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Mehdi Belhaj Kacem

Artaud und die Theorie des Komplotts

Aus dem Französischen von Till Bardoux

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Inhalt

Vorwort

Artaud und die Theorie des Komplotts

Anmerkungen

Vorwort

von Jean-Paul Chavent

Wofür sollten wir schreiben, wenn nicht dafür?

Schauplatz ist Guéret, in der Creuse. Die Rencontres de Chaminadour, veranstaltet auf Initiative von Pierre Michon als Gastgeberinstanz und Hugues Bachelot als feinsinnigem Organisator (und Großneffen Marcel Jouhandeaus, von dessen symbolträchtigem Werk diese Tage der Begegnung ihren Namen übernommen haben).1

Am 20. September 2014 fällt Mehdi Belhaj Kacem die Aufgabe zu, die Vortragsreihe, die in jenem Jahr Antonin Artaud gewidmet ist, abzuschließen. Seit drei Tagen folgen Beiträge von Universitätsgelehrten, Schriftstellern und Kennern des Artaud’schen Werks aufeinander, oftmals brillant, mitunter köstlich, immer faszinierend, so wie es in Chaminadour üblich ist, insbesondere in jenem Jahr seiner neunten Auflage. Da plötzlich hebt sich eine Präsenz, eine Stimme scharf ab vom Diskurs der zuvor aufgetretenen Spezialisten. »Artaud und die Theorie des Komplotts« lautet der angekündigte Titel von Kacems Redebeitrag, doch eigentlich wird es sich um eine Inkarnation dieses Themas (und anderer Themen noch dazu) handeln, denn gehalten wird der Vortrag hier von einem Philosophen, der eins mit seinen Schriften ist und dessen Wort und dessen Bücher, dem Nichts entrissen, von dem er sich umstellt sieht, ebenso zum Universum Artauds in Resonanz treten wie zur Welt Michons. Sagen wir etwas knapp gefasst, dass sie alle jene »Ersatzreligion« teilen, die eine bestimmte Idee der Literatur darstellt. Jene, die manchmal die Leere erhellt.

Lust und Leid des Sagens vereint in der Stimme. Algebra der Tragödie, niemals ihr Spektakel. Die Emotion, die mit der zunächst abgehackten, stockenden Diktion einherkommt, ist nicht auf Anhieb kommunikativ. Die Intelligenz, die Höhe des Gesagten, sie sind es. Die emotionale Wucht, die hervorgeht aus der Rätselhaftigkeit eines Wissens und eines gelebten Lebens, über die der Atem stolpert, bevor er sich vertieft, und eine weite Aussicht eröffnet, die lange Geschichte, und schließlich Artaud, aber auch Michon und vor ihnen (um nur einen Namen zu nennen) Hölderlin neu in diese Ahnenreihe stellt, in der sich jene in allen Jahrhunderten rar gesäten Menschen wiedererkennen, die die Nacktheit unserer Conditio humana in Wörter hüllen mussten, einzig um sie noch mehr (vermeiden wir das Klischee bis auf die Knochen) bloßzustellen, allerdings in der Form, die eine unvergleichliche Singularität jedes Mal einfordert.

Der Heroismus des Satzes, die Gewalt am Werk, die Gewalt der Gesellschaft, von der sie in den Selbstmord getrieben werden, es sei denn, sie krempeln sie um, um aus ihr einen Motor zu machen. Die Kunst und der Schmerz: die Genealogie jenes Leids, das der Mensch, das technisch am weitesten entwickelte Tier, sich selbst zufügt. Das Verhältnis zur Geschichte, zur Vergangenheit, der postmoderne Generalschlüssel, der Zynismus und die Gabe, und hinter dem einfachen Bild des »Selbstmörders durch die Gesellschaft« schließlich die Frage nach dem Bösen, mit der sich nunmehr die Arbeit von MBK befasst.

Am Ende bei allen im Saal aufgewühlter Ernst. Tränen. Stehende Ovationen. Bravorufe. Das Gefühl, bei dem, was ein lebendiges Denken hervorruft, provoziert und verkörpert, nicht nur zugegen gewesen zu sein, sondern Anteil an ihm gehabt zu haben – nichts weniger in jenen drei reichen Stunden von Chaminadour als die Erfindung einer möglichen Gemeinschaft.

Wofür sollten wir schreiben, wenn nicht dafür? Wofür sollten wir lesen, wenn nicht dafür?

Ja, wofür, für wen? Deshalb haben wir eines Morgens im September 2014 in Guéret vor Freude geweint.

J.-P. C.

Artaud und die Theorie des Komplotts

»Mein lieber Jacques,

ich hatte es mir doch geschworen, nicht nachzugeben, alles zu tun, um es zu vermeiden, um mich nicht verleiten zu lassen. Wie es ein etwas zu emphatischer, mir aber hartnäckig immer wieder in den Sinn kommender Satz besagte: Ich will nicht den Boden unter den Füßen verlieren; ich will nicht diese endlose Wiederkehr der immer gleichen Dämonen; ich will nicht diese Art ›ewiges Wiederkäuen‹.

Sehr schnell wusste ich allerdings, dass das unmöglich war. Strikt unmöglich.

Daraufhin hat sich in mir ein anderer und, wie ich fürchte, nicht minder emphatischer Satz geformt: Ich werde mich also der Autobiografie hingeben. Ich werde ihr opfern, ich werde mich hingeben. Und als ich verstanden habe, dass ich diesen Satz wohl öffentlich aussprechen musste, schien es mir fürs Erste am richtigsten, das furchtbare Wort, das sich derart soeben aufgedrängt hat, einfach klingen zu lassen, mit allen mitschwingenden Obertönen: Ich werde mich hingeben. Ohne mehr dazu, zu sagen.

Ich denke, ja ich weiß, dass ihr mich verstehen werdet. Und du, Jacques, als Erster.«

Diese zugleich pathetischen und heroischen Sätze stammen von Philippe Lacoue-Labarthe, und sie sind umso heroischer, als sie in einem unpassenden, da universitären Rahmen geäußert wurden; bei einem riesigen, Jacques Derrida gewidmeten internationalen Kolloquium, dessen Beiträge in einem dicken Wälzer unter dem Titel L’animal autobiographique versammelt wurden. Mit ihnen beginnt ein atemberaubender Vortrag, in dem Lacoue-Labarthe von Blanchots Der Augenblick meines Todes spricht, aber auch die Verbindung zwischen Autobiografie und »vorgängigem Tod« erwähnt, bei Montaigne, Rousseau, Chateaubriand, Malraux … und bei Artaud.

Als man mir vor einigen Monaten das Projekt dieses Kolloquiums antrug, das sich um Antonin Artaud drehen sollte, allerdings unter ehrerbietiger Berufung auf Pierre Michon, und von mir zudem höflich, aber nachdrücklich einen Titel für meinen Vortrag verlangte, einen, »der knallt«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen, halb als verwegene Provokation, halb um mich zu zwingen, zum Kern der Sache zu kommen: »Artaud und die Theorie des Komplotts«. Für den Moment fiel mir nichts Besseres ein. Als man an mich herantrat, war ich seit zwei Jahren in einer Art neurasthenischen Prokrastination versunken, zwei Jahre, in deren Verlauf ich ernsthaft erwogen hatte, mir bei lebendigem Leib alle Literatur herauszuoperieren, insbesondere jene Form der Literatur, die ich seit zehn Jahren praktiziere und die man noch immer, vielleicht zu Unrecht, Philosophie nennt.

Ich übertreibe freilich ein wenig, ich habe in den letzten zwei Jahren nicht vollkommen aufgehört, zu schreiben oder zu lesen, doch im Grunde ist es wahr: Auch wenn ich mich zu bestimmten Gelegenheiten dem hingegeben habe, was man Beitrag zu einer öffentlichen Debatte nennt, war doch die vorherrschende Lust wirklich jene, in quasi Rimbaud’scher Manier mit allem, was man gemeinhin Kultur nennt, Schluss zu machen. Ich habe euch also als Einstieg ins Thema den Text von Lacoue vorgelesen, der mich bei jedem Wiederlesen aufwühlt, weil ich kein besseres – kein weniger pathetisches – Mittel gefunden habe, euch an meiner geistigen Verfassung teilhaben zu lassen. Zugleich Verlangen und Panik, Enthusiasmus und Schrecken bei dem Gedanken, an diesem Kolloquium teilzunehmen, nach zwei Jahren, sprich einer Ewigkeit, in denen ich mehr oder weniger nichts tat. Nichts tat, außer vielleicht unablässig wiederzukäuen: die alten Dämonen zu jagen, die von der vorliegenden Einladung und allem, was mit ihr einherging (Artaud, das sagt ja schon alles), im Galopp wieder heraufbeschworen wurden. Aber wenn ich nun schon einmal da bin, geben wir uns hin.

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