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CORRIE TEN BOOM mit John und Elizabeth Sherrill – Die Zuflucht | Corrie ten Boom erzählt aus ihrem Leben 1892–1945 – Aus dem amerikanischen Englisch von Dr. Hansjürgen Wille und Barbara Klau – SCM Hänssler

»Es war ein Jude Anfang dreißig mit dem typischen breitrandigen schwarzen Hut und dem langen schwarzen Mantel. Doch worauf aller Augen starrten, war das Gesicht dieses Menschen. Es war verbrannt. Vor seinem rechten Ohr hing eine graue, angesengte Locke, die an das Haar eines uralten Mannes denken ließ. Der übrige Bart war verschwunden, und an seiner Stelle sah man nur noch das rohe, wunde Fleisch.

›Das ist Herr Gutlieber‹, sagte Willem auf Deutsch. ›Er ist erst heute morgen in Hilversum eingetroffen. Herr Gutlieber, mein Vater.‹

›Er ist auf einem Milchwagen aus Deutschland herausgekommen‹, erklärte uns Willem schnell auf Holländisch. ›Sie haben ihn an einer Straßenecke überfallen – junge Leute aus München – und seinen Bart angesteckt.‹

Vater hatte sich von seinem Stuhl erhoben und schüttelte Herrn Gutlieber kräftig die Hand.

Ich brachte ihm eine Tasse Kaffee und einen Teller mit Keksen.

Herr Gutlieber setzte sich steif auf die Kante eines Stuhls und starrte auf die Tasse auf seinem Schoß.«

Dies war der erste Jude, der bei der Amsterdamer Uhrmacherfamilie ten Boom Zuflucht suchte. Bald darauf baute Corrie ten Boom (1892–1983) eine Untergrundorganisation auf, die vielen Juden das Leben rettete.

SCM | Stiftung Christlicher Medien

Der SCM-Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien, einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7269-1 (E-Book)
ISBN 978-3-7751-5630-1 (Lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book:
Beate Simson, Pfaffenhofen a. d. Roth

Dieser Titel erschien zuvor als Taschenbuchausgabe mit der ISBN 978-3-7751-5284-6.

© der deutschen Ausgabe 2010 und 2015
SCM-Verlag GmbH & Co. KG · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen
Internet: www.scmedien.de · E-Mail: info@scm-verlag.de

THE HIDING PLACE © 1971
Originally published in English under the title: THE HIDING PLACE by Corrie ten Boom with John and Elizabeth Sherrill.
Published by Chosen Books LLC., Mount Kisco, New York USA. All rights reserved.
Übersetzung: Dr. Hansjürgen Wille und Barbara Klau

Umschlaggestaltung: Kathrin Spiegelberg, Weil im Schönbuch
Titelbild: Corrie ten Boom: © Corrie ten Boom House Foundation, Amsterdam: shutterstock.com
Satz: Breklumer Print-Service, Breklum

Inhalt

»Es war ein Jude Anfang dreißig …«

Vorwort

Die Hundertjahrfeier

Das Kind

Karel

Der Uhrenladen

Invasion

Der geheime Raum

Eusie

Sturmwolken ziehen auf

Die Razzia

Scheveningen

Der Leutnant

Vught

Ravensbrück

Der blaue Pullover

Die drei Visionen

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Als wir Material für ein Buch über Bruder Andrew sammelten, stießen wir immer wieder auf einen Namen: Corrie ten Boom. Diese Holländerin – als wir zum ersten Mal von ihr hörten, war sie Mitte siebzig – war Bruder Andrews liebste Reisegefährtin. Ihm fielen so viele faszinierende Geschichten über sie ein, dass wir schließlich die Hände heben mussten, um seinen Erinnerungsstrom zu stoppen. »Sie würde nie in das Buch passen«, sagten wir. »Man müsste ein Buch über sie allein schreiben.« Man sagt so etwas dahin, ohne es eigentlich ernst zu meinen.

Im Mai 1968 wohnten wir einem Gottesdienst in Deutschland bei. Ein Mann sprach über seine Erlebnisse in einem Nazi-Konzentrationslager. Sein Gesicht erzählte die Geschichte beredsamer als seine Worte: Augen, in denen sich noch erlebte Qualen spiegelten, zitternde Hände, die nicht vergessen konnten. Ihm folgte am Lesepult eine weißhaarige Frau von breiter Gestalt und mit einem Gesicht, das Liebe, Frieden, Freude ausstrahlte. Aber – die Geschichte, die diese beiden Menschen berichteten, war die gleiche. Auch sie war in einem Konzentrationslager gewesen, hatte die gleiche Grausamkeit erlebt, die gleichen Verluste erlitten. Seine Reaktion war leicht zu verstehen. Aber ihre?

Wir blieben nach dem Gottesdienst noch, um mit ihr zu sprechen, und da ging uns auf, dass es niemand anderes als Andrews Corrie war. Cornelia ten Booms weltweite Mission, zu trösten und zu raten, hatte dort in dem Konzentrationslager begonnen, wo sie »einen Schild vor dem Wind, eine Zuflucht vor dem Sturm … den Schatten eines großen Felsens in einem elenden Land« gefunden hatte. Sie musste aber erst noch entdecken, dass, wenn das Schlimmste geschieht, das Beste noch vor einem liegt.

Bei weiteren Besuchen lernten wir diese erstaunliche Frau gut kennen. Zusammen besuchten wir das verwinkelte kleine holländische Haus – ein Zimmer breit –, wo sie bis in ihre Fünfzigerjahre das ereignislose Leben einer unverheirateten Uhrmacherin führte und, während sie für ihre ältere Schwester und ihren alten Vater sorgte, nicht einmal im Traum ahnte, dass große Abenteuer ihrer harrten. Wir besuchten den Garten in Südholland, wo die junge Corrie ihr Herz für immer verschenkt hatte. Besuchten das große Ziegelhaus in Haarlem, wo Pickwick mitten im Krieg echten Kaffee servierte … Und die ganze Zeit hatten wir das seltsame Gefühl, dass wir nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft blickten. Als sprächen diese Menschen und Orte nicht von Dingen zu uns, die bereits geschehen waren, sondern von der Welt der Siebzigerjahre, die da noch vor uns lag. Und schon entdeckten wir, dass wir das, was wir von ihr lernten, in die Praxis umsetzten:

Mit der Trennung fertig werden.
Mit weniger auskommen können
.
Sicherheit inmitten der Unsicherheit.
Vergebung.
Wie Gott Schwäche benutzen kann
.
Mit schwierigen Menschen fertig werden.
Dem Tod ins Auge sehen
.
Wie man seine Feinde liebt.
Was tun, wenn das Böse
siegt.

Wir sprachen mit ihr darüber, dass ihre Erinnerungen ein Licht auf Probleme und Entscheidungen zu werfen schienen, vor denen wir im Augenblick standen. »Aber«, sagte sie, »dafür ist die Vergangenheit da. Jedes Erlebnis, das Gott uns schenkt, jeder Mensch, den er uns im Leben schickt, ist die vollkommene Vorbereitung auf die Zukunft, die allein er sehen kann.«

Jedes Erlebnis, jeder Mensch … Vater, der jede Uhr zu reparieren vermochte und dann die Rechnung zu schicken vergaß. Mama, deren Körper ein Gefängnis wurde, deren Seele sich aber frei emporschwang. Betsie, die aus drei Kartoffeln und zweimal benutzten Teeblättern ein Festmahl zaubern konnte. Als wir in die blitzenden blauen Augen dieser durch nichts zu entmutigenden Frau blickten, wünschten wir, dass diese Menschen auch zu unserem Leben gehörten.

Und dann, natürlich, wurde uns klar, dass sie es könnten …

John und Elizabeth Sherrill,
Chappaqua, New York

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Die Hundertjahrfeier

Als ich an diesem Morgen aus dem Bett sprang, bewegte mich nur die eine Frage: Sonne oder Nebel? Gewöhnlich war es im Januar in Holland neblig, feucht, kalt und grau. Aber manchmal, an einem jener seltenen, zauberhaften Tage, brach eine weiße Wintersonne durch. Ich beugte mich, so weit ich konnte, aus dem einzigen Fenster meines Schlafzimmers hinaus; es war immer schwer, vom Beje den Himmel zu sehen. Kahle Ziegelmauern blickten mich an, die Hinterfronten anderer alter Häuser in diesem dicht bevölkerten Zentrum des alten Haarlem. Aber als ich den Hals reckte, sah ich über den komischen Dächern und schiefen Schornsteinen ein viereckiges Stück blassblauen Himmels. Zu Ehren der Feier würde es ein sonniger Tag werden!

Ich versuchte, mich im Walzertakt zu drehen, als ich mein neues Kleid aus dem alten Schrank herausnahm. Vaters Schlafzimmer war direkt unter meinem, aber mit siebenundsiebzig hatte er einen gesunden Schlaf. Das war einer der Vorteile des Altwerdens, dachte ich, während ich in die Ärmel schlüpfte und dann auf den Spiegel in der Schranktür schaute. Obwohl manche Holländerinnen 1937 ihre Röcke knielang trugen, reichte meiner noch bis fast an die Schuhe.

»Du wirst nicht jünger«, sagte ich zu meinem Spiegelbild. Vielleicht war es das neue Kleid, das mich mir gegenüber kritischer machte als sonst: fünfundvierzig Jahre alt, unverheiratet, von schmaler Taille schon lange keine Rede mehr. Meine Schwester Betsie hatte noch, obwohl sie sieben Jahre älter war als ich, die anmutige Schlankheit, die Leute auf der Straße sich nach ihr umdrehen und ihr nachblicken ließ. Es hatte wirklich nichts mit ihrer Kleidung zu tun; aber wenn Betsie ein Kleid anzog, geschah etwas wie ein Wunder damit.

Bei mir gingen Säume auf, rissen Strümpfe und zerknitterten Kragen – bis Betsie sich ihrer annahm. Aber heute, dachte ich, als ich, so weit ich es in dem kleinen Zimmer konnte, von dem Spiegel zurücktrat, stand mir dunkelbraun sehr gut.

Unten an der Haustür klingelte es. Besuch? Vor sieben Uhr morgens? Ich öffnete meine Schlafzimmertür und lief die steile, sich windende Treppe hinunter. Diese Treppe war erst später in dieses seltsame alte Haus eingebaut worden. In Wirklichkeit waren es zwei Häuser. Das Vorderhaus war ein typisches kleines Althaarlemer Haus, drei Stock hoch, zwei Zimmer tief und nur ein Zimmer breit. Irgendwann in seiner langen Geschichte hatte man die Hinterwand durchbrochen, um es mit dem noch schmaleren, höheren Haus dahinter zu verbinden – jenes Haus hatte nur drei Räume, einer über dem anderen, und diese schmale Wendeltreppe zwängte sich zwischen die beiden.

So schnell ich auch lief, Betsie war vor mir an der Haustür. Ein riesiger Blumenstrauß füllte die Tür. Als sie ihn in Empfang nahm, wurde ein kleiner Botenjunge sichtbar.

»Ein schöner Tag für die Feier, Fräulein«, sagte er und versuchte, an den Blumen vorbeizuspähen, als ob Kaffee und Kuchen bereits auf dem Tisch stehen müssten. Er würde später zu der Feier kommen, wie, so schien es, ganz Haarlem.

Betsie und ich suchten in dem Bouquet nach der Karte. »Pickwick«, riefen wir wie aus einem Munde.

Pickwick war ein ungeheuer reicher Kunde, der nicht nur die prächtigsten Uhren kaufte, sondern oft in die Privaträume über dem Laden heraufkam. Sein wirklicher Name war Herman Sluring; Pickwick nannten Betsie und ich ihn, weil er genauso aussah wie die Zeichnung von Mr Pickwick in unserer Dickensausgabe. Herman Sluring war ohne Zweifel der hässlichste Mann in Haarlem, klein, kahlköpfig, kugelrund wie ein Holländerkäse; außerdem schielte er, sodass man nie ganz sicher war, ob er einen oder jemand andern ansah – und so reizend und großzügig er war, sein Anblick war geradezu furchterregend.

Die Blumen waren an der Seitentür abgegeben worden, der Tür, die die Familie benutzte und die in einen schmalen Gang führte, und Betsie und ich trugen sie aus dem kleinen Flur in den Laden. Als Erstes betrat man die Werkstatt, in der Uhren aller Art repariert wurden. Dort war die hohe Werkbank, über die sich Vater so viele Jahre gebeugt hatte, wenn er die feinste und mühevollste Arbeit, die in Holland als die edelste galt, verrichtete. Und in der Mitte des Raumes stand meine Bank, daneben die des Lehrlings Hans und an der Wand die des alten Christoffels.

Hinter der Werkstatt war der für die Kundschaft bestimmte Teil des Ladens mit seinem Glasschrank voller Uhren. Alle Wanduhren zeigten sieben Uhr, als Betsie und ich die Blumen hineintrugen und überlegten, wo wir sie am besten hinstellten. Seit meiner Kindheit war es immer meine größte Freude gewesen, diesen Raum zu betreten, in dem Hunderte tickende Stimmen mich begrüßten. Es war drinnen noch dunkel, denn die Fensterläden waren noch nicht geöffnet. Ich schloss die Ladentür auf und ging auf die Barteljorisstraat hinaus. Alle Läden in der engen Straße waren noch geschlossen und stumm: der des Optikers nebenan, der Kleiderladen, die Bäckerei, Weils Pelzgeschäft auf der anderen Straßenseite.

Ich öffnete unsere Läden und betrachtete einen Augenblick bewundernd die Auslage im Schaufenster, über die Betsie und ich uns schließlich geeinigt hatten. Dieses Schaufenster war immer der Anlass zum Streit zwischen uns. Ich wollte so viel von unserer Ware ausstellen wie möglich, während Betsie fand, dass zwei oder drei kostbare Uhren auf einem schön drapierten Stück Seide oder Satin eleganter und anlockender wirkten. Aber diesmal befriedigte das Fenster uns beide: Es stand eine Sammlung von Uhren und Taschenuhren darin, die alle mindestens hundert Jahre alt waren und die wir uns für diesen Anlass von Freunden und Antiquitätenhändlern in der ganzen Stadt geliehen hatten, denn heute beging das Geschäft seinen 100. Geburtstag. Am gleichen Tage, im Januar 1837, hatte unser Großvater väterlicherseits in dieses Schaufenster ein Schild gestellt, auf dem stand: ten Boom. Uhren.

In den letzten zehn Minuten hatten die Kirchenglocken von Haarlem, unbekümmert um Pünktlichkeit, sieben Uhr geläutet, und jetzt schlug die große Glocke von St. Bavo auf dem nahen Platz feierlich siebenmal. Ich blieb auf der Straße stehen, um die Schläge zu zählen, obwohl es in der Frühe dieses Januartages kalt war. Jeder in Haarlem hatte natürlich jetzt ein Radio, aber ich konnte mich noch an die Zeit erinnern, als das Leben der Stadt sich nach dem Läuten von St. Bavo gerichtet hatte, und nur Eisenbahner und andere, die die genaue Zeit wissen mussten, waren hergekommen, um auf die »astronomische Uhr« zu sehen. Vater fuhr jede Woche mit dem Zug nach Amsterdam, um seine Uhr genau nach der des Marineobservatoriums zu stellen, und er war äußerst stolz darauf, dass die astronomische Uhr im Laufe der Woche nie mehr als zwei Sekunden vor- oder nachging. Jetzt stand sie groß und glänzend, aber ihres Ruhms beraubt, auf ihrem Betonsockel im Laden.

An der Haustür klingelte es wieder. Es kamen weitere Blumen, und das ging eine Stunde lang so. Große und kleine Sträuße, kunstvolle Arrangements und zu Hause gezüchtete Pflanzen in Tontöpfen.

Denn obwohl die Feier dem Laden galt, die Zuneigung der ganzen Stadt galt Vater. »Haarlems großen alten Mann« nannte man ihn, und die Leute kamen, um es zu beweisen. Als der Laden und die Werkstatt keinen Strauß mehr aufnehmen konnten, begannen Betsie und ich, die Sträuße in die beiden Zimmer über ihm hinaufzutragen. Obwohl Tante Jans schon zwanzig Jahre tot war, waren das immer noch »Tante Jans’ Zimmer«. Sie war Mutters ältere Schwester, und man spürte ihre Gegenwart noch in den schweren dunklen Möbeln, die sie hinterlassen hatte.

Betsie stellte einen Topf mit Tulpen aus dem Gewächshaus hin und trat mit einem Ausruf des Entzückens ein paar Schritte zurück.

»Corrie, sieh doch, wie viel freundlicher es gleich wirkt!«

Arme Betsie. Das Beje wurde durch die Häuser ringsum so erdrückt, dass die Pflanzen vor den Fenstern, die sie in jedem Frühling zog, nie blühten.

Um Viertel vor acht kam Hans, der Lehrling, und um acht Toos, unsere Verkäuferin und Buchhalterin. Toos war eine mürrische Person, deren launenhaftes Wesen es ihr unmöglich gemacht hatte, es länger in einer Stellung auszuhalten, bis sie – vor zehn Jahren – bei Vater eingetreten war. Vaters sanfte Höflichkeit hatte sie entwaffnet und milde gestimmt, und obwohl sie lieber gestorben wäre, als es zuzugeben, sie liebte ihn so heiß, wie sie die übrige Welt hasste. Wir ließen Hans und Toos unten, damit sie, wenn’s klingelte, die Tür öffneten, und gingen hinauf, um zu frühstücken. Nur für drei, dachte ich, als ich deckte. Das Esszimmer war in dem Haus hinten, fünf Stufen höher als der Laden, aber tiefer als Tante Jans’ Zimmer. Für mich war dieser Raum, dessen einziges Fenster auf die hintere Gasse blickte, das Herz des Hauses. Dieser Tisch, auf dem eine Decke lag, hatte mir, als ich klein war, als Zelt oder als Räuberhöhle gedient. Als Schulmädchen hatte ich hier meine Hausaufgaben gemacht. An Winterabenden hatte uns Mama aus Dickens vorgelesen, während die Kohlen im Kachelofen einen roten Schein auf die Kachel warfen, auf der stand: »Jesus ist Sieger.«

Wir benutzten jetzt nur eine Ecke des Tisches, Vater, Betsie und ich. Aber für mich war die ganze Familie immer dort versammelt. Da waren Mamas Stuhl und die Plätze der drei Tanten gegenüber (nicht nur Tante Jans, sondern auch die beiden anderen Schwestern Mamas hatten bei uns gelebt). Neben mir hatte meine ältere Schwester, Nollie, gesessen und Willem, der einzige Junge in der Familie, neben Vater.

Nollie und Willem hatten schon seit vielen Jahren ihr eigenes Zuhause. Und Mama und die Tanten waren tot, aber mir war es, als sähe ich sie hier noch immer. Ihre Stühle waren natürlich nicht lange leer geblieben. Vater konnte ein Haus ohne Kinder nicht ertragen, und jedes Mal, wenn er von einem Kind hörte, das eine Heimat brauchte, erschien ein neues Gesicht am Tisch.

Irgendwie gelang es ihm, obwohl sein Uhrenladen nie viel einbrachte, elf weitere Kinder zu ernähren, zu kleiden, für sie zu sorgen, nachdem seine eigenen vier erwachsen waren. Aber jetzt waren auch die erwachsen und verheiratet oder arbeiteten irgendwo anders, und so deckte ich nur für drei.

Betsie brachte den Kaffee aus der kleinen Küche herein, die kaum mehr als eine Kammer war, und holte Brot aus dem Fach im Büfett. Sie stellte beides auf den Tisch, als wir Vater sehr vorsichtig die Wendeltreppe herunterkommen hörten. Pünktlich wie seine eigenen Uhren betrat er das Esszimmer, wie er es, soweit ich mich zurückerinnern konnte, jeden Morgen getan hatte, um zehn nach acht.

»Vater!«, sagte ich, als ich ihn küsste und den Zigarrenduft schnupperte, der immer an seinem langen Bart haftete, »ein sonniger Tag für die Feier!«

Vaters Haar und Bart waren jetzt so weiß wie das beste Tischtuch, das Betsie für diesen besonderen Tag aufgelegt hatte, aber seine blauen Augen hinter den dicken, runden Brillengläsern waren so milde und heiter wie je, und er blickte uns abwechselnd mit offener Freude an.

»Liebe Corrie! Meine liebe Betsie! Wie fröhlich und hübsch ihr beide ausseht!«

Er beugte den Kopf, als er sich setzte, segnete das Brot und fuhr dann eifrig fort: »Wie hätte eure Mutter diese neue Mode geliebt! Wie hätte sie sich über euer hübsches Aussehen gefreut!«

Betsie und ich starrten in unseren Kaffee, um nicht lachen zu müssen. Diese »neue Mode« brachte unsere jungen Nichten zur Verzweiflung, die uns immer in den Ohren lagen, dass wir uns heller kleiden, die Röcke kürzer und die Kleider tiefer ausgeschnitten tragen müssten. Aber obwohl wir konservativ waren, es stimmte, dass Mama nie etwas so Helles getragen hatte wie mein dunkelbraunes Kleid oder Betsies dunkelblaues. Zu Mamas Zeit kleideten sich verheiratete Frauen – und unverheiratete eines gewissen Alters – von Kopf bis Fuß schwarz. Ich hatte Mama und die Tanten nie in einer anderen Farbe gesehen.

»Wie hätte Mama all das heute genossen!«, sagte Betsie. »Erinnerst du dich noch, wie sehr sie Feste liebte?«

Mama konnte so schnell Kaffee kochen und einen Kuchen backen, wie die meisten Menschen brauchen, um zu sagen: »Herzlichen Glückwunsch«, und da sie fast jedermann in Haarlem kannte, besonders die Armen und Kranken und Vernachlässigten, verging fast kein Tag im Jahr, an dem nicht jemand, wie sie mit leuchtenden Augen sagte, »gefeiert werden« musste.

Und wir saßen am Kaffeetisch, so wie man das an Geburtstagen tut, und blickten zurück – zurück in die Zeit, da Mama noch lebte, und darüber hinaus. Zurück in die Zeit, da Vater ein kleiner Junge war, der in diesem Hause aufwuchs. »Ich bin in diesem Zimmer hier geboren«, sagte er, als hätte er das uns nicht schon hundertmal erzählt. »Natürlich war es damals nicht das Esszimmer, sondern ein Schlafzimmer. Und das Bett stand in einem in die Wand eingebauten Schrank ohne Fenster und Licht. Ich war das erste Baby, das am Leben blieb. Ich weiß nicht, wie viele vor mir geboren waren, aber sie starben alle. Mutter hatte Tuberkulose, wisst ihr, und man wusste damals noch nicht, dass selbst die Luft ansteckend sein kann und dass man Babys von Kranken fernhalten muss.«

Es war ein Tag für Erinnerungen, ein Tag, an dem die Vergangenheit wieder lebendig wurde. Wie hätten wir ahnen können, als wir dort saßen – zwei ältere, unverheiratete Frauen und ein alter Mann –, dass statt Erinnerungen Abenteuer vor uns lagen, wie wir sie uns nicht einmal im Traum ausgemalt hätten? Abenteuer und Angst, Hölle und Himmel warteten unser, und wir wussten es nicht.

Ach, Vater, Betsie! Wenn ich es gewusst hätte, hätte ich mich dann hineingestürzt? Hätte ich dann tun können, was ich tat? Aber wie konnte ich es wissen? Wie konnte ich ahnen, dass dieser weißhaarige Mann, den alle Kinder Haarlems Opa oder Großvater nannten, von Fremden in ein namenloses Grab geworfen würde?

Und Betsie mit ihrem hohen Spitzenkragen und ihrer Gabe, Schönheit um sich zu verbreiten, wie konnte ich mir diesen geliebtesten Menschen in der Welt nackt in einem Raum voller Männer stehend vorstellen? In diesem Zimmer und an diesem Tage war so etwas überhaupt nicht vorstellbar.

Vater stand auf, nahm die große Bibel mit den Messingbeschlägen aus dem Regal, als Toos und Hans an die Tür klopften und hereinkamen. Jeden Morgen um halb neun wurde, und das war eine alte Tradition, für alle, die im Hause waren, aus der Bibel vorgelesen. Vater schlug das dicke Buch auf; und Betsie und ich hielten den Atem an. Bestimmt würde er gerade heute, da es so viel zu tun gab, nicht ein ganzes Kapitel lesen! Aber er wandte sich dem Lukasevangelium zu, der Stelle, wo er gestern aufgehört hatte – und gerade bei Lukas sind die Kapitel lang –, legte den Finger darauf und hob den Kopf. »Wo ist Christoffels?«, fragte er.

Christoffels war der dritte und einzige weitere Angestellte im Laden, ein gebeugter, runzliger, kleiner Mann, der älter als Vater aussah, obwohl er in Wirklichkeit zehn Jahre jünger war. Ich erinnerte mich noch an den Tag vor sechs oder sieben Jahren, als er zum ersten Mal im Laden erschienen war, so elend und verwahrlost, dass ich geglaubt hatte, er sei einer der Bettler, die wussten, dass sie im Beje bestimmt etwas zu essen bekamen. Ich war nahe daran gewesen, ihn in die Küche hinaufzuschicken, in der Betsie immer einen Topf warmer Suppe bereithielt, als er mit großer Würde erklärte, er suche eine feste Stellung und möchte uns als Ersten seine Dienste anbieten.

Es erwies sich, dass Christoffels einer der wenigen Uhrmacher war, die noch zu Fuß durchs Land zogen und die großen Pendeluhren, die der Stolz jedes holländischen Bauernhauses waren, regulierten und reparierten. Aber sosehr mich das feierliche Gehabe dieses so kläglich aussehenden kleinen Mannes überraschte, noch mehr erstaunte es mich, dass Vater ihn auf der Stelle engagierte.

»Diese wandernden Uhrmacher sind die besten, die es überhaupt gibt«, sagte er mir später. »Allein mit dem Werkzeug, das sie bei sich haben, gelingt ihnen die schwierigste Reparatur.«

Und das hatte sich auch in all den Jahren bestätigt, denn die Leute aus ganz Haarlem brachten ihm ihre Uhren. Was er mit seinem Verdienst machte, erfuhren wir nie. Er sah immer noch so schäbig wie ein Bettler aus. Vater versuchte, soweit er es wagte, ihn dazu zu bringen, sich besser zu kleiden – denn Christoffels war trotz seiner armseligen Aufmachung sehr stolz –, gab es dann aber auf.

Und heute kam Christoffels zum allerersten Mal zu spät. Vater rieb seine Brille mit seiner Serviette blank und begann zu lesen, wobei seine tiefe Stimme liebevoll bei jedem Wort verweilte. Er war mit der Seite fast fertig, als wir Christoffels die Treppe heraufschlurfen hörten. Die Tür öffnete sich, und uns allen blieb vor Staunen der Mund offen stehen. Christoffels erschien in einem neuen schwarzen Anzug, einer neuen karierten Weste, einem schneeweißen Hemd, geblümter Krawatte und gestärktem Kragen. Ich riss meine Augen, so schnell ich konnte, von diesem prächtigen Bild los, denn Christoffels’ Gesichtsausdruck untersagte uns, seine Verwandlung zu bemerken.

»Christoffels, mein lieber Mitarbeiter«, murmelte Vater in seiner altmodischen, förmlichen Art, »welche Freude, Sie an diesem – hm – glücklichen Tage zu sehen!« Und hastig wandte er sich wieder seiner Bibel zu.

Noch ehe er das Kapitel zu Ende gelesen hatte, klingelte es an der Ladentür und an der Haustür. Betsie eilte hinaus, um neuen Kaffee zu kochen, und schob ihre Kekse in den Ofen, während Toos und ich zu den Türen eilten. Jeder in Haarlem schien der Erste sein zu wollen, der Vater gratulierte. Und schon bald wand sich ein steter Strom von Gästen die schmale Treppe zu Tante Jans’ Zimmer hinauf, wo er in einem wahren Blumenhain saß. Ich half einem der älteren Gäste die steile Stiege hinauf, als Betsie mich am Arm berührte.

»Corrie! Wir brauchen sofort Nollies Tassen! Wie können wir …?«

»Ich werde sie holen!«

Unsere Schwester Nollie und ihr Mann wollten an jenem Nachmittag, sobald ihre sechs Kinder aus der Schule zurück waren, kommen. Ich lief die Treppe hinunter, ergriff meinen Mantel und mein Fahrrad im Flur und schob es über die Schwelle, als Betsie mir leise, aber energisch zurief: »Corrie, dein neues Kleid!«

Und so eilte ich wieder in mein Zimmer hinauf, zog meinen ältesten Rock an und radelte dann über das Kopfsteinpflaster zu Nollie. Sie wohnte etwa anderthalb Meilen vom Beje entfernt, außerhalb des dicht besiedelten alten Stadtzentrums. Die Straßen dort waren breiter und gerader; sogar der Himmel wirkte größer. Ich radelte über den Marktplatz, überquerte den Kanal auf der Grote-Hout-Brücke, fuhr weiter und freute mich an der blassen Wintersonne. Nollie wohnte in der Bos en Hoen Straat, in einem Block von Häusern, die alle wie ein Ei dem anderen glichen, mit weißen Gardinen und Blattpflanzen in den Fenstern.

Wie konnte ich voraussehen, als ich um die Ecke bog, dass ich an einem Sommertag, als die Hyazinthenzwiebeln in der Gärtnerei in der Nähe reif und braun waren, hier von meinem Fahrrad absteigen und mit heftig klopfendem Herzen stehen bleiben würde, nicht wagend, näher heranzugehen, aus Angst vor dem, was hinter Nollies gestärkten Gardinen vor sich ging?

Heute fuhr ich mit elegantem Schwung auf den Gehsteig und riss die Tür auf, ohne vorher anzuklopfen. »Nollie, das Beje ist schon überfüllt! Du müsstest das sehen! Wir brauchen deine Tassen sofort!«

Nollie kam aus der Küche, das hübsche, runde Gesicht vom Backen gerötet. »Sie stehen alle eingepackt neben der Tür. Ach, ich wünschte, ich könnte gleich mitkommen – aber ich muss noch eine Menge Kekse backen, und ich habe Flip und den Kindern versprochen, auf sie zu warten.«

»Ihr kommt doch alle, nicht wahr?«

»Ja, Corrie, Peter kommt auch mit.«

Als pflichtbewusste Tante bemühte ich mich, alle meine Nichten und Neffen gleichermaßen zu lieben.

Aber Peter … war Peter. Mit dreizehn war er ein musikalisches Wunderkind, ein Racker und mein ganzer Stolz.

»Er hat sogar ein Lied zu Ehren dieses Tages komponiert«, sagte Nollie. »Diese Tasche hier musst du vorsichtig in der Hand tragen!«

Als ich zurückkam, floss das Beje über, und die kleine Gasse war von Fahrrädern so verstopft, dass ich meins an der Ecke stehen lassen musste. Der Bürgermeister von Haarlem war im Frack und mit goldener Uhrkette erschienen, und der Briefträger, der Straßenbahnfahrer und ein halbes Dutzend Haarlemer Polizisten würden auch gleich kommen.

Nach dem Mittagessen begannen die Kinder hereinzuströmen und gingen, wie das Kinder immer taten, geradenwegs auf Vater zu. Die älteren hockten sich auf den Fußboden um ihn herum, und die kleinsten kletterten auf seinen Schoß. Denn abgesehen davon, dass Vater mit den Augen zwinkerte und sein langer Bart gut nach Zigarre roch, tickte er. Uhren, die auf einem Regal liegen, gehen anders als Uhren, die man bei sich trägt, und darum trug Vater immer die, die er gerade regulierte, bei sich. In seinen Jacken waren vier große Innentaschen, jede mit Haken für ein Dutzend Uhren, sodass, wohin er auch ging, das fröhliche Summen Hunderter von Rädchen ihn begleitete. Jetzt, da er auf jedem Knie ein Kind sitzen hatte und zehn weitere um ihn herumhockten, zog er aus einer anderen Tasche seinen schweren kreuzförmigen Uhrschlüssel, bei dem jedes der vier Enden für Uhren verschiedener Größen bestimmt war. Mit einem Fingerschnippen ließ er ihn sich im Kreise drehen.

Betsie blieb mit einem Tablett voller Kekse in der Tür stehen. »Er hat ganz vergessen, dass noch andere im Zimmer sind«, sagte sie.

Ich trug einen Stapel schmutziger Teller die Treppe hinunter, als mir ein leiser Schrei unten verkündete, dass Pickwick gekommen war. Wir, die wir ihn liebten, vergaßen immer, was für ein Schock es für einen Fremden sein konnte, der ihn zum ersten Mal sah. Ich eilte zur Haustür, stellte ihn hastig der Frau eines Amsterdamer Kaufmanns vor und führte ihn hinauf. Er ließ sich mit seinem schweren Körper auf einen Stuhl neben Vater fallen, richtete ein Auge auf mich, das andere auf die Decke und sagte: »Fünf Stück bitte.«

Armer Pickwick! Er liebte Kinder so sehr, wie Vater sie liebte, aber während Kinder auf den ersten Blick von Vater angetan waren, musste Pickwick sie erst erobern. Er hatte jedoch einen Trick, der nie versagte. Ich reichte ihm seine Tasse Kaffee mit den fünf Zuckerstückchen darin und sah, wie er in gespielter Bestürzung um sich blickte. »Aber, meine liebe Cornelia«, rief er, »es ist ja kein Tisch da, auf den ich sie setzen kann.« Er riss ein Auge weit auf, um zu sehen, ob die Kinder ihn beobachteten. »Nun, es ist ein Glück, dass ich meinen eigenen mitgebracht habe!« Und schon setzte er Tasse und Untertasse auf seinen hervorquellenden Bauch. Ich hatte es noch nie erlebt, dass ein Kind dem widerstehen konnte, und im Nu hatte sich ein respektvoller Kreis um ihn versammelt.

Kurz darauf kamen Nollie und ihre Familie. »Tante Corrie«, begrüßte mich Peter unschuldsvoll, »du siehst nicht wie hundert Jahre alt aus!« Und ehe ich ihm einen Puff geben konnte, saß er an Tante Jans’ Klavier, und durch das alte Haus hallte Musik. Die Anwesenden riefen, was sie hören wollten – Volkslieder, eine Auswahl bachscher Choräle, Kirchenlieder –, und bald sangen alle im Chor.

Wie viele von uns, die an jenem beglückenden Nachmittag dort versammelt waren, sollten sich bald unter ganz anderen Umständen wieder begegnen! Peter, die Polizisten, der liebe, hässliche Pickwick, wir waren alle da – nur nicht mein Bruder Willem und seine Familie. Ich fragte mich, warum sie sich so verspäteten. Willem lebte mit Frau und Kindern in Hilversum, das dreißig Meilen von Haarlem entfernt liegt; trotzdem hätten sie jetzt da sein müssen. Plötzlich verstummte die Musik, und Peter rief vom Klavierhocker aus: »Opa! Da kommt die Konkurrenz!«

Ich blickte aus dem Fenster. Gerade bogen Herr und Frau Kan, denen der andere Uhrenladen in der Straße gehörte, in die kleine Gasse ein. Nach Haarlemer Maßstäben waren sie noch Neulinge, da sie ihren Laden erst 1910 eröffnet hatten und also erst siebenundzwanzig Jahre in der Barteljorisstraat wohnten. Aber da sie sehr viel mehr Uhren verkauften als wir, fand ich Peters Bemerkung gar nicht so unpassend.

Vater dagegen hörte sie nicht gern. »Es sind keine Konkurrenten, Peter«, sagte er vorwurfsvoll. »Es sind Kollegen!« Und schon schob er die beiden Kinder von seinen Knien herunter, stand auf und eilte auf den Treppenabsatz, um die Kans zu begrüßen.

Vater betrachtete Herrn Kans häufige Besuche im Laden unten als die Besuche eines Freundes. »Merkst du denn nicht, was der hier will?« sagte ich erregt, wenn Herr Kan gegangen war. »Er versucht herauszubekommen, um wie viel er uns unterbieten kann.« In Kans Schaufenster waren alle Uhren mit Preisen ausgezeichnet, die genau fünf Gulden unter unseren lagen. Und Vaters Gesicht erhellte sich heiter überrascht wie immer bei jenen seltenen Gelegenheiten, wenn er über die geschäftliche Seite der Uhrmacherei nachdachte. »Aber, Corrie, die Menschen sparen Geld, wenn sie bei ihm kaufen!« Und dann fügte er stets hinzu: »Ich möchte nur wissen, wie er das macht.«

Vater war in geschäftlichen Dingen genauso naiv, wie es schon sein Vater gewesen war. Er arbeitete tagelang an einer schwierigen Reparatur und vergaß dann, eine Rechnung zu schicken. Je kostbarer und teurer eine Uhr war, desto weniger vermochte er an sie als eine Handelsware zu denken. »Man müsste für das Vorrecht, eine solche Uhr zu reparieren, etwas bezahlen!«, sagte er.

In den ersten achtzig Jahren der Geschichte des Ladens wurden die Fensterläden jeden Abend Punkt sechs geschlossen. Erst als ich selber vor zwanzig Jahren in das Geschäft eingetreten war, hatte ich bemerkt, wie viele Menschen Abend für Abend über die schmalen Gehsteige schlenderten, und hatte gesehen, dass die anderen Läden noch offen und ihre Schaufenster erleuchtet waren. Als ich mit Vater darüber sprach, war er so entzückt, als hätte ich eine große Entdeckung gemacht. »Und wenn Menschen die Uhren sehen, weckt das in ihnen vielleicht den Wunsch, sich eine zu kaufen. Corrie, mein liebes Kind, wie klug du doch bist!«

Herr Kan kam jetzt auf mich zu, um mir zuckrige Komplimente zu machen. Mich meiner neidischen Gedanken schämend, machte ich mir die Menge der Gäste zunutze und flüchtete hinunter, aber in der Werkstatt und im Laden wimmelte es von noch mehr Gratulanten als in der Wohnung oben. Hans reichte in dem Hinterzimmer Kekse herum, Toos tat es vorn, wobei sie ihre Lippen so weit zu einem Lächeln öffnete, wie sie es ihr, die sie sonst immer schmollend verzog, erlaubten. Christoffels war plötzlich ein völlig anderer Mensch. In diesem prächtig gekleideten Mann an der Tür, der alle Gäste höflich willkommen hieß und dann immer wieder im Laden umherging, war der gebeugte und jämmerliche kleine Christoffels kaum wiederzuerkennen. Ganz offensichtlich war dies ein großer Tag in seinem Leben.

Den ganzen kurzen Winternachmittag hindurch kamen immer wieder neue Besucher, die sich zu Vaters Freunden zählten, junge und alte, arme und reiche, gelehrte Herren und ungelehrte Dienstmädchen – für Vater schienen sie alle gleich zu sein. Das war sein Geheimnis: nicht dass er die Unterschiede bei den Menschen übersah, sondern dass es sie für ihn gar nicht gab.

Willem war immer noch nicht da. Ich verabschiedete einige Gäste an der Tür, blieb dann einen Augenblick stehen und blickte die Barteljorisstraat hinauf und hinunter. Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, gingen schon die Lampen in den Läden an, denn es begann bereits zu dämmern. Ich empfand immer noch die Verehrung der kleinen Schwester für den großen Bruder, der fünf Jahre älter war als ich, ein ordinierter Pfarrer und der einzige ten Boom, der studiert hatte. Willem sah vieles, was andere nicht sahen, spürte ich. Er wusste, was in der Welt vorging.

Oft wünschte ich wirklich, Willem sähe nicht so viel; denn vieles von dem, was er sah, war erschreckend. Vor zehn Jahren hatte Willem in seiner Dissertation geschrieben, dass in Deutschland etwas sehr Böses Wurzel schlage. Selbst in den Universitäten, sagte er, werde die Saat einer Verachtung des Menschenlebens gesät, wie sie die Welt noch nie erlebt habe. Die wenigen, die seine Arbeit lasen, hatten gelacht.

Jetzt natürlich lachten die Menschen nicht über Deutschland. Die meisten der guten Uhren kamen von dort, und seit Kurzem hatten mehrere Firmen, mit denen wir seit Jahren zusammengearbeitet hatten, seltsamerweise »geschlossen«. Willem glaubte, das sei die Folge einer bewussten und weitverbreiteten antisemitischen Bewegung, denn alle Firmen, die geschlossen hatten, gehörten Juden. Als Leiter des Hilfskomitees für Juden, das die holländische reformierte Kirche gegründet hatte, kam Willem mit diesen Dingen in Berührung.

Der liebe Willem, dachte ich, als ich wieder hineinging und die Tür schloss, verstand sich so wenig darauf, Proselyten für die Kirche zu machen, wie Vater aufs Uhrenverkaufen. Ich hatte nichts darüber gehört, dass er in zwanzig Jahren auch nur einen Juden bekehrt hätte. Willem versuchte nicht, die Menschen zu ändern, er wollte ihnen nur helfen. Er hatte genug Geld zusammengespart, um ein Heim für ältere Juden in Hilversum zu erbauen – für alte Menschen jeden Glaubens in Wirklichkeit, denn Willem war gegen jede religiöse »Gruppierung«. In den letzten Monaten aber war das Heim von jüngeren Menschen überflutet worden – lauter Juden, und alle aus Deutschland. Willem und seine Familie hatten ihre eigenen Zimmer zur Verfügung gestellt und schliefen in einem Flur. Und immer noch kamen verängstigte, heimatlose Menschen herbeigeströmt und berichteten, dass sich der Wahnsinn noch mehre.

Ich ging in die Küche hinauf, wo Nollie gerade eine frische Kanne Kaffee gekocht hatte, ergriff die Kanne und trug sie in Tante Jans’ Zimmer.

»Was will der bloß?«, fragte ich eine Gruppe Männer, die dort am Tisch saßen, als ich die Kanne hinstellte. »Will dieser Mann in Deutschland den Krieg?« Ich wusste, das war alles andere als das richtige Thema für eine Feier, aber wenn ich an Willem dachte, musste ich unwillkürlich immer an solche Dinge denken.

Alle am Tisch verstummten. Niemand im Zimmer sagte noch ein Wort.

»Was hat das schon zu sagen?«, brach eine Stimme das Schweigen. »Sollen doch die Großmächte miteinander Krieg führen! Uns geht das nichts an.«

»Das stimmt«, sagte ein Uhrenverkäufer, »die Deutschen haben uns im Weltkrieg in Ruhe gelassen. Es ist nur zu ihrem Vorteil, wenn wir neutral bleiben.«

»Sie haben gut reden«, rief ein Mann, bei dem wir Uhrenteile kauften. »Ihre Ware kommt aus der Schweiz. Aber wie ist das mit uns? Was soll ich tun, wenn Deutschland Krieg führt? Ein Krieg könnte mich geschäftlich ruinieren.«

In diesem Augenblick betrat Willem das Zimmer. Hinter ihm kamen seine Frau Tine und die vier Kinder der beiden. Aber aller Augen blickten zu der Gestalt hin, die Willem untergefasst hatte. Es war ein Jude Anfang dreißig mit dem typischen breitrandigen schwarzen Hut und dem langen schwarzen Mantel. Doch worauf aller Augen starrten, war das Gesicht dieses Menschen. Es war verbrannt. Vor seinem rechten Ohr hing eine graue angesengte Locke, die an das Haar eines uralten Mannes denken ließ. Der übrige Bart war verschwunden, und an seiner Stelle sah man nur das rohe, wunde Fleisch.

»Dies ist Herr Gutlieber«, sagte Willem auf Deutsch. »Er ist erst heute Morgen in Hilversum eingetroffen. Herr Gutlieber, mein Vater.«

»Er ist auf einem Milchwagen aus Deutschland herausgekommen«, erklärte uns Willem schnell auf Holländisch. »Sie haben ihn an einer Straßenecke überfallen – junge Leute in München – und seinen Bart angesteckt.«

Vater hatte sich von seinem Stuhl erhoben und schüttelte Herrn Gutlieber kräftig die Hand.

Ich brachte ihm eine Tasse Kaffee und einen Teller mit Nollies Keksen. Wie dankbar war ich jetzt dafür, dass Vater immer darauf bestanden hatte, seine Kinder sollten neben ihrer Muttersprache schon möglichst früh Deutsch und Englisch sprechen.

Herr Gutlieber setzte sich steif auf die Kante eines Stuhls und starrte auf die Tasse auf seinem Schoß. Ich setzte mich neben ihn und machte ein paar törichte Bemerkungen über das ungewöhnliche Januarwetter. Um uns herum ging die Unterhaltung weiter.

»Rowdys«, hörte ich den Uhrenverkäufer sagen. »Junge Lümmel. Es ist in jedem Land das Gleiche. Sie werden’s erleben, die Polizei wird mit ihnen fertigwerden. Deutschland ist ein zivilisiertes Land.«

Ein Schatten fiel an jenem Winternachmittag im Jahre 1937 auf uns, aber er bedrückte uns nicht. Niemand dachte auch nur im Traum daran, dass diese kleine Wolke wachsen würde, bis sie den ganzen Himmel verdeckte. Und niemand ahnte, dass jeder von uns in dieser Finsternis eine Rolle würde spielen müssen: Vater, Betsie, Herr Kan, Willem – und sogar das komische alte Beje mit seinen vielen Winkeln.

Nachdem am Abend der letzte Gast gegangen war, ging ich in mein Zimmer hinauf. Auf meinem Bett lag das neue braune Kleid; ich hatte vergessen, es wieder anzuziehen!

Ich habe mir nie viel aus Kleidern gemacht, dachte ich. Selbst als ich jung war.

Bilder aus der Kindheit tauchten aus dem Dunkel vor mir auf, seltsam nahe und drängend. Heute weiß ich, dass solche Erinnerungen nicht der Schlüssel zur Vergangenheit, sondern zur Zukunft sind. Ich weiß, dass die Erfahrungen unseres Lebens, wenn wir Gott sie benutzen lassen, die geheimnisvolle und vollkommene Vorbereitung für das Werk werden, das Gott uns auftragen wird.

Ich wusste das damals noch nicht – wusste nicht einmal, dass es in einem Leben, das so alltäglich und voraussagbar war wie meins, eine neue Zukunft geben würde, auf die man sich vorbereiten musste. Ich wusste nur, wie ich dort oben im Hause in meinem Bett lag, dass bestimmte, längst vergangene Augenblicke aus den Schatten der Vergangenheit ins Licht traten. Sie waren seltsam deutlich und nahe, als wären sie noch nicht zu Ende, als hätten sie noch etwas zu sagen …