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Gilbert Achcar

DIE ARABER
UND DER HOLOCAUST

Der arabisch-israelische Krieg
der Geschichtsschreibungen

Aus dem Englischen übersetzt
von Birgit Althaler und Sophia Deeg

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Die Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien 2009 unter dem Titel Les Arabes et la Shoah bei Actes Sud, Paris
Die Übersetzung folgt der im selben Jahr erschienenen englischsprachigen Ausgabe The Arabs and the Holocaust: the Arab-Israeli war of narratives, Metropolitan Books, Henry Holt and Company, New York

Inhalt

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Vorwort

Einleitung. Schmerzgetränkte Worte

Shoah, Holocaust, Genozid an den Juden | Zionismus, Kolonialismus, Entwurzelung | Nakba

TEIL 1: DIE ZEIT DER SHOAH

Arabische Reaktionen auf den Nationalsozialismus und den Antisemitismus, 1933–1947

Einleitung

1. Westlich orientierte Liberale

2. Die Marxisten

3. Die Nationalisten

Die Baath-Partei | Die Syrische Soziale Nationalistische Partei | Die Partei der libanesischen Phalangisten | Junges Ägypten und der ägyptische Nationalismus | Die »Futuwwa«-Schülerbewegung im Irak | Arabische Nationalisten im Irak und der Nationalsozialismus | Arabische Nationalisten in Syrien und der Nationalsozialismus | Arabischer Nationalismus und Antisemitismus | Das Pogrom vom Juni 1941 in Bagdad: der »Farhūd«

4. Reaktionäre und/oder fundamentalistische Panislamisten

Panislamismus und fundamentalistische Gegenreform | Der Islam und die Juden | Rashid Rida | Shakib Arslan | »Der Feind meines Feindes«: Zweckbündnis, Übereinstimmung und Komplizenschaft | Der Großmufti Amin al-Husseini | ‘Izz-ul-Dīn al-Qassām | Amin al-Husseini und der arabische Aufstand in Palästina 1936 bis 1939 | Amin al-Husseinis Exil und seine Zusammenarbeit mit Rom und Berlin | Amin al-Husseini und der Völkermord an den Juden | Amin al-Husseini, Architekt der Nakba | Das vielgestaltige Erbe Amin al-Husseinis

TEIL 2 · DIE ZEIT DER NAKBA

Arabische Einstellungen gegenüber den Juden und dem Holocaust in der Zeit von 1948 bis heute

Einleitung

Die Nakba, wie Benny Morris sie sieht – eine symptomatische Entwicklung

5. Die Nasser-Jahre (1948–67)

»Die Juden ins Meer werfen«? | Nasserismus und Antisemitismus | Der Eichmann-Prozess, Reparationen, Vergleiche und Holocaust-Leugnung

6. Die PLO-Jahre (1967–1988)

Die programmatische Neudefinierung der palästinensischen Haltung gegenüber den Juden | Die Schlacht um die Vergleiche mit der Nazi-Vergangenheit

7. Die Jahre des islamischen Widerstands (1988 bis heute)

Hisbollah, Hamas und der islamisierte Antisemitismus | Von der Affäre Garaudy zur Affäre Ahmadinedschad: Ausbeutung der Erinnerung an den Holocaust als Reaktion

Schluss. Stigmata und Stigmatisierungen

Von Antisemitismus, Antizionismus, Philosemitismus, Islamophobie und der Ausbeutung des Holocaust | Von Zionismen, dem Staat Israel, Rassismus, dem Ende der Leugnung und vom Frieden

Anmerkungen

Literaturverzeichnis

Dank

Personenregister

Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?

Matthäus 7:3

Vorwort zur deutschen Ausgabe

Es erfüllt mich mit großer Genugtuung, dieses kurze Vorwort zur deutschen Ausgabe meines im Oktober 2009 ursprünglich auf Französisch veröffentlichten Buchs zu schreiben. Der Natur des behandelten Themas entsprechend, war es mein Wunsch, dieses Buch einer Leserschaft insbesondere in vier Sprachen zugänglich zu machen: neben der Universalsprache Englisch auf Arabisch, Hebräisch und Deutsch. Die arabische Ausgabe erschien als Erste, im Januar 2010 in Kairo und im April 2010 in Beirut. Die englische Ausgabe erschien im Mai 2010 in London und New York. Nun liegt die deutsche Ausgabe vor, und vieles spricht dafür, dass die hebräische Ausgabe bald folgen wird.

Mit der Abfassung eines Buchs zu einem derart heiklen Thema, das unzählige Kontroversen ausgelöst hat, war ich auf feindselige Reaktionen von verschiedener Seite gefasst. Diese ließen nicht lange auf sich warten. Sie waren voraussehbar, brachten wenig Neues und hoben sich in gewisser Weise gegenseitig auf, da mir gleichzeitig vorgeworfen wurde, dem Zionismus zu feindselig oder, im Gegenteil, zu unkritisch zu begegnen oder, je nach Sichtweise, den Arabern oder den Juden zu wohlwollend gegenüberzustehen. Weniger vorhersehbar war das Lob, das das Buch von beiden Seiten geerntet hat.

Meine erste dahingehende Erfahrung machte ich, als mich die Herausgeber in den Vereinigten Staaten um Nennung möglicher Verfasser von Kurzkommentaren für den Buchumschlag baten, wie dies für englischsprachige Publikationen üblich ist. Ich schickte ihnen eine Liste mit Namen renommierter Autoren und achtete darauf, dass es sich um anerkannte palästinensische und israelische Akademiker und Holocaust-Experten handelte. Alle erhielten die Druckfahnen zugesandt. Ich erhoffte mir drei oder vier positive Reaktionen. Alle sieben angefragten Autoren beehrten mich mit lobenden Kommentaren, die meine Erwartungen ebenso übertrafen wie die der Herausgeber. Es handelt sich um die Hochschulprofessoren Naseer Arouri, Rashid Khalidi, Michael Marrus, Francis Nicosia, Peter Novick, Avi Shlaim und Idith Zertal.

Eine weitere überraschende Erfahrung machte ich, als Eldad Beck, Berlin-Korrespondent von Yedioth Ahronoth, der größten israelischen Tageszeitung, den französischen Verleger kontaktierte, um mich für seine Zeitung zu interviewen. Das Interview erschien auf Hebräisch auf zwei vollen Zeitungsseiten in der Ausgabe vom 27. April 2010 und danach am 2. Mai auf Englisch in The Jerusalem Report, der zweiwöchentlich erscheinenden wichtigsten englischsprachigen Zeitschrift in Israel. Eine ungekürzte arabische Übersetzung wurde in zwei der bekanntesten arabischen Zeitungen, Al-Akhbar (Beirut, 12. Mai) und Al-Quds al-Arabi (London, 13. Mai), veröffentlicht. Unterdessen zirkuliert das Interview in verschiedenen Sprachen im Internet. Die Tatsache, dass dasselbe Dokument in derart gegensätzlichen Publikationen wie den vier genannten veröffentlicht wurde, scheint mir bedeutend und völlig neu, auch wenn das Interview, wie zu erwarten, auf beiden Seiten Anlass zu ebenso viel zustimmenden Kommentaren wie aggressiv vorgebrachter Kritik bot.

Seither sind zahlreiche Rezensionen in den drei Sprachen erschienen, in denen das Buch bislang veröffentlicht wurde, dies sowohl in Massenmedien als auch in der akademischen Fachpresse – und, was Letztere betrifft, in Zeitschriften für arabische ebenso wie für jüdische Studien. Angesichts der Thematik wurde der englische Text auch im deutschsprachigen Raum rezensiert und kommentiert, wobei die Reaktionen wie in den anderen Sprachen nicht entlang einer »ethnischen« Grenze, sondern entlang ideologischer Linien verlaufen, zwischen jenen, die der Botschaft des Buchs, das einen Dialog zwischen Arabern und Israelis auf der Grundlage gemeinsamer humanistischer Werte aufbauen will, beipflichten, und jenen, die sich darin gefallen, sich in ihrer Parteinahme für eine der beiden Konfliktparteien gegenseitig zu übertrumpfen.

Nach den arabischen Ländern des Nahen Ostens und Israel ist Deutschland aus naheliegenden Gründen jenes Land, in dem mit der größten Befangenheit auf die im Buch angesprochenen Fragen reagiert wird. Der israelisch-arabische Konflikt scheint hier zeitweise als Ventil für mehr oder weniger uneingestandene Gefühle herzuhalten, deren Bandbreite vom Antisemitismus bis zur Islamophobie reicht. So hoffe ich, dass die deutsche Ausgabe meines Werks dazu beitragen wird, Licht in die Finsternis zu bringen, die der Instrumentalisierung dieses Konflikts Vorschub leistet, und all jenen Argumente zu liefern, die allein von dem beseelt sind, was die deutsche Geschichte an Wertvollstem hervorgebracht hat – Humanismus und Internationalismus.

London, am 25. Januar 2012
Gilbert Achcar

Vorwort

Dieses Buch nahm seinen Anfang, als mein Freund Enzo Traverso mich bat, zu dem monumentalen Werk über die Geschichte des Holocaust, das er mit drei anderen Wissenschaftlern für den italienischen UTET-Verlag in Turin herausgab, ein Kapitel über die Rezeption des Holocaust im Nahen Osten beizusteuern.1 Ich nahm die Einladung an, wenn auch zögerlich: Die kurzen sechs Monate, die mir blieben, um meinen Essay zu schreiben, nachdem ein anderer Autor relativ kurzfristig abgesagt hatte, machten die umfangreiche und vielschichtige Aufgabe zu einem gewagten Unterfangen.

Dennoch sagte ich zu, wobei mich eine Art Pflichtgefühl motivierte. Es war ein ausgezeichnetes Werk, zu dem beizutragen ich aufgerufen war, und ich wollte nicht, dass der Aspekt, den ich behandeln sollte – eine ganz besonders heikle Frage –, inkompetent bearbeitet oder ganz beiseitegelassen würde. Um der intellektuellen Stringenz willen schränkte ich den Gegenstand meiner Untersuchung auf Länder ein, über die ich tatsächlich Bescheid wusste und deren Sprache ich beherrsche, nämlich die der arabischen Welt, aus der ich selbst stamme. Nachdem die Herausgeber dem zugestimmt hatten, begann ich mit intensiven Recherchen und dem Schreiben. So entstand das lange Kapitel, das den zweiten und letzten Band des Werks abschließt.2 Enzo war dann der Erste, der immer wieder darauf drängte, ich solle es zu einem Buch ausarbeiten. Damals war ich jedoch wenig gewillt, mich wieder in intensive Recherchen zum selben Thema zu stürzen.

Doch ich verfolgte den Gedanken weiterhin, da die aufgeworfenen Fragen sich im Nahen und Mittleren Osten immer drängender stellten. So leistete eine Konferenz in Teheran gegen Ende des Jahres 2006 unter dem Titel »Rückblick auf den Holocaust: Globale Sicht« der Holocaust-Leugnung Vorschub und bot dem iranischen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad Gelegenheit, sich in provokanten Äußerungen zu ergehen. Nachdem mich sowohl Leser des erwähnten Kapitels – darunter auch die Verleger der französischen, der britischen und der amerikanischen Ausgabe des vorliegenden Buchs – dazu angeregt hatten und ich selbst den Wunsch hegte, die Problematik in einer allgemein zugänglicheren Form zu diskutieren als innerhalb eines umfangreichen Kompendiums in italienischer Sprache, nahm ich mir vor, das Kapitel zu einem Buch auszuarbeiten.

Von Anfang an war klar, dass es eine große Herausforderung sein würde, die Rezeption des Holocaust in der arabischen Welt mit ihren sehr unterschiedlichen Ländern und Bedingungen darzustellen. Hinzu kommen vielfältige politische Tendenzen und Sensibilitäten, und die Sicht der Bewohner dieser Region auf die jüdische Tragödie wird zudem durch ihre besondere Beziehung zum Drama der Palästinenser, der Nakba, verkompliziert. Daher widmet sich die Einleitung des Buchs dieser hochkomplexen Beziehung zwischen dem Holocaust und der Nakba.

Um die Aufgabe etwas überschaubarer zu gestalten, habe ich den Blick auf die Länder gerichtet, die durch die Schaffung des Staates Israel am direktesten betroffen sind, das heißt die östlichen arabischen Länder. Die Länder des Maghreb – die in Nordafrika gelegenen des arabischen Westens – werden nur am Rande behandelt. Trotz dieser Beschränkung hat sich das schmale Bändchen, das mir ursprünglich vorschwebte, zu einem umfangreichen Buch ausgewachsen. Die Diskussion der Zeit um den Holocaust – die 1930er und 1940er Jahre – nimmt über die Hälfte des Bandes ein. Den Begriff der Shoah (der »Katastrophe«) habe ich auf den folgenden Seiten breit ausgelegt, indem ich nicht erst die Phase nach Januar 1942 zugrunde lege, die von den Nazis als »Endlösung« bezeichnete Zeit der systematischen Vernichtung, sondern die gesamte Zeitspanne der Judenverfolgung sowohl in Deutschland als auch später in den von den Nazis eroberten Ländern, also die gesamte Verfolgungsgeschichte, die mit der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 begann.

Diesen Jahren widme ich gegenüber den darauf folgenden Jahrzehnten aus mehreren Gründen besondere Aufmerksamkeit. Zum einen sind sie der zentrale Gegenstand der historischen Kontroverse, die in der Schlacht der Narrative ausgetragen wird. (Wo immer mir gute Sekundärquellen nicht zugänglich waren, habe ich Primärquellen genutzt.) Zum anderen haben sich die wichtigsten ideologischen Strömungen der arabischen Länder zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet; an ihren unterschiedlichen Bezügen auf den Holocaust lässt sich sehr gut ihre jeweilige Natur ablesen. Insofern liefert dieses Buch eine Art ideologische Landkarte der arabischen Welt – und es ist meiner Ansicht nach in dieser Hinsicht ebenso aufschlussreich wie bezüglich des eigentlichen Themas. Und schließlich wäre eine detaillierte Diskussion der Einstellungen gegenüber dem Holocaust, die sich in den gesamten sechs Jahrzehnten seit der Entstehung des israelischen Staates herausgebildet haben, hier aus dem einfachen Grund nicht möglich, weil sie mehrere Bände füllen würde.

Den Titel Die Araber und der Holocaust habe ich diesem Buch sicher nicht gegeben, weil ich die irrwitzige Vorstellung teilen würde, die Nazis hätten bei der Judenverfolgung mit niemandem eine so enge Zusammenarbeit gepflegt wie mit den Arabern. Noch weniger bin ich der Auffassung, dass »die Araber« an dem Verbrechen in irgendeiner Weise aktiv oder passiv beteiligt waren, wie dies für viele Bevölkerungen in Europa zutrifft.3 Dennoch wurden die Araber durch das zionistische Projekt und die jüdische Immigration nach Palästina vom Holocaust tief betroffen, und es ging mir in diesem Zusammenhang vor allem darum, die Vielschichtigkeit ihrer Beziehung zum Holocaust darzustellen. Zweifellos finden sich in der arabischen Welt vielfach unerträgliche Einstellungen zum Holocaust; aber ebenso gibt es in Israel und im Westen grotesk entstellende Deutungen der arabischen Rezeption des Holocaust. Ich möchte Raum für Reflexion schaffen, der es ermöglicht, die zahllosen verzerrten Darstellungen hinter sich zu lassen. Sie beruhen auf gegenseitigen Missverständnissen, die den blinden Hass aufrecht erhalten und durch ihn vertieft werden. Es sind solche Karikaturen, die die Diskussionen über das Thema vergiften.

Ohne den Anspruch auf eine erschöpfende Darstellung der arabischen Reaktionen auf den Holocaust zu erheben, bin ich überzeugt, dass eine enger gefasste Untersuchung palästinensischer Einstellungen zur Shoah ebenso möglich wie notwendig ist. Besonders wünschenswert wäre es, wenn ein Palästinenser oder eine Palästinenserin bald ein Gegenstück zu den Arbeiten von Tom Segev bzw. Peter Novick über die Beziehung der Israelis bzw. der US-Amerikaner zum Holocaust4 schreiben würde und dabei demselben bewunderungswürdigen Bemühen um Objektivität und selbstkritische Distanz zum eigenen nationalen Umfeld und zur eigenen Community folgen würde. Im Interesse des gegenseitigen Verstehens hoffe ich auch, dass ein israelischer Wissenschaftler oder eine israelische Wissenschaftlerin bald eine gründliche Untersuchung der Geschichte der israelischen Rezeption der Nakba, der palästinensischen Katastrophe, vorlegen wird.

London, im August 2009

Einleitung

Schmerzgetränkte Worte

Wer sich vornimmt, über den Genozid an den Juden durch den nationalsozialistischen Staat zu schreiben, sieht sich mit einem schwierigen terminologischen Problem konfrontiert. Wie soll man etwas benennen, das vom Standpunkt einer humanistischen Ethik für alle Zeit »unsagbar« bleiben wird?

Shoah, Holocaust, Genozid an den Juden

In allen Wörtern, die zur Bezeichnung des Genozids an den Juden benutzt werden, schwingen zahlreiche Bedeutungen mit; keines ist neutral. Selbst Formulierungen, die offensichtlich von Émile Durkheims wissenschaftlichem Imperativ inspiriert sind, »vorgefasste Meinungen« zu vermeiden, wenn es um »soziale Tatbestände« geht, wie dies für den Titel von Raul Hilbergs Werk Die Vernichtung der europäischen Juden1 gilt, liegt offenkundig eine schwierige Entscheidung zugrunde: den Gegenstand der Untersuchung mit kühlem, distanziertem Blick zu betrachten. Hilberg erklärt im Vorwort zur ersten Ausgabe seines Buches klar: »Wir werden uns nicht mit dem Leiden der Juden beschäftigen.«2 Das ist eine durchaus anzuerkennende und sogar unvermeidliche Entscheidung, wenn, wie dies bei seinem monumentalen Werk der Fall ist, die wissenschaftliche Distanz nicht fehlende Empathie bedeutet, sondern vielmehr dem Wunsch geschuldet ist, diese zu zügeln, um möglichst objektiv zu bleiben. In einem solchen Fall geht es darum, die Glaubwürdigkeit der Fakten zu gewährleisten, auf die sich die Empathie dann getrost stützen kann, ohne dass der Verdacht aufkommt, die Empathie habe die Fakten zu ihren Zwecken beeinflusst. Diese Einstellung ist nicht zu vergleichen mit der pseudowissenschaftlichen Distanz des Leugners, die kaum dazu angetan ist, die Antipathie, die ihn beseelt, zu verschleiern.

Die angemessenste objektive Bezeichnung scheint mir »der Genozid an den Juden« zu sein, ein Ausdruck, der sich des allgemeinen Begriffs vom »Genozid« oder »Völkermord« bedient und ihn durch die Benennung der Opfer näher bestimmt, wie in den Formulierungen »der Genozid an den Armeniern«, »der Genozid an den Roma« und »der Genozid in Ruanda«. Diese Formulierungen laufen weder der Feststellung zuwider, dass jeder Genozid eine einzigartige Erscheinung ist, noch der unleugbaren Tatsache, dass der Genozid an den Juden in seinem Umfang alle anderen Genozide des 20. Jahrhunderts übertrifft – eine objektive Feststellung, die anerkannt werden sollte, ohne dass man sich auf eine »Konkurrenz der Opfer« einlässt, die Jean-Michel Chaumont in seinem gleichnamigen Buch so überzeugend beschrieben hat.3

Die Begrifflichkeiten, die sich im öffentlichen Diskurs und in den Medien durchgesetzt haben, sind natürlich nicht von dem gleichen Bemühen um Genauigkeit geprägt. Zwei Begriffe, die den Genozid an den Juden in seiner Einzigartigkeit benennen, haben sich etabliert: die »Shoah« und der »Holocaust«. Der erste ist ein hebräisches Wort, das allgemein mit »Katastrophe« übersetzt wird. Mit dem bestimmten Artikel und im Singular (Ha-Shoah) bezeichnet es in der Sprache der jüdischen Religion die schreckliche Katastrophe, die über die europäischen Juden kam (sowie auch über andere, nichteuropäische Juden, die nur zu oft vergessen werden). Es handelt sich zweifellos nicht um einen »wissenschaftlichen« Begriff, doch bietet er eine Möglichkeit, die Einzigartigkeit des Genozids an den Juden hervorzuheben.

Esther Benbassa kritisiert jedoch den Gebrauch des Begriffs »Shoah« und weist darauf hin, dass er biblischen Ursprungs ist und in diesem Kontext eine Strafe Gottes bezeichnet. Im Jiddischen wiederum, der Sprache der meisten Opfer und Überlebenden des Genozids an den Juden, sei ein anderer Ausdruck – churbn – verwendet worden.4 Trotz seiner Säkularisierung, so betont sie, enthalte der Begriff »Shoah« alle Zutaten einer »säkularen Theologie« der jüdischen Tragödie. Ihre Einwände sind wohl begründet, doch sie selbst greift zu dem Ausdruck »Holocaust«, was paradox erscheint, da hier genau genommen die gleiche Kritik sogar noch berechtigter zutrifft.

Das Wort »Holocaust« leitet sich vom griechischen holokaustos ab, was »vollständig verbrannt« bedeutet. Genauer gesagt stammt es aus der griechischen Übersetzung der hebräischen Bibel (3. Buch Mose) und ist über das Kirchenlatein in die westlichen Sprachen gelangt. Das Wort bezieht sich auf den Brauch der alten Israeliten, Tiere als Sühneopfer zu verbrennen. Im hebräischen Text findet sich keine Entsprechung des griechischen Worts, er kennt nur den Begriff olah, was so viel heißt wie »Aufstieg« oder »Erhebung« (das Wort »aliah« hat dieselbe Wurzel) und hier »Opferung« bedeutet – vermutlich, weil das, was verbrannt wird, als Rauch in den Himmel steigt. Das verbrannte Opfer oder olah kann auch als qorban bezeichnet werden, was »Opfergabe« bedeutet. In der Bibel steht olah ausschließlich für Tiere, die zur Gänze durch das Feuer verbrannt wurden, weshalb es als »holocaust« übersetzt wurde. Andere Opfergaben wie beispielsweise »Speiseopfer« in Form von Mehl oder Kuchen wurden nur teilweise verbrannt; was übrig blieb, musste »Aaron und seinen Söhnen«, also den Priestern, abgegeben werden.

In Anbetracht der ursprünglichen Bedeutung des Wortes »holocaust« ist sein Gebrauch zur Bezeichnung des Genozids an den Juden mehr als umstritten und Gegenstand hitziger Debatten. Die Kritik bezieht sich vor allem auf die Tatsache, dass die etymologische Bedeutung des Wortes seine Anwendung zur Bezeichnung des Genozids an den Juden makaber, wenn nicht verwerflich erscheinen lässt, insbesondere, wenn man an die Gaskammern und Krematorien in den Vernichtungslagern denkt. Darüber hinaus kann man die Vorstellung, in den Opfern des Genozids »Sühneopfer« zu sehen, nur als abstoßend bezeichnen.

Auf der Website des U.S. Holocaust Memorial Museums in Washington D.C. findet sich eine Darstellung der historischen Entwicklung, die zu dem unangebrachten Gebrauch des Begriffs geführt hat:

»In säkularen Schriften setzte sich die Bedeutung von holocaust als ›vollständige oder großangelegte Zerstörung oder Vernichtung‹ durch, eine Konnotation, die besonders ab Ende des 19. Jahrhunderts bis hin zur Zeit des Wettrüstens Mitte des 20. Jahrhunderts im Vordergrund stand. In diesem Zeitraum wurde das Wort auf unterschiedliche Katastrophen angewandt, von Juden-Pogromen in Russland über die Verfolgung und Ermordung von Armeniern durch Türken während des Ersten Weltkriegs und Angriffe Japans auf chinesische Städte bis hin zu verheerenden Bränden, bei denen Hunderte umkamen.

Frühe Bezugnahmen auf die Ermordung der Juden durch die Nazis schlossen sich diesem Sprachgebrauch an. Bereits 1941 bezeichneten Autoren mit diesem Begriff gelegentlich die NS-Verbrechen an den Juden, doch in diesen frühen Fällen geschah dies nicht im Sinne einer Exklusivität. Anstatt von ›dem‹ Holocaust zu sprechen, bezogen sie sich auf ›einen‹ Holocaust, einen von vielen im Laufe der Jahrhunderte …

In den späten 1940er Jahren kam es jedoch zu einer Verschiebung. Holocaust (groß- oder kleingeschrieben) erhielt, als es in israelischen Übersetzungen für das Wort sho’ah verwendet wurde, eine spezifischere Bedeutung. Dieses hebräische Wort war im Verlauf der gesamten jüdischen Geschichte gebräuchlich gewesen, um Angriffe auf Juden zu bezeichnen, aber in den 1940er Jahren wurde es bereits häufig für die Ermordung der Juden durch die Nazis gebraucht. … Die Gleichsetzung von Holocaust und Sho’ah lässt sich an prominenter Stelle, nämlich in der offiziellen englischen Übersetzung der israelischen Unabhängigkeitserklärung von 1948, nachvollziehen; ebenso in den übersetzten Veröffentlichungen von Yad Vashem der 1950er Jahre und bei der Medienberichterstattung zum Adolf-Eichmann-Prozess 1961 in Israel.«5

Es war jedoch Elie Wiesel, der den Begriff endgültig etablierte, indem er auf der Einzigartigkeit »des Holocaust« beharrte. Er tat es im vollen Bewusstsein der Folgen, wie Zev Garber und Bruce Zuckerman in einer bemerkenswerten kritischen Diskussion der Verwendung des Begriffs als der Bezeichnung für den Genozid an den Juden gezeigt haben:

»Es trifft zwar zu, dass die große Mehrheit (Juden wie Nichtjuden) weiterhin von ›dem Holocaust‹ spricht, ohne sich der religiösen Konnotationen bzw. des Zusammenhangs mit dem Opferbrauch bewusst zu sein. Doch fällt es schwer zu glauben, dass den jüdischen Denkern und Autoren, die sich als Erste dieses Begriffs bedienten oder mehr noch, dafür gesorgt haben, dass er Verbreitung findet, die Kenntnis entgangen sein sollte, die jedermann, der einfach nur ein Wörterbuch aufschlägt, zugänglich ist. … Es kann kaum bezweifelt werden, dass derjenige, der am meisten dafür getan hat, ›den Holocaust‹ im modernen Bewusstsein fest einzuprägen, sehr wohl wusste, was er tat, und die Bedeutung des Wortes ›Holocaust‹ in all ihren Nuancen sehr wohl kannte. … Bei Wiesels Beweggründen für die Einführung des Begriffs ›der Holocaust‹ schwingen zweifellos religiöse Untertöne mit, die an den Opferbrauch gemahnen, wie dies auch seine eigenen Schriften offenbaren.6

Wir gehen davon aus, dass er sich aller damit ins Spiel gebrachten Faktoren durchaus bewusst war. … Dennoch wählte er gerade diesen Terminus, um die jüdische Tragödie in ihrer besonderen Bedeutung zu kennzeichnen.«7

Arno Mayer wiederum stellt den Begriff »Holocaust« infrage, weil dieses »religiös aufgeladene« Wort im Zusammenhang eines »allzu sektiererischen« Erinnerungskults steht, der seiner Ansicht nach »eine verordnete kollektive ›Erinnerung‹ speist, die kritischem und kontextuellem Denken über die jüdische Katastrophe nicht förderlich ist«.8 Mayers Einwand ist im Sinne des bereits zitierten Durkheim’schen Ansatzes insofern legitim, als er sich dagegen wendet, den Begriff in wissenschaftlichen Untersuchungen des Genozids an den Juden zu verwenden. Doch der allgemeine Gebrauch hat letztendlich dem Begriff »Holocaust«, genau wie anderen Begriffen auch, eine Bedeutung verliehen, die über seine Ursprünge hinausweist: Er bezeichnet inzwischen ganz speziell den Genozid an den Juden, wie Michael Marrus betont.9 Im Übrigen hat Mayer selbst den Terminus des »Judeozids« geprägt, der den Genozid an den Juden – im Gegensatz zu Hilberg – einer ganz eigenen Kategorie zuordnet, mehr noch als der Begriff »Holocaust«, der weiterhin auch als Gattungsbegriff benutzt wird, um eine ganze Reihe anderer Tragödien zu bezeichnen, was Elie Wiesel tief bedauert.

Wenn es also darum geht, den Genozid an den Juden in seiner Einzigartigkeit zu benennen und zugleich auch das emotionale Gewicht zu vermitteln, mit dem die Erinnerung daran verknüpft ist, dann ist der Begriff »Shoah« sicher viel angemessener. Tatsächlich spricht sich die Website der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem (die offizielle Bezeichnung auf Englisch: The Holocaust Martyrs’ and Heroes’ Remembrance Authority) heutzutage für die Verwendung des Worts »Shoah« aus.10 Doch »Holocaust« hat sich in den meisten westlichen Sprachen, so auch im Englischen und im Deutschen, durchgesetzt, während »Shoah« im Französischen und, wenn auch in geringerem Maße, im Italienischen weite Verbreitung gefunden hat. »Shoah« gewinnt aber sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten immer mehr an Boden. Im vorliegenden Buch werden je nach Kontext und jeweiliger Sprache beide Begriffe verwendet.11

Zionismus, Kolonialismus, Entwurzelung

Der Zionismus als politische Bewegung zur Schaffung eines Judenstaats, wie es im Titel des berühmten Buches seines Begründers Theodor Herzl heißt, war zunächst und vor allem eine Reaktion auf den Antisemitismus und sah als solche die ethnisch-nationalistische Segregation der Juden und ihre Zusammenführung auf einem eigenen Territorium vor. Dabei war er häufig in heftigem Widerstreit mit konkurrierenden Ansätzen, die für die individuellen und kollektiven Rechte der Juden da, wo sie lebten, eintraten und diese entweder durch Autonomie oder durch Integration durchsetzen wollten.

Die Anfänge der zionistischen Kolonialisierung Palästinas, ebenso wie die ersten feindseligen arabischen Reaktionen, datieren weit früher als Hitlers Machtübernahme. Die arabischen Bewohner Palästinas nahmen das zionistische Unternehmen als eine weitere Erscheinung des europäischen Kolonialismus wahr, zumal es sich im Wesentlichen unter dem britischen Mandat in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg entfaltete. In seinem berühmten Brief aus dem Jahr 1917 an die zionistische Bewegung erklärte der britische Außenminister Lord Balfour, die Regierung Seiner Majestät befürworte »die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina«.

Von den frühesten Keimzellen der europäisch-jüdischen Ansiedlung in Palästina in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – einer Bewegung, die vor allem durch Pogrome in Russland Auftrieb bekam – bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs kam es immer wieder zu heftigen, gelegentlich auch blutigen Auseinandersetzungen zwischen arabischen Bauern und jüdischen Siedlern. Es waren keine fremdenfeindlichen oder antijüdischen Reaktionen seitens der palästinensischen Dorfbewohner, jedenfalls anfänglich nicht, sondern vielmehr völlig vorhersehbare Reaktionen von Bauern, die von ihrem Land vertrieben worden waren. Den deutlichsten Beweis liefert die Tatsache, dass sich die Bauern, wenn die Siedler sie auf ihrem Land bleiben und es weiter bearbeiten ließen, in die neuen Verhältnisse fügten. Wenn dagegen die neuen Eigentümer die osmanischen Autoritäten veranlassten, die Bauern zu vertreiben, was nach der Jahrhundertwende immer häufiger vorkam, leisteten die Bauern Widerstand.12

Die Feindseligkeit der einheimischen muslimischen und christlichen Bevölkerung wuchs stetig in dem Maße, wie die Besiedlung zunahm und sich zugleich die Absicht der zionistischen Bewegung immer deutlicher abzeichnete, in Palästina einen Staat zu errichten. So wurde die Gegnerschaft zum Zionismus bereits einige Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zu einem der zentralen Aspekte der sich herausbildenden palästinensischen Identität und des arabischen Nationalbewusstseins. Das lässt sich anhand der Artikel in den Zeitungen nachvollziehen, die seit dem späten 19. Jahrhundert und dank der damals einsetzenden politischen Liberalisierung im Osmanischen Reich besonders seit Mitte des Jahres 1908 immer zahlreicher erschienen, und das nicht nur in Palästina, sondern auch in Kairo, Beirut oder Damaskus.13

Seit Beginn des 20. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg verdoppelte sich die Zahl der in Palästina lebenden Juden. In der britischen Mandatszeit verzehnfachte sich die jüdische Bevölkerung dann von 61 000 im Jahr 1920 (bei einer Gesamtbevölkerung von 603 000) auf mehr als 610 000 (bei einer Gesamtbevölkerung von 1,9 Mio.) am Vorabend der Ausrufung des israelischen Staates.14 In den frühen 1920er Jahren wanderten durchschnittlich 8000 Juden jährlich in Palästina ein; dann nahm diese Immigration zu und erreichte 1925 mit 34 000 jüdischen Einwanderern einen Höhepunkt.15

Kurz nachdem sich das britische Mandat de facto etabliert hatte, brachen, wie nicht anders zu erwarten, die ersten antijüdischen arabischen Aufstände aus, zuerst 1920 in Jerusalem und 1921 in Jaffa; 1929 erreichten die gewaltsamen Auseinandersetzungen ihren Höhepunkt.16

Dennoch war die Machtergreifung der Nazis 1933 und das, was danach kam, weit mehr als nur ein Anreiz für die Einwanderung von Juden nach Palästina. Diese Entwicklung stellt vielmehr den entscheidenden Faktor dar, der den Auffassungen der Zionisten Glaubwürdigkeit verlieh und letztendlich zur Umsetzung ihres Projekts führte – wie auch die Einwanderungsstatistiken belegen. Nach dem Höhepunkt von 1925 (infolge der Wirtschaftskrise und antijüdischer Maßnahmen in Polen, die mit neuen Einwanderungsrestriktionen der USA zusammenfielen) sank die Zahl der jüdischen Immigranten im gesamten Zeitraum von 1927 bis 1931 auf weniger als 20 000; das entspricht einem Jahresdurchschnitt von weniger als 4000. Im Jahr 1931 stellten Juden ein Sechstel der Bevölkerung Palästinas: Laut der britischen Volkszählung belief sich die Zahl der Juden im Land auf 175 000, die der Araber auf 880 000.17 Die Zahl der Einwanderer stieg 1932 auf über 12 500 und schoss 1933 auf über 37 000, 1934 auf 45 000 und 1935 auf 66 000 Personen. Erst durch die palästinensische Erhebung von 1936 –1939 wurde diese Entwicklung verlangsamt, und im Anschluss erließ die britische Mandatsverwaltung Restriktionen für die jüdische Einwanderung.18

Innerhalb einer Zeitspanne von fast 50 Jahren, zwischen 1882 und 1931, kamen insgesamt annähernd 187 000 Einwanderer nach Palästina. Von 1932 bis 1938, also in nur sieben Jahren, strömten weitere 197 000 Menschen ins Land und zwischen 1939 und 1948 nochmals 138 300. Unterm Strich waren es also fast 313 000 Immigranten, die sich laut offiziellen israelischen Statistiken zwischen der Machtergreifung Hitlers 1933 und dem Ende des britischen Mandats 1948 in dem Gebiet niederließen.19 115 000 von ihnen kamen illegal.20 In den drei Jahren zwischen dem Ende des Krieges in Europa im Mai 1945 und der Ausrufung des israelischen Staates im Mai 1948 erreichten – wiederum laut offiziellen israelischen Angaben – 80 000 Überlebende des Holocaust Palästina illegal.21

Im Jahr 1932 machte die jüdische Bevölkerung mit annähernd 181 000 Personen 18,3 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Bereits 1946 betrug ihr Anteil über 35 Prozent22 und erreichte 37 Prozent, als zwei Jahre später der Staat ausgerufen wurde. Von den 716 700 Juden, die sechs Monate nach der Unabhängigkeitserklärung in dem Staat lebten, waren 463 000, also fast zwei Drittel, im Ausland geboren, wie die Volkszählung vom 11. November 1948 ergab.23

Der »Staat der Juden« verdankt also seine Entstehung aus mehr als einem Grund dem Holocaust. Die antisemitische Politik der Nazis mit dem rassistischen Ziel eines »judenreinen« Deutschlands setzte mit der immer nachdrücklicher verfolgten Vertreibung der deutschen Juden ein.24 Bis 1939 setzten die Nazis bevorzugt auf die Auswanderung der Juden nach Palästina:

»Eine jüdische Auswanderung nach Palästina … stellt für Deutschland das geringere Übel dar. ›Ich weiß aus eigener Erfahrung‹, schrieb ein Beamter des Auswärtigen Amts, ›wie ausgesprochen unerfreulich der Zustrom jüdischer Intellektueller (in andere Länder, AdÜ) für uns ist.‹ Er weist darauf hin, dass die Auswanderung jüdischer Intellektueller in die Vereinigten Staaten, die Türkei und den Iran das dortige Geistesleben dahingehend beeinflusst habe, dass antideutsche Gefühle verstärkt worden seien und dass jüdische Einwanderer in Lateinamerika den Deutschen schweren wirtschaftlichen, propagandistischen und politischen Schaden zugefügt hätten. … Aber in Palästina, so dieser Beamte, sind die Juden unter sich und können dem Dritten Reich nicht schaden.«25

»In Deutschland selbst griff Hitler 1937 und Anfang 1938 aktiv in die Debatte um Palästina ein. Er bestand darauf, dass die jüdische Auswanderung und Deportation mit allen Mitteln und ungeachtet des Ziellandes voranzutreiben sei. Laut Hitler sollte Palästina dabei weiterhin eines der wichtigsten Aufnahmeländer für deutsche Juden sein; es wurde 1938 und 1939 sogar zu einem noch bedeutenderen Faktor innerhalb der Emigrationspolitik der Nazis, als die Gestapo und der Sicherheitsdienst in Sachen ›illegale‹ Einwanderung jüdischer Flüchtlinge nach Palästina unter Umgehung der britischen Blockade mit zionistischen Untergrundorganisationen zusammenarbeiteten.«26

Annähernd 53 000 Juden machten sich allein aus Deutschland zwischen 1933 und 1939 auf den Weg nach Palästina, wobei diese Zahl ausschließlich die legale Auswanderung erfasst. Während deutsche Juden 1933 ein Viertel der jüdischen Immigranten darstellten, waren es 1939 bereits 52 Prozent, die aus Deutschland kamen.27 Ihre Immigration wurde durch eine Vereinbarung vom 25. August 1933 erleichtert, die deutsche Zionisten und Vertreter der Jewish Agency for Palestine mit der NS-Regierung getroffen hatten. Diese unter der Bezeichnung Haawara (»Transfer« auf Hebräisch) bekannte Übereinkunft erlaubte deutschen Juden, die nach Palästina emigrierten, und nur ihnen, einen Teil ihres Besitzes als Güterexport aus Deutschland zu transferieren.28 Diese Vereinbarung war umso umstrittener, als sie dem Wirtschaftsboykott zuwiderlief, mit dem Nazi-Deutschland belegt worden war, eine Maßnahme, von der sich viele erhofften, sie könne das Hitler-Regime schneller zu Fall bringen, was zum damaligen Zeitpunkt realistisch erscheinen mochte. Auf der anderen Seite kam das Abkommen der damals kurz vor dem Bankrott stehenden Jewish Agency for Palestine zu Hilfe29, der Institution, die die jüdische Immigration organisierte und den Jishuv 30 betreute.

Trotz aller Bemühungen der zionistischen Bewegung wanderten die deutschen und österreichischen Juden, die bis zum September 1939 das kontinentale Europa verließen, in ihrer Mehrheit nach Nord- und Südamerika aus – 95 000 in die Vereinigten Staaten und 75 000 nach Lateinamerika, während nur 60 000 nach Palästina emigrierten.31 Die polnischen Juden bildeten 1948 mit 170 000 Personen die größte Gruppe innerhalb des Jishuv.32 Letztendlich sorgte also der Nationalsozialismus, indem er die jüdische Einwanderung nach Palästina erheblich förderte, dafür, dass die Bewegung das kritische Gewicht erlangte, um 1948 politisch und militärisch zu triumphieren. »Der Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland gereichte damit zum Vorteil der zionistischen Bewegung und zum Nachteil der Araber«, wie Tom Segev zutreffend feststellte.33

Die Geschichte hat also Herzls Vision recht gegeben – auf eine Art allerdings, die er sich in seinen schlimmsten Albträumen nicht hätte ausmalen können.

»Hingegen enthält der vorliegende Entwurf die Verwendung einer in der Wirklichkeit vorkommenden Treibkraft … Und was ist diese Kraft? Die Judennot.«34 Diese Vision liegt derselben »Philosophie des segensreichen Unheils« zugrunde, die der Ben-Gurion-Biograf Shabtai Teveth dem Mann zuschreibt, den er wie kein anderer kannte. Teveth zitiert David Ben-Gurion, Präsident des Exekutivkomitees der Jewish Agency und wichtigster Gründungsvater des Staates Israel, mit den Worten: »Je härter die Anfechtung, desto größer die Kraft des Zionismus.«35 Diese Philosophie erklärt aus Teveths Sicht Ben-Gurions relative Gleichgültigkeit gegenüber dem Holocaust, eine Haltung, für die er heftig kritisiert wurde: »Zwei Tatsachen können definitiv konstatiert werden: Ben-Gurion hat Rettungsversuche nicht über die zionistische Politik gestellt, und er betrachtete solche Versuche nicht als vorrangige Aufgabe, für die seine persönliche Führung erforderlich gewesen wäre.«36

Der Vorsitzende der Jewish Agency gab der unerbittlichen Logik zionistischer Prioritäten beredten Ausdruck, als er im Dezember 1938, nicht lange nach dem Nazi-Pogrom der »Reichskristallnacht«, erklärte: »Wenn ich wüsste, dass es durch Transporte nach England möglich wäre, alle [jüdischen] Kinder aus Deutschland zu retten, durch Transporte nach Palästina aber nur die Hälfte von ihnen gerettet werden könnte, würde ich mich für Letzteres entscheiden – denn wir werden nicht nur von diesen Kindern zur Rechenschaft gezogen, sondern müssen dem jüdischen Volk historische Rechenschaft ablegen.«37 Und weiter: »Wie jeder Jude habe ich ein Interesse daran, nach Möglichkeit alle Juden zu retten, aber die Rettung der hebräischen Nation in ihrem Land hat Vorrang vor allem anderen.«38

Unter den Gegnern dieser Auffassung bemühten sich die bedeutendsten Mitglieder von Brit Shalom und später von Kreisen um Ihud, darunter Persönlichkeiten wie Hugo Bergmann, Martin Buber, Judah Magnes und Henrietta Szold, die allesamt die zionistische Staatsvorstellung ablehnten und statt dessen einen binationalen Staat in Palästina anstrebten, verzweifelt darum, den Jishuv davon zu überzeugen, der Rettung der europäischen Juden unbedingten Vorrang einzuräumen. Gegen Ende des Jahres 1942, als Informationen über die »Endlösung« im Jishuv durchzusickern begannen, spielten Mitglieder aus diesen Kreisen eine Vorreiterrolle bei der Gründung einer Vereinigung mit dem Namen Al-Domi (vom biblischen Hebräisch für »schweige nicht«), die sich aktiv, wenn auch vergeblich, für das Ziel der Rettung einsetzte. Dass es eine solche Vereinigung jemals gab, scheint aus der Erinnerung ausgelöscht zu sein.39

Der American Council for Judaism (ACJ) verfolgte unbeirrt eine ähnliche Politik. Der ACJ war eine von Reformrabbis und Laien in den 1940er Jahren40 gegründete antizionistische Organisation und trat für einen gemeinsamen demokratischen, säkularen palästinensischen Staat ein, in dem Juden und Araber gleiche Rechte genießen würden. Die UN-Kommission zu Palästina nahm 1947 die Position des ACJ zur Kenntnis, wonach »Vorschläge, einen jüdischen Staat zu errichten …, eine Bedrohung für den Frieden und die Sicherheit Palästinas und seiner Umgebung darstellen, den Juden in Palästina und auf der ganzen Welt schaden und außerdem undemokratisch sind«.41

Der ACJ, der in seinen besten Zeiten über 14 000 Mitglieder zählte, setzte sich nachdrücklich dafür ein, dass Amerika den Vertriebenen offenstehen sollte. Das war nur logisch angesichts seiner Ablehnung des zionistischen Projekts in Palästina und seiner Solidarität mit den europäischen Juden. Die Position des Rats war der des britischen Autors Israel Zangwill nicht unähnlich, der mit der zionistischen Bewegung brach, als sich diese auf Palästina als einzige territoriale Option für den zukünftigen »jüdischen Staat« festlegte – und das, obwohl der berühmte Ausspruch von Palästina als »einem Land ohne Volk für ein Volk ohne Land« angeblich auf Zangwill selbst zurückgeht (eine ungenaue Quellenangabe, die später angezweifelt wurde).42 Zangwill – der sehr wohl wusste, dass die Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina bedeutete, eine arabische Mehrheit durch eine jüdische Minderheit zu beherrschen43, außer man vertriebe die Araber aus Palästina – setzte sich für den »Territorialismus«, das Projekt einer jüdischen Sammlung in irgendeinem beliebigen Gebiet, ein, das sich für diesen Zweck besser eignete als Palästina, am liebsten in den Vereinigten Staaten. »Amerika«, schrieb er, »hat Raum genug für alle sechs Millionen des Pale (dem Ansiedlungsrayon in Russland, wo die meisten Juden lebten); jeder seiner fünfzig Staaten könnte sie ohne Weiteres aufnehmen. Und abgesehen von der Möglichkeit, in einem eigenen Land zu leben, könnte ihnen nichts Besseres widerfahren, als zusammen in einem Land bürgerlicher und religiöser Freiheiten zu sein, in dessen Verfassung das Christentum nicht verankert ist und wo die Wählerstimmen ihres Kollektivs sie praktisch vor zukünftiger Verfolgung bewahren würden.«44

Umgekehrt bestimmte das palästinensische Projekt die Position der US-amerikanischen Zionisten in der Frage der Einwanderung von Überlebenden des Holocaust in die Vereinigten Staaten. Der außerordentliche Kongress im New Yorker Biltmore Hotel, der im Mai 1942 amerikanische Zionisten mit Vertretern der Bewegung aus aller Welt zusammenführte, forderte lediglich, dass Palästina jüdischen Flüchtlingen offenstehen solle – nicht aber andere Länder, solche, die mit den Achsenmächten im Krieg lagen, an erster Stelle die Vereinigten Staaten.45 Wie Aaron Berman gezeigt hat, änderte sich diese Einstellung auch dann nicht, als bekannt wurde, dass die Nazis einen systematischen Völkermord begingen – ganz im Gegenteil:

»Amerikanische Zionisten beschlossen, ihre Hauptaufgabe sei es, um Unterstützung für den umgehenden Aufbau eines jüdischen Staates in Palästina zu werben. Ihre Entscheidung hatte nichts mit Gefühllosigkeit oder Gleichgültigkeit angesichts des furchtbaren Schicksals der europäischen Juden zu tun. Die amerikanischen Zionisten sahen vielmehr in Hitlers Plan eines Genozids nichts Außergewöhnliches … Die amerikanischen Zionisten waren überzeugt davon, dass die Heimatlosigkeit der Juden die Grundursache allen Antisemitismus sei, und beschlossen, die Staatenlosigkeit der Juden zu beenden …

Bedauerlicherweise erwies sich das Kalkül der amerikanischen Zionisten als verkehrt. … Als die Nazis schließlich begannen, ihr Vorhaben des Völkermords umzusetzen, behinderte die Entscheidung der amerikanischen Zionisten, den Schwerpunkt auf die Errichtung eines jüdischen Staates zu legen, jeglichen Versuch, eine starke Lobby aufzubauen, die die amerikanische Regierung zur Rettung der europäischen Judenheit hätte zwingen können.«46

David Wyman, den man kaum einer feindseligen Haltung gegenüber den amerikanischen Zionisten bezichtigen kann, bilanziert deren Aktivitäten in diesem Bereich wie folgt: »Es ist nicht zu leugnen«, schreibt er, »dass die Führung der amerikanischen Zionisten in der Zeit des Holocaust ihr Hauptaugenmerk darauf richtete, alle Kräfte für die Schaffung eines zukünftigen jüdischen Staates in Palästina zu mobilisieren. Die Rettung kam für sie eindeutig erst an zweiter Stelle.«47 Doch, so führt er weiter aus, »es war wesentlich mehr möglich, als sie wahrhaben wollten«.48

Von allen Argumenten, die angeführt werden, um die offensichtliche Zurückhaltung der Zionisten gegenüber der Forderung nach Öffnung der Grenzen der Vereinigten Staaten, Großbritanniens und anderer Alliierter für die jüdischen Flüchtlinge aus Kontinentaleuropa zu rechtfertigen, können selbst die vernünftigsten allenfalls als »mildernde Umstände« gelten gelassen werden. Die politische Motivation für diese Zurückhaltung lässt sich jedenfalls nicht leugnen, wie eine von Tom Segev zitierte Äußerung Ben-Gurions belegt: »Im Zusammenhang mit den Kristallnacht-Pogromen meinte Ben-Gurion, dass das ›menschliche Gewissen‹ verschiedene Länder dazu bringen könnte, ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge aus Deutschland zu öffnen. Er sah darin eine Bedrohung und warnte: ›Der Zionismus ist in Gefahr!‹«49

Francis Nicosia fasst die Konsequenzen der zionistischen Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus so zusammen:

»Falls, wie die Zionisten zu behaupten pflegten, die Assimilationisten einer Illusion angehangen hatten, dann waren die Zionisten zweifellos selber einer solchen aufgesessen. Diese beruhte auf der falschen Annahme, dass sich der Antisemitismus, den sie, wie Herzl und andere betonen, für etwas Natürliches und Verständliches hielten, mit den Grundsätzen und Zielen des Zionismus arrangieren könne. Herzl und andere glaubten, Antisemiten würden den Zionismus akzeptieren, selbst wenn sie die Juden hassten oder jedenfalls nicht mochten, und sogar alles daran setzen, die zionistischen Bemühungen so lange zu unterstützen, bis Juden und Nichtjuden ihr gemeinsames Ziel erreicht hätten: die Entfernung der Juden aus Deutschland. Was sie jedoch nicht verstanden hatten und was die deutschen Zionisten in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg bis nach 1933 offenbar nicht begriffen: Wie attraktiv der Zionismus für die meisten Antisemiten und sogar für die Nazis auch sein mochte, er war es nur aus rein pragmatischen Beweggründen und insofern problematisch. Tatsächlich fehlte es der gesamten zionistischen Bewegung einschließlich des Jishuv bis weit in die Jahre des Zweiten Weltkriegs hinein an einer zutreffenden Einschätzung des Nationalsozialismus, so wie sie auch nicht in der Lage war, zu begreifen, wie sie auf ihn hätte reagieren sollen.«50

Doch die Verantwortung dafür, dass den europäischen Juden keine Zuflucht gewährt wurde, lag letztendlich bei den Regierungen der Alliierten, die dazu sehr wohl in der Lage gewesen wären. Bermans Urteil mag extrem hart erscheinen, doch er hat nicht unrecht, wenn er sagt, dass »in erster Linie Deutschland für den Holocaust verantwortlich war, die demokratischen Regierungen der Vereinigten Staaten und des Vereinigten Königreichs aber zumindest als Komplizen des Genozids betrachtet werden müssen«.51 Besonders aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die internationale Konferenz, die vom 6. bis 15. Juli 1938 in Evian stattfand. Sie war von Franklin D. Roosevelt initiiert worden und hatte das Schicksal der jüdischen Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich zum Gegenstand, deren Zahl aufgrund des »Anschlusses« und der immer intensiver verfolgten antisemitischen Politik der Nazis erheblich angestiegen war. 32 Länder schickten Delegationen.