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Richard McGregor

Der rote Apparat. Chinas Kommunisten

Richard McGregor

DER ROTE APPARAT

Chinas Kommunisten

Aus dem Englischen von Ilse Utz

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INHALT

Vorwort

1. Der rote Apparat

Die Partei und der Staat

2. Die China AG

Die Partei und die Wirtschaft

3. Die Verwalter der Kaderakten

Die Partei und ihre Personalpolitik

4. Warum wir kämpfen

Die Partei und die Gewehre

5. Die Shanghai-Gang

Die Partei und die Korruption

6. Der Kaiser ist weit

Die Partei und die Regionen

7. Deng perfektioniert den Sozialismus

Die Partei und der Kapitalismus

8. Tombstone

Die Partei und die Geschichte

Nachwort

Überblick über die Organisationsstruktur der Partei

Anmerkungen

Danksagung

Für Kath, Angus und Cate,
und in Gedenken an Gwen

VORWORT

Es war der Sommer 2008, das erste Jahr der Bankenkrise im Westen. Eine kleine Gruppe von Ausländern, die nach China eingeladen worden war, um die chinesische Führung in Finanzangelegenheiten zu beraten, wurde zu dem von Mauern umgebenen Sitz der Führung am Rande der Verbotenen Stadt in der Mitte Pekings geführt. Im Konferenzraum setzten sich die Besucher auf die vorderste Kante der dick gepolsterten Sessel, die mit Sesselschonern ausgestattet waren. Die Sessel waren U-förmig angeordnet, wodurch der Eindruck einer räumlichen Trennung entstand, die genau zwischen den Besuchern und den Chinesen verlief. Die dekorativen Blumen, die dampfenden Teetassen, die herzlichen Worte, mit denen die Besucher von weither begrüßt wurden – all dies bildete den altehrwürdigen Rahmen für respektvolle Begegnungen mit Ausländern.

Für den aufmerksamen Zuhörer passte bei diesem Treffen nur eines nicht ins Bild: der den Ausländern gegenübersitzende Gastgeber Wang Qishan, der stellvertretende Premierminister, der für Chinas Finanzsektor zuständig war. Hochgewachsen, mit flachen, breiten Backenknochen und einem schroffen, imposanten Auftreten, hatte dieses neue Politbüromitglied nie zu jenen Funktionären gehört, deren orakelhafte Aussagen die Gesprächspartner später zu entschlüsseln versuchten. Früher hatten die Chinesen solche Treffen genutzt, um die Ansichten der Ausländer kennenzulernen und neue politische Ideen zu gewinnen. Wang machte den Besuchern jedoch schnell klar, dass China in Finanzangelegenheiten nicht belehrt werden wollte. »Wang sagte: ›Sie machen es so, und wir machen es so‹, was die Chinesen eben immer sagen«, erinnerte sich einer der Teilnehmer. »Aber seine Botschaft war eine andere. Sie lautete: ›Sie haben Ihre Vorgehensweise. Wir haben unsere Vorgehensweise. Aber unsere ist die richtige!‹ «

Als China seine erste Veranstaltung in diesem Stil durchführte, hatten Finanzleute aus aller Welt ein ebenso starkes Interesse, dorthin zu fahren, wie zu der jährlichen Konferenz in Davos, der sie nachgebildet war. Die Limousinen, die die Finanzelite im April 2009 vom Flughafen im tropischen Hainan zu dem an der Küste gelegenen Konferenzzentrum brachten, fuhren durch eine Landschaft, die sich von den üblichen Treffpunkten der Mächtigen in China unterschied. Die breiten, imposanten Avenuen und die streng bewachten Marmorgebäude in Peking mit ihren großen Eingangsportalen und den konventionell eingerichteten Konferenzräumen waren sehr weit weg. Im Gegensatz zur knochentrockenen nördlichen Hauptstadt, über der eine Schicht brauner Sandstaub aus der nahe gelegenen Wüste lag, sollte das Boao-Forum, benannt nach der lieblichen Bucht, an deren Ufer es abgehalten wurde, die Botschaft vermitteln, dass das aufsteigende China Besuchern in herzlicher Freundschaft zugetan war.

In den ersten Jahren des Treffens hatte man sich gegenseitig umworben. Peking brauchte westliches Know-how, um seine bankrotten Staatsbanken umzustrukturieren. Die ausländischen Banker wollten dafür Zugang zum chinesischen Markt. Dann ging es Schlag auf Schlag: Ende 2005 und Anfang 2006 investierten ausländische Kreditinstitute zweistellige Milliardenbeträge in chinesische Staatsbanken, und mit dem Geld kam das Versprechen der Ausländer, die zurückgebliebenen Chinesen in die Geheimnisse von Risikomanagement und innovativen Finanzprodukten einzuweihen. Die westlichen Banken gingen die Sache an, als handle es sich um eine Erwachsenenbildung, und deswegen war das, was dann folgte, so schockierend.

Knapp zwei Jahre nach den großen Deals mit chinesischen Banken kamen die gedemütigten Westgoten der globalen Finanzwirtschaft wieder nach China. Diesmal von der Kreditkrise gebeutelt, krochen sie kleinlaut zu Kreuze; sie wollten entweder chinesisches Geld, um ihre Bilanzen zu verbessern, oder sie wollten ihre neu erworbenen Aktien versilbern, um Geld mit nach Hause zu bringen. Anstatt in Boao ihre Waren anzupreisen, gaben die Banker und ihre Berater kaum einen Mucks von sich. Auf dem Boao-Forum zogen die chinesischen Spitzenfunktionäre nacheinander ihre Glacéhandschuhe aus, die sie bei vergangenen Konferenzen angelegt hatten, und machten den Besuchern klar, dass sich das Blatt gewendet hatte. Zuerst kritisierte ein Beamter der Aufsichtsbehörde ein Treffen weltweit agierender Wirtschafts- und Finanzgrößen als »Lippenbekenntnis«. Ein anderer ließ kein gutes Haar an der Rolle der internationalen Ratingagenturen in der Finanzkrise. Ein pensioniertes Politbüromitglied forderte mit drohendem Unterton, die USA müssten »die Interessen der asiatischen Länder schützen«, wenn sie wollten, dass China weiterhin ihre Anleihen kaufte.

Als auf der Konferenz im Oriental Room des Resorts der Mann, der zum globalen Gesicht der China AG gekürt worden war, ans Mikrofon trat, ließ auch er seine höfliche Maske fallen. Lou Jiwei, der erste Leiter des chinesischen Staatsfonds Chinese Investment Corporation, hatte sich seit der Gründung des Fonds im Jahr 2007 um ein versöhnliches Image bemüht. Die ersten schwierigen Jahre hatten Lous Zuversicht und Optimismus gedämpft. Seine gewagten Investitionen im Ausland hatten zu Verlusten geführt und ihm in China heftige Kritik eingetragen. Lou nahm erbittert zur Kenntnis, dass er auf Widerstand stieß, wenn er in den USA und in Deutschland investieren wollte.

Lou berichtete der Prominenz in Boao, wie eine Delegation der Europäischen Union nach der Gründung des Fonds verlangt hatte, dass es eine Obergrenze für die Anteile geben sollte, die er von europäischen Unternehmen erwarb, und dass er keine Stimmrechte für die erworbenen Aktien erhalten sollte. Im Nachhinein war er froh über diese rigide Bevormundung, denn bei vollem Zugang zum Markt hätte er Unsummen verloren. »Deshalb möchte ich diesen finanzpolitischen Protektionisten danken, denn auf diese Weise haben wir nicht einen Cent in Europa investiert.« Bei den Zuhörern gab es unterdrücktes Gelächter und erschrecktes Luftholen, als er sarkastisch hinzufügte, jetzt seien die Europäer kleinlaut zurückgekommen, um ihm mitzuteilen, dass sein Geld willkommen sei – ohne Bedingungen. »Die Leute finden uns plötzlich sympathisch.«

Der gleiche auftrumpfende Gestus, der in Boao zur Schau gestellt wurde, begann ab Anfang 2009 auch regierungsamtliche Verlautbarungen, offizielle Debatten, die staatlichen Medien und bilaterale Treffen im In- und Ausland zu prägen. Hinter den Kulissen und von außen nicht leicht zu erkennen, lief auch die offizielle Propagandamaschine auf Hochtouren. People’s Daily, das Sprachrohr der KPCh, reservierte die Titelseite gewöhnlich für die tägliche Berichterstattung über die Spitzenfunktionäre, ihre ausländischen Gäste und die neuesten politischen Kampagnen. Die Tageszeitung, die als eine Art internes Bulletin für Funktionäre fungiert, brachte Finanzberichte auf den hinteren Seiten, falls sie überhaupt welche brachte. Die Nachricht im März 2009, dass die großen chinesischen Banken, im Westen einst als Zombies verspottet, große Gewinne gemacht hatten, stellte eine Ausnahme dar. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete marktschreierisch: »Chinas Bankensystem legt eine fantastische Leistung hin. Steht hervorragend da, nachdem es den Test durch die internationale Finanzkrise bestanden hat.«

Zehn Jahre lang hat Peking dem Druck aus Washington widerstanden, seinen Finanzmarkt vollständig zu liberalisieren. Ausgeübt wurde dieser Druck zuletzt von Finanzminister Hank Paulson, dem ehemaligen Chef von Goldman Sachs. Zwischen 2001 und 2008 hat sich das Wachstum der chinesischen Wirtschaft mehr als verdreifacht. Während dieser Zeit des Aufstiegs ist Pekings Geduld geschwunden, sich Ratschläge aus dem Ausland anzuhören. Erst als die Finanzkrise ausbrach, breitete sich jedoch das Selbstbewusstsein von Wang Qishan und Co. im System aus und brach dann mit Macht hervor. Viele chinesische Spitzenfunktionäre äußerten bald die Ansichten laut und deutlich, die Wang privat zum Ausdruck gebracht hatte: Was, bitteschön, sollen wir eigentlich vom Westen lernen?

Es hat viele Versuche gegeben, das in den späten siebziger Jahren von Deng Xiaoping entwickelte Regierungsmodell zu erklären. Handelt es sich um eine wohlwollende Autokratie à la Singapur? Ein Land mit einer staatlich geförderten kapitalistischen Entwicklung, wie Japan häufig beschrieben wurde? Eine Mischung aus Neokonfuzianismus und Marktwirtschaft? Eine Zeitlupenversion des postsowjetischen Russland, wo sich die Elite produktive öffentliche Vermögenswerte aneignete, um sich persönlich zu bereichern? Einen Raubrittersozialismus? Oder um etwas völlig Anderes, ein gänzlich neues Modell, einen »Peking-Konsens« – so ein in Mode gekommener Ausdruck –, der auf der Basis problemlösungsorientierter Politik und technologischer Innovationen funktioniert?

Nur wenigen galt das chinesische Modell noch als kommunistisch, häufig nicht einmal der herrschenden Kommunistischen Partei selbst.

Dass beim Aufstieg des größten kommunistischen Staates der Welt jede Spur von Kommunismus fehlte, ist eigentlich nicht verwunderlich. Die vielfältigen, atemberaubenden Widersprüche des modernen China können einen leicht verwirren. Eine vormals revolutionäre Partei hat sich heute zur politischen Elite gewandelt, die fest im Sattel sitzt. Die Kommunisten wurden von der Empörung des Volkes über die Korruption an die Macht getragen und sind heute von dem gleichen Krebsgeschwür befallen. Spitzenfunktionäre bekennen sich in öffentlichen Verlautbarungen zu Marx, obwohl sie darauf angewiesen sind, dass ein skrupelloser Privatsektor Arbeitsplätze schafft. Die Partei predigt Gleichheit, während die Einkommen in China so ungleich verteilt sind wie überall in Asien. Die Kommunisten verachteten einst die vor der Revolution bestehende Kompradorenschicht der chinesischen Geschäftsleute, während sie 1997 nichts dabei fanden, ein Bündnis mit den Tycoons in Hongkong einzugehen, als sie die britische Kolonie zurückerhielten.

Die Diskrepanz zwischen der Rhetorik der Partei (»China ist ein sozialistisches Land«) und der Realität des täglichen Lebens wird von Jahr zu Jahr größer. Aber die Partei muss die Fiktion gleichwohl aufrechterhalten, weil sie für den politischen Status quo steht. »Ihre Ideologie ist eine Ideologie der Macht und daher eine Verteidigung der Macht«, sagte Richard Baum, ein chinesischer Wissenschaftler. Die Verteidigung der Macht durch die Partei ist zugleich die Verteidigung des bestehenden Systems. In den Worten von Dai Bingguo, Chinas ranghöchstem für außenpolitische Fragen zuständigen Funktionär, ist Chinas »Kernanliegen die Aufrechterhaltung seines Systems und seiner staatlichen Sicherheit«. Staatliche Souveränität, territoriale Integrität und Wirtschaftsentwicklung, die Prioritäten eines jeden Staates, sind allesamt dem Machterhalt der Partei untergeordnet.

Die Partei hat große Anstrengungen unternommen, um vor der chinesischen Öffentlichkeit und dem Rest der Welt zu verbergen, mit welchen Mitteln sie sich schon lange an der Macht hält. Für viele im Westen war es bequem, die Partei weitgehend auszublenden und zu behaupten, China habe ein sich weiterentwickelndes Regierungssystem mit Stärken und Schwächen, mit Ecken und Kanten – so wie jedes andere auch. Chinas blühende Wirtschaft und seine Einbindung in die Globalisierung reicht vielen, um die Idee, der Kommunismus habe noch irgendeine Bedeutung, zu verwerfen – als wäre ein Starbucks an jeder Ecke ein Zeichen für politischen Fortschritt.

Schaut man hinter die Kulissen des chinesischen Modells, sieht man, dass China viel kommunistischer ist als nach außen hin sichtbar. Wladimir Lenin, der den Prototyp schuf, nach dem kommunistische Länder rund um den Globus regiert wurden, würde das Modell sofort wiedererkennen. Die langandauernde Machtausübung durch die Kommunistische Partei Chinas basiert auf einer einfachen Formel, die dem leninistischen Drehbuch entnommen ist. Bei allen Reformen der letzten dreißig Jahre hat die Partei dafür gesorgt, dass sie den Staat und die drei Säulen ihrer Überlebensstrategie fest im Griff hat: Sie kontrolliert die personelle Besetzung wichtiger Posten, den Propagandaapparat und die Volksbefreiungsarmee.

Seit sich die Partei 1949 als die einzige legitime Regierung eines geeinten China installierte, haben ihre Führer in jedem Bereich und auf jeder Ebene Parteimitglieder in Schlüsselpositionen platziert. Alle chinesischen Medien unterstehen der Kontrolle der Propagandaabteilung, selbst wenn deren Mitarbeiter sich sehr ins Zeug legen mussten, um mit dem Internetzeitalter Schritt zu halten. Und wenn irgendjemand meint, das System herausfordern zu müssen, verfügt die Partei über genügend Machtmittel, um sicherzustellen, dass sie die Armee und die Sicherheitsdienste, die wichtigsten Garanten ihrer Herrschaft, fest im Griff hat. Auf jeder Verwaltungsebene, von Großstädten bis hin zu kleinen Dörfern, haben die Polizeikräfte eine »innere Sicherheitsabteilung«, deren Aufgabe es ist, die Herrschaft der Partei zu schützen und abweichende politische Meinungen zu unterdrücken, bevor diese ein großes Forum finden können.

China hat schon vor langer Zeit die klassische kommunistische Planwirtschaft aufgegeben und stattdessen eine gemischte Marktwirtschaft aufgebaut – die bedeutendste Neuerung der Partei. Doch bewertet man China nach den von Robert Service, dem altgedienten Historiker für Sowjetrussland, aufgestellten Kriterien, weist Peking noch überraschend viele Merkmale auf, die die kommunistischen Regimes im 20. Jahrhundert kennzeichneten.

Wie es im Kommunismus in seiner Hochzeit üblich war, hat die Partei in China politische Rivalen liquidiert oder entscheidend geschwächt; die Unabhängigkeit von Gerichten und Medien beseitigt; Religion und Zivilgesellschaft eingeschränkt; die Macht zentralisiert; ein weit verzweigtes Netz der Sicherheitspolizei geschaffen; und Dissidenten in Arbeitslager geschickt. Über einen langen Zeitraum – heute allerdings weniger – haben die Parteiführer sich wie die Kommunisten der alten Schule verhalten: Sie nehmen für sich in Anspruch, »ideologisch unfehlbar zu sein und die menschlichen Angelegenheiten stets richtig zu beurteilen«.

Nach Maos brutalen Kampagnen, die in den fünfziger Jahren einsetzten und fast dreißig Jahre dauerten, und dann wieder nach der blutigen Niederschlagung der Proteste in Peking und anderen Städten im Jahr 1989 durch die Armee stand die chinesische Partei vor der Selbstzerstörung. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten machte die Partei zwischen 1989 und 1992 eine existenzielle Krise durch, und die Nachwirkungen dieser Ereignisse sind noch heute im Machtzentrum Peking spürbar. Nach jeder Katastrophe ist die Partei wieder aufgestanden, hat ihre Rüstung wieder in Ordnung gebracht und ihre Flanken verstärkt. Irgendwie ist es ihr immer wieder gelungen, ihre Kritiker zu überdauern, auszutricksen, zu übertreffen oder einfach zu kriminalisieren, wodurch sie jene Experten verwirrte, die wiederholt ihr Ende prognostiziert hatten. Allein als Politmaschine ist die Partei ein einmaliges, ein eindrucksvolles Phänomen. Ende 2009 hatte sie 78 Millionen Mitglieder, was etwa jedem zwölften erwachsenen Chinesen entspricht.

Sie hat alle politischen Gegner ins Abseits gedrängt und ähnelt dadurch der irakischen Armee nach dem zweiten Golfkrieg. Selbst wenn diese sich auflösen oder zerfallen würde, müsste sie wieder zusammengeflickt und an die Macht gebracht werden, weil nur ihre Mitglieder über die Fähigkeiten, Erfahrungen und Netzwerke verfügen, die für die Führung des Landes notwendig sind. Wie ein bekannter Professor aus Shanghai mir sagte, hat die Partei die folgenden Einstellung: »Ich kann es und du kannst es nicht. Und weil du es nicht kannst, werde ich es tun.« Die Logik der Partei basiert auf einem Zirkelschluss: Es kann keine Alternative geben, weil keine zugelassen wird.

Nur wenige Ereignisse symbolisieren den Vormarsch Chinas und den Rückzug des Westens in der Finanzkrise so deutlich wie der Besuch der damals neuen amerikanischen Außenministerin Hillary Clinton, im Februar 2009. Frühere Repräsentanten der amerikanischen Regierung, etwa unter Bill Clinton und George W. Bush, hatten während ihrer Amtszeit eine aggressive, vom Konkurrenzdenken geprägte Einstellung gegenüber China gepflegt. Bevor Hillary Clinton landete, spielte sie öffentlich die Bedeutung der Menschenrechte herunter. Auf der abschließenden Pressekonferenz bat sie die chinesische Regierung inständig, weiterhin amerikanische Staatsanleihen zu kaufen – wie eine Handelsvertreterin, die ihre Waren anpreist.

Deng Xiaopings kluge Strategie, die er zwanzig Jahre zuvor entwickelt hatte und die Chinas stetigen Aufstieg ermöglichen sollte – »stelle dein Licht unter den Scheffel; warte den richtigen Augenblick ab« –, war lange vor der Ankunft Hillary Clintons aufgegangen. Chinas vielbeachtete »Einkaufstouren« in Afrika, Südamerika und Australien, bei denen es um Rohstoffe ging, die milliardenschweren Notierungen von chinesischen Staatsunternehmen an ausländischen Börsen, Chinas wachsender Einfluss in den Vereinten Nationen und seine schiere Wirtschaftskraft hatten es seit der Jahrhundertwende zum neuen Zentrum der globalen Wirtschafts- und Finanzwelt gemacht. Chinas Stern glänzte heller als je zuvor, auch wenn seine Diplomaten darauf bestanden, für ein relativ armes Entwicklungsland zu sprechen.

Die Implosion des westlichen Finanzsystems und das schwindende Vertrauen in die USA, Europa und Japan haben China über Nacht im globalen Machtgefüge noch einige Stufen höher steigen lassen. Anfang 2009 stellte der chinesische Staat binnen weniger Monate und ohne störende öffentliche Diskussion zusätzliche 50 Milliarden Dollar für den Internationalen Währungsfonds und 38 Milliarden Dollar für einen asiatischen Währungsfonds in Hongkong bereit; verlängerte einen Kredit für klamme russische Ölgesellschaften in Höhe von 25 Milliarden Dollar; investierte 30 Milliarden Dollar in australische Rohstoffunternehmen; und stellte verschiedenen Ländern oder Unternehmen in Südamerika, Zentral- und Südostasien zweistellige Milliardenbeträge zur Verfügung, die an Warenkäufe gebunden waren und ein Zeichen für künftige Käufe setzen sollten.

Im September 2009, als die westlichen Regierungen und Unternehmen noch immer zu kämpfen hatten, vergab China Kredite bis zu 70 Milliarden Dollar für Rohstoff- und Infrastrukturprojekte in Afrika – in Nigeria, Ghana und Kenia. Als in Guinea Soldaten Bürger erschossen und Frauen auf den Straßen der Hauptstadt vergewaltigt hatten, gab die vom Militär gestützte Regierung, ein Paria auf dem Kontinent und auf der ganzen Welt, ein paar Tage später bekannt, sie führe mit China Gespräche über ein Rohstoff- und Infrastrukturprojekt in Höhe von einer Milliarde Dollar.

Chinas Ambitionen und sein Einfluss erfuhren eine Steigerung, die einige Jahre zuvor undenkbar gewesen wäre. Die chinesische Zentralbank forderte Anfang 2009 eine Alternative zum Dollar als Reservewährung und wiederholte diese Forderung im Laufe des Jahres. Frankreich erkannte pflichtschuldig Chinas Oberhoheit über Tibet an, um Peking, das seine Teilnahme an einem EU-Gipfel aus Verärgerung über den Empfang des Dalai Lama in Paris abgesagt hatte, zu besänftigen. Barack Obama verzichtete darauf, den geistlichen Führer der Tibeter Ende 2009 zu treffen, um eine günstige Atmosphäre für seinen ersten Besuch in Peking im November des Jahres zu schaffen; er traf ihn allerdings Anfang 2010. Am 60. Jahrestag der Gründung seiner Kriegsmarine lud China Politiker aus der ganzen Welt ein, um seine neue Flotte von Atom-U-Booten im Hafen von Qingdao zu besichtigen. In den Tagen vor der Ankunft von Präsident Hu Jintao in Washington, dessen Staatsbesuch der Verbesserung der Beziehungen dienen sollte, machte dieser seinen Gastgebern unumwunden klar, dass das von den USA geführte internationale Währungssystem »ein Produkt der Vergangenheit« sei.

Der riesige chinesische Markt, von dem der Westen ein paar Jahre zuvor nur hatte träumen können, war ungeheuer wichtig geworden. Kurz vor der Automobilausstellung in Shanghai im April 2009 hatte der monatliche Verkauf von Personenwagen in China weltweit den höchsten Stand erreicht, er lag noch über dem der USA. Einen Monat später kamen Wang Qishan und eine Gruppe von chinesischen Ministern mit Catherine Ashton, der damaligen Handelskommissarin der EU, und etwa fünfzehn europäischen Topmanagern in Brüssel zusammen, um sich deren Klagen über die Schwierigkeiten beim Zugang zum chinesischen Markt anzuhören. Nachdem Wang ihre Probleme zur Kenntnis genommen hatte, räumte er bei einem Arbeitsessen ein, dass es am Markt »Unregelmäßigkeiten« gebe. »Ich kenne Ihre Beschwerden«, sagte er selbstbewusst wie immer. »Aber vom chinesischen Markt geht ein unwiderstehlicher Reiz aus.« Die Manager, die an dem Treffen teilgenommen und sich über den stellvertretenden Premierminister gewundert hatten, fassten seine Worte so auf: Was immer Sie für Beschwerden haben, der Markt ist so groß, dass Sie so oder so kommen werden. Vielen Managern war klar, dass Wang recht hatte.

Chinas aggressives neues Selbstbewusstsein war Ende 2009 auf einer großen Bühne zu besichtigen, nämlich auf der Klimakonferenz von Kopenhagen. In den letzten spannungsgeladenen Tagen der Verhandlungen brüskierten die Chinesen die Teilnehmer, indem sie einen relativ unbedeutenden Regierungsvertreter zu einem Treffen mit Präsident Obama und anderen Staatsoberhäuptern schickten. Bei einem anderen Treffen am selben Tag, an dem Premierminister Wen Jiabao teilnahm, belehrte ein Mitglied der chinesischen Delegation Obama laut und deutlich und zeigte mit dem Finger auf den Präsidenten. Wäre ein westlicher Regierungsvertreter mit niedrigerem Rang zu einem Treffen mit einem chinesischen Spitzenpolitiker geschickt worden und hätte diesen auch noch belehrt, wäre der Affront so schwerwiegend gewesen, dass er in Peking ausländerfeindliche Demonstrationen ausgelöst hätte. China zeigte sich über die später angebrachte Kritik verblüfft. »Aus dieser Sache sollten die entwickelten Länder eines lernen: Sie müssen sich entscheiden, ob sie weiterhin einen Konfrontationskurs verfolgen oder mit China kooperieren wollen«, äußerte ein hoher Funktionär.

Der wachsende Einfluss und die Transformation asiatischer Länder wie Singapur, Malaysia, Indonesien und Südkorea im Zuge der Entkolonialisierung nach dem Zweiten Weltkrieg waren von großer Bedeutung für die Bürger dieser Länder und brachten der Region einen Aufschwung. Japans Aufstieg zu einem wirtschaftlichen Giganten rüttelte den Westen auf und wurde als Herausforderung empfunden. Doch der wirtschaftliche Wandel in China, einem Land, dessen Bürger ein Fünftel der Weltbevölkerung ausmachen, ist ein globales Ereignis, das seinesgleichen sucht. Der Aufstieg Chinas ist ein echter Megatrend, ein Phänomen, das der Weltwirtschaft in jedem Bereich neue Konturen geben könnte. Dass das Ganze unter der Ägide einer kommunistischen Partei geschieht, ist noch verstörender für eine westliche Welt, die noch vor wenigen Jahren das Ende der Geschichte herbeifantasierte und den Triumph der liberalen Demokratie feierte.

Die weitreichende Entscheidung der Partei, in den siebziger Jahren einen Kurswechsel einzuleiten, hat das Leben von mehreren hundert Millionen Menschen verändert. Der Weltbank zufolge ist die Zahl der Armen in China zwischen 1981 und 2004 um 500 Millionen Menschen gesunken. »Um das richtig einzuordnen«, so die Bank, »muss man wissen, dass die absolute Zahl der Armen (nach dem gleichen Maßstab) in den Entwicklungsländern im selben Zeitraum von 1,5 auf 1,1 Milliarden gesunken ist. Mit anderen Worten: Ohne China wäre die Zahl der Armen in den Entwicklungsländern in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts also überhaupt nicht gesunken.«

In nur einer Generation hat sich die Parteielite von einem verbiesterten Haufen in Mao-Kittel gekleideter, ideologischer Rowdys in eine reiche, gut gekleidete wirtschaftsfreundliche herrschende Klasse verwandelt. Gleichzeitig hat sie ihr Land umgestaltet und ist dabei, die Welt umzumodeln. Heute geht es der Partei vor allem darum, sich in die Globalisierung einzuklinken, die sich wiederum in größerer wirtschaftlicher Effizienz, höheren Gewinnen und mehr politischer Sicherheit niederschlägt.

Wie haben die chinesischen Kommunisten das in einer Zeit geschafft, in der ihre Bruderparteien um sie herum implodierten? Ein altes Journalistensprichwort, wonach die beste Geschichte oft diejenige ist, die man direkt vor Augen hat, bewahrheitet sich auch in Bezug auf China. Doch wenn man über China schreibt, hat man ein Problem: So sehr man die Partei auch vor Augen hat, man bekommt sie nicht wirklich in den Blick. Die Partei und ihre Funktionen werden im Allgemeinen versteckt oder zeigen sich in anderen Formen. Wenn die Partei in Aktion tritt, tut sie das zurückhaltend. Sie ist vielfach gar nicht sichtbar, und das macht es unglaublich schwer zu beschreiben, wie China regiert wird.

Die Geheimhaltung erklärt, warum Berichte über China sich zwar regelmäßig auf die herrschende Kommunistische Partei beziehen, aber selten darstellen, wie sie tatsächlich regiert. Dieses Buch ist ein Versuch, diese Lücke zu füllen, indem es die Funktionen und Strukturen der Partei darstellt und darlegt, wie durch sie politische Macht ausgeübt wird. Das Buch erhebt nicht den Anspruch, vollständig zu sein oder eine letztgültige Erklärung zu liefern. Es ist schlicht und einfach die Schilderung eines neugierigen Journalisten, der die vielen verschlossenen Türen des Systems öffnet oder zu öffnen versucht, um in die dahinter-liegenden Räume zu schauen. Auf diese Weise will das Buch die Kommunistische Partei wieder dort verorten, wo sie hingehört: im Zentrum des modernen China.

1. DER ROTE APPARAT

Die Partei und der Staat

»Die Partei ist wie Gott. Er ist überall. Man kann ihn nur nicht sehen.« (Ein Universitätsprofessor aus Peking)

Neun Männer schritten zur Bühne in der Großen Halle des Volkes, dem imposanten im sowjetischen Stil erbauten Gebäude an der Westseite des Tiananmen-Platzes im Herzen Pekings. Es war die Schlussveranstaltung des Parteitags der Kommunistischen Partei Chinas im Jahr 2007. Als sie sich aufgestellt hatten, waren sie kaum noch zu unterscheiden. Alle neun trugen dunkle Anzüge und alle, bis auf einen, eine rote Krawatte. Alle zierte eine glatte, tiefschwarze Haartolle, die von der Vorliebe hoher chinesischer Politiker zeugte, sich regelmäßig die Haare zu färben – eine Gewohnheit, die nur durch den Rückzug aus der Politik oder eine Gefängnishaft ein Ende findet. Hätte man die Gelegenheit gehabt, sich ihre Biografien anzuschauen, hätte man noch weitere auffallende Ähnlichkeiten entdeckt. Bis auf einen hatten alle eine Ingenieursausbildung, und bis auf zwei waren alle Mitte sechzig. Welche Tätigkeit die neun Männer nach Abschluss ihres Studiums auch ausgeübt hatten, sie hatten immer parallel dazu eine Funktion in der Partei innegehabt. Sie waren also während ihres ganzen Arbeitslebens Vollzeitpolitiker gewesen, auch wenn sie zwischendurch kurze Zeit für die Durchführung oder Beaufsichtigung beruflicher Aufgaben abgestellt worden waren. Ihre Herkunft variierte leicht. Einige hatten sich aus der Armut nach oben gearbeitet. Andere waren »Prinzen«, also privilegierte Sprösslinge ehemaliger hoher Funktionäre. Sie waren zwar in unterschiedliche Netzwerke eingebunden, aber alle grundlegenden politischen Unterschiede zwischen ihnen waren bei ihrem Aufstieg durch die von ihnen verlangte unerbittliche Parteidisziplin ausgemerzt worden.

Wie in der kommunistischen Tradition üblich, hatten die neun verhalten klatschend die Bühne betreten und sich für die bevorstehende Zeremonie in einer Reihe aufgestellt. Die Massenmedien und die Regierungsvertreter, die dem Ritual beiwohnten, das mit düsterem theatralischen Pomp durchgeführt wurde, achteten nicht darauf, dass sie, als sie zur Bühne gingen, ein auffallend ähnliches Erscheinungsbild boten und dass sie eine ähnliche Karriere gemacht hatten. Entscheidend war die Reihenfolge, in der sie auftraten, da sie die Hierarchie der obersten Führung für die nächsten fünf Jahre festlegte und die Nachfolge für das gesamte darauffolgende Jahrzehnt, also bis 2022, regelte. Vor einem zwanzig Meter breiten Gemälde, das eine Herbstszene an der Chinesischen Mauer zeigte, blieben die neun stehen. Sie waren in steifer Haltung aufgereiht und warteten darauf, von dem Mann an der Spitze der Reihe, Hu Jintao, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei, als die gewählten Führer ihres Landes vorgestellt zu werden.

Vor dem Parteitag hatten die Behörden die bei politischen Großereignissen üblichen Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Die Wachen vor den Botschaften wurden verdoppelt; Polizei wurde an den Kreuzungen der Schnellstraßen postiert, und Dutzende von mürrischen Sicherheitsleuten in Zivil durchstreiften die Straßen rund um die Große Halle des Volkes. Pekinger Intellektuelle erhielten Rundbriefe, in denen sie aufgefordert wurden, ihre Meinung für sich zu behalten. Im September, einen Monat vor dem Parteitag, wurden Rechenzentren durchsucht und Server mit buchstäblich Tausenden von Websites für Wochen abgeschaltet. Am Stadtrand hatten die Behörden das Dorf der Bittsteller aufgelöst, in dem sich viele Leute aus den Provinzen aufhielten, die ihre Beschwerden vorbringen wollten.

Seit Jahrhunderten unterhält die Zentralregierung in der Hauptstadt eine Nationale Petitionsbehörde, bei der Bürger Beschwerden über das Fehlverhalten von Behörden einreichen können. Doch vor dem Parteitag drohte Peking Politikern in den Provinzen Konsequenzen für ihre Karriere an, sollte es Einwohnern aus ihren Städten gelingen, in die Hauptstadt zu gelangen, um von ihrem Recht Gebrauch zu machen. Für den Fall, dass doch jemand den Sicherheitskordon überwand, hatten die Provinzen eine letzte Verteidigungslinie errichtet, um das Politbüro vor der Öffentlichkeit zu schützen: eine Reihe von »schwarzen«, nicht registrierten Gefängnissen, in denen Bittsteller festgehalten werden können, bevor sie wieder nach Hause geschickt werden. Mit dieser Methode konnte, nach außen hin, die Kriminalitätsrate niedrig gehalten werden.

Die staatlichen Sicherheitskräfte, politische Aktivisten, Regierungsvertreter und ausländische wie chinesische Medien haben mit der Zeit gelernt, den Repressionsrhythmus zu verinnerlichen, der sich nach dem politischen Kalender richtet. Fernsehinterviews mit wichtigen Dissidenten werden am besten Monate vorher durchgeführt. Wenn der große Tag gekommen ist, wird persönlicher und sogar telefonischer Kontakt mit Parteikritikern unterbunden. Wan Yanhai, ein entschiedener Kämpfer gegen Aids, gehörte zu den vielen Aktivisten, die von der Straße weggeholt und vorübergehend in Gewahrsam genommen wurden. Vor dem Jahrestag des brutalen militärischen Vorgehens gegen Demonstranten am 4. Juni 1989 wurde Wan aufgegriffen und ohne Anklage zwölf Stunden lang festgehalten, dann wieder einige Tage im August. «Meine Freiheit wurde eingeschränkt«, sagte er und wiederholte damit genau die Phrase, die die Staatssicherheit benutzt, wenn sie Leute von der Straße wegzerrt. Wan hatte das Gesundheitsministerium verärgert, weil er versucht hatte, die Regierung wegen verseuchter Blutkonserven zu verklagen. Und weil er offen und unerschrocken Freundschaft mit Dissidenten pflegte, blieb er im Visier der Staatssicherheit. Bei jeder Gelegenheit wurde Wan in Hotelzimmern festgehalten und dort von den Behörden über seine Ansichten zur Partei befragt und belehrt. »Es ist ihnen sehr wichtig, unsere Gedanken zu kontrollieren«, resümierte er später.

In den Jahren und Monaten vor der Wahl der Führung hatte es keine öffentlichen Vorwahlen, Vorentscheidungen oder Stichwahlen gegeben, genauso wenig wie erbitterte Auseinandersetzungen, die im Westen im Vorfeld von Wahlen an der Tagesordnung sind. Das dramatische Ereignis in China zu verfolgen, war ungefähr so, als hätte man vor einer großen, befestigten, von Wassergräben und Wachen umgebenen Burg gestanden und hätte beobachtet, wie die Lichter an und aus gingen und Besucher hinein- und hinaushuschten. Mitunter waren hinter den dicken Mauern laute Stimmen zu hören. Manchmal deutete alles auf einen schwierigen Konflikt hin, dann wurden Verursacher von Korruptionsskandalen, Opfer von Fraktionskämpfen oder Verantwortliche für schiere Misswirtschaft »hinausgeworfen«, das heißt entweder in den Ruhestand oder ins Gefängnis geschickt. Im Vorfeld des Parteitags von 2007 war der Parteichef von Chinas Wirtschaftsmetropole Shanghai gestürzt worden. Einen solchen Skandal, in den hohe Funktionäre verwickelt waren, hatte es in den vorhergehenden zehn Jahren nicht gegeben. Es hatte jahrelanger intensiver Verhandlungen unter Spitzenfunktionären bedurft, um ihn aus der Welt zu schaffen.

Die Partei stellt ihre neue Führung und damit auch die Führung der Regierung und des Landes der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten auf die gleiche Weise vor. Wie bei jeder wichtigen politischen Kraftprobe gab es komplizierte, nicht-öffentliche Verhandlungen über die Kandidaten, und in manchen Fällen fanden schon lange vorher erbitterte Auseinandersetzungen zwischen den Kandidaten selbst oder Stellvertretern statt, und es wurden politische Debatten über Wirtschaft, politische Reformen und Korruption geführt. Die ausländische Presse und die Presse von Hongkong verfolgten die internen Machtkämpfe so gut sie konnten, aber den lokalen Medien, die naturgemäß besser informiert waren, wurde Schweigen verordnet. Der Schleier, der über das Ereignis gebreitet worden war, machte die Bekanntgabe der neuen Führung zu einem seltenen Vorgang im modernen China – zu einem lebendigen öffentlichen Moment eines wirklich spannenden Politdramas. Für den einfachen Bürger waren die einzelnen Mitglieder und die Verteilung der Positionen der neuen Führung praktisch bis zu dem Augenblick ein Geheimnis, in dem sie unter den Blitzlichtern der Kameras die Bühne betraten.

Nachdem Hu die Prozession zur Bühne geführt hatte, hielt er eine kurze Ansprache und stellte jeden der neun Männer mit Namen vor. Ein Mitarbeiter des Außenministeriums hatte das Ereignis zuvor als ein »Treffen« mit dem Politbüro beschrieben. »Dann können wir also Fragen stellen?«, erkundigte sich ein Reporter. »Nein«, antwortete der Mitarbeiter, »es ist eine Art Einbahnstraßen-Pressekonferenz.« Am nächsten Tag berichteten die lokalen Medien strikt nach den Vorgaben der Partei über die Pressekonferenz und befassten sich mit den genehmigten und gesäuberten Biografien der neuen Mitglieder des Politbüros, die von den amtlichen Nachrichtenagenturen verbreitet worden waren. Wenn man die chinesischen Zeitungen am nächsten Morgen durchging oder sich ihre Nachrichten im Netz ansah, traute man seinen Augen nicht: Der Wortlaut der Schlagzeilen und Artikel sowie die Auswahl, Größe und Platzierung der Fotos waren überall genau gleich.

Führende chinesische Politiker reagieren mit Erstaunen, wenn Kritiker meinen, ihr Aufstieg sei nicht gerade demokratisch gewesen. Als Hu Jintao einige Monate später, im Mai 2008, eine Schule für chinesische Kinder im japanischen Yokohama besuchte, wurde er von einem arglosen achtjährigen Schüler gefragt, warum er Präsident sein wolle – ein Amt, das ihm nach seiner Wahl zum Parteichef zustand. Nachdem sich das nervöse Lachen im Klassenzimmer gelegt hatte, antwortete Hu, er habe dieses Amt nicht gewollt. »Es war das Volk im ganzen Land, das mich gewählt hat und mich als Präsidenten wollte. Ich konnte das Volk doch nicht enttäuschen.« Auch Jiang Zemin, Hus Vorgänger als Generalsekretär und Präsident, sagte in einer amerikanischen Fernsehsendung im Jahr 2000, »dass auch er gewählt wurde«, wenngleich er einräumte, dass die Wahlsysteme in den beiden Ländern »unterschiedlich« wären.

Beim Parteitag 2007 durften die Delegierten – in manchen Fällen mussten sie sogar – mit den Medien sprechen, um der Welt ein transparenteres und freundlicheres Bild der Partei zu vermitteln. Es ist ja nicht so, dass die Partei nichts Interessantes zu bieten hätte, denn seit einigen Jahren kann sie eine breiter gefächerte Mitgliederschar vorweisen. Viele private Unternehmer und Unternehmerinnen, die der Partei beitraten oder sich offen zu ihrer bereits bestehenden Mitgliedschaft bekennen durften, nachdem Jiang Zemin die Partei 2002 für private Unternehmer geöffnet hatte, sind dynamische Persönlichkeiten mit bewegenden Lebensgeschichten, darunter auch die vom Tellerwäscher, der zum Millionär wurde. Aber selbst wenn die Partei sich von ihrer besten Seite zeigen möchte, ist sie ausweichend und misstrauisch.

Als ich Chen Ailian traf, eine von Chinas neuen Millionärinnen, Parteimitglied und Delegierte, erzählte sie zunächst begeistert von ihrem Unternehmen. Die Geschichte von Chens Unternehmen war so verrückt und wunderbar, wie man sie in China häufig zu hören bekommt. Sie sagte, sie sei Anfang der 1990er Jahre in die Autoindustrie eingestiegen, weil sie »Autos liebte«. Viele Millionen Dollar später war ihr privates Unternehmen zum größten Hersteller von Alufelgen in Asien geworden und hatte auch in den USA Büros eröffnet. Chen besaß einen Rolls-Royce (für besondere Gelegenheiten), einen Mercedes (für den täglichen Gebrauch) und einen Isuzu-SUV für Geschäftsreisen. Doch als das Gespräch auf die Partei kam, wurde sie schlagartig zum Automaten. Selbst auf die harmlosesten Fragen antwortete sie in einem ehrfürchtigen Flüsterton. Ihre Antworten wurden ernst, knapp und trocken und bestanden überwiegend aus offiziellen Parolen.

An der Spitze des Systems steht Hu. Als Generalsekretär der Kommunistischen Partei, eine Position, die höher ist als seine beiden anderen Ämter als Präsident und Oberbefehlshaber der Streitkräfte, verfügt er über gewaltige Macht und bestimmt die Parameter der Regierungspolitik. Hu, der selbst politischen Insidern Rätsel aufgibt, hatte in seiner ersten fünfjährigen Amtszeit versucht, sich ein an die Kaiserzeit gemahnendes Erscheinungsbild zuzulegen. Das begann 2002, als er sich in der Rolle eines gütigen Kaisers präsentierte, dessen Eingreifen in die Politik ebenso weise und gewichtig wie selten war. Nachdem er einst dem Reformlager zugerechnet worden war, trübte sich die Klarheit, die seine Politik gekennzeichnet hatte, in dem Maße ein, in dem er zu Beginn der neunziger Jahre zum »rechtmäßigen Thronfolger« aufstieg.

Für einen Mann in seiner Position war es ein Leichtes, sein Image aufzupolieren. Seiner Tante, die ihn ab dem Alter von fünf Jahren aufgezogen hatte und die für einige ausländische Journalisten eine der wenigen Quellen ungefilterter Informationen gewesen war, wurde von örtlichen Funktionären untersagt, mit Reportern zu sprechen, sobald er zum Generalsekretär nominiert worden war. Die Funktionäre hatten sogar alle Kinder- und Jugendbilder von Hu aus ihrem Haus entfernen lassen, damit sie nicht in die Hände von Reportern gerieten und Eingang in eine unabhängige, von der Partei nicht autorisierte Lebensbeschreibung finden würden. Die Bilder des jungen Hu, die 2009, sieben Jahre nach seiner Ernennung, ins Internet gestellt wurden, waren harmlos und nett und zeigten einen jugendfrischen Oberschüler auf Klassenausflügen; doch die örtlichen Funktionäre, die zur Zeit seines Aufstiegs im Amt waren, wollten keine Verantwortung für ihre Veröffentlichung übernehmen.

Hu war sehr darauf bedacht gewesen, möglichst wenig von sich preiszugeben. In seiner ersten Amtszeit gab er weder der einheimischen noch der ausländischen Presse ein Interview. Im Vorfeld der Olympischen Spiele in Peking im August 2008 gab Hu vor fünfundzwanzig ausländischen Journalisten eine kurze Pressekonferenz, nachdem alle ihre Fragen im Vorfeld sorgfältig geprüft worden waren. Seine Verlautbarungen, die regelmäßig in People’s Daily, dem Sprachrohr der Partei, erscheinen, gewähren nur wenige Einblicke in seine persönlichen Auffassungen. Ein chinesischer Kommentator verglich seine politischen Aussagen mit einer watschelnden Ente: Mit ihren nach außen gerichteten Füßen hält sie unbeholfen ein Gleichgewicht, das nur von fern stabil wirkt.

Hus konsequente Arbeit an seinem Image hätte wie ein Rückfall in eine frühere, autoritärere Phase des Kommunismus wirken können. Verglichen mit seinen Vorgängern, war Hu eine farblose Gestalt, hölzern und steif. Deng Xiaoping umgab dagegen die Aura eines Revolutionärs, wenngleich er von den jahrelangen Kämpfen gegen die unheilvollen politischen Kampagnen Maos gezeichnet war. Er verwies stolz auf seine Wurzeln im ländlichen Sichuan, und als er zu Anfang der achtziger Jahre Margaret Thatcher in Peking traf, spuckte er geräuschvoll in seinen Spucknapf, während er Margaret Thatcher einen einschüchternden Vortrag über Hongkong hielt. Jiang Zemin, Hus unmittelbarer Vorgänger, sang gerne vor Publikum und gab in englischer Sprache Auszüge aus der Gettysburg Address und anderen kanonischen polithis-torischen Schriften des Westens zum Besten. Und Mao war trotz aller Schrecknisse, die er über das chinesischen Volk brachte, eine charismatische Persönlichkeit, die für ihre einprägsamen Aphorismen bekannt war, die noch heute zum literarischen, politischen und wirtschaftlichen Leben Chinas gehören.

Hu besitzt weder Dengs bodenständige Energie noch Jiangs clownhafte Jovialität noch Maos natürliche, Furcht einflößende Autorität. Er hat keinen Akzent, der auf seine regionalen Wurzeln verweist, und auf ihn gehen auch keine Zitate zurück, die in den Rang von Volksweisheiten erhoben wurden. Beim G8-Gipfel im schottischen Gleneagles im Jahr 2005 bereitete ein britischer Diplomat ein informelles, zwangloses Treffen der führenden Politiker vor, an dem auch Hu teilnehmen würde. Als es um die Gestaltung des geplanten Treffens ging, wurde der Diplomat von seinem chinesischen Gesprächspartner kurzerhand abgefertigt: »Für so etwas ist Präsident Hu nicht zu haben.« Hu, der Inbegriff des Berufspolitikers und Parteibürokraten, war stets auf Konsens bedacht und ging dabei umsichtig zu Werke, er war ein »hao haizi« oder »good boy«, wie es seine Kritiker formulierten. Doch Hus unauffälliges und bescheidenes Auftreten hatte beileibe nichts Altmodisches, er passte sehr gut in seine Zeit. Unter den heute in China herrschenden komplexen Bedingungen wollen die Partei, Hus gleichgestellte Genossen und auch das Volk nicht mehr von einer starken Hand regiert werden, wie es unter Mao und Deng der Fall war, die zu ihrer Zeit an der Macht über der Partei standen. Trotz seiner Machtfülle lebte Hu im Schatten der Partei – nicht umgekehrt.

Dass er sich vor seiner Beförderung zum Parteisekretär eher im Hintergrund aufhielt, zeigte, dass die Partei auf Kosten ihrer Führer wuchs. Als Hu nach seiner Aufnahme in den Ständigen Ausschuss des Politbüros 1992 zum Anwärter auf den Posten des Generalsekretärs aufstieg, konnte er sich keinen Fehler im Wettbewerb um dieses Amt leisten, da er im Politbüro über keine Machtbasis verfügte. Als er zehn Jahre später das Amt übernahm, hatte er nur wenige loyale Weggefährten und kein politisches Programm, das die Bürokratie verinnerlichen und als Richtschnur für ihr Handeln nehmen konnte. Erst in seiner zweiten Amtszeit bekam er den großen Parteiapparat sowohl in Peking als auch im übrigen Land fest in den Griff. Die meisten amerikanischen Präsidenten werden in den letzten Jahren ihrer Amtszeit zu »lame ducks«. Das politische System in China funktioniert dagegen dergestalt, dass Hu, genau wie Jiang Zemin vor ihm, seine Macht erst konsolidieren konnte, als seine Amtszeit sich ihrem Ende zuneigte.

Da die Öffentlichkeit vom offiziellen politischen Betrieb ausgeschlossen ist, waren die neun Männer im inneren Zirkel des Politbüros, die sich am Ende des Parteitags auf der Bühne aufstellten, nur wenigen Bürgern bekannt. Hus Gesicht war den Leuten vertraut, auch wenn sie über ihn selbst so gut wie nichts wussten. Wu Bangguo, die Nummer zwei und Vorsitzender des Legislativorgans, war ein farbloser Funktionär aus Shanghai, der es nach oben geschafft hatte, ohne besonders aufzufallen. Wen Jiabao, Premierminister und die Nummer drei, hatte sein Image als ein Mann des Volkes sorgsam gepflegt, im Gegensatz zu seiner Ehefrau und seinem Sohn, die wegen ihrer Geschäfte traurige Berühmtheit erlangt hatten.

Jia Qinglin, die Nummer vier, war ein großer, bullig wirkender Mann mit einem geröteten Gesicht. Sein Anzug spannte so sehr, dass man meinen konnte, er habe an zu vielen Banketten teilgenommen. Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen war Jia bekannt, und zwar nur deswegen, weil er als korrupt galt. Jia regierte die Provinz Fujian, als es dort zu einem schlimmen Korruptionsskandal kam, zum Fall Yuanhua, einem Zollbetrug, bei dem es um sechs Milliarden Dollar ging. Zahlreiche Amtsträger wurden wegen ihrer Verbrechen schon hingerichtet oder kamen ins Gefängnis, aber Jia und seine Frau, die ebenfalls unter Verdacht steht, wurden niemals zur Rechenschaft gezogen, entweder, weil die Beweise gegen sie nicht ausreichten, oder – was wahrscheinlicher ist – weil sie politische Rückendeckung bekamen. Wie er so dastand und auf die versammelten Medien blickte, von denen viele erwartet hatten, er würde im Vorfeld des Parteitags gestürzt werden und in Ungnade fallen, zeigte Jias gerötetes Gesicht das trotzig-höhnische Lächeln eines triumphierenden, gut genährten politischen Überlebenskünstlers.

Andere Mitglieder des Ständigen Ausschusses, darunter zwei Mittfünfziger, die als Hus Nachfolger gehandelt werden, waren in den Provinzen, die sie regiert hatten, kaum aufgefallen. Als Xi Jinping, die Nummer sechs und zum »rechtmäßigen Thronfolger« gekürt, in den Ständigen Ausschuss aufgenommen wurde, war er weniger bekannt als seine Ehefrau, eine berühmte Sängerin mit militärischem Rang in der Volksbefreiungsarmee. Einige der Männer waren in den ihnen unterstellten Bereichen, wie Medien und Polizei, hervorgetreten, aber für die meisten Chinesen war das Politbüro ein abgehobenes Gremium, das zwar viel Macht besaß, aber ansonsten ein anonymes Gebilde war.

Hus Rede war kurz und bestand fast nur aus Parolen, unter denen man sich schwer etwas vorstellen kann und die alle offiziellen politischen Diskurse beherrschen: »wissenschaftliches Entwicklungskonzept«, »harmonische Gesellschaft«, eine »fortgeschrittene sozialistische »Kultur« usw. In Partei- und Intellektuellenkreisen durchaus von Gewicht, weil diese Schlagworte Hus politische Linie kennzeichnen, sind sie für die breite Bevölkerung weitgehend bedeutungslos. Nach seinen Ausführungen geleitete Hu seine acht Kollegen von der Bühne. In den kommenden Jahren sollte der innere Zirkel des Politbüros nur selten noch einmal als Gruppe in der Öffentlichkeit auftreten. Die ganze Zeremonie hatte gerade einmal zehn Minuten gedauert.

Auf den Schreibtischen der Leiter der fünfzig größten chinesischen Staatsbetriebe steht inmitten von Computern, Familienfotos und anderen Utensilien, die eine moderne Führungskraft so braucht, ein rotes Telefon. Für die Führungskräfte und ihre Mitarbeiter, die sofort zur Stelle sind, wenn es klingelt, ist es der »rote Apparat«; vielleicht weil die Bezeichnung »Telefon« ihm nicht gerecht wird. »Wenn der ›rote Apparat‹ klingelt«, sagte mir eine hochgestellte Führungskraft einer Staatsbank, »sollte man sofort abheben.«