Über das Buch

Wir sind niemals auf dem Mond gelandet. Deutschland ist kein souveräner Staat. Und Angela Merkel ist Hitlers Tochter – oder doch ein Echsenmensch aus dem Weltraum? Verschwörungstheorien boomen, der Matsch steht uns bis zu den Knien, aber zum Glück haben zwei Männer Gummistiefel dabei: Christian Alt und Christian Schiffer begeben sich auf eine Reise in die Welt des Wahns. Zu Reichsbürgern, Flat-Earthlern und Freimaurern. Mitten unter uns. Ob im Internet oder im Teutoburger Wald. Sie erläutern, wie Verschwörungstheorien entstehen, wer an ihnen verdient und wie man den Wahnsinn stoppen könnte. Ein unterhaltsamer Trip durch ein paranoides Land. Und eine so originelle wie kundige Kampfschrift gegen Ressentiments und Halbwahrheiten.

Christian Alt
Christian Schiffer

Angela Merkel ist
Hitlers Tochter

Im Land der
Verschwörungstheorien

Hanser Berlin Verlag

Inhalt

1  Einleitung

2  Wir packen unsere Koffer

Unsere eigene Verschwörungstheorie

Warum die 90er für dieses Buch verantwortlich sind

3  Der erste Kontakt

4  Eine kurze Geschichte des kollektiven Wahns

Von mordenden Göttern, Christen und Juden

Let’s go crazy: Die Aufklärung

Die Illuminaten – Fakt und Fiktion

»Erschaffe deine eigene Realität« – die psychedelischen 60er

Die Top 5 Der Verschwörungstheorien,
No. 1: Mondlandung

5  Ist das Internet schuld?

Wir glauben an Fake News, die ins Weltbild passen

Vom Fernsehen zur Filter-Bubble

Die Geschichte einer Radikalisierung

Unter Aluhüten – wir machen uns die Hände schmutzig

Der Mann, der Hans Fuchs war

Interaktion sticht alles

Die Top 5 Der Verschwörungstheorien,
No. 2: Flache Erde

6  Vom Verschwörungstheoretiker zum Anti-Flat-Earthler

Im Auge des Bullshit-Orkans: Youtube

Loose Change

Raus aus dem Kaninchenbau

Verschwörungsglaube vs. Verschwörungstheorie

Die Rauchmelderverschwörung

Absurde Verschwörungstheorien:
eine Auswahl

7  Angela Merkel ist Hitlers Tochter – von Riesenbullshit und Fake News

Mehr Bullshit geht immer

Alles wird zum Fake

Mit Bims und Bums gegen Fake News

Angry people click more – Fake News aus Mazedonien

Lügen, Sex und Pizza

Opium fürs Empörungsvolk

Die Top 5 Der Verschwörungstheorien, No. 3: Die jüdische Weltverschwörung

8  Die neue deutsche Wende

Was wäre, wenn Deutschland eine GmbH wäre?

»Hallo, ich komme aus Deutsch«

Wolfgang P. besucht das Amt

»Den Vorgaben des Souveräns ist Folge zu leisten!«

Der nächste Breivik?

Die Jennerwein-Mentalität

Was, wenn die Reichsbürger recht hätten?

(._.)

9  Die Psychologie von Verschwörungstheorien

Skepsis ist keine Einbahnstraße!

Ockhams Prittstift

Auf dem Weg nach Bekloppthausen – von Numismatik und Apophänien

Jetzt macht alles Sinn!

Der Märchenonkel im Kopf

Take back control!

Kleine Punkte – das Intentionality Bias

Die Top 5 Der Verschwörungstheorien, No. 4: Die Impf-Lüge

10  Die Kunst des verzerrten Denkens – noch mehr Bias

Projection Bias

Proportionality Bias

Confirmation Bias

Zur falschen Zeit am falschen Ort

Ufos über Nizza

11  Die Opfer von Verschwörungstheorien

Im Shit-Tsunami

Der Hass ist echt

Du bist nicht allein

»Ich will mein Leben wieder«

Die Top 5 Der Verschwörungstheorien,
No. 5: Chemtrails

12  Von goldenen Vliesen, Aluhüten und Brettern

Die beste Verschwörungsfreundin

13  Der lange Weg nach Mordor

Wer ist David Icke?

8 Sekunden

Unsere neuen Freunde

14  Lasst uns eine Wissenspyramide bauen

Erstens: Das Fundament

Zweitens: Das Gerüst

Drittens: Die Spitze

Ab in die Eistonne

Danksagung

Weiterführende Literatur und Links

Register

Kapitel 1
Einleitung

Eigentlich hatten wir nie geplant, Aufklärer zu sein, keine Ritter für das Schöne, Wahre und Gute, entschlossene Abschmetterer des Bullshits da draußen. Wir wollten ganz sicher nicht mit zittrigen Fingern an Rauchmeldern herumfummeln, uns auf eBay halbseidene Facebook-Gruppen kaufen müssen und uns durch Foren irgendwelcher Reichsbürger wühlen. Eigentlich wollten wir unsere Ruhe, wir wollten vor der Playstation mit einer Tüte Flips abhängen und gelegentlich ein oder zwei Bier trinken gehen.

Natürlich hatten auch wir mitbekommen, dass da etwas im Gange war, dass immer öfter von sogenannten »Fake News« gesprochen wurde; dass es immer öfter hieß, die Leute würden heute jeden Unsinn glauben und dass man ja andererseits gar nicht mehr so richtig klar sagen könne, was das eigentlich sei, die Wahrheit. Dass da draußen der Kopp-Verlag hohe Umsätze mit »alternativen Wahrheiten« machte oder dass die reißerischen Bücher des ehemaligen FAZ-Redakteurs Udo Ulfkotte die Spiegel-Bestseller-Listen anführten.

Doch das alles interessierte uns damals nicht so richtig. Klar: Es gab Verschwörungstheorien, nur spielten die in unserer Welt keine Rolle. Verschwörungstheoretiker, das waren irgendwelche leichtgläubigen Vollhonks im Internet.

Und trotzdem fanden wir uns ein paar Monate später in einer Art Kaninchenbau wieder, in einer Halbwelt aus Paranoia, Halbwahrheiten, Ressentiments und Irrationalität.

Dass es so gekommen ist, dafür gibt es eine Schuldige: die Realität. Genauer: die analoge Realität. Denn in der digitalen Realität, dem Internet, waren wir ja schon längst durch ein Stahlbad an Bullshit gewatet und hatten deswegen über all die Jahre fein kalibrierte Bullshit-Detektoren herausgebildet. Wenn es hieß, dass kleine Katzen in Einmachgläsern gehalten werden, wenn wir wieder mal einen Kettenbrief weiterleiten sollten, weil der kleine Timmy ganz dringend eine Knochenmarkspende benötigte, wenn uns nigerianische Prinzen um Geld anpumpten, wenn Ronaldinho in einem angeblichen Amateurvideo Pingpong mit der Torlatte spielte oder Jan Böhmermann das deutsche Feuilleton narrte, immer schlug unser sechster Internet-Sinn zuverlässig an. Wir rochen Fakes und Hoaxes zehn Zentimeter gehen den Stream und hatten unseren Facebook-Algorithmus zudem über all die Jahre so erzogen, dass der schlimmste Bullshit gar nicht erst zu uns durchdrang; keine Nachrichten des Kopp-Verlags, keine Videos von Ken Jebsen und keine Theorien des Compact-Magazins verunstalteten unsere Timelines. Wir hatten sorgsam unsere Favoritenlisten angelegt, hatten uns liebevoll um unsere Twitter-Blocklisten gekümmert und dem Netz so nach und nach seine bullshitfreien Seiten abgetrotzt.

Doch dann schlug der Bullshit zurück, und zwar in der Kohlenstoffwelt. Auf Hochzeiten, beim Trinken mit der Thekenmannschaft, in der U-Bahn, beim Kartenzocken mit ehemaligen Klassenkameraden, in der Bäckerei, bei Kaffee und Kuchen mit entfernten Verwandten: Immer öfter wurden wir nun mit Bullshit konfrontiert, mit steilen Thesen und wirren Theorien, mit skurrilen Fakten und bizarren Überzeugungen. Da war die Großtante, die sich absolut sicher war, dass Chemtrails im Auftrag der US-Regierung alle vergiften wollten, da war der zweikampfstarke Linksaußen, der sich absolut sicher war, dass der 11. September ein »Inside-Job« war, und der mittlerweile pensionierte Deutschlehrer, der die Flüchtlingssituation für einen geheimen Plan zur Zerstörung des christlichen Abendlandes hielt. Im privaten Umfeld begegneten uns nun plötzlich dauernd Verschwörungstheorien, und dummerweise konnten wir die nicht schnell einfach so wegklicken. Man verwickelte uns in Diskussionen, konfrontierte uns mit alternativen Fakten und begann dann sogar damit, unser geliebtes Internet nach und nach mit Konspirativ-Content zu kontaminieren. Immer wieder bekamen wir nun Links zugeschickt zu regelrechten Bullshit-Veredelungsangeboten, auf denen der Quatsch mit halbseidenen Fakten angereichert und als ernst zu nehmende Nachricht serviert wurde.

Was man über uns wissen sollte: Wir sind zwei Übernerds. Christian Schiffer, das ist der Typ, der auf Partys nach ein paar Drinks immer in den »Verrückten Professor«-Modus schaltet und dann stundenlang von der Bundesligasaison 94/95, von Schumpeters Theorie der schöpferischen Zerstörung oder dem Computerspiel MadTV erzählt. Christian Alt wiederum ist ein regelrechter Virtuose in Sachen Exceltabellen, einer, der sich in so ziemlich jedes Thema hineinfuchsen kann, egal, ob es um Balkontomaten geht oder um Teilchenbeschleuniger. Gemeinsam waren wir schon auf einem 24-Stunden-Marathon in der Virtual Reality, haben uns durch das Dickicht der deutschen Computerspielbranche geschlagen und künstliche Intelligenzen an den Rand des Wahnsinns getrieben. Dann kam vor ein paar Jahren der Wendepunkt: Wir standen auf der Mad-Max-Party der Gamescom rum, umschwärmt von eingekauften Schauspielern in kettenbehangenen Lack-und-Leder-Outfits. Aber das interessierte uns nicht. Stattdessen redeten wir stundenlang über Zufallsbegegnungen mit Verschwörungstheoretikern, die immer häufiger zu passieren schienen. Wir zeigten uns auf unseren Smartphones zuerst die lustigsten Theorien. Dann die weniger lustigen. Und dann die rechtsextremen. Irgendwann kippte die Stimmung völlig. Was zur Hölle war nur mit den Menschen los?

Erst irritierte uns das alles, dann waren wir genervt, und irgendwann wurden wir sauer. Sahen die Leute denn nicht, was für einen Unsinn sie da verbreiteten? Wer zur Hölle glaubt denn bitte zum Beispiel, dass Obama ein Echsenmensch ist? Und was sind das für Menschen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass die Erde flach ist?

Es war, als wären wir auf der langweiligen Firmenfeier mal schnell eine rauchen gegangen – und als wir wiederkommen, gibt es auf einmal Pfeffi für alle, die Elke aus der Buchhaltung tanzt auf dem Tisch und der Manfred aus dem Controlling zeigt seine Sammlung von Nazi-Bierdeckeln.

Deswegen schreiben wir jetzt dieses Buch. Und da wir beide nun mal Christian heißen, verschmelzen wir jetzt für den Rest des Buch zu einem »wir«. Das ist wahrscheinlich auch gut so, denn die Entblödung der Welt, das ist kein Job für nur eine Person.

Wir haben damals nicht nur gemerkt, dass es weder der Großtante noch dem Linksaußen noch dem Deutschlehrer guttut, an Chemtrails, Inside Jobs und den großen Bevölkerungsaustausch zu glauben, sondern dass dieser schöne neue Wahn auch der Gesellschaft schadet. Verschwörungstheorien sind eben nicht mehr nur ein Popkultur-Ding wie in den 90ern, als wir jeden Dienstagabend im Pyjama vor der Glotze hingen und uns bei Akte X so sehr gruselten, dass uns manchmal die Flipstüte aus unseren zitternden Teenie-Händen glitt. Verschwörungstheorien werden jetzt wirklich geglaubt, und zwar auch solche, die den Drehbuchschreibern von Akte X niemals eingefallen wären.

Uns war klar geworden: Es ist wichtig, unterscheiden zu können zwischen Glaubwürdigem und Unglaubwürdigem. Es ist wichtig zu wissen, was Quatsch ist und was nicht. Es ist wichtig zu wissen, was sich ein gelangweilter ehemaliger Fußballprofi, der vielleicht zu viele Kopfbälle gemacht hat, ausgedacht hat (Reptiloide) und was durch seriöse Quellen belegt ist (NSA)?

Und so ziehen wir mit dem ganz großen Arsenal an Verschwörungsvertilungsmitteln in den Kampf gegen die Verdummung, mit Recherche, Lektüre, Experteninterviews und Selbstversuchen. Wir beginnen eine Reise an das Ende der Wahrheit, die manchmal anstrengend, kurios, Angst machend, heiter und traurig zugleich war – und die uns am Ende beinahe den Verstand gekostet hat.

Das hier ist ein Buch für die schweigende Mehrheit. Eine Mehrheit, die keine Lust mehr hat, über unbewiesene Fakten zu streiten. Der Matsch steht uns bis zu den Knien, und wir haben Gummistiefel dabei. Wir begeben uns hinein in das absurde Reich der Verschwörungstheorien, begegnen Verschwörungstheoretikern und hinterfragen die Mechanismen, die am Werke sind. Und versuchen so, sicher durch das Moor der alternativen Fakten zu waten.

Kapitel 2
Wir packen unsere Koffer

Hätten wir von Anfang an gewusst, wie schwer diese Reise ins Land der Verschwörungstheorien wird, wir wären sie wahrscheinlich nie angetreten. Was wir wollten, war so etwas wie der verschwörungstheoretische Kurztrip mit EasyJet. Einmal schön für 29€ mit Handgepäck an die Adria, ein bisschen an den Strand, ein bisschen in coole Clubs, ein paar Cevapcici auf Krk. Auf Verschwörungstheorien übertragen bedeutet das: Wir lesen uns Verschwörungswissen auf Wikipedia an, das wir dann dazu nutzen, um das Kartenhaus der irren Theorien mit einem gezielten Schlag zu Fall zu bringen. Wir packen unter die Verschwörungstheorien bei Youtube oder Facebook einfach unser Wissen, klären auf, dann kommen die alle schon wieder zur Besinnung.

Als ganz großen Coup haben wir uns etwas vorgenommen, was mit grenzdebil noch beschönigend beschrieben ist: Wir bauen unsere eigene Verschwörungstheorie, um zu zeigen, wie hirnrissig Verschwörungstheorien sind. Mit dem Veröffentlichen unserer eigenen Theorie wäre der Kurztrip dann vorbei, wir hätten gesiegt und würden uns verkatert, aber glücklich zum Flughafen schleppen. Dann ginge es nach Hause, wir könnten mit neuen Eindrücken prahlen und könnten auf Instagram zeigen, was für geile kosmopolitische Typen wir doch sind. #blessed.

Was wir bekamen, war eine Reise nach Mordor.

Unsere eigene Verschwörungstheorie

Unsere Reisevorbereitungen beginnen im Herbst 2016: Jeder entspannt sich im Biergarten, um die letzten warmen Sonnenstrahlen des Jahres abzugreifen, nur wir nicht: Wir sitzen zu Hause an einem schmucklosen IKEA-Beistelltisch und dilettieren zunehmend genervt an einem fünf Euro teuren Billo-Rauchmelder herum. Aber wir haben nun einmal Großes vor, eine eigene Verschwörungstheorie wollen wir kreieren, um der Welt da draußen zu zeigen, was eine Verschwörungstheorie so alles beinhalten muss, damit sie funktioniert. Dass das eine wahnsinnig dumme Idee ist, wissen wir damals natürlich noch nicht. Reichsbürger sind für uns damals bloß Spinner, die im Privatfernsehen vor die Kamera gezerrt werden, und von #pizzagate haben wir zwar schon gehört, aber Hillary wird in ein paar Wochen ja eh mit riesigem Abstand gegen diesen Reality-TV-Star gewinnen. Wir sind noch nicht Inhaber einer obskuren Facebook-Gruppe, wir sind noch nicht in Holland gewesen, um uns in die Geheimnisse der Echsenmenschen-Verschwörung einweihen zu lassen, und wir haben noch keinen blassen Schimmer, was das Wort »manichäisch« bedeutet. Was wir hingegen haben, ist ein bisschen Wikipedia-Wissen über ein paar All-Time-Classics: Bielefeld existiert nicht, die Mondlandung war gefakt, die Erde ist eine Scheibe, jaja danke, wirklich sehr interessant, aber das können wir auch.

Während wir da also aufgeregt in unseren Paul-Breitner-Gedächtnis-Anzügen in einem über das Zimmer verteilten Haufen Rauchmelderverpackungsmaterial sitzen, skizzieren wir einen groben Schlachtplan: Wir wollen ein möglichst authentisches Verschwörungsvideo anfertigen, dann stellen wir den Clip bei Facebook rein und auch bei Youtube, dann teilt es irgendwer, dann teilt es noch irgendwer, dann teilen es noch mehr Leute, dann berichten einschlägige Blogs darüber, dann geht das Ganze auf Reddit, dann berichtet VICE darüber, dann berichtet Bento darüber, dann berichtet Buzzfeed darüber, dann berichten etablierte Qualitätsmedien darüber, dann empören sich die einschlägigen Blogs über die Qualitätsmedien und die etablierten Medien empören sich über die einschlägigen Blogs, VICE, Bento und Buzzfeed berichten dann wiederum über alles, und nach und nach reift das Ganze so zu einem medialen Clusterfuck von beachtlicher Größe heran. Und dann? Dann endlich kommen wir! Denn endlich kommen wir auf perlweißen Einhörnern dahergeritten und verkünden der überraschten Öffentlichkeit, dass wir alle nur verarscht haben, dass alles nur ein großer Spaß war. Alter Schwede, wie man uns ausgebuffte Medienprofis dann aber monatelang als abgebrühte Investigativ-Dandys abfeiern wird!

Ein paar Jahre ist es nun her, dass ein blasser, bebrillter Systemadministrator die Welt darüber aufgeklärt hat, dass die Totalüberwachung der digitalen Welt eben keine Verschwörungstheorie ist, denn natürlich gibt es sie, die Verschwörungstheorien, die sich als wahr herausgestellt haben: MK Ultra, das geheime Forschungsprogramm der CIA zur Bewusstseinskontrolle, Watergate, die Ausbildung von Guerilla-Truppen mitten in Europa namens »Gladio«; zur Zeit der Prohibition bringt das FBI vergifteten Alkohol in Umlauf, um den Schwarzbrennern eins auszuwischen: Auch das gilt zunächst als Verschwörungstheorie, aber es ist keine, ca. 400 Menschen sterben damals. Daran müssen wir denken, als wir überlegen, welche Ingredienzien unsere Verschwörungstheorie enthalten soll, damit sie den Aluhüten da draußen so richtig schön mundet. Eine Sache, die uns offensichtlich erscheint: Ein wahrer Kern wäre gut, zu abgehoben darf es nicht zugehen, also nichts von wegen der Mond ist in Wirklichkeit ein gigantisches Hologramm oder unter dem Flughafen von Denver liegt der Bunker der Weltelite, diese beiden Verschwörungstheorien gibt es außerdem ja schon. Wir wollen etwas Bodenständiges erschaffen, konspirative Hausmannskost für Otto-Normal-Aluhut sozusagen, wir wollen so etwas wie die Jogginghose unter den Verschwörungstheorien kreieren: eine Theorie, wegen der man vielleicht etwas schief angeschaut wird und in der Kneipe nicht mehr anschreiben darf, wegen der man aber nicht gleich vor die Tür gesetzt wird. Und dann entwickeln wir das DEFCON-System, das Defence-Conspiracy-System, das genauso funktioniert wie das DEFCON-System der US-Armee. Mit fünf Kategorien, nach denen Verschwörungstheorien klassifiziert werden:

DEFCON 5:

Zu DEFCON 5 gehören Verschwörungstheorien, bei denen einiges dafür spricht, dass es gar keine Verschwörungstheorien sind: Oktoberfestattentat, Barschel-Suizid, der »Selbstmord« von König Ludwig II. (da hatte doch bestimmt der preußische Geheimdienst seine Finger im Spiel!), vielleicht auch der Tod von Marilyn Monroe, da sind wir uns nicht so ganz einig.

DEFCON 4:

DEFCON 4 rufen wir bei populären Mainstream-Verschwörungstheorien aus: bei JFK, 9/11 oder, da sind wir uns eben nicht ganz einig, bei Marilyn Monroe.

DEFCON 3:

Ein Fall für DEFCON 3 ist all das, was schon ziemlich bekloppt ist, das aber unser leicht verschrobener Großonkel oder dieser weirde Mathelehrer mit dem unkontrolliert vor sich hin wuchernden Backenbart aus der 11. Klasse auch noch glauben könnte: Chemtrails, Impf-Lüge und so ziemlich alles mit George Soros.

DEFCON 2:

DEFCON 2 ist schon eine recht kritische Situation, da muss man dann schon Nerven bewahren und schnell seine Dummfug-Deflektorschirme hochfahren, denn hier geht es schon sehr skurril, bizarr und verschwurbelt zu: Reptiloide, flache Erde, hohle Erde, flach-hohle Kombi-Erde.

DEFCON 1:

Bei DEFCON 1 schließlich ist Alarmstufe Rot angesagt, und die tritt ein bei BRD GmbH, Bevölkerungsaustausch, New World Order und allgemein Nazi-Kram.

Wie einigen uns schnell darauf, dass unsere Verschwörungstheorie eine DEFCON-2-Verschwörungstheorie werden soll, vielleicht auch DEFCON 3.

Unsere Verschwörungstheorie geht so: Seit einiger Zeit gilt in immer mehr Bundesländern die sogenannte »Rauchmelderpflicht«. Neubauwohnungen, aber oftmals auch Bestandswohnungen, müssen mit einem »Rauchmelder« ausgestattet werden. Begründet wird diese Zwangsmaßnahme vordergründig damit, dass angeblich 500 Menschen im Jahr bei Feuern ums Leben kommen. In Wirklichkeit geht es aber natürlich darum, die bundesdeutsche Bevölkerung zu überwachen – und zwar flächendeckend. Jedes Bundesland hat eigene Regelungen verabschiedet, die »Rauchmelderpflicht« soll also nicht auf einen Schlag eingeführt werden, sondern perfiderweise schleichend, um nicht den Argwohn der Bevölkerung hervorzurufen. Diese ausgeklügelte Strategie der Deutschland GmbH ist lange Zeit aufgegangen, doch bald werden die Menschen aufwachen, denn jetzt kommen wir! Genauer: Jetzt kommt ein total verwackeltes und schlecht beleuchtetes Handyvideo, in dem jemand mit zittrigen Fingern an einem Rauchmelder herumfummelt, um ausgesprochen grobmotorisch und umständlich den vermeintlichen Überwachungssensor rauszulöten. Unser Video ist jetzt nämlich schon halb fertig, und es wird entscheidend dazu beitragen, dass unsere Verschwörungstheorie Marke Eigenbau schon bald abgeht wie ein Mossad-Kantinenschnitzel, das zumindest ist so klar wie ein chemtrailfreier Frühlingshimmel in der Jungsteinzeit.

Einer der Gründe, warum wir damals noch so naiv waren, ist unsere eigene Geschichte. Wir sind beide in den 90ern groß geworden und ganz ehrlich: Es gab damals nichts Geileres als Verschwörungstheorien – und ein bisschen vermissen wir diese naive Fin-de-siècle-Mentalität auch heute noch. Bevor wir beginnen, unsere Koffer für die Reise zu packen, müssen wir uns erst mal klarmachen, wie viel persönliches Gepäck wir so mit uns rumschleppen.

Warum die 90er für dieses Buch verantwortlich sind

Wir haben viel gelacht über die Ewiggestrigen, über die, die wollen, dass alles wieder so wird wie früher. Die sich in eine Zeit zurückwünschen, in der Deutschland noch BRD hieß. In der man noch mit D-Mark bezahlt und man nach Feierabend ein Herrengedeck runtergekippt hat, statt einen Vanille-Latte mit Sojamilch. Eine Zeit, in der Zigeunerschnitzel noch Zigeunerschnitzel heißen durfte, Fips Asmussen das Fernsehen dominierte und Kneipen noch diesen einmalig prickelnden Teppich aus kaltem Rauch, abgestandenem Bier und Urin hatten, der sich beim Betreten auf der Zunge ausrollt.

Aber wenn wir ganz ehrlich sind, werden auch wir öfter nostalgisch. Besonders dann, wenn wir an die 90er denken. Denn die waren die goldene Zeit harmloser Verschwörungstheorien in der Popkultur.

Wir ertappen uns beim Schreiben dieses Buchs immer wieder dabei, wie wir uns in diese magische Verschwörungszeit zurückflüchten. Denn Verschwörungstheorien haben damals noch Spaß gemacht. Es gab keine Chemtrails, keine flache Erde, sogar die jüdische Weltverschwörung hat für zehn süße Jahre mal nicht herumverschwört. Stattdessen sahen wir Scully und Mulder auf unserem Röhrenfernseher dabei zu, wie sie bei Akte X einer gigantischen Verschwörung auf der Spur waren. Wir wussten: Die Wahrheit, die ist irgendwo draußen. Weit draußen. Es ging um Außerirdische, um medizinische Experimente und um eine ganze Menge Schwachsinn. Wir haben mitgefiebert, als in Staffel 2 eine Teenagerin versuchte, den brutalen satanistischen Ritualen ihres Lehrers zu entkommen. Oder als in Staffel 3 ein Killer seine Opfer durch Telepathie zum Selbstmord trieb. Oder als sich in Staffel 1 das Monster Eugene Tooms durch enge Schächte quetschte, um die Leber von nichts ahnenden Büroangestellten zu fressen. Wir waren von Anfang an dabei, die eine Hand in der Flipstüte, die andere an der Kinnlade, die sich einfach nicht mehr schließen wollte. ProSieben, der Sender, auf dem damals Akte X lief, arrangierte sein ganzes Programm rund um Akte X. Der Montag wurde plötzlich zum »Mystery-Montag« umgebaut, nach Akte X lief Outer Limits, wo es auch um Aliens, geheime Regierungsprogramme und jede Menge anderen Quatsch ging.

Bis heute hält sich hartnäckig das Gerücht, dass ProSieben alleine für den Genre-Begriff der »Mystery« verantwortlich ist. Akte X trat damals eine beispiellose Welle an Mystery-Geschichten los. Plötzlich mussten überall Aliens vorkommen oder verrückte Wissenschaftler. SAT.1 produzierte damals eine 25-teilige (!) Fernsehserie mit Erich von Däniken: Auf den Spuren der All-Mächtigen. Und genau wie bei Akte X saßen wir auch hier gebannt vor der Glotze. Was von Däniken damals behauptete, war für uns nicht etwa Bullshit, es war spannendes Geheimwissen. Es war eine Zeit, in der wir zwei Geschichtslehrer hatten: den in der Schule, der uns langweilige Dinge über die Goldene Bulle, den Augsburger Religionsfrieden oder den Untergang der Römischen Republik erzählte (wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge). Und dann Erich von Däniken. Er erzählte uns von Prä-Astronauten, von Aliens, die die Erde besucht haben und sich mit Menschenaffen gepaart haben, was die ersten Menschen hervorbrachte, nicht etwa die Evolution. Mit den Millionen, die von Däniken in diesen Jahren verdient hat, wird er später einen Mystery-Freizeitpark bauen – der leider nach drei Jahren wieder schließen muss.

Erich von Däniken war für uns damals ein Held. Genau wie Mulder oder Scully. Wir haben alles geglaubt. Alles. Quer über alle Sender hinweg hat sich bei uns damals der Eindruck verfestigt: Es gibt mehr in der Welt, als uns gesagt wird. Die Theorie konnte noch so bekloppt sein, wir dachten (und es sollte vielleicht betont werden, dass wir damals noch sehr, sehr jung waren): »Wer weiß, vielleicht ist da ja was dran? Mit dem Mauerfall hat ja auch niemand gerechnet, dann gehen ein paar Leute montags spazieren, jemand verspricht sich bei einer Pressekonferenz, und zack, haben wir an Weihnachten eine merkwürdige Verwandte unterm Baum sitzen.«

Es waren nicht nur Aliens oder Prä-Astronauten, die uns begeistert haben. Wir waren auch fest davon überzeugt, dass die CIA jede Menge Dreck am Stecken hat. Und zum Beispiel auch für den Mord an JFK verantwortlich war. Dass Lee Harvey Oswald gar nicht der einzige Schütze gewesen sein kann, beweist uns Oliver Stone in seinem Film »JFK – Tatort Dallas«, der 1992 in die Kinos kommt: drei Schüsse in 15 Sekunden? Aus einem spitzen Winkel? Mit einem Baum dazwischen? Also, bitte!

Verschwörungstheorien hatten etwas Spielerisches. Wie beim Quartett haben wir uns auf dem Schulhof auszustechen versucht. »Die CIA hat JFK umgebracht« schlägt »Nazis sind auf der dunklen Seite des Monds« und wird wiederum von »Die Mondlandung war gefakt« geschlagen. Die Erde ist flach, Stich!

Die 90er waren eine naive Zeit, in der man Spaß haben wollte: zunächst am Mystery-Montag und danach in seiner Kuhfleckenhose beim Raven. Die 90er sind die logische Fortführung der 60er – das Individuum stand über allem. 50 Jahre Kalter Krieg mitsamt ideologischer Lagerbildung waren über Nacht verpufft. Anything goes. Verschwörungstheorien gehörten zum cool-ironischen Großstadtleben genauso dazu wie der Golf III in der Bon-Jovi-Edition.

Schützenhilfe für dieses neue geile und freie Leben kam damals ausgerechnet von den Universitäten. In den 90ern haben sich die französischen Philosophen der Postmoderne flächendeckend durchgesetzt. Keine WG-Küche kam mehr ohne Poster von Michel Foucault aus. Der glatzköpfige Superphilosoph stand an der vordersten Front einer ganzen Philosophie-Bewegung, deren Ziel es war, alles überkommene Wissen zu zerlegen und wieder neu zusammenzusetzen. Die postmodernen Philosophen haben – genau wie ihre Kollegen aus der Aufklärung – mit vielem vermutlich recht gehabt: Die Zeit der großen Erzählungen ist vorbei, Menschen sind nicht rational. Aber: Ihre Denkschule hat auch die Schleusen für jeden möglichen Quatsch geöffnet. So sagte Jean Baudrillard, die Nummer zwei der postmodernen Philosophen, dass »Wahrheit kaum existiert«. Sie sei ein Produkt, das von gesellschaftlichen Akteuren hergestellt wird: Und Wissenschaftler, Journalisten, Augenzeugen sind nie wirklich objektiv. Sie alle schleppen eine ganze Menge an persönlichen Vorurteilen und Vorannahmen mit sich rum, die zu jeder Zeit durchschlagen. Deswegen gibt es DIE Wahrheit nicht, sondern nur viele verschiedene Wahrheiten. Das ist alles schön und gut und funktioniert, solange wir uns als Gesellschaft trotzdem auf bestimmte Wahrheiten einigen können. Ein Baum hat ja trotzdem grüne Blätter, auch wenn der Biologe, der ihn betrachtet, farbenblind ist. Aber was wir gerade erleben, ist, dass sich Leute wie Steve Bannon schamlos und mit fataler Wirkung aus dem postmodernen Werkzeugköfferchen bedienen: Sie werfen mit alternativen Fakten um sich und betonen, dass Narrative viel wichtiger seien als die schnöde Wahrheit.

Dass unser verklärter Blick auf die 90er falsch ist, fällt uns erst bei unseren Recherchen auf. Denn während wir in den 90ern absurde Verschwörungstheorien abgefeiert haben wie die neue CD von Weezer, wächst irgendwo in der Verschwörungsmelange ein großes Problem heran. Gerade in den 90ern kippen Verschwörungstheorien von etwas Harmlosem zu etwas Gefährlichem – und schuld sind mal wieder die Illuminaten.

Man kennt das Klischee aus Filmen: Der Aluhut steht in seiner Wohnung vor einer riesigen Wand, voll mit ausgeschnittenen Zeitungsberichten, Fotos, Karten usw. Dann erklärt er dem Helden seine abgefahrene Theorie, mit einem roten Faden hat er die einzelnen Punkte verbunden; während er spricht, zittert sein rechtes Auge. »Behold a Pale Horse« von Bill Cooper ist das Buch-Äquivalent zu dieser Kino-Verschwörungswand: als hätte die Putzfrau eines Tages die Schnauze voll gehabt, alle Reißnägel entfernt und sämtliche Fotos und Artikel auf einen Stapel geworfen. Das aus dem Stapel entstandene Buch ist »Behold a Pale Horse«, eine obskure Sammlung an allem möglichen Quatsch. Aber als es 1991 erscheint, sorgt es für Furore. Es trifft einen Nerv. Und zwar aus mehreren Gründen. Da wäre zum einen die Geschichte, die Cooper erzählt. Die liest sich heute wie die direkte Inspiration zu Akte X. Bill Cooper berichtet aus seiner Zeit in der Navy: Irgendwann sieht er, stationiert auf einem Boot im Pazifik, plötzlich ein riesiges Ufo. Ein Ufo so groß wie ein Flugzeugträger. Er erstattet seinem Vorgesetzten Bericht, der Cooper sagt, er soll den kompletten Vorfall vergessen. Und weil er diesem Befehl folgt, wird er als Belohnung in die ganze Geschichte eingeweiht: 1947 legte ein außerirdisches Ufo in New Mexico eine Bruchlandung hin. Es wird nicht das letzte gewesen sein, in den 50ern stürzten noch einige mehr ab, bevor die Aliens irgendwann formalen Kontakt mit dem US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower aufnahmen. Und Überraschung: Es war nicht nur eine Alien-Rasse, die hier landete, sondern gleich zwei! Und sie hassten sich. Eisenhower machte einen Deal und erlaubte den Aliens, in New Mexico eine geheime Alienbasis zu bauen. Finanziert wurde der Bau durch – wie sollte es auch anders sein – den Drogenhandel der CIA. Der US-Präsident, der beim Erscheinen des Buchs das Weiße Haus bewohnte, George H.W. Bush, steckt nun, früher einmal Chef der CIA, natürlich mit den Aliens unter einer Decke. Die Kooperation mit den Aliens geht sogar so weit, dass ab den 1980er-Jahren ausgewählte Wissenschaftler auf den Heimatplaneten mitfliegen durften.

Coopers Buch ist konfus, abenteuerlich und bescheuert. Er zitiert etwa aus den »Protokollen der Weisen von Zion«, sagt aber, dass man das Wort »Jude« durch »Illuminat« ersetzen müsse. Zack, fertig ist der Molotowcocktail unter den modernen Verschwörungstheorien. Denn die wahren Herren, das seien ja schon immer die Illuminaten gewesen. Die Illuminaten sind die wahren Strippenzieher. Sie stecken hinter Hitler und Stalin, hinter den Jesuiten und Freimaurern, hinter dem Geheimtreffen der Weltelite bei der Bilderberg-Konferenz und dem Vatikan sowieso. Und sie stecken auch mit den Aliens unter einer Decke, um die – Achtung – neue Weltordnung ins Leben zu rufen.

Die New World Order (NWO) ist heutzutage so etwas wie der Endgegner aller, die es mit Verschwörungstheoretikern aufnehmen wollen. Sie besagt in würdevoller Schlichtheit: Eine kleine Super-Elite bestimmt in abgedunkelten Zimmern über unser Wohl und Wehe. Sie entscheidet Kriege, bestimmt, wer ins Kanzleramt und ins Weiße Haus einzieht, und ist sogar daran schuld, dass die Butterpreise so hoch sind. Und wenn man ganz genau hinhört, merkt man, dass mit NWO eigentlich auch immer die Juden gemeint sind. Die »jüdische Weltverschwörung« heißt heute eben NWO.

Dieses kleine Büchlein von Bill Cooper ist dafür verantwortlich, dass die Theorie der neuen Weltordnung in den Mainstream überschwappt. Und zwar mithilfe der Aliens und Illuminaten. Vor »Behold a Pale Horse« war es nämlich so, dass nur extrem rechte Randgruppen an die Idee einer ultimativen Weltverschwörung glaubten. Cooper machte diese der »Generation Akte X« schmackhaft. Und nicht jeder von ihnen ersetzte in den »Protokollen der Weisen von Zion« »Jude« durch »Illuminat«.

Wenn wir unseren neuen Job, Aufklärer für das Gute zu sein, damals ernst genommen hätten, wir hätten noch ein bisschen weiterrecherchiert. Wir wären in die Bibliothek gegangen, hätten mit Experten gesprochen und uns durch Fachartikel gequält, warum bestimmte Theorien nicht stimmen können. Unser Reisegepäck hätte dann kaum in drei große lederbeschlagene Reisetruhen gepasst. Stattdessen denken wir, nachdem wir unsere Verschwörungstheorie gebaut haben: Fuck it, das kriegen wir schon hin.

Kapitel 3
Der erste Kontakt

Wir, die selbst ernannten Aufklärer, machen uns sofort auf den Weg. Wir wollen raus in die Welt, wir wollen mit Verschwörungstheoretikern sprechen, sie davon überzeugen, dass sie im Unrecht sind. Wir stellen uns das vor, als würde man eine kleine Partei gründen. Ganz langsam fängt man da an, indem man auf dem Supermarktparkplatz Flyer an Menschen verteilt, die gerade echt Besseres zu tun haben. Dann kommt das Upgrade: der erste Parteitag im Hinterzimmer einer verrauchten Kneipe. Kommunalwahl, Landtagswahl, Bundestagswahl, Europawahl. Wir wollen Teil einer Jugendbewegung sein! Ein Gespenst geht um in Europa! Es ist das Gespenst der Aufklärung!!!

Aber nicht so vorschnell. Noch gammeln wir ja immer noch auf dem gedachten Supermarktparkplatz rum, in der linken Hand eine Leberkässemmel, in der rechten unsere Flyer. Noch haben wir keinen Verschwörungstheoretiker gefunden, den wir im Einzelgespräch umpolen könnten. Bis sich unsere Bekannte Sara meldet.

»Mein Vater ist Rentner und verbringt sehr viel Zeit vor dem Rechner. Da kommt er dann von der einen Seite auf die nächste, auf das nächste Youtube-Video, auf die nächste Theorie.«

Sara macht sich Sorgen. Ihr Vater, der sein ganzes Leben lang immer für das Gute gekämpft hat, ein Alt-68er, der bei den Jusos war und auf Demos, der glaubt plötzlich an Verschwörungstheorien. Er ist in den Kaninchenbau der Verschwörungen eingestiegen und kommt alleine nicht mehr raus. Über jedem Treffen von Sara und ihrem Vater hängt der Schleier der Verschwörer, jedes Mal gibt es Streit. Er wirft ihr vor, sie sei gehirngewaschen von den Mainstream-Medien, will sie überzeugen, ihr die Welt erklären. Wie Väter das nun mal so an sich haben. Inzwischen leben beide auf verschiedenen Informationskontinenten. Quatsch, in verschiedenen Informationsuniversen. Auf der einen Seite steht Sara, die die Tagesschau guckt und die SZ liest. Auf der anderen ihr Vater, der sich lieber im Internet informiert. Auf Seiten wie Global Research, die weder richtig global noch Resarch ist, sondern glaubt, dass im Westen Medien und Regierungseliten unter einer Decke stecken. Oder RT Deutsch, die ungefähr dasselbe glauben wie Global Research, mit dem Unterschied, dass sie von der russischen Regierung finanziert werden. Und natürlich: Ken Jebsen, der mal beim RBB gearbeitet hat und heute vor allem den Youtube-Kanal KenFM betreibt, wo er über Israel schimpft und Russland preist. Ihr Vater ist wiederum überzeugt, dass das, was er sich im Internet-Selbststudium beibringt, stimmt. Denn es steht ja auf so vielen Seiten.

Sara betont immer wieder, dass ihr Vater kein Hardcore-Verschwörungstheoretiker ist. Niemand, der an die flache Erde oder Reptiloide oder die jüdische Weltverschwörung glaubt. Stattdessen hat er nur mal seinen großen Zeh ins Meer der Verschwörungstheorien gehalten. Aber das reicht schon. Ein normales Familienleben ist gerade nicht mehr möglich, weil man auf jeder Feier, bei jedem Ausflug, bei jedem Nachmittagskaffee irgendwann auf die Themen kommt, die beide auf die Palme bringen: 9/11; die USA haben den IS aufgebaut; die Macht der Rothschilds. Während Sara früher noch mit Argumenten dagegenhielt, hat sie das inzwischen aufgegeben. Sie hat ihm immer mal wieder Links geschickt, mit Artikeln von Tages- und Wochenzeitungen. »Ich glaube, wenn er es anklickt und es steht irgendwie, weiß ich nicht, Süddeutsche, Spiegel oder irgendwas da, also das, was er als ›Systemmedien‹ sieht, dann liest er gar nicht weiter und sagt direkt: Ja, damit brauchst du mir nicht kommen.«

Heute schickt sie keine Links mehr. Er hingegen schon. Vielleicht weil es so ganz alleine im eigenen Informationsuniversum dann doch sehr einsam ist. Sara will aber nicht in sein Universum, sie will da bleiben, wo sie ist. In unserer Realität.

Es ist ein milchiger Herbstmorgen, als wir bei Saras Vater klingeln. Die Welt draußen hat die Umstellung auf Winterzeit noch nicht verkraftet: Niemand ist auf der Straße. Leere Supermärkte, leere Dönerbuden, leere Tchibo-Filialen. Wir haben uns mehr oder weniger selbst eingeladen, und zwar aus mehreren Gründen. Da wäre zuerst mal der egoistische: Wir wollen mit Verschwörungstheoretikern reden, wollen wissen, wie sie ticken. Und da ist einer, der noch nicht so tief im Kaninchenbau steckt, gerade richtig. Und der nicht so egoistische Grund: Wir glauben, dass wir den beiden helfen können. Wir sind Mediatoren, zwar ohne Ausbildung oder jegliche andere Qualifikation, aber wir haben Talent. Außerdem glauben wir, dass es gar nicht so schwer sein wird, einen Verschwörungstheoretiker umzuprogrammieren. Hey, wenn wir in einer Sache richtig gut sind, dann ist es Selbstüberschätzung.

Unsere Idee: Wir klingeln da jetzt, und dann renken wir das schon wieder ein. Wir sind ja gut vorbereitet! Auf der Fahrt hierher haben wir uns noch mal in die Verschwörungstheorien eingelesen, an die Saras Vater glaubt. Die Rothschild-Verschwörung: totaler Bullshit, die Familie Rothschild ist schon seit Ewigkeiten kein Finanzgigant mehr, sondern besitzt im Vergleich zu Bill Gates, Mark Zuckerberg und Jeff Bezos wirklich nur Peanuts. Die USA stecken hinter dem IS: auch wenn die Lage in Syrien sehr kompliziert und die Außenpolitik der USA kein Ruhmesblatt ist: Nein, so einfach ist es dann doch nicht. 9/11 war ein Inside Job: puh … da müssen wir weiter ausholen, lesen Sie das am besten auf Wikipedia nach.

Unsere Strategie: gnadenloses Debunking. Debunking ist so ein Wort, das man in der Skeptikerszene immer wieder hört. Es kommt von »Bunk«, eine altertümliche Formulierung für Bullshit, die niemand mehr benutzt – mit Ausnahme von Pfeife rauchenden Englischprofessoren, die beim Scrabblespielen mal richtig abräumen wollen. »Debunken« ist also so etwas wie »Entbullshiten«: Wenn jemand an falsche Fakten glaubt, dann muss man ihm einfach nur die richtigen Fakten vorlegen. Und weil alle Menschen edel, hilfreich und gut sind, werden sie ganz bestimmt erkennen, dass sie falschliegen. Weil Debunking eine so naheliegende Strategie ist, ist sie auch immer der erste Versuch, wenn man sich mit Verschwörungstheoretikern streitet. Du sagst, 9/11 war ein Inside Job? Hier ist meine Zusammenfassung eines 3000-Seiten-Berichts, der beweist, dass du keine Ahnung hast. Lies das erst mal, bevor wir hier weiterreden, Freundchen! Beim Debunking wird Klugscheißertum zur Waffe.

Wer jetzt eins und eins zusammenzählen kann, der wird ahnen, dass diese Strategie bei Saras Vater nicht funktionieren wird. Wahrscheinlich hat sie noch nie bei irgendjemandem was gebracht. Debunking führt nämlich in der Regel nur dazu, dass die Gräben noch tiefer werden. Dass man abends stinksauer ins Bett geht, weil der andere mal wieder nicht zuhören wollte, man sich aber trotzdem auf die Schulter klopft, weil man ja auf der richtigen Seite der Geschichte steht. Aber wir wussten das damals noch nicht. Wir haben uns knallhartes Verschwörungswissen draufgeschafft. Wir sind zwei Erzengel Gabriel, die die frohe Botschaft in alle Lande tragen. Fürchtet euch nicht, denn wir waren auf Wikipedia!

Und natürlich haben wir verdammt viele Vorurteile. Verschwörungstheoretiker kennen wir bisher nur aus dem Internet – bei einem geklingelt haben wir noch nie. Wir fragen uns, wie so ein Verschwörungstheoretiker wohl lebt. Wie viele »I want to believe«-Poster an der Wand hängen, wie viele handsignierte Erstausgaben von Udo Ulfkottes Bestseller »Gekaufte Journalisten« im Regal stehen. Werden wir uns vor Betreten der Wohnung Aluhüte anziehen müssen?

Das ist natürlich alles Unsinn. Als uns Saras Vater die Tür aufmacht, stehen wir vor einem freundlich dreinschauenden älteren Herrn. »Hallo, haben Sie Zeit, mit uns über Verschwörungstheorien zu reden?« Die Wohnung ist so normal, sie könnte von Tine Wittler eingerichtet worden sein. Im Flur stehen große Regale, überall sind Bücher. Die schwarze Katze streunt herum und maunzt uns leise zu. Wir setzen uns alle an den Küchentisch, auf dem ein paar Bücher liegen und ein kleines Netbook mit einer Mini-USB-Maus. Das Tor zur Welt, auf diesem Netbook liest Saras Vater, was die Eliten jetzt schon wieder alles planen. »Kaffee?« Nein, danke. Wir sind hier, um ein hartes Gefecht der Ideen zu führen. Draußen vor der Tür haben wir noch mal genau überlegt, wie wir auf die Verschwörungstheorien reagieren wollen. Wie wir argumentieren. Wie wir irgendwann unser Seil rausholen und Saras Vater aus dem Loch ziehen, das er sich geschaufelt hat. Wir sind darauf vorbereitet, dass er kaum aus seinem Schildkrötenpanzer herauswill.

»Sie haben ja lange nicht gewusst, ob Sie dieses Interview machen sollen«, sagen wir.

»Nee, wieso? Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Ähm…« Wir haben noch nicht mal die erste Frage gestellt und schon verkackt. Später gehen wir noch mal alle Mails durch, hören uns noch mal an, was genau Sara gesagt hat, und stellen fest: An keiner Stelle hat er sich geziert, interviewt zu werden. Da kommt die Systempresse einmal nach Hause und schafft es noch nicht mal zur ersten Frage, ohne zu lügen. Sehr peinlich. Aufklärer für das Schöne, Gute und Wahre zu sein ist nun mal nicht ganz so einfach, wenn man Vorurteile hat. Apropos Vorurteile: Saras Vater unterläuft sie fast alle. Wir haben uns einen grummeligen alten Verschwörungstheoretiker vorgestellt, wie er in den 90ern oft im Fernsehen zu sehen war. Ein bisschen zottelige Haare, der viele wirre Theorien im Mund führt und in jedem dritten Satz von den »Eliten« und »Kontrolle« spricht.

»Wollen Sie dann ein Wasser?«

»Nein, danke.«

Auch alles Quatsch. Saras Vater ist ein unglaublich netter alter Herr. Jemand, hinter dessen Augen man immer ein kleines Lächeln vermutet. Jemand, der nur die Hälfte dessen glaubt, was er liest. Und jemand, dem es sehr wehtut, dass das Verhältnis zur Tochter nicht mehr so gut ist wie früher.

Im Internet kann man stundenlang mit Verschwörungstheoretikern streiten. Man kann sich Kommentare und Artikel und Videos um die Ohren hauen, bis das Notebook glüht. Sitzt man dann aber an einem kalten Herbsttag mal einem Verschwörungstheoretiker gegenüber, ist plötzlich alles anders. Die harten Bandagen, mit denen wir kämpfen wollen, die kommen nicht zum Einsatz. Wir scheitern auf ganzer Linie, auch mit dem Debunking. Saras Vater hat für jeden Einwand ein Gegenargument bereit. Es kommt dann so was wie:

»Ich habe sogar ein schriftliches Papier mir ausgedruckt. Ein Bericht vom amerikanischen Geheimdienst für Obama, in dem der Krieg in Syrien als konfessioneller Krieg dargestellt worden ist. Von Schiiten und Sunniten.«

So schnell sind noch nicht mal wir Wikipedia-Engel. Unser tolles Internet-Klugscheißertum, mit dem wir seit Jahren ziemlich gut fahren, findet hier sein Ende. Wir sind keine Experten für den Krieg in Syrien. Zu den Religionskonflikten zwischen Schiiten und Sunniten fällt uns schon was ein, aber eben nicht viel mehr als anderen Normalos auch. Sollten Sie jemals bei Günther Jauch auf dem Stuhl sitzen und es geht in der Millionenfrage um die Hintergründe des Kriegs in Syrien: Bitte rufen Sie uns nicht an! Und erst recht sind wir keine Experten, wenn es darum geht, Geheimpapiere der CIA auf ihre Echtheit zu überprüfen. Wir sind nicht Jason Bourne, verdammt.

Ganz arg wird es, als Saras Vater seine Bücher rausholt. Einen ganzen Stapel hatte er beiseitegeräumt. »Wir sind die Guten: Ansichten eines Putinverstehers oder wie uns die Medien manipulieren« von Mathias Bröckers und Paul Schreyer. »Gekaufte Journalisten« von Udo Ulfkotte. »Ich glaube, der ist ein bisschen rechts«, meint Saras Vater. »Wer beherrscht die Welt« von Noam Chomsky (»ein humanistischer Leuchtturm, finde ich«). Aus dem anderen Informationsuniversum ist inzwischen auch ein anderes Medienuniversum geworden. Mit Playern wie dem Kopp-Verlag, die – wenn man einem Artikel der FAZ glauben kann – einen Jahresumsatz von 10 Millionen Euro machen. Es sind Bücher, an denen nicht alles erfunden ist. Sie sind gerade so »falsch«, dass es nicht gelogen ist. Udo Ulfkotte – Gott hab ihn selig – macht das sehr geschickt. In »Gekaufte Journalisten« dreht er Studien und Forschungsergebnisse gerade so, dass es möglichst schlecht für die etablierten Medien aussieht. Klar, Journalisten machen Fehler, manchmal recherchieren sie auch schlecht – aber eine groß angelegte Verschwörung, Systempresse oder Manipulation steckt dahinter nicht. Wenn man hier jetzt debunken wollen würde, müsste man ganz tief reingehen, bis runter zur letzten Fußnote. So gut vorbereitet sind wir dann doch nicht, und wenn wir es wären, würde uns keiner zuhören.