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Donna Leon

In Sachen Signora Brunetti

Der achte Fall

Roman
Aus dem Amerikanischen von
Monika Elwenspoek

 

 

 

 

 

 

 

 

Titel des Originals:

›Fatal Remedies‹

Die deutsche Erstausgabe

erschien 2000 im Diogenes Verlag

Das Motto aus: Mozart, La clemenza di Tito,

in der Übersetzung von Erna Neunteufel,

Bärenreiter Verlag, Kassel 1980

Umschlagfoto von Michael Ruetz aus dem Band

›Seasons of Light‹, erschienen 1988 bei

Little, Brown and Company, Boston

und Graphic Society, New York

(Ausschnitt)

 

 

Für William Douglas

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2012

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 23311 7 (18. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60067 4

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Inhalt

Motto

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Autorenbiographie

Mehr Informationen

 

Di questo tradimento
Chi mai sarà l’autor?

Wer wird wohl der Urheber
dieses Verrates sein?

LA CLEMENZA DI TITO

[7] 1

Die Frau ging ruhigen Schrittes auf den leeren campo. Zu ihrer Linken gähnten die vergitterten Fenster einer Bank, leer in jenem wohlbehüteten Schlaf, der sich in den frühen Morgenstunden einstellt. Sie ging bis zur Mitte des Platzes und blieb dort neben den durchhängenden Ketten um das Denkmal für Daniele Manin stehen, der sich für die Freiheit der Stadt geopfert hatte. Wie passend, dachte sie.

Von links hörte sie ein Geräusch und drehte sich danach um, aber es war nur ein Wachmann der Guardia di San Marco mit seinem hechelnden Schäferhund, der viel zu jung und gutmütig aussah, um auf Diebe gefährlich zu wirken. Falls der Wachmann es seltsam fand, morgens um Viertel nach drei eine Frau in mittleren Jahren reglos auf dem Campo Manin stehen zu sehen, ließ er sich davon nichts anmerken; er steckte weiter seine orangefarbenen Zettel zwischen die Türrahmen und Schlösser der Geschäfte, Beweise dafür, daß er seine Runde gemacht und den jeweiligen Besitz unangetastet vorgefunden hatte.

Als der Wachmann und sein Hund fort waren, ging die Frau von der Absperrkette weg und stellte sich vor ein großes Schaufenster auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Im schwachen Licht der Innenbeleuchtung betrachtete sie die Poster, las die Preise der verschiedenen Sonderangebote und sah, daß Mastercard, Visa und American Express akzeptiert wurden. Über ihrer linken Schulter trug sie eine blaue Stofftasche. Mit einer Körperdrehung schwang [8] sie die schwere Tasche nach vorn, stellte sie ab und blickte darauf hinunter, bevor sie mit der rechten Hand hineingriff.

Noch ehe sie etwas herausnehmen konnte, wurde sie durch Schritte von hinten so erschreckt, daß sie die Hand wieder aus der Tasche riß und sich aufrichtete. Aber es waren nur vier Männer und eine Frau, die um drei Uhr vierzehn am Rialto aus einem Boot der Linie 1 gestiegen waren und nun auf dem Weg in einen anderen Stadtteil den campo überquerten. Keiner von ihnen beachtete die Frau, und ihre Schritte verhallten, als sie über die Brücke zur Calle della Mandola gingen.

Wieder bückte die Frau sich, griff in ihre Tasche, und diesmal kam ihre Hand mit einem großen Stein heraus, der jahrelang auf ihrem Schreibtisch gelegen hatte, Andenken an einen Strandurlaub in Maine vor gut zehn Jahren. Er hatte die Größe einer Grapefruit und paßte genau in ihre behandschuhte Hand. Sie betrachtete den Stein und warf ihn sogar ein paarmal kurz hoch wie einen Tennisball beim Aufschlag. Dann blickte sie von dem Stein zum Schaufenster und wieder auf den Stein.

Sie trat etwa zwei Meter weit zurück und drehte sich zur Seite, noch immer mit Blick auf die Scheibe. Sie führte die rechte Hand in Kopfhöhe nach hinten und hob den linken Arm als Gegengewicht, wie ihr Sohn es sie in einem Sommer gelehrt hatte, als er ihr beibringen wollte, wie ein Junge zu werfen und nicht wie ein Mädchen. Einen Augenblick ging ihr der Gedanke durch den Kopf, daß ihre nächste Handlung ein immerwährender Einschnitt in ihrem Leben sein könnte, aber sie tat dies sogleich als pathetische Wichtigtuerei ab.

[9] Mit einer fließenden Bewegung brachte sie die Hand mit aller Kraft nach vorn. Erst als der Arm ganz ausgestreckt war, ließ sie den Stein los. Der Schwung der eigenen Bewegung riß sie dabei nach vorn, so daß sie unwillkürlich den Kopf senkte und die Glassplitter, die von der berstenden Scheibe spritzten, in ihren Haaren landeten und sie nicht verletzten.

Der Stein mußte eine Spannungsverwerfung im Glas getroffen haben, denn statt ein kleines Loch von seiner eigenen Größe zu schlagen, öffnete er ein etwa zwei Meter hohes und ebenso breites Dreieck. Sie wartete, bis das Klirren der fallenden Scherben verstummte, doch kaum hatte es aufgehört, begann im hinteren Teil des Büros der schrille Doppelton einer Alarmanlage in den stillen Morgen hineinzuplärren. Die Frau stand aufrecht da und zupfte abwesend die Glassplitter vorn von ihrem Mantel, dann schüttelte sie, als wäre sie soeben aus einer Welle aufgetaucht, energisch den Kopf, um die Splitter wegzuschleudern, die sie in ihrem Haar fühlte. Sie trat zurück, hob ihre Tasche auf und warf sie sich über die Schulter, doch als sie plötzlich merkte, wie weich ihre Knie geworden waren, ging sie zu einem der niedrigen Pfosten, an denen die Ketten hingen, und setzte sich darauf.

Sie hatte sich vorher keine Gedanken darüber gemacht, aber nun überraschte es sie doch, wie groß das Loch war, so groß, daß ein Mensch leicht hindurchgepaßt hätte. Ein Spinnennetz feiner Risse breitete sich bis in alle vier Ecken aus; um das Loch herum war das Glas milchig und undurchsichtig, aber die scharfen, nach innen weisenden Splitter waren darum nicht weniger gefährlich.

[10] Hinter ihr, links neben der Bank, gingen in der obersten Wohnung Lichter an, dann auch in der Wohnung über der immer noch jaulenden Alarmanlage. Minuten vergingen, doch das interessierte sie erstaunlich wenig: Die Dinge würden von jetzt an ihren Lauf nehmen, egal, wie lange die Polizei für ihren Weg hierher brauchte. Nur der Lärm regte sie auf. Dieser schrille Doppelton störte den Frieden der Nacht. Aber schließlich war das der ganze Sinn der Sache, dachte sie dann: Ruhestörung.

Fensterläden wurden aufgestoßen, drei Köpfe erschienen und verschwanden ebenso rasch wieder, weitere Lichter gingen an. Es war nicht an Schlaf zu denken, solange die Alarmanlage in die Welt hinausbrüllte, daß in der Stadt ein Frevel geschah. Nach etwa zehn Minuten kamen zwei Polizisten auf den campo gerannt, einer mit der Pistole in der Hand. Er lief zu dem eingeschlagenen Schaufenster und rief: »Polizei. Kommen Sie heraus!«

Nichts rührte sich. Die Sirene jaulte weiter.

Er rief noch einmal, doch als sich noch immer nichts tat, drehte er sich zu seinem Kollegen um, der den Kopf schüttelte und mit den Achseln zuckte. Der erste steckte seine Pistole wieder ein und ging einen Schritt auf die zerbrochene Scheibe zu. Über ihm wurde ein Fenster geöffnet, und jemand rief heraus: »Könnt ihr dieses verdammte Ding nicht abschalten?« Eine weitere wütende Stimme brüllte herunter: »Ich will endlich schlafen!«

Der zweite Polizist stellte sich neben seinen Kollegen, und sie schauten zusammen nach drinnen, dann hob der erste den Fuß und trat gegen die gläsernen Stalagmiten, die gefährlich aus dem unteren Rahmen emporragten. [11] Gemeinsam stiegen sie hinein und verschwanden nach hinten. Dann gingen gleichzeitig die Lichter im Büro und die Alarmanlage aus.

Die beiden kamen wieder nach vorn, wobei der eine ihnen mit einer Taschenlampe leuchtete. Sie sahen um sich, ob etwas ganz offensichtlich gestohlen oder kaputtgemacht worden war, und stiegen durch das Loch wieder auf den campo hinaus. Erst jetzt entdeckten sie die Frau auf dem steinernen Pfosten.

Der eine, der vorhin seine Pistole gezogen hatte, ging zu ihr. »Haben Sie gesehen, was hier passiert ist, Signora?«

»Ja.«

»Was? Wer war es?« Der andere Polizist hörte die Fragen und kam hinzu, sichtlich erfreut, daß sie so schnell eine Zeugin gefunden hatten. Das würde die Sache beschleunigen und es ihnen ersparen, von Tür zu Tür gehen und ihre Fragen stellen zu müssen. Sie würden eine Täterbeschreibung erhalten, rasch aus dieser feuchten Herbstkälte zurück in die warme Questura kommen und ihren Bericht schreiben.

»Wer war es?« fragte der erste.

»Jemand hat einen Stein ins Schaufenster geworfen«, sagte die Frau.

»Wie sah er denn aus?«

»Es war kein Mann«, antwortete sie.

»War es eine Frau?« unterbrach der zweite, und sie verkniff sich die Gegenfrage, ob es vielleicht noch eine weitere Alternative gebe, von der sie noch gar nichts wisse. Nein, keine Witze. Keine Witze. Bevor das alles vorbei war, sollte es keine Witze mehr geben.

[12] »Ja, eine Frau.«

Der erste Polizist warf seinem Partner einen raschen Blick zu und fragte weiter: »Wie sah die Frau aus?«

»Etwa Anfang Vierzig, blondes, schulterlanges Haar.«

Die Frau hatte ihr Haar unter einem Kopftuch, so daß der Polizist zunächst nichts begriff. »Und was hatte sie an?« fragte er.

»Einen gelbbraunen Mantel, braune Stiefel.«

Er sah die Farbe ihres Mantels, dann blickte er auf ihre Füße. »Das ist kein Scherz, Signora. Wir wollen wissen, wie diese Frau aussah.«

Sie blickte ihm voll ins Gesicht, und im Schein der Straßenlaterne sah er in ihren Augen so etwas wie eine versteckte Leidenschaft aufblitzen. »Ohne Scherz, agente. Ich habe Ihnen gesagt, was die Frau anhatte.«

»Aber Sie beschreiben sich selbst, Signora.« Wieder hielt ihr inneres Alarmsystem sie von einem pathetischen »Ihr habt wahr gesprochen« ab. Statt dessen nickte sie.

»Sie waren das?« fragte der erste, ohne sein Erstaunen verbergen zu können.

Sie nickte wieder.

Der andere versuchte klarzustellen: »Sie haben einen Stein in das Schaufenster geworfen?«

Noch einmal nickte sie.

In stillschweigendem Einvernehmen traten die beiden ein paar Schritte beiseite, bis sie außer Hörweite waren, ohne dabei jedoch die Frau aus den Augen zu lassen. Sie steckten die Köpfe zusammen und tuschelten kurz miteinander, dann zückte der eine sein Handy und wählte die Nummer der Questura. Über ihnen ging ein Fenster auf, und ein [13] Kopf erschien, verschwand aber gleich wieder. Das Fenster wurde zugeschlagen.

Der Polizist sprach eine ganze Weile ins Telefon, berichtete, was sich zugetragen hatte, und meldete, daß die verantwortliche Person bereits ergriffen sei. Als der Wachhabende sagte, sie sollten den Mann herbringen, korrigierte der Polizist ihn erst gar nicht. Er klappte sein Handy zusammen und steckte es wieder in die Tasche. »Danieli sagt, ich soll sie in die Questura bringen«, teilte er seinem Kollegen mit.

»Das heißt, ich muß hierbleiben?« fragte der andere, ohne seinen Unmut darüber zu verhehlen, daß er nun verurteilt war, in der Kälte auszuharren.

»Du kannst ja drinnen warten. Danieli ruft den Besitzer an. Ich glaube, er wohnt hier irgendwo in der Nähe.« Er gab seinem Partner das Handy. »Melde dich, wenn er nicht aufkreuzt.«

Mit einem Lächeln machte der zweite Polizist gute Miene zum bösen Spiel und nahm das Handy. »Ich warte, bis er kommt. Aber nächstes Mal bin ich mit der Überstellung in die Questura an der Reihe.«

Sein Partner nickte. Nachdem damit der Frieden wiederhergestellt war, gingen die beiden zu der Frau zurück, die sich während des langen Wortwechsels nicht von der Stelle gerührt hatte und noch auf dem Pfosten saß, den Blick auf das eingeschlagene Fenster und die Glassplitter gerichtet, die in einem glitzernden Bogen verstreut lagen.

»Kommen Sie bitte mit«, sagte der erste Polizist.

Sie erhob sich stumm und ging auf den Eingang einer schmalen calle links neben dem kaputten Schaufenster zu. [14] Keinem der beiden Polizisten fiel dabei auf, daß sie offensichtlich den kürzesten Weg zur Questura kannte.

Sie brauchten zehn Minuten dorthin, und in der ganzen Zeit sprachen die Frau und der Polizist kein Wort. Hätte jemand von den sehr wenigen Leuten, denen sie begegneten, auf die beiden geachtet, wie sie über die schlafende Piazza San Marco und weiter durch die schmale calle in Richtung San Lorenzo und Questura gingen, er hätte nur eine attraktive, gutgekleidete Frau in Begleitung eines uniformierten Polizisten gesehen. Ein ungewohnter Anblick um vier Uhr früh, aber vielleicht war in ihrem Haus eingebrochen worden, oder man holte sie, um ein verirrtes Kind zu identifizieren.

Es erwartete sie niemand am Eingang zur Questura, und der Polizist mußte mehrmals klingeln, bevor aus dem Wachraum rechts von der Tür das verschlafene Gesicht eines jungen Kollegen erschien. Als er sie sah, verschwand er und kam kurz darauf in seiner Uniformjacke wieder. Er öffnete die Tür und murmelte eine Entschuldigung. »Keiner hat mir gesagt, daß du kommst, Ruberti«, sagte er. Der andere wischte die Entschuldigung beiseite und bedeutete ihm, er könne sich wieder hinlegen, denn er wußte noch gut, wie es war, wenn man neu bei der Polizei und ganz verschlafen war.

Dann führte er die Frau die Treppe linker Hand hinauf in den ersten Stock. Er öffnete die Tür und hielt sie ihr höflich auf, und als die Frau hineinging, folgte er ihr ins Zimmer und setzte sich an seinen Schreibtisch. Aus der rechten Schublade nahm er einen dicken Block mit Formularen, klatschte ihn vor sich auf den Schreibtisch, sah die Frau an [15] und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, daß sie ihm gegenüber Platz nehmen solle.

Während sie sich hinsetzte und ihren Mantel aufknöpfte, füllte er schon einmal den oberen Teil des Formulars aus, wo nach Datum, Uhrzeit und seinem Namen und Dienstgrad gefragt wurde. Als er zur Spalte »Art des Vergehens« kam, zögerte er kurz und schrieb dann »Vandalismus« in das leere Rechteck.

Nun blickte er zu ihr auf und sah sie zum erstenmal richtig. Dabei hatte er einen Eindruck, der ihm widersinnig erschien, denn alles an ihr – Kleidung, Frisur, sogar ihre Art zu sprechen – strahlte ein Selbstbewußtsein aus, das nur Geld einem Menschen gibt, viel Geld. Bitte, laß sie keine Irre sein, betete er stumm.

»Haben Sie Ihren Ausweis dabei, Signora?«

Sie nickte und griff in ihre Tasche. Er kam nicht auf die Idee, daß es gefährlich sein könnte, eine Frau, die er eben erst wegen einer Gewalttat festgenommen hatte, in eine große Tasche greifen und etwas herausnehmen zu lassen.

Ihre Hand kam mit einer ledernen Brieftasche wieder zum Vorschein. Sie klappte sie auf, nahm den beigefarbenen Ausweis heraus, klappte auch diesen auf und legte ihn mit dem Bild nach oben vor ihn auf den Schreibtisch.

Der Beamte sah das Foto an und stellte fest, daß es schon vor einiger Zeit aufgenommen worden sein mußte, als sie noch eine wirkliche Schönheit war. Dann las er den Namen. »Paola Brunetti?« fragte er, ohne sein Erstaunen verbergen zu können.

Sie nickte.

»Gütiger Himmel, dann sind Sie Brunettis Frau!«

[16] 2

Als das Telefon klingelte, lag Brunetti gerade am Strand, den Arm über die Augen gelegt, um sie vor dem Sand zu schützen, den die tanzenden Nilpferde aufwirbelten. Das heißt, Brunetti lag in der Welt seines Traumes am Strand, und zweifellos war diese Ortswahl die Folge seiner heftigen Auseinandersetzung mit Paola vor ein paar Tagen, und die Nilpferde waren ein Überbleibsel seiner Flucht aus diesem Streit, denn er war zu Chiara ins Wohnzimmer gegangen und hatte sich mit ihr die zweite Hälfte von Fantasia angesehen.

Das Telefon klingelte sechsmal, bevor Brunetti es richtig wahrnahm und an die Bettkante rutschte, um nach dem Hörer zu greifen.

»Sì?« sagte er, noch ganz dösig von dem unruhigen Schlaf, den ungelöste Konflikte mit Paola ihm immer bescherten.

»Commissario Brunetti?« fragte eine Männerstimme.

»Un momento«, sagte Brunetti. Er legte den Hörer weg und knipste das Licht an. Dann legte er sich zurück und zog sich die Decke über die rechte Schulter. Dabei sah er zu Paola, ob er sie ihr nicht weggezogen hatte. Ihre Bettseite war leer. Sicher war sie im Bad, oder sie war in die Küche gegangen, um einen Schluck Wasser zu trinken, vielleicht auch, falls der Streit ihr ebenso nachging wie ihm, ein Glas heiße Milch mit Honig. Er würde sich entschuldigen, wenn sie wiederkam, sowohl für das, was er gesagt hatte, als auch für diesen Anruf, obwohl der sie gar nicht geweckt hatte.

[17] Er griff hinüber und nahm den Hörer wieder in die Hand. »Ja, was gibt’s?« fragte er, wobei er sich ganz tief in die Kissen sinken ließ und hoffte, daß es nicht die Questura war, die ihn aus dem warmen Bett holte und an den Ort irgendeines Verbrechens schickte.

»Wir haben Ihre Frau, Commissario.«

Ihm stand bei den Eröffnungsworten der Verstand still. So fingen doch Entführer immer an.

»Wie bitte?« fragte er, als er wieder denken konnte.

»Wir haben Ihre Frau, Commissario«, wiederholte die Stimme.

»Wer spricht denn da?« fragte er, jetzt schon hörbar verärgert.

»Ruberti, Commissario. Ich bin in der Questura.« Es folgte eine lange Pause, dann fuhr der Mann fort: »Wir haben Nachtdienst, Commissario; Bellini und ich.«

»Was sagen Sie da über meine Frau?« herrschte Brunetti ihn an, nicht im geringsten daran interessiert, wer wo war oder Nachtdienst hatte.

»Wir haben sie hier, das heißt, ich habe sie hier. Bellini ist noch am Campo Manin.«

Brunetti schloß die Augen und lauschte nach Geräuschen in einem anderen Teil der Wohnung. Nichts. »Was macht sie denn da, Ruberti?«

Nach wieder einer langen Pause sagte Ruberti: »Wir haben sie festgenommen, Commissario.« Und als Brunetti darauf nicht reagierte, fügte der andere hinzu: »Ich meine, ich habe sie mit hierhergebracht. Festgenommen ist sie noch nicht.«

»Lassen Sie mich mit ihr sprechen«, befahl Brunetti.

[18] Nach einer erneuten langen Pause hörte er Paolas Stimme. »Ciao, Guido.«

»Du bist in der Questura?« fragte er.

»Ja.«

»Dann hast du es also getan?«

»Ich habe dir doch gesagt, daß ich es tun werde«, antwortete Paola.

Brunetti schloß erneut die Augen und hielt den Telefonhörer auf Armlänge von sich ab. Nach einer Weile nahm er ihn wieder ans Ohr und sagte: »Ich bin in einer Viertelstunde da. Sag inzwischen nichts, und unterschreibe nichts.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, legte er auf und schwang sich aus dem Bett.

Er zog sich rasch an, ging in die Küche und schrieb einen Zettel für die Kinder, daß er und Paola fortgemußt hätten, aber bald zurück sein würden. Dann verließ er die Wohnung, zog vorsichtig die Tür hinter sich zu und schlich leise wie ein Dieb die Treppe hinunter.

Draußen wandte er sich nach rechts, schon fast im Laufschritt, getrieben von Wut und Angst. Er eilte über den verlassenen Markt und die Rialto-Brücke, ohne etwas zu sehen oder auf andere Passanten zu achten, den Blick nur nach unten gerichtet und blind für alle Eindrücke. Er erinnerte sich nur noch an ihre Wut, die Hitzigkeit, mit der sie auf den Tisch geschlagen hatte, daß die Teller klirrten und ein Glas Rotwein umfiel. Er sah den Wein noch in der Tischdecke versickern und erinnerte sich, wie er sich darüber gewundert hatte, daß dieses Thema sie so in Rage bringen konnte. Denn er hatte genau wie jetzt – und was immer sie getan hatte, war zweifellos von derselben Wut diktiert – nicht [19] begriffen, wie sie sich über eine so weit entfernte Ungerechtigkeit derart aufregen konnte. In den Jahrzehnten ihrer Ehe waren ihre Zornesausbrüche ihm vertraut geworden, und er hatte gelernt, daß behördliche, politische oder soziale Ungerechtigkeiten sie wahnsinnig machen und in blindwütige Empörung versetzen konnten, aber er hatte nie gelernt, halbwegs zutreffend vorauszusagen, was ihr jeweils diesen letzten Anstoß gab, der sie über die Grenze trieb, ab der es kein Halten mehr gab.

Während er über den Campo Santa Maria Formosa ging, fiel ihm einiges von dem wieder ein, was sie gesagt hatte, taub für seinen Einwand, daß die Kinder zuhören konnten, blind für sein Erstaunen über ihre Reaktion. »Das kommt nur daher, daß du ein Mann bist«, hatte sie ihn wütend angezischt. Und später: »Es muß einfach dafür gesorgt werden, daß es sie mehr kostet, es zu tun, als es zu lassen. Vorher wird sich nichts ändern.« Und schließlich: »Es ist mir egal, ob das erlaubt ist. Es ist unrecht, und irgend jemand muß etwas dagegen tun.«

Wie so oft, hatte Brunetti weder ihre Wut ernst genommen noch ihr Versprechen – oder war es eine Drohung gewesen? –, selbst etwas zu unternehmen. Und nun, drei Tage später, befand er sich auf dem Weg zur Questura, wo Paola war, aufgegriffen bei einer Tat, die sie ihm angekündigt hatte.

Derselbe junge Polizist öffnete Brunetti die Tür und salutierte, als er an ihm vorbeiging. Brunetti hatte keinen Blick für ihn, sondern ging schnurstracks zur Treppe und rannte, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, ins Zimmer des [20] Diensthabenden hinauf, wo er Ruberti an seinem Schreibtisch antraf, ihm gegenüber eine schweigende Paola.

Ruberti stand auf und salutierte, als sein Vorgesetzter eintrat.

Brunetti nickte. Er sah zu Paola, die seinen Blick erwiderte, aber er hatte ihr nichts zu sagen.

Er bedeutete Ruberti, wieder Platz zu nehmen, und als der Polizist saß, sagte Brunetti: »Berichten Sie mir, was vorgefallen ist.«

»Wir wurden vor einer Stunde gerufen, Commissario. Am Campo Manin war eine Alarmanlage ausgelöst worden. Bellini und ich sind hingegangen.«

»Zu Fuß?«

»Jawohl, Commissario.«

Als Ruberti nicht weitersprach, nickte Brunetti ihm ermunternd zu, worauf er fortfuhr: »Als wir hinkamen, war das Schaufenster eingeschlagen. Und die Alarmanlage brüllte wie verrückt.«

»Und wo war die Alarmanlage?« fragte Brunetti, obwohl er es schon wußte.

»Im hinteren Büro, Commissario.«

»Ja, aber in welchem Haus?«

»Im Reisebüro, Commissario.«

Ruberti sah Brunettis Gesicht und verstummte wieder, bis sein Vorgesetzter ihn aufforderte: »Weiter!«

»Ich bin hineingegangen, Commissario, und habe den Strom abgeschaltet. Damit die Alarmanlage aufhörte«, erklärte er unnötigerweise. »Als wir dann wieder herauskamen, saß auf dem Campo die Frau, als ob sie auf uns gewartet hätte, und wir haben sie gefragt, ob sie etwas gesehen [21] hatte.« Ruberti blickte auf seinen Schreibtisch, dann zu Brunetti, dann zu Paola, und als beide nichts sagten, fuhr er fort: »Sie sagte, sie hätte gesehen, wer es war, und als ich sie um eine Beschreibung des Mannes bat, sagte sie, daß es eine Frau war.«

Wieder verstummte er und sah sie beide abwechselnd an, und wieder sagte keiner von ihnen etwas. »Als wir sie dann baten, uns die Frau zu beschreiben, hat sie sich selbst beschrieben, und als ich sie darauf aufmerksam machte, hat sie gesagt, sie hätte es getan. Ich meine, das Fenster eingeworfen. So war es.« Er dachte einen Augenblick nach und fügte dann hinzu: »Also, direkt gesagt hat sie es nicht, aber sie hat genickt, als ich fragte, ob sie es war.«

Brunetti setzte sich auf einen Stuhl rechts von Paola und legte die gefalteten Hände auf Rubertis Schreibtisch.

»Wo ist Bellini?« fragte er.

»Noch am Tatort, Commissario. Er wartet auf den Besitzer.«

»Wie lange schon?« wollte Brunetti wissen.

Ruberti warf einen Blick auf seine Uhr. »Seit einer guten halben Stunde.«

»Hat er ein Telefon?«

»Ja, Commissario.«

»Dann rufen Sie ihn an«, sagte Brunetti.

Ruberti zog den Apparat zu sich heran, aber bevor er noch zu wählen anfangen konnte, hörten sie Schritte auf der Treppe, und gleich darauf kam Bellini herein. Als er Brunetti sah, salutierte er, wenngleich er sein Erstaunen darüber, den Commissario zu dieser Stunde hier anzutreffen, kaum verbergen konnte.

[22] »Buon dì, Bellini«, sagte Brunetti.

»Buon dì, Commissario«, antwortete der junge Polizist und sah zu Ruberti hinüber, ob dieser ihm vielleicht andeuten konnte, was hier vorging.

Ruberti zuckte kaum merklich die Achseln.

Brunetti griff über den Schreibtisch und zog den Stapel Protokolle zu sich. Er sah Rubertis ordentliche Handschrift, las Uhrzeit und Datum, den Namen des Beamten, das Wort, das Ruberti für das Vergehen gewählt hatte. Sonst stand noch nichts auf dem Blatt, kein Name unter »Festgenommen«, nicht einmal unter »Verhört«.

»Was hat meine Frau gesagt?«

»Also, wie ich schon erwähnte, direkt gesagt hat sie eigentlich nichts, nur genickt, als ich sie fragte, ob sie es war«, antwortete Ruberti. Und um das Luftschnappen zu übertönen, das sein Partner unwillkürlich vernehmen ließ, fügte er noch rasch hinzu: »So war es, Commissario.«

»Ich könnte mir vorstellen, daß Sie vielleicht mißverstanden haben, was sie meinte, Ruberti«, sagte Brunetti. Paola beugte sich vor, als wollte sie etwas sagen, aber Brunetti schlug plötzlich mit der Hand auf das Formular und zerknüllte es.

Ruberti dachte erneut an die Zeit zurück, als er noch ein junger Polizist gewesen war, oft übermüdet, einmal sogar mit nassen Hosen vor Angst, und erinnerte sich, wie der Commissario so manches Mal über die Ängste und Fehler der Jugend hinweggesehen hatte. »Ja, gewiß kann ich sie mißverstanden haben, Commissario«, antwortete er, ohne zu zögern. Ruberti sah zu Bellini auf, der nickte, ohne etwas zu begreifen, wohl aber wußte, was er zu tun hatte.

[23] »Gut«, sagte Brunetti und stand auf. Das Protokoll befand sich, zu einem Ball zusammengeknüllt, in seiner Hand. Er stopfte es in seine Manteltasche. »Ich bringe meine Frau jetzt nach Hause.«

Ruberti stand ebenfalls auf und stellte sich neben Bellini, der sagte: »Der Besitzer ist jetzt da, Commissario.«

»Haben Sie irgend etwas zu ihm gesagt?«

»Nein. Nur, daß Ruberti in die Questura gegangen ist.«

Brunetti nickte. Er bückte sich zu Paola hinunter, berührte sie aber nicht. Sie erhob sich, auf die Armlehnen ihres Stuhls gestützt, stellte sich aber nicht neben ihren Mann.

»Also, gute Nacht. Wir sehen uns am Morgen.« Die beiden Beamten salutierten, und Brunetti hob die Hand, dann trat er beiseite, um Paola zur Tür zu lassen. Sie ging als erste hinaus, und Brunetti folgte ihr. Er schloß die Tür, und sie gingen hintereinander die Treppe hinunter. Unten hielt der junge Beamte ihnen die Tür auf. Er nickte Paola zu, obwohl er keine Ahnung hatte, wer sie war. Wie es sich gehörte, salutierte er seinem Vorgesetzten, als dieser an ihm vorbei zur Tür hinaus und in den kühlen venezianischen Morgen trat.

[24] 3

Vor der Questura wandte sich Brunetti nach links und ging bis zur nächsten Ecke. Dort blieb er stehen und wartete auf Paola. Immer noch sagten beide kein Wort. Seite an Seite gingen sie durch die verlassenen calli weiter, ließen sich von ihren Füßen wie von selbst nach Hause tragen.

Als sie in die Salizzada di San Lio einbogen, konnte Brunetti sich endlich überwinden, etwas zu sagen, aber nichts von Bedeutung. »Ich habe den Kindern einen Zettel hingelegt. Für den Fall, daß sie aufwachen.«

Paola nickte, aber er vermied es angelegentlich, sie anzusehen, so daß er es nicht mitbekam. »Ich wollte nicht, daß Chiara sich ängstigt«, sagte er, und als ihm klar wurde, wie sehr das nach dem Versuch klang, ihr ein schlechtes Gewissen zu machen, stellte er zugleich fest, daß ihm das ziemlich egal war.

»Das hatte ich vergessen«, sagte Paola.

Sie passierten den Durchgang und waren bald auf dem Campo San Bartolomeo, wo ihnen das heitere Lächeln im Gesicht der Goldoni-Statue reichlich deplaziert vorkam. Brunetti warf einen Blick zur Uhr hinauf. Als Venezianer wußte er, daß er eine Stunde dazuzählen mußte: fast fünf also, nicht mehr so früh, daß es sich gelohnt hätte, noch einmal ins Bett zu gehen, aber wie sollte er die Stunden von jetzt bis zu dem Zeitpunkt ausfüllen, an dem er sich mit Fug und Recht auf den Weg zur Arbeit machen konnte? Er blickte nach links, doch von den Bars hatte noch keine ge[25] öffnet. Er brauchte einen Kaffee, aber noch viel dringender: Er brauchte die damit verbundene Ablenkung.

Hinter der Rialto-Brücke wandten sie sich beide nach links, dann rechts in den Durchgang an der Ruga degli Orefici. Ein Stückchen weiter vorn machte gerade eine Bar auf, und in stiller Übereinkunft gingen sie beide hinein. Ein großer Stapel mit frischen Brioches lag auf dem Tresen, noch im weißen Papier der pasticceria. Brunetti bestellte zweimal Espresso, ignorierte jedoch das Gebäck. Paola bemerkte es nicht einmal.

Als der Barmann ihnen den Kaffee hinstellte, löffelte Brunetti Zucker in beide Tassen und schob Paola die ihre hin. Der Barmann ging ans Ende des Tresens und begann die Brioches einzeln in einen Glaskasten zu räumen.

»Nun?« fragte Brunetti.

Paola nippte an ihrem Kaffee, tat noch einen halben Löffel Zucker hinein und sagte: »Ich habe dir doch gesagt, daß ich es tun würde.«

»Für mich klang das aber nicht so.«

»Wie klang es denn für dich?«

»Als ob du sagen wolltest, alle sollten das tun.«

»Es sollten auch alle tun«, sagte Paola, aber aus ihrem Ton war nicht mehr diese Wut herauszuhören, die beim erstenmal in ihren Worten gelegen hatte.

»Ich hätte nicht gedacht, daß du das damit gemeint hast.« Brunettis Geste bezog sich nicht auf die Bar, sondern auf alles, was passiert war, bevor sie hierherkamen.

Paola stellte ihre Tasse ab und sah ihm zum erstenmal voll ins Gesicht. »Können wir reden, Guido?«

Er war nahe daran, zu sagen, das täten sie doch schon, [26] aber er kannte sie gut genug, um zu wissen, was sie meinte, und nickte statt dessen.

»Ich habe dir vor drei Tagen gesagt, was die machen.« Bevor er etwas einwerfen konnte, sprach sie weiter: »Und du hast mir erklärt, es sei nichts Verbotenes dabei, sie hätten als Reiseunternehmer dieses Recht.«

Brunetti nickte, und als der Barmann sich näherte, gab er ihm ein Zeichen, noch einmal Kaffee zu bringen. Nachdem der Mann wieder zu seiner Maschine gegangen war, fuhr Paola fort: »Aber es ist unrecht. Das weißt du, das weiß ich. Es ist widerwärtig, Sexreisen zu organisieren, damit reiche – und weniger reiche – Männer nach Thailand und auf die Philippinen fliegen und Zehnjährige vergewaltigen können.« Bevor er etwas einwenden konnte, hob sie abwehrend die Hand. »Ich weiß, daß es inzwischen verboten ist. Aber wurde schon jemand verhaftet? Verurteilt? Du weißt so gut wie ich, daß sie nur die Wortwahl in ihren Anzeigen ändern müssen, und alles geht weiter seinen Gang. ›Tolerante Hotelrezeption. Freundliche einheimische Begleitung.‹ Erzähl mir nicht, du wüßtest nicht, was das heißt. Das Geschäft geht ganz normal weiter, Guido. Und es widert mich an.«

Brunetti sagte immer noch nichts. Der Barmann brachte ihnen zwei frische Tassen Kaffee und nahm die alten mit. Die Tür ging auf, und zwei vierschrötige Männer kamen mit einer Wolke feuchter Luft in die Bar. Der Barmann ging zu ihnen.

»Ich habe dir gesagt«, nahm Paola ihre Rede wieder auf, »daß es unrecht ist und man ihnen das Handwerk legen muß.«

[27] »Und du glaubst, du kannst das?« fragte er.

»Ja«, antwortete sie, und ehe er nachfragen oder ihr widersprechen konnte, fuhr sie fort: »Nicht ich allein, nicht hier in Venedig, indem ich einem Reisebüro auf dem Campo Manin das Schaufenster einwerfe. Aber wenn alle Frauen Italiens nachts mit Steinen auf die Straße gingen, um allen Reisebüros, die Sexreisen anbieten, die Schaufenster einzuwerfen, dann würden sehr bald in Italien keine Sexreisen mehr organisiert, oder?«

»Ist das eine rhetorische oder eine ernstgemeinte Frage?« erkundigte er sich.

»Ich glaube, sie ist ernst gemeint«, sagte sie. Diesmal tat Paola den Zucker in ihre Tassen.

Brunetti trank seinen Kaffee, bevor er etwas sagte. »Du kannst das nicht machen, Paola. Du kannst nicht hingehen und allen Büros oder Läden die Fenster einwerfen, die etwas tun, was sie deiner Meinung nach nicht tun sollten, oder etwas verkaufen, was sie deiner Ansicht nach nicht verkaufen sollten.« Bevor sie etwas erwidern konnte, fragte er: »Weißt du noch, wie die Kirche den Verkauf von Verhütungsmitteln verbieten wollte? Und wie du da reagiert hast? Falls nicht, ich weiß es noch sehr gut. Es war genau das gleiche: auf zum Kreuzzug gegen etwas, das du als böse erkannt hattest. Nur warst du damals auf der anderen Seite, gegen die Leute, die genau das taten, wozu jetzt du ein Recht zu haben glaubst, nämlich andere von etwas abzuhalten, was ihrer Meinung nach unrecht war. Nicht nur das Recht, sondern sogar die moralische Pflicht.« Er merkte, wie er immer mehr der Wut freien Lauf ließ, die ihn erfüllte, seit er aus dem Bett gestiegen war, die ihn durch die Straßen begleitet [28] hatte und jetzt in dieser morgendlich stillen Bar neben ihm stand.

»Es ist dasselbe«, fuhr er fort. »Du entscheidest nach eigenem Gutdünken und ganz allein für dich, daß etwas unrecht ist, und dann hältst du dich für so wichtig, daß nur du etwas dagegen tun kannst, nur du die ganze Wahrheit erkennst.«

Er dachte, sie würde an dieser Stelle etwas sagen, aber als sie schwieg, redete er wie unter Zwang weiter: »Das war heute nacht ein perfektes Beispiel. Was willst du erreichen? Daß du mit Bild auf die Titelseite des Gazzettino kommst, du, die große Beschützerin kleiner Kinder?« Er mußte sich zwingen, hier abzubrechen. Er griff in seine Tasche, ging zum Barmann und bezahlte den Kaffee. Dann öffnete er die Tür und hielt sie ihr auf.

Draußen wandte Paola sich nach links, ging ein paar Schritte weit und blieb dann stehen, bis er sie eingeholt hatte. »Siehst du das wirklich so? Ich meine, daß ich nur Aufmerksamkeit erregen und von den Leuten als wichtig angesehen werden will?«

Er ging an ihr vorbei und ignorierte ihre Frage.

Hinter sich hörte er ihre Stimme, zum erstenmal laut: »Siehst du das so, Guido?«

Er blieb stehen und drehte sich nach ihr um. Von hinten kam ein Mann mit einem Karren voller Zeitungs- und Illustriertenbündel. Er wartete, bis der Mann vorbei war, und antwortete: »Ja. Zum Teil.«

»Zu einem wie großen Teil?« schoß sie zurück.

»Weiß ich nicht. Man kann das nicht so aufteilen.«

»Du glaubst, das sei der Grund, warum ich das tue?«

[29] Seine Entrüstung legte ihm die Erwiderung in den Mund: »Warum muß für dich alles so ein Anliegen sein, Paola? Warum muß alles, was du tust oder liest oder sagst – oder anziehst und ißt, um Himmels willen –, warum muß das alles immer so bedeutungsschwer sein?«

Sie sah ihn lange an, ohne etwas zu sagen, dann senkte sie den Kopf und ging an ihm vorbei, weiter nach Hause.

Er holte sie ein. »Was sollte das heißen?«

»Was sollte was heißen?«

»Dieser Blick.«

Sie blieb stehen und sah zu ihm auf. »Manchmal frage ich mich, wo der Mann geblieben ist, den ich einmal geheiratet habe.«

»Und was soll das nun wieder heißen?«

»Es heißt, Guido, daß du damals, als wir heirateten, an alle diese Dinge geglaubt hast, über die du dich jetzt lustig machst.« Noch ehe er fragen konnte, was das für Dinge seien, antwortete sie. »Dinge wie Gerechtigkeit und Recht, und daß man sich immer für das Rechte entscheiden soll.«

»Daran glaube ich immer noch«, beharrte er.

»Du glaubst jetzt an das Gesetz, Guido«, sagte sie, aber in sanftem Ton, als spräche sie mit einem Kind.

»Genau das meine ich«, entgegnete er mit lauter Stimme, taub und blind für die Leute, die jetzt in immer größerer Zahl an ihnen vorbeigingen, denn demnächst würden schon die ersten Stände aufmachen. »Wenn man dich hört, ist das, was ich tue, dumm oder schmutzig. Herrgott noch mal, ich bin Polizist. Was würdest du denn anderes von mir wollen, als daß ich dem Gesetz gehorche? Und ihm Geltung [30] verschaffe?« Er fühlte seinen ganzen Körper vor Wut glühen, als er sah oder zu sehen glaubte, daß sie die ganzen Jahre alles, was er tat, belächelt oder verachtet hatte.

»Und warum hast du dann Ruberti angelogen?« fragte sie.

Sein Zorn verflog. »Ich habe nicht gelogen.«

»Du hast gesagt, es sei ein Mißverständnis gewesen, er habe nicht richtig verstanden, was ich meinte. Aber er weiß so genau wie du und ich oder auch wie dieser andere Polizist, was ich gemeint und was ich getan habe.« Als er schwieg, kam sie einen Schritt auf ihn zu. »Ich habe gegen Gesetze verstoßen, Guido. Ich habe dieses Schaufenster eingeschlagen und würde es jederzeit wieder tun. Und ich werde es so lange tun, bis dein Gesetz, dieses kostbare Gesetz, auf das du so stolz bist, sich endlich gegen sie oder gegen mich wendet. Weil ich nicht zulasse, daß sie einfach so weitermachen wie bisher.«

Bevor er wußte, was er tat, hatte er die Arme ausgestreckt und sie bei den Ellbogen gefaßt. Aber er zog sie nicht an sich. Vielmehr machte er einen Schritt auf sie zu, legte die Arme um ihren Rücken und drückte ihr Gesicht gegen seinen Halsansatz. Er küßte sie auf den Kopf und grub sein Gesicht in ihr Haar. Plötzlich fuhr er zurück und faßte sich mit der Hand an den Mund.

»Was ist?« fragte sie, zum erstenmal erschrocken.

Brunetti nahm die Hand vom Mund und sah, daß Blut daran war. Er fuhr sich mit dem Finger über die Lippe und fühlte etwas Hartes, Scharfes.

»Nein, laß mich das machen«, sagte Paola, wobei sie ihre rechte Hand an seine Wange legte und sein Gesicht zu sich [31] drehte. Dann streifte sie ihren Handschuh ab und berührte mit zwei Fingern seine Lippe.

»Was ist es?« fragte er.

»Ein Glassplitter.«

Ein kurzer stechender Schmerz, dann küßte sie ihn auf die Unterlippe, aber ganz sanft.

[32] 4

Auf dem Heimweg gingen sie in eine pasticceria und kauften ein großes Tablett voller Brioches, für die Kinder, wie sie einander versicherten, aber beide wußten, daß es so etwas wie eine Feier für ihren Friedensschluß war, mochte der auch noch so wacklig sein. Zu Hause angekommen, nahm Brunetti als erstes den Zettel vom Küchentisch und stopfte ihn tief in die Mülltüte unter der Spüle. Dann ging er leise, weil die Kinder noch schliefen, ins Bad, wo er lange heiß duschte, um die Sorgen wegzuspülen, die heute morgen so früh und unerwartet über ihn gekommen waren.

Als er rasiert und angezogen in die Küche kam, war Paola inzwischen wieder in Schlafanzug und Morgenmantel, einem alten karierten Ding aus Flanell, so alt, daß beide schon nicht mehr wußten, wo sie es einmal erstanden hatte. Sie saß am Tisch, vor sich eine Zeitschrift, und tunkte eine Brioche in eine große Tasse Milchkaffee, als wäre sie soeben nach einer langen, erholsamen Nacht aufgestanden.

»Soll ich jetzt hereinkommen, dich auf die Wange küssen und sagen: ›Buon giorno, cara, hast du gut geschlafen?‹«, fragte er, als er sie sah, aber es lag keine Ironie darin, weder in seinem Ton noch in seiner Absicht. Wenn er überhaupt etwas beabsichtigte, dann höchstens, Abstand zu schaffen von den Ereignissen der Nacht, obwohl er wußte, wie unmöglich das war. Dann also wenigstens die unausweichlichen Konsequenzen von Paolas Tun hinauszögern, auch wenn diese Konsequenzen nichts weiter sein würden als [33] erneute verbale Auseinandersetzungen, in denen beide die Haltung des anderen nicht akzeptieren konnten.

Sie sah auf, dachte über seine Worte nach und lächelte, was hieß, daß auch sie sich mit Abwarten zu begnügen gedachte. »Kommst du heute zum Mittagessen nach Hause?« fragte sie, indem sie aufstand und zum Herd ging, um Kaffee in eine große Tasse zu gießen. Dann tat sie noch heiße Milch hinein und stellte sie ihm an den gewohnten Platz.

Beim Hinsetzen dachte Brunetti über diese merkwürdige Situation und den noch merkwürdigeren Umstand nach, daß beide sie so bereitwillig hinnahmen. Er hatte einmal etwas von dem spontanen weihnachtlichen Waffenstillstand an der Westfront im Ersten Weltkrieg gelesen; da waren Deutsche über die Kampflinie gegangen, um den Tommies die Zigaretten anzuzünden, die sie ihnen gerade geschenkt hatten; und die Briten hatten den Hunnen zugelächelt und gewinkt. Schweres Artilleriefeuer hatte dem bald ein Ende gemacht. Besser schätzte Brunetti die Chancen für einen längeren Waffenstillstand mit seiner Frau auch nicht ein. Aber er wollte ihn genießen, solange er währte, und so tat er Zucker in seinen Kaffee, nahm sich eine Brioche und antwortete: »Nein, ich muß nach Treviso und mir einen Zeugen des Banküberfalls vornehmen, den wir letzte Woche am Campo San Luca hatten.«

Da Banküberfälle in Venedig so etwas Sensationelles waren, konnte das gut als Ablenkung herhalten, und Brunetti erzählte Paola – obwohl jeder in der Stadt bestimmt schon in der Zeitung davon gelesen hatte – das wenige, was er selbst wußte: Vor drei Tagen war ein junger Mann mit einer [34] Pistole in eine Bank gekommen, hatte Geld verlangt und sich dann, das Geld in der einen Hand, die Waffe in der anderen, seelenruhig in Richtung Rialto davongemacht. Die in der Decke des Schalterraums versteckte Kamera hatte der Polizei ein verwaschenes Bild geliefert, aber immerhin hatten sie danach den Bruder eines Einheimischen vorläufig identifizieren können, dem enge Beziehungen zur Mafia nachgesagt wurden. Der Räuber hatte beim Betreten der Bank einen Schal über Mund und Nase gehabt, diesen aber beim Hinausgehen abgenommen, so daß ein Mann, der gerade in die Bank kam, sein Gesicht deutlich hatte sehen können.

Der Zeuge, ein Pizzabäcker aus Treviso, der in die Bank gekommen war, um seine Hypothekenrate zu bezahlen, hatte sich den Räuber genau ansehen können, und Brunetti hoffte, daß er ihn anhand der Fotos von Verdächtigen, die sie bei der Polizei zusammengestellt hatten, wiedererkennen würde. Das würde für eine Verhaftung und vielleicht auch für eine Verurteilung reichen. Dies war also Brunettis Vorhaben für den Vormittag.

Irgendwo in der Wohnung ging eine Tür auf, und sie hörten Raffis unverkennbar schwere, schlaftrunkene Schritte in Richtung Bad.

Brunetti nahm sich noch eine Brioche, überrascht, daß er um diese Zeit schon hungrig war. Normalerweise hatte er für Frühstück wenig Verständnis und noch weniger Sympathie. Während sie beide auf weitere Lebenszeichen aus dem hinteren Teil der Wohnung warteten, beschäftigten sie sich angelegentlich mit ihrem Kaffee und ihren Brioches.

[35] Brunetti war gerade fertig, als eine andere Tür aufging. Kurz darauf kam Chiara in die Küche getorkelt, eine Hand an den Augen, als müsse sie ihnen beim komplizierten Vorgang des Öffnens helfen. Wortlos schlurfte sie barfuß durch die Küche und setzte sich auf Brunettis Schoß, schlang einen Arm um seinen Hals und legte den Kopf an seine Schulter.

Brunetti legte beide Arme um sie und küßte sie aufs Haar. »Gehst du heute so in die Schule?« fragte er in völlig normalem Ton, wobei er das Muster auf ihrem Pyjama eingehend studierte. »Hübsch. Deine Klassenkameradinnen werden begeistert sein. Lufballons. Sehr geschmackvolle Ballons. Ich würde sogar fast sagen, schick. Der neueste Schrei, um den dich alle Zwölfjährigen beneiden werden.«

Paola senkte den Kopf und widmete sich wieder ihrer Zeitschrift.

Chiara drehte sich ein bißchen von ihm weg, um ihren Pyjama anzusehen. Bevor sie etwas sagen konnte, kam Raffi in die Küche, bückte sich, um seiner Mutter einen Kuß zu geben, und ging zum Herd, um sich aus der großen Moka Express eine Tasse Kaffee einzuschenken. Er tat heiße Milch dazu, kam an den Tisch, setzte sich und sagte: »Du hast doch hoffentlich nichts dagegen, daß ich deinen Rasierapparat benutzt habe, papà

»Wozu denn? Um dir die Fingernägel zu schneiden?« fragte Chiara. »In deinem Gesicht wächst jedenfalls nichts, wofür man einen Rasierapparat braucht.« Nach diesen Worten zog sie sich schnell aus Raffis Reichweite zurück und kuschelte sich fester an Brunetti, der sie durch den dicken Flanellstoff ihres Pyjamas tadelnd zwickte.

[36]