Marcel Zischg

Was fehlt
eigentlich

Erzählungen

© 2018 Marcel Zischg

2. überarbeitete Auflage

Lektorat: Moritz Siegel (Dresden), Jonas-Philipp Dallmann (Berlin)

Verlag und Druck:

tredition GmbH, Halenreie 42, 22359 Hamburg

ISBN

Hardcover:

978-3-7469-8842-9

E-Book:

978-3-7469-8843-6

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Der kranke Garten

Der Freund von der einsamen Straße

Kurze Zeit

Marc und Robert

Abgrund

Die Reise zum Vater

Der alte Mann auf dem Guinigi-Turm

Mariella oder das Spielzeugauto

Was fehlt eigentlich

Enge

Die alte Frau Vergangenheit

Die tote Katze

Das Spiel im Bach

Judith schreibt Jans Geschichte

Manuela und Diego

Der Mantel

Die Frau auf der Bank

Der verschlossene Himmel

Kleeblattsuche

Die letzte Rolle

Der kranke Garten

Der Junge im Zug sah traurig aus, als sich das Mädchen zu ihm setzte. Aber er gab ihr den Platz neben sich und schob seine kleine Reisetasche beiseite.

„Wohin fährst du“, fragte das Mädchen. Sie hatte sich in seine großen, dunklen Augen verliebt.

Da drehte er sich vom Fenster weg, sah sie an und sagte: „Was kümmert’s dich.“

Erschrocken wich sie zurück. Er mochte ebenso alt sein wie sie selbst, fünfzehn vielleicht, doch während sie sich unbekümmert auf der Heimfahrt von der Schule befand, schien in dem Jungen etwas verstimmt zu sein. Er drehte sich wieder zur Seite.

Das Mädchen schwieg. Etwas an dem Jungen faszinierte das Mädchen. Sie war nicht beleidigt.

Sie lebte in einem kleinen Dorf in einem schmalen Tal. Sie kannte dort beinahe jeden Gleichaltrigen, aber der hier schien nicht dazuzugehören.

Der Junge blickte hinaus auf das Tal, auf den Fluss, der am Gleis entlanglief. Ein sanfter Nebelschleier hatte sich über das Wasser gelegt.

Vielleicht, dachte das Mädchen, weint der Junge heimlich. Aber es war ein unsichtbares Weinen, ein Weinen, das er in sich trug. Seine Augen hatten ein Ziel.

Eine Viertelstunde verging schweigend. Dann stieg der Junge an derselben Haltestelle aus wie das Mädchen.

Das Mädchen verfolgte den Jungen. Sie war sich sicher, er hütete ein Geheimnis. Vom Gleis aus ging er durch das ganze Dorf, wobei er stets kleine Seitenstraßen oder Gassen wählte. Bald bemerkte er das Mädchen hinter sich, aber er drehte sich erst um, als er das Dorf verlassen hatte.

Er wanderte zum Dorf hinaus einen Schotterweg entlang, der durch schier endlose Apfelbaumreihen führte. Stamm an Stamm reihte sich in der Talsohle, aber kein Einziger trug Früchte oder Blätter, denn ein Feuer hatte alle Baumreihen zerstört. Die Stämme waren geschwärzt, und die Äste reckten sich in den Himmel wie wirre Finger.

Und irgendwo mitten in diesen öden Apfelbaumreihen standen der Junge und das Mädchen nun einander gegenüber, nur Meter voneinander entfernt. Hinter der Plantage erhob sich ein Berg, der von der Mittagssonne bestrahlt wurde. Der Junge hatte seine Reisetasche hingeworfen und hielt dem Mädchen eine Pistole entgegen.

„Du hast dich in mich verknallt, stimmt’s. Warum, zum Teufel?“

Das Mädchen wäre am liebsten weggelaufen. Doch sie wagte es nicht, auch nur eine Bewegung zu machen. Dennoch spürte sie, dass niemand in der Nähe war. Es war September, Erntezeit, und normalerweise wären jetzt von früh bis spät die Erntehelfer aus Osteuropa dagewesen, um Äpfel zu pflücken und in Holzkisten zu verpacken. Aber jetzt, in der zerrütteten Plantage, war niemand da.

Das Mädchen schloss die Augen.

„Ich habe keine Angst“, sagte sie.

Als sie die Augen wieder öffnete, war der Junge fort. Das Mädchen erinnerte sich nur an seine großen, dunklen Augen. Dann lief sie weg, so schnell sie konnte.

Der Junge mit den großen dunklen Augen traf seinen Bruder auf einer Lichtung des Berges.

„Sie wird uns finden“, sagte er. Der jüngere Bruder nahm dem älteren die Pistole aus der Hand. „Du bist so schön und hast große dunkle Augen. Viele Mädchen haben sich schon in dich verliebt. Sogar Mama ist in dich verliebt. Sie werden dich suchen.“

„Uns“, sagte der ältere Junge.

Hinter ihnen floss ein Bergbach herab, der weiter unten im Tal in den Fluss mündete. Es war ein Bach mit schneller Strömung.

Der ältere Bruder nahm dem jüngeren die Pistole wieder ab und warf sie ins Gras. Der Jüngere ergriff sie aber wieder und steckte sie ein.

„Die muss uns jetzt begleiten“, sagte er. Und zu seinem Bruder gewandt: „Komm mit!“

Sie nickten einander zu und folgten dem Bach stromaufwärts.

Das Mädchen kam nach Hause und erzählte den Eltern von der Begegnung mit dem Jungen. Die Mutter umarmte das Mädchen.

„Gott sei Dank, dass dir nichts passiert ist“, sagte sie.

Dann riefen die Eltern des Mädchens die Polizei.

Gleichzeitig mit den zwei Polizeimännern erschien eine Frau, die sich als die Mutter des Jungen ausgab, der das Mädchen bedroht hatte. Das Mädchen erzählte ihr alles, was geschehen war. Die Mutter des Jungen weinte.

Das Mädchen blickte in den großen Spiegel des Wohnzimmers. Sie hatte traurige Augen. Sie schloss ihre Augen und hörte die Mutter des Jungen neben sich auf dem Sofa schluchzen: „Sie waren immer so brave Jungs, meine Jungs. Warum nur sind sie weggelaufen?“

Als das Mädchen die Augen wieder öffnete und in die Augen der fremden Mutter blickte, waren sie groß und blau – helle Augen, anders als die des Jungen. Aber auch in diesem hellen Blau konnte das Mädchen etwas spüren – so vieles saß darin; ein ganzer Garten voller Blumen. Das Mädchen dachte, dass in einem solchen weiten Garten gewiss auch Unkraut blühte.

Die Mutter der Jungen hatte tatsächlich einen Garten, aber er war eng und überwuchert von Efeu. Blumen blühten darin keine mehr. Das Unkraut hatte ihn überfangen, weil die Mutter ihn nicht mehr liebte, seit ihr Mann vor ein paar Jahren gestorben war. Die Jungen hatten sich nicht mehr wohlgefühlt in dem kranken Garten, der sich um das Haus schlang.

Später, nach vielen Verwicklungen, sagte ein alter Mann aus: „Ja, ich habe die Brüder gesehen. Sie waren ganz hoch auf dem Berg. Sie kamen an meiner Wellblechhütte vorbei, wohin ich meine Ziegen treibe, die da immer weiden. Ein Junge war groß und schlank, und er hatte große dunkle Augen. Der andere war kleiner, pummelig und hatte versteckte kleine, helle Augen hinter einer großen Brille. Sie haben mich gefragt, wo die Berge enden. Ich habe nur den Kopf geschüttelt. Ich wusste nicht, was sie meinten. Sie gingen dann einfach weiter und hielten sich an der Hand. Ja, und plötzlich waren sie verschwunden. Sie haben nicht hierher gehört, das habe ich gleich gemerkt.“

Als das Mädchen wieder einmal mit dem Zug aus dem Tal hinausfuhr, fragte ein freundlicher Junge, ob neben ihr noch ein Platz frei wäre. Das Mädchen lächelte. Was für große dunkle Augen der Junge hatte! Über den Fluss im Tal hatte die Sonne einen sanften, feinen Nebelschleier gelegt.

Der Freund von der einsamen Straße

Das Mädchen zündet das Feuerzeug an und hält dem Bruder die brennende Flamme vor das Gesicht. Er sitzt neben ihr auf der Bank und weicht erschrocken zurück. Sie lacht und zündet sich eine Zigarette an. Ihr Freund sitzt auf der anderen Seite neben dem Mädchen und grinst.

Er hat sie zum Rauchen überredet – er, denkt der Bruder wütend. Es ist das erste Mal, dass die Dreizehnjährige raucht. Sie zieht an der Zigarette, inhaliert und hustet den Rauch sofort wieder aus.

„Schmeckt’s?“, fragt der Freund.

Sie nickt und lächelt schwach.

„Ach, komm schon“, ruft ihr Bruder, „du tust doch nur so, um ihm zu imponieren!“

„Schnauze!“, ruft der Freund.

Sie schweigt und wirft dem Freund ein liebevolles Lächeln zu.

Er ist hübsch, findet sie, sein freches Grinsen gefällt ihr. Er fängt an, sie zu küssen – lange und intensiv. Ihm gefallen ihre Lippen. Sie sind voll und gleichförmig und fühlen sich ganz zart an.

Nach dem Kuss ruft sie ihrem Bruder zu: „Du stehst jetzt als Schlappschwanz da, weil du nicht geraucht hast. Nur darum bist du wütend!“

„Nein, das stimmt nicht! Ich will nur nicht husten und mich vielleicht übergeben müssen!“

„Ach, dann verpiss dich doch!“, ruft der Freund. „Los, weiter!“, fordert er und stupst sie an. Sie nimmt die Zigarette ein weiteres Mal in den Mund. Der Geschmack gefällt ihr, als sie wieder daran zieht. Nur fühlt sie einen leichten Schwindel.

Nach Schulschluss am späten Nachmittag haben sie sich verabredet, das Mädchen und der Freund. Der Bruder ist ihnen heimlich gefolgt. Er hatte bereits einen Verdacht, denn sie sind einer Straße stadtauswärts gefolgt und haben sich an der Hand gehalten, als die Schule nicht mehr in Sichtweite war und keiner mehr sie gesehen hat.

Der Bruder ist im Wald geblieben, durch den die Straße führt, und ist ihnen so nachgeschlichen. Sie haben sich nicht unterhalten. Sie haben nur ein paar Mal angehalten, um sich zu küssen. Keiner hat es gesehen, nur er und die Septembersonne, die vom Abendhimmel schien. Sie war gerade dabei, unterzugehen.

Sie sind dann weitergegangen auf der Straße. Nie ist ihnen ein Auto entgegengekommen. Dem Bruder ist aufgefallen, dass er diese Straße noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Er hat sich gewundert über die Einsamkeit der Straße. Nie ist ihnen jemand begegnet, und weit und breit war kein Geräusch zu hören – auch nicht aus dem Wald, in dessen Unterholz er sich versteckt hat. Wenn er durch das Gebüsch gegangen ist, hat er nicht einmal seine eigenen Schritte gehört. Kein Ast hat geknackt, kein Laub geraschelt, wie unter einem seltsamen Zauber.

Er hat auch ihre Schritte nicht gehört, aber plötzlich hat er bemerkt, dass die beiden miteinander gesprochen haben. Er hat ihre Worte zwar nicht verstanden, aber was sie gesagt haben, hat sich schön und liebevoll angehört.

Irgendwann dann sind sie an diese Unterführung gekommen und haben sich auf eine alte Holzbank gesetzt. Es war eine Straßenunterführung; auf der Straße darüber rauschte der Verkehr vorbei. Die Mauern waren kalt und voller Unkraut; Efeu schlang sich daran entlang, Käfer und Würmer versteckten sich darin, an den Stellen, wo die Mauer aus dem Efeu hervorschaute, war sie ganz schwarz und schmutzig.

Als sie wieder Zigaretten hervorgeholt haben, ist er aus dem Gebüsch gesprungen und hat sich schnell auf die andere Seite gesetzt, sodass seine Schwester in der Mitte saß und neben ihr auf der anderen Seite der Freund. Außer ihren Stimmen ist weiterhin alles ruhig gewesen um sie auf der einsamen Straße; noch nicht einmal den Verkehr auf der dicht befahrenen Straße über ihnen haben sie gehört.

„Warum ist diese Straße so einsam“, fragt der Bruder. „Kein Auto fährt, kein Spaziergänger geht, noch nicht einmal ein Tier huscht über den Asphalt. Es ist, als ob diese Straße niemand kennt.“

„Es ist eine einsame Straße“, antwortet der Freund. „Es ist ganz und gar meine Straße – meine allein! Du hast beschlossen, ihr zu folgen.“

Die Schwester blickt auf die Zigarette in ihrer Hand und fühlt wieder den Schwindel. Ihr Blick wandert über die einsame Straße zurück in Richtung Stadt. Dann fragt sie sich, wie die Straße nach der Unterführung weitergeht, denn jenseits von ihr sieht sie nur ein grelles, weißes Licht. Sie weiß, sie verlässt die Stadt, wenn sie weitergeht. Vielleicht gibt es dann keine Möglichkeit mehr, zurückzukehren.

„Du musst ihm und dieser einsamen Straße nicht folgen“, sagt ihr Bruder, „komm, gehen wir zurück!“

Sie fühlt sich unwohl. Sie steht auf und klopft sich die Kleider ab, als könne sie den Geruch des Zigarettenrauchs so wegmachen.

„Der Rauch ist widerlich“, ruft sie. Dann machen sie sich auf den Weg und lassen den Freund auf der Bank zurück.

Der Freund beginnt zu weinen und sieht ihnen nach. Er denkt: Wärst du bei mir geblieben, hätten wir die einsame Straße verlassen können. Wir hätten eine glücklichere Straße finden können. Er blickt nach oben und hört plötzlich wieder den Verkehr der Schnellstraße.

Bruder und Schwester gehen die einsame Straße zurück, Hand in Hand. Die Sonne ist immer noch nicht untergegangen, nähert sich aber dem Horizont und leuchtet orangerot.

„Sie sieht aus wie eine riesengroße Blinkleuchte“, sagt der Bruder.

„Nein, sie sieht aus wie ein glühend roter Ball, der hinter dem breiten Schwarz der Bäume versinkt“, sagt die Schwester. Sie sieht auf zu dem gelblichen Himmel. Eine dunkle Wolke schwebt darüber hin wie ein Rauch. Die Luft fühlt sich stickig an, und die Schmutzwolke über ihnen scheint größer zu werden.

„Gehen wir jetzt nach Hause“, fragt die Schwester.

„Ja“, sagt er, „aber was willst du eigentlich machen, wenn du kommendes Jahr mit der Schule fertig bist?“

„Ich weiß es noch nicht.“

Sie geht gerne zur Schule, aber eigentlich geht sie lieber mit dem Freund einen ganz anderen Weg – egal, welchen Weg er geht. Sie will bei ihm sein, das weiß sie jetzt auf einmal wieder, ohne jeden Zweifel. Sie dreht sich um und läuft die Straße zurück in Richtung Bank.

„Nein!“, ruft ihr Bruder.

Aber als er ihr nachlaufen will, ist die Straße auf einmal verschwunden in einem Feld mit wilden Gräsern, und seine Schwester mit ihr. Alles hat sich verloren in einer weiten, weglosen Ebene unter einem weißen Himmel – ein Ort, der nirgendwohin führt, denkt der Bruder. Er wendet sich um und sieht, dass die Straße ihn in die Stadt zurückführt. Nach Hause, denkt er erleichtert. Dann setzt er sich in Bewegung, ohne sich noch einmal umzusehen.

Als er zu Hause den Eltern davon erzählt, glauben sie ihm nicht.

„Aber meine Schwester ist verschwunden!“, ruft er verzweifelt.

„Hör auf, zu blödeln!“, ermahnt der Vater ihn.

„Du hattest niemals eine Schwester“, sagt seine Mutter.

Er ist still und denkt an die einsame Straße, die plötzlich aufgetaucht und ebenso plötzlich wieder verschwunden ist. Da weiß er auf einmal, dass er sich die einsame Straße, die Schwester und den Freund nur ausgedacht hat.

Die Sonne ist immer noch nicht untergegangen. Er sieht sie vom Wohnzimmerfenster aus am Horizont. Sie versinkt in der Landschaft, in der seine Schwester verschwunden ist. Er fühlt einen Schwindel.

„Geh sofort auf dein Zimmer und mach deine Hausaufgaben“, sagt die Mutter. „Und komm in Zukunft pünktlicher heim! Du bist erst dreizehn und willst uns wohl nicht schon jetzt auf der Nase herumtanzen!“

Nachdenklich geht er auf sein Zimmer.

In seinem Zimmer gibt es ein großes Fenster. Er blickt hinaus und sieht den Sonnenuntergang hinter der Obstplantage, dahinter liegt der breite Streifen aus Schwarzeichen. Er öffnet das Fenster, aber nun sieht er auf einmal keine Obstplantage mehr. Vor dem Fenster strecken sich kahle Bäume und schwarze Stümpfe in den Himmel, der mit einem Mal strahlend blau ist, obwohl die Sonne untergeht. Vögel zwitschern, und Geräusche von einem Verkehr sind zu hören; eine dicht befahrene Straße verläuft plötzlich unter seinem Fenster entlang, zwischen den kahlen Bäumen hindurch. Und doch gibt es Momente, in denen kein Auto fährt, in denen es ganz still ist.

In einem solchen Moment stellt er sich vor, aus dem Fenster zu springen und denkt: Wenn ich falle, werde ich sehen, wie meine Schwester mit dem Freund die Straße weiterläuft, dem Sonnenuntergang entgegen. Es ist eine einsame Straße, ganz und gar die Straße des Freundes, seine allein. Aber die Schwester hat beschlossen, ihr zu folgen. Sie endet an einem Abgrund. Die beiden laufen darauf zu, immer näher, Schritt für Schritt. Dann springen sie, während sie sich an den Händen halten.