Schlafzimmer und ein altmodisches Badezimmer mit einer Badewanne, die auf Füßen steht. Außerdem gibt es eine Dachkammer, die bis zum Dachfirst hinaufreicht. Durch das Fenster im Giebel hat man Blick auf das ganze Tal. Sie bleiben schweigend stehen.

Rafael schaut auf sein Handy. Dann lässt er es wieder sinken und sieht Hedvig an.

»Kein Empfang. Wenn die Geschäfte öffnen, fahren wir in die Stadt und kaufen etwas Farbe. Hier können wir sonst nicht wohnen, verdammt. Wir würden vor lauter Hässlichkeit sterben«, sagt er, und in dem alten, müden Holz ächzt es, als er in zwei Sätzen die Treppe hinabspringt.

Sie hieven das meiste Gepäck aus dem Wagen und werfen es in die Diele. Dann fahren sie den Hügel hinunter, und Rafael steckt noch einmal den Kopf in die Scheune, um die Erlaubnis einzuholen, alles weiß zu streichen. Gunnar scheint verwundert, dass sich jemand darüber Gedanken macht. Er selbst hat das nie getan. Sich um nichts gekümmert. Aber natürlich dürfen sie streichen. Er denkt, dass es für ihn so wenigstens umsonst ist.

Hedvig fährt in die Stadt. Dort gibt es das, was man in kleineren Städten üblicherweise findet: ein Rathaus am einen Ende einer protzig breiten Allee und ein Theater von der letzten Jahrhundertwende am anderen. Eine Fußgängerzone entlang eines offenbar renovierten Marktplatzes, wo unter anderem ein paar Warenhäuser und ein Kino stehen. In den Straßen rundum befinden sich kleine Geschäfte, die Geschenke und Kunsthandwerk aus der Region verkaufen, ein paar kleine Restaurants, eine Bank mitsamt Geldautomat und eine Apotheke. Am Marktplatz, der laut Straßenschild Stora torget heißt, liegt unter anderem ein Konsum-Supermarkt. Direkt gegenüber befindet sich im Übrigen das Polizeirevier, in das sie am Montag gehen sollen, aber jetzt ist nicht der passende Moment, um vorbeizuschauen und Hallo zu sagen.

Sie frühstücken in einem Hamburgerlokal, das morgens geöffnet hat, während sie darauf warten, dass es neun Uhr wird. Die Zeit kriecht voran, aber schließlich sind alle Minuten vergangen.

Der Konsum ist kein besonders großer Laden, aber dennoch scheint das meiste vorhanden zu sein. Alle Waren sind ordentlich gestapelt, und die Preise sind sowohl in Kronen als auch in Euro ausgewiesen, obwohl formal gesehen keine Währungsunion existiert. Zu kommen und nach fünfzig Litern weißer Wandfarbe, matt, zu fragen, scheint nicht im Geringsten seltsam. Pinsel, Farbeimer und Rollen gibt es auch. Lasse, wie der Filialleiter heißt, ist äußerst freundlich und hilfsbereit in seiner grün karierten Weste aus hundert Prozent Polyester, die alle Angestellten während der Arbeit zu tragen haben.

In Gunnars Küche brennt Licht, als sie eine Weile später an seinem Haus vorbeifahren. Sie tragen ihre neu erstandenen Malerutensilien hinein und schieben alle Möbel in der Mitte des Raumes zusammen. Darüber breiten sie ein paar alte Laken aus. Sie beschließen, mit dem Erdgeschoss zu beginnen und mit dem oberen Stockwerk zu enden. Die Farbe hält hoffentlich so lange, wie sie hier sein werden. Wenn sie also mit dem Untergrund pfuschen, wird es sie vermutlich nicht mehr selbst treffen.

Rafael hat angeboten, in dem kleinen Wohnzimmer im unteren Stock zu schlafen, da es weniger Abgeschiedenheit erlaubt.

»Ich will mal versuchen, Gentleman zu sein«, sagt er.

Nicht, dass sie viel Besuch erwarten. Beide hoffen, dass ihr Auftrag schnell erledigt sein wird, damit sie wieder nach Hause fahren können.

Rafael kann ohne Leiter die Decke streichen, daher darf er das machen. Eine neue Disco-CD schmettert los, und Hedvig muss sich selbst eingestehen, dass es das Ganze ein wenig unterhaltsamer gestaltet. Sie streicht die Wände. Die alten Tapeten saugen mehr Farbe auf, als sie zunächst angenommen hatten, aber das Ergebnis ist ganz zufriedenstellend. Sie legen eine kurze Mittagspause ein und wärmen das Essen in der Mikrowelle auf, die Rafael schlau genug war mitzunehmen. Er nimmt zwei Portionen, sie eine.

Sie machen im Obergeschoss weiter. Das Streichen geht beinahe von selbst. Hedvig putzt die Küche, und dann machen sie eine zweite Tour zu den Geschäften in der Stadt. Ein paar Elektroöfen, Gardinen, Blumentöpfe und Überwürfe später sieht das Haus ganz wohnlich aus. Die schlimmsten geflickten Möbel tragen sie in einen Anbau hinaus, der eine Mischung aus Vorratskammer, Holzschuppen und Hühnerhaus ohne Hühner ist. Die anderen Möbel bekommen einfache Bezüge und werden so ganz akzeptabel.

»Jetzt reicht es aber mit dem Gemütlichmachen. Man darf es auch nicht übertreiben«, sagt Rafael. »Jetzt tun wir das, wofür wir hergekommen sind.«

Sie ziehen sich um und fahren noch einmal mit dem Auto in die Stadt. Neben der Polizeiwache, gegenüber vom Konsum am Marktplatz, gibt es einen Pub, in den sie hineingehen.

Rafael bestellt ein Malzbier. Hedvig bietet an zurückzufahren und nimmt einen Moosbeerensaft. Sie sehen sich um. Entweder ist es zu früh am Abend, oder sie sind am ganz falschen Ort, denn in dem dunklen Lokal ist es beinahe leer. An einem Tisch hängen zwei pickelige Jugendliche, die vielleicht gerade einmal achtzehn sind. An einem anderen sitzt ein fetter Kerl in einem orangefarbenen Helly-Hansen-Pullover und spricht laut in sein Handy:

»Ja, aber verdammt, Sergej, hör jetzt zu! Donnerstagnachmittag, drei Uhr an der OK-Tankstelle. Das haben wir doch die ganze Zeit schon gesagt. Beruhige dich!«

Weiter hinten in dem schwach beleuchteten Lokal hocken ein paar einsame Männer über ihr Bier gebeugt. Leise Musik ist zu hören. Weine mir keine Tränen nach ...

»Was sollen wir morgen denn für eine Taktik einschlagen?«, fragt sie.

»Wir machen es so wie ursprünglich besprochen. Überhaupt keine Taktik. Gleich zur Sache kommen. Ihnen ein wenig Angst einjagen.«

Er zeigt ein breites Grinsen und schiebt sich eine gewaltige Prise Tabak in den Mund.

»Nimmst du Kautabak?«

»Man muss die landesüblichen Gewohnheiten annehmen«, sagt er und streckt ihr die Dose entgegen.

Sie schüttelt den Kopf und trinkt einen kräftigen Schluck aus ihrem Glas.

»Das hier wird keine einfache Sache werden.«

»Für sie vielleicht nicht, für uns schon. Entspann dich mal, Hedvig. Es ist alles in Ordnung.«

Ein rothaariger Mann mit wässrigen blauen Augen und einer beinahe durchsichtigen, mit Sommersprossen bedeckten Haut drängt sich an ihnen vorbei nach draußen. Warum auch immer er ihnen so nahe kommen muss, wo das halbe Lokal leer ist. Hedvig hat den Eindruck, er starre sie an, aber wahrscheinlich bildet sie es sich nur ein.

»Willst du noch einen, Ek?«, fragt Rafael.

Sie zögert.

»Komm schon! Mehr als zwei kriegst du ohnehin nicht runter, also kannst du mir wenigstens so lange Gesellschaft leisten. Ich kann dich anschließend nach Hause tragen«, sagt Rafael.

Wenn er keinen so freundlichen Ton gehabt hätte, hätte sie ihn vermutlich verprügelt.


Wieder in der Hütte, rollt Rafael nach einem notdürftigen Duschbad unter lauwarmem Wasser, das von den alten Rohren zum hauseigenen Brunnen voller Rostablagerungen ist, seine extra lange, spezialangefertigte Schlafmatte aus. Er genießt die erfrischende Kühle. Dann stellt er die beiden zusätzlichen Elektroheizungen auf, die sie gekauft haben, und dreht sie voll auf. Mit einem Verlängerungskabel bringt er den kleinen Fernseher mit eingebautem Videorecorder, den er mitgebracht hat, zum Laufen. Hedvig bekommt unter der Dusche Kälteschauer und zittert bei dem Gedanken an all die ungefrorene Kälte, die in der nächsten Zeit noch vor ihr liegt. Sie zieht zwei Pullover übereinander an und wird in Rafaels Lager eingeladen. Gemeinsam sitzen sie vor den Heizkörpern, und Hedvig fühlt sich wie ein Stück Fleisch über einem offenen Feuer, warm am Bauch und eiskalt im Rücken. Es riecht nicht so stark nach Farbe, wie man hätte annehmen können.

Rafael kramt eine Flasche hervor, auf der »Gancia« steht, und aus blumigen Kaffeetassen trinken sie die gelbliche Flüssigkeit, die sich darin befindet. Sie schmeckt ein bisschen wie Wermut.

»Eigentlich muss es draußen warm sein, wenn man das hier trinkt«, sagt Rafael und legt sich die Decke um.

Hedvigs Daunensocken wärmen gut, und alles wirkt gleich behaglicher. Erschöpft sehen sie einen amerikanischen Thriller an, den Rafael mitgebracht hat. Der Film handelt von einer hochschwangeren Polizistin in einem Schneesturm und einem schwedischen Psychopathen als Schurke, der seine Opfer mit der Kettensäge zermahlt. Als der Film zu Ende ist, geht Hedvig in ihr Zimmer hinauf und macht ihr Bett.

So müde sie auch ist, fällt es ihr schwer einzuschlafen, wie immer in der ersten Nacht an einem fremden Ort. Sie liegt da und wirft sich hin und her. Zieht die Daunensocken aus. Zieht sie wieder an. Seufzt. Schläft schließlich ein. Schläft unruhig. Wacht auf und lauscht der Stille. Sucht nach der kleinen blauen Schachtel und stellt sie neben das Bett. Hört Rafael husten. Dreht sich auf die andere Seite und schläft wieder ein. Sie ist nicht allein.

Stig Rönnlund, genannt Stickan, eilt aus der Bar. Er geht dabei so nahe an den Objekten vorbei, wie es möglich ist, ohne dass sie seine Beobachtung bemerken. Das Herz klopft ihm bis zum Hals. Ihm ist ein Durchbruch gelungen! Er hat mit größter Wahrscheinlichkeit gerade einen neu eingetroffenen Zweig der Unterwelt entdeckt. Er lacht in sich hinein, als er die wenigen Schritte über den Platz läuft und die Stufen zum Polizeigebäude hinaufspringt. Innerlich hört er schon die Lobeshymnen. Åke wird dafür sorgen, dass er in der Hierarchie aufsteigt. Und das auch noch in seiner Freizeit; man stelle sich vor, dass man sogar aufmerksam sein muss, wenn man nicht im Dienst ist. »Aufgeweckt«, wird Åke sagen. Vor allen anderen, bei der Dienstbesprechung.

Im Foyer ist es dunkel. Sonja ist schon lange nach Hause gegangen. Stickan zieht seine Schlüsselkarte hervor, als wäre sie seine Dienstwaffe, und tippt den Kode ein, bevor die Tür sich öffnet. Er ist zu ungeduldig, um auf den Aufzug zu warten, und rennt stattdessen in drei Sprüngen die Treppe hinauf. Sein Puls ist noch immer erhöht.

In seinem Zimmer brennt Licht. Streng genommen ist es eigentlich nicht seines, sondern das Büro desjenigen, der gerade Dienst hat. Aber Stickan betrachtet das Zimmer als sein eigenes. Im Grunde genommen könnte »Stig Rönnlund« an der Tür stehen, auch wenn das tatsächlich nicht der Fall ist. Sein Kollege Erik Bergström sitzt nun an einem der beiden Computer und surft im Internet. Stickan nickt ihm kurz zu und schaltet den anderen Computer ein. Er steckt seine Karte hinein, um an die Register zu kommen, die er benötigt.

»Hast du kein Zuhause?«, murrt er und starrt Erik über den Bildschirm hinweg an.

Erik schaut zurück, unberührt. Eines Tages wird Erik Stickan dorthin befördern, wo er hingehört. In die Diebesgutausgabe.

»Ich habe eine Beobachtung gemacht«, sagt Stickan.

Eigentlich will er nicht mehr erzählen. Es besteht die Gefahr, dass Erik seinen Tipp herunterspielt und versucht, auf irgendeine Weise seinen Ruhm einzuheimsen.

»Aha. Was denn?«

Wieder diese Augen über dem Bildschirm. Besorg dir ein eigenes Leben, Erik. Und besorg dir einen eigenen Computer, so wie alle anderen in diesem Laden. Aber das sagt er natürlich nicht.

»Unten im Pub sitzt ein verdammt zwielichtiger Typ. Mindestens zwei Meter groß. Irgendein Kanake. Gut frisiert. Teuer gekleidet. Drei Kilo Gold um den Hals. Lederjacke. Ja, du weißt schon, wie diese Typen aussehen.«

Plötzlich klingt seine Beobachtung nicht mehr so messerscharf, wie er sie sich in seinem Kopf zurechtgelegt hat.

»Aha?«

»Die Mafia, natürlich.«

»Mafia?«

»Ja, die Unterwelt. Das international organisierte Verbrechen. Vermutlich ein neu eingetroffener Drogenkurier, vielleicht für Zigaretten oder Wodka oder noch härtere Sachen. Oder Waffen. Atomwaffen. Heutzutage fließt hier schließlich viel Scheiße aus dem Osten und dem Norden durch.«

»Ist das so?«

Erik starrt ihn an, bis es ihm beinahe unbehaglich wird. Stickan tut so, als habe er die Frage nicht gehört.

»Er hatte auch eine kleine Donna dabei. Abstinenzlerin oder schwanger, sie hat irgendein alkoholfreies Gesöff getrunken. Verdammt dubios war das.«

Erik nickt langsam.

»Ich schreibe einen Bericht, wir müssen dann mal sehen, wann wir mit der Beschattung anfangen können«, sagt Stickan bestimmt und öffnet ein neues Dokument. Langsam, Zeigefinger für Zeigefinger, tippt er ein, was er beobachtet hat. Das dauert.

Erik sitzt noch immer da, als er geht.

»Vergiss nicht, dass morgen ›Lustige Truppe‹ ist«, sagt Stickan, bevor er die Tür zum Flur hinter sich schließt.