Cupcake Kiss

Liebesroman

Ella Green


ISBN: 978-3-95573-254-7
1. Auflage 2015, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2015 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Klarant Verlag

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch auszugsweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Inhalt

Kapitel 1

Nur in schwarzer Unterwäsche stand ich vor meinem Schrank und überlegte, welches meiner zigtausend Rockabilly-Kleider ich heute anziehen sollte. Da ich gewiss schon zehn Minuten hin und her überlegte, schloss ich die Augen und griff blind in den großen Kleiderschrank. Als ich sie wieder öffnete, hatte ich das weiße mit den schwarzen Punkten, eines der ersten, die mir meine Omi geschneidert hatte, in den Händen und zog es gleich an. Ich schloss die Schranktüren, ging hinüber zur Kommode und nahm das passende Haarband, welches ich mir mit ein paar gekonnten Griffen in meine blonden Haare, die ich zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, band. Während im Hintergrund eine CD mit Songs aus den fünfziger Jahren lief, setzte ich mich an meinen Schminktisch und begann mir etwas Make-up auf mein blasses Gesicht aufzutragen. Mit dem Eyeliner zog ich mir einen perfekten Lidstrich und tuschte mir anschließend die dichten Wimpern mit schwarzem Mascara. Meine Lippen schminkte ich mir in einem schönen Rot, so wie es eben zu einem Rockabilly-Girl, wie ich es war, passte. Ich schaute in den Spiegel, lächelte mich an, zwinkerte mir kurz zu, stand auf und zog mir schwarze Riemchen-Pumps an.

„So, Mörri! Du darfst jetzt zu Oma, kuscheln“, sagte ich zu meinem schwarz-weißen Angora-Meerschweinchen und hob ihn aus seinem Käfig. Bevor ich mein Zimmer verließ, schaltete ich die Stereoanlage aus, dann öffnete ich die Tür und ging mit Mörri auf dem Arm zu meiner Oma nach unten ins Wohnzimmer. Wie jeden Morgen saß sie mit einer Tasse Kaffee in ihrem Fernsehsessel und guckte sich irgendeine Frühstückssendung an.

„Guten Morgen Oma“, rief ich gut gelaunt durchs Wohnzimmer, worauf sich die alte zierliche Dame mit grauen Haaren zu mir umdrehte und mich anlächelte.

„Guten Morgen Hannah“, erwiderte sie, stellte ihre Tasse auf den kleinen Tisch neben sich und wartete darauf, dass ich ihr Mörri auf den Schoß setzte. „Hübsch siehst du aus“, strahlte sie mich an, als ich auf sie zuging und ihr mein Meerschweinchen reichte.

„Danke.“

„Na Mörri, das Frauchen wird mit ihrem Outfit heute wieder das Gesprächsthema Nummer eins von Frau Schubert sein“, lachte sie und streichelte ihm liebevoll über den Kopf.

„So hat die alte Schrulle wenigstens was zum Lästern, wir wollen dieser Hexe ja schließlich immer genug Stoff zum Tratschen bieten“, lachte ich, nahm meine Handtasche vom Esstisch und gab meiner Oma ein Küsschen auf die Stirn. „Bis später!“

„Viel Spaß beim Arbeiten und denk dran, der Rasen muss heute noch gemäht werden!“

„Mache ich, wenn ich aus der Konditorei zurückkomme“, verabschiedete ich mich und ging zur Haustür.

Seit meinem dritten Lebensjahr lebte ich schon bei meiner Oma in einem kleinen Dorf namens Böthberg, da meine Eltern bei einem Lawinenunglück in den Schweizer Alpen vor neunundzwanzig Jahren ums Leben gekommen waren. Dieses kleine malerische bayerische Dorf, das mehr Kühe als Einwohner hatte, lag südlich von München und bot einen wunderschönen Blick auf die Berge. Ja, ich wohnte dort, wo andere Urlaub machten. Hier war ich aufgewachsen, hier hatte ich meine beste Freundin Alexandra kennengelernt und eine Ausbildung in der Dorfkonditorei ‚Tortenzauber‘ gemacht, in der ich noch heute arbeitete. Obwohl meine Oma Schneiderin war, lag mir das Nähen überhaupt nicht, dieses Talent hatte sie mir nicht vererbt. Mein Talent war das Backen und das Kreieren von Torten und süßen Cupcakes. Vor allem Cupcakes hatten es mir angetan.

Fröhlich ging ich die Dorfstraße entlang und von Weitem konnte ich schon Frau Schubert sehen, die vor ihrem kleinen Häuschen auf ihrer Hausbank saß. Sie war die Tratschtante von Böthberg. Über jeden wusste sie irgendetwas zu erzählen und hielt damit auch nicht hinterm Berg. Sie liebte es, zu tratschen und über die Dorfbewohner herzuziehen. Und auch ich war mit meinem Rockabilly-Stil eines ihrer liebsten Gesprächsthemen. Oma sagte einmal: „Die alte Hexe kommt ungeöffnet zurück, die will doch kein Mann mit der Kneifzange anfassen!“

Wie erwartet hatte mich Frau Schubert entdeckt, erhob sich und ging auf den Gartenzaun zu. Kurz überlegte ich, die Straßenseite zu wechseln, aber das würde mir sowieso nichts bringen, denn sie würde mich über die Straße hinweg ansprechen.

„Guten Morgen Frau Schubert“, grüßte ich sie freundlich, denn meine Oma hatte mich zu einer höflichen jungen Dame erzogen, auch wenn ich diese alte Hexe am liebsten in den Backofen der Konditorei geschubst hätte. Mit einem angewiderten Gesicht musterte sie mich von oben bis unten und wieder zurück.

„Guten Morgen Hannah, hast du schon gehört? Die Frau Meier hat einen neuen Mann, aus Berlin ist er und hat Geld wie Heu“, schrie sie mir unverblümt entgegen.

Frau Meier war eine nette Mittfünfzigerin, deren Mann vor fünf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben war.

„Das wusste ich noch nicht, aber sie sorgen schon dafür, dass es das ganze Dorf erfährt, oder?“, erwiderte ich und ging an ihr vorbei. Auf dieses Getratsche hatte ich mich noch nie eingelassen. Ich gönnte Frau Meier ihr Glück, schließlich hatte sie viel zu lange getrauert.

„Ach, und noch was. Der Huber hat sich eine Alm in Österreich gekauft, möchte ja gerne mal wissen, woher er das Geld für so etwas nimmt“, schrie sie mir hinterher. Herr Huber und seine Frau hatten in unserem Dorf eine kleine Landwirtschaft, wo Familien Urlaub auf dem Bauernhof machen konnten.

„Ach, Frau Schubert, wissen Sie das noch gar nicht, der Huber hat eine Bank überfallen“, rief ich ihr grinsend über meine Schulter hinweg zu und steuerte direkt auf die Dorfkonditorei zu.

Sie nuschelte noch irgendetwas, was ich nicht verstand und mich ehrlich gesagt auch gar nicht interessierte. Diese Frau wusste einfach zu viel über die Dorfbewohner, und das fand ich mehr als merkwürdig, bestimmt hatte sie ihre Ohren überall dort, wo sie nichts verloren hatten. Aber noch heute wunderte es mich, dass ihr nie zu Ohren gekommen war, dass ich meine Unschuld mit sechszehn in einem Heuschober an Peter Berger, den Neffen vom Huber, verloren hatte.

Freudestrahlend ging ich durch den Eingang der Konditorei und grüßte meine Chefin Barbara Neuhauser. Sie hatte sich vor zwanzig Jahren ihren Traum erfüllt und eine eigene Lieferkonditorei gegründet.

„Guten Morgen Barbara.“

„Guten Morgen Hannah, wow, du siehst wieder super aus. Da hat die Schubert wieder Gesprächsstoff“, lachte sie mich an.

„Oh ja, aber du weißt ja, da stehe ich drüber“, sagte ich, folgte ihr in die Backstube, legte meine Handtasche auf einen Stuhl und band mir meine weiße Schürze um.

Während Barbara ihre hellbraunen Haare zu einem Knoten zusammenband, las ich mir die Bestellungen für die nächsten Tage durch. Für den morgigen Samstag hatten wir eine Hochzeitstorte, eine Geburtstagstorte und für einen Kindergeburtstag zwanzig Cupcakes auf der Liste stehen.

„Barbara, wenn es dir nichts ausmacht, dann mache ich die Cupcakes“, sagte ich und kreierte schon wunderschöne bunte Küchlein in meinem Kopf.

„Das war mein Plan, denn da kannst du deiner Fantasie wie immer freien Lauf lassen“, antwortete sie und stellte sich neben mich.

„Die Cuppies sind für einen Mädchengeburtstag“, fuhr sie fort.

„Super, dann mache ich rosa Cupcakes“, sagte ich begeistert und griff nach den Zutaten für die kleinen Leckereien.

Vor mir standen Mehl, Zucker, Eier, Butter, Backpulver, Milch, Salz, rosa Lebensmittelfarbe und eine Vanilleschote. Mit einer Schüssel und einer Waage wog ich die Zutaten ab und begann den Teig anzurühren. Mit der ultramodernen Küchenmaschine, die Barbara vor ein paar Monaten gekauft hatte, war die Masse im Nu fertig zusammengerührt. Dieses Teil sparte uns einige Zeit, denn mit dem Handrührgerät war es immer mühsam zu arbeiten. Cupcakes zu backen war für mich schon immer das Liebste an meinem Beruf gewesen. Okay, Hochzeitstorten aus Buttercreme und Marzipan waren auch schön zu machen, aber es ging einfach nichts über meine Cuppies. Nachdem ich den Ofen auf hundertachtzig Grad vorgeheizt hatte, begann ich rosa-weiß karierte Papierförmchen in die Backform zu legen, um anschließend den Teig darin gerecht aufzuteilen. Als ich fertig war, nahm ich die Form, stellte sie in den Ofen und rührte das Topping aus Buttercreme an. Kinder mögen es süß und aus dem Grund nahm ich extra mehr Puderzucker zur Butter hinzu als sonst. Nach zwanzig Minuten öffnete ich den Backofen, um mit einem Holzspieß zu testen, ob die Cupcakes schon durch waren.

„Also, die sind fertig“, sagte ich zu Barbara, die neben mir ihren Teig für die Hochzeitstorte anrührte.

„Na dann, nichts wie raus aus dem Ofen“, antwortete sie mir und widmete sich wieder ihrer Arbeit.

Mit zwei Geschirrtüchern nahm ich die Form aus dem Backofen, stellte sie auf den Tisch hinter mir und nahm die Cupcakes einzeln aus der Form, damit sie auf dem Abkühlgitter auskühlen konnten. Während die Cakes auskühlten, nahm ich aus dem Wandschrank eine Schachtel, in der wir verschiedene essbare Deko aufbewahrten.

„Ach, die sind ja süß“, sagte ich und zog eine Packung mit bunten kleinen Dekor-Blümchen aus der Schachtel. Eigentlich machte ich die Deko für meine Cupcakes gerne aus Marzipan, aber Kinder mögen das nicht so gerne. Ich sah auf die Uhr und stellte fest, dass ich heute noch keine einzige Zigarette geraucht hatte, also beschloss ich mir eine kleine Pause zu genehmigen.

„Barbara, ich mach eine kurze Pause, okay?“

„Ja, ja, rauch nur eine“, sagte sie und schüttelte belustigt ihren Kopf.

Aus meiner Handtasche nahm ich meine Schachtel Marlboro Gold, ein Feuerzeug und mein Handy. Ich wollte die kurze Pause nutzen, um meine beste Freundin Alexandra anzurufen. Ich ging nach draußen und mir peitschte die Hitze regelrecht ins Gesicht. Auf der Hausbank neben dem Eingang der Konditorei machte ich es mir gemütlich. Ich nahm eine Zigarette aus der Packung und zündete sie mir an, dann tippte ich auf meinem Smartphone die Nummer von Alexandra ein.

„Hallo Hannah“, meldete sie sich nach kurzer Zeit.

„Hallo Alex, wie geht es dir?“

„So weit ganz gut. Nur ein bisschen gestresst, denn Fynn ist krank und Emma wollte partout nicht in die Schule, weil ihr kleiner Bruder ja auch zu Hause bleiben darf“, sagte sie verzweifelt.

„Oh, was fehlt dem Kleinen denn?“

„Windpocken. Und sag mal einem Dreijährigen, dass er nicht kratzen darf“, schnaufte sie. „Nein, Fynn. Nicht kratzen. Fynn!!!“, schrie sie mir ins Ohr.

„Oh, ich merk schon, es ist grad ungünstig, mit dir zu telefonieren.“

„Sorry, aber ein krankes Kind ist purer Stress!“

„Kein Problem. Dann brauch ich dich auch gar nicht fragen, ob du heute Abend mit mir essen gehen möchtest?“

„Essen gehen? Heute? Oh doch!!! Das machen wir! Schließlich kann sich Nils auch um seine Kinder kümmern.“

Alexandra hatte vor sechs Jahren einen Hamburger Tierarzt geheiratet, den sie vor zehn Jahren während unseres Urlaubs an der Costa Brava kennengelernt hatte. Mittlerweile wohnten die beiden mit ihren Kindern Emma und Fynn in einem Haus in Böthberg. Seit genau zweiunddreißig Jahren waren wir die besten Freundinnen und gingen durch dick und dünn. Unsere Mütter waren zusammen in der Schwangerschaftsgymnastik und hatten sich angefreundet. Alexandra war nur zwei Monate älter als ich. Und ich war wirklich froh, dass meine Oma nach dem Tod meiner Eltern von München nach Böthberg in das Haus ihres Sohnes gezogen war, sonst hätte ich niemals eine so tolle Kindheit und Jugend zusammen mit Alexandra verbringen können.

„Okay, dann hole ich dich um zwanzig Uhr ab“, sagte ich in den Hörer und machte meine Zigarette im Aschenbecher, der neben mir stand, aus.

„Perfekt. Dann bis später!“, verabschiedete sich Alex und legte auf.

Als ich zurück in die Konditorei ging, war Barbara gerade dabei, sich ein Deko-Brautpaar für die Hochzeitstorte auszusuchen. Vor ihr standen fünf verschiedene Figuren, die sie ganz genau in Augenschein nahm.

„Welches gefällt dir am besten?“, fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben.

Mit zusammengekniffenen Augen trat ich auf die Arbeitsfläche zu, bückte mich und sah mir die Brautpaare ganz genau an. „Ich find das am schönsten“, sagte ich und griff nach dem Paar, bei dem der Bräutigam einen Zylinder aufhatte und seine Braut auf Händen trug.

„Gut, dann kommt das obendrauf. Die Kundschaft konnte sich auch nicht entscheiden und hat gesagt, ich soll sie überraschen.“

„Na dann hoffen wir mal, dass ihnen unsere Wahl gefällt.“

„Wenn nicht, dann kann ich auch nichts mehr ändern.“

„Ich mach jetzt die Cupcakes fertig und dann können wir gemeinsam die Geburtstagstorte machen“, sagte ich zu Barbara, drehte mich um und wusch mir meine Hände am Waschbecken.

Die weiße Buttercreme füllte ich in einen Spritzbeutel, auf den ich eine Sterndüse gesteckt hatte. Auf jeden rosa Cupcake spritzte ich ein hübsches Krönchen, das ich anschließend mit je drei bunten Dekor-Blümchen dekorierte. Ich war von meiner Kreation so angetan, dass ich sofort mein Handy zückte und die süßen Leckereien fotografierte.

 

****

 

Nachdem ich zusammen mit meiner Chefin die Geburtstagstorte für einen siebzigjährigen Herren gemacht hatte, hieß es für mich Feierabend. Die Cupcakes und die Geburtstagstorte wurden morgen von den Kunden abgeholt und die Hochzeitstorte wurde dann morgen um dreizehn Uhr von Barbara zu dem Restaurant gefahren, in dem die Hochzeitsfeier stattfand. Etwas müde und erschöpft ging ich nach Hause und wusste, was mir jetzt blühen würde. Rasenmähen. Wie ich es hasste. Aber es half nichts, meine Oma bestand auf einen schönen kurzen Rasen. Zum Glück saß Frau Schubert nicht mehr vor ihrem Haus, sie hatte sich bestimmt in ihren Garten verzogen, denn dort schien jetzt die Sonne. Es war typisch für sie, dass sie mit der Sonne ihren Sitzplatz wechselte. Von morgens bis mittags saß sie vor ihrem Haus, dann wechselte sie auf die Terrasse und gegen Abend saß sie im hinteren Teil ihres Gartens auf einem Stuhl unter einem Apfelbaum. Aus meiner Handtasche kramte ich den Haustürschlüssel, steckte ihn in das Schlüsselloch und öffnete die Tür. Die Kühle des Hauses war eine wahre Wohltat an so einem heißen Tag.

„Hallo Oma, bin zu Hause“, rief ich durch den Flur.

„Bin auf der Terrasse“, antwortete sie mir und ich machte mich auf den Weg nach draußen, um sie wie jeden Tag mit einem Küsschen auf die Stirn zu begrüßen.

Während ich durch das Wohnzimmer ging, um auf die Terrasse zu gelangen, sah ich einen Mann neben meiner Oma sitzen. Wer war das?

„Hallo Hannah“, grüßte sie mich und ich gab ihr ein Küsschen. „Darf ich dir Matthias Brecht vorstellen?“, fuhr sie fort.

Der Herr, den ich auf Anfang sechzig schätzte, erhob sich, reichte mir seine Hand und grüßte mich mit einem sympathischen Lächeln.

„Matthias, das ist meine Enkeltochter Hannah Sommer“, stellte sie mich ihm vor.

„Erna, sie sieht aus wie du“, erwiderte er und starrte mich an.

Schon immer sagten, die Leute, dass ich meiner Oma wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich sah. Was mich auch stolz machte, denn meine Großmutter war in ihren jungen Jahren eine wirkliche Schönheit gewesen.

„Hannah, es gibt einen Grund, warum Matthias heute hier ist“, sagte sie mit einem tiefen Seufzer.

Oh je, was war passiert? Und vor allem, wer war dieser Mann überhaupt?

Kapitel 2

Ich setzte mich neben Herrn Brecht, der modisch top gestylt war. Zu einer schwarzen Anzughose trug er ein weißes Hemd, das an den Ärmeln und am Kragen blaue verschnörkelte Verzierungen hatte. Seine schwarzen Schuhe waren frisch aufpoliert und an seinem Ringfinger trug er einen Siegelring. Meine Oma schob mir eine Tasse mit frischem Kaffee zu, sie machte den besten Kaffee, den man sich vorstellen konnte.

„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll“, seufzte sie und nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee.

„Na am besten am Anfang“, lächelte ich sie auffordernd an.

„Erna, wenn du willst, dann erzähle ich Hannah alles“, meldete sich Herr Brecht zu Wort.

„Nein, nein. Ich mach das schon“, sagte Oma und blickte mir tief in die Augen.

„Also, Hannah, wie du ja weißt, hatte ich mal eine Schneiderei in München“, fuhr sie fort.

„Oma, das ist nichts Neues für mich“, antwortete ich ihr und zündete mir eine Zigarette an.

„Ja, schon, aber was du nicht weißt, ist, dass Matthias eine Lehre zum Schneider bei mir machte und nach dem Tod deiner Eltern die Schneiderei für mich weiterführte.“

Oh, das war mir neu. Ich dachte eigentlich immer, dass Oma die Schneiderei, nachdem sie nach Böthberg gezogen war, aufgegeben hatte. Mit gerade mal fünfundzwanzig hatte sie ihre eigene Schneiderei im Herzen von München eröffnet.

„Hannah, ich bin heute hier zu euch hergefahren, um deiner Oma zu sagen…“, Herr Brecht machte eine kurze Pause und senkte den Kopf. „… dass die Schneiderei in den letzten Monaten keinen Cent Umsatz gemacht hat.“

Ich blickte in die Augen meiner Großmutter, die sich mit Tränen füllten. „Und das bedeutet, dass meine Oma jetzt vor dem finanziellen Ruin steht, weil sie die Miete der Schneiderei nicht mehr bezahlen kann?“, fragte ich ihn und schluckte hart. Sie bekam nicht viel Rente und ich wusste, ich könnte mit meinem bisschen Einkommen die Miete der Schneiderei wahrscheinlich niemals stemmen.

„Oh Gott, Hannah, nein. Die Räumlichkeiten gehören deiner Großmutter, also Miete muss sie nicht bezahlen. Nur die Nebenkosten und die halten sich wirklich im Rahmen“, beantwortete er mir meine Frage.

 

„Wie bitte? Dir gehören die Räumlichkeiten?“, fragte ich erstaunt, denn davon hatte ich noch nie gehört.

„Mir gehören nicht nur die Räumlichkeiten, in denen die Schneiderei ist, mir gehört auch die darüber liegende Wohnung, in der Matthias wohnt“, antwortete sie.

Mit weit aufgerissen Augen saß ich da und zog immer wieder nervös an meiner Zigarette. Ich war sprachlos, dass mir Oma nie erzählt hatte, dass ihr die Schneiderei noch gehörte. Und dass sie mir die Wohnung verheimlicht hatte, verstand ich überhaupt nicht.

„Okay, also als Erstes, wieso hast du mir nie davon erzählt? Und zweitens, wie sieht der Plan für den Laden und die Wohnung jetzt aus?“

„Du hättest spätestens nach meinem Tod davon erfahren, denn in meinem Testament steht, dass du die Wohnung und die Räumlichkeiten erbst. Und wie es weitergeht, dazu kann dir Matthias mehr sagen“, sagte sie, was aber meine Frage nicht wirklich beantwortete.

„Hannah, die Schneiderei läuft einfach nicht mehr so wie früher und deshalb habe ich deiner Großmutter vorgeschlagen, dass ich für den Laden und für die Wohnung einen Mieter oder Käufer finden werde.“

„Moment mal! Äh, wenn ich richtig verstehe, dann ziehen Sie aus, schließen die Schneiderei und möchten für Oma die Räumlichkeiten vermieten oder sogar verkaufen?“, fragte ich entsetzt.

„Ja, das ist mein Vorschlag. Die Immobilienpreise sind derzeit sehr gut.“

„Also, erstens möchte ich mir das Objekt mal anschauen und dann entscheiden wir, was damit passiert. Vielleicht können wir mit dem richtigen Konzept die Schneiderei doch noch retten“, sagte ich entschlossen.

„Hannah, das ist lieb von dir. Aber wer soll die Schneiderei leiten? Matthias möchte allmählich auch in den Ruhestand gehen und einen neuen Schneider, dem ich meine Schneiderei anvertraue, finden wir bestimmt nicht. Und ich bin einfach zu alt dafür“, seufzte sie und schon kullerten ihr die Tränen über die Wangen.

„Aber ich bin jung, dynamisch und fest davon überzeugt, dass wir die Schneiderei wieder auf Kurs bringen können.“

„Du hast doch gar keine Ahnung vom Nähen“, lachte sie und wischte mit ihrem Handrücken die Tränen von ihrer Wange.

„Wann kann ich mir den Laden und die Wohnung anschauen?“, fragte ich an Herrn Brecht gewandt.

„Wenn Sie möchten, morgen Vormittag“, antwortete er und reichte meiner Oma ein Taschentuch.

Während ich die Zigarette ausdrückte, sponn ich mir in meinem Kopf schon einen kleinen Plan zurecht. Diese Schneiderei würde ich so schnell nicht aufgeben. „Wie viele Mitarbeiter arbeiten momentan dort?“, fragte ich und sah abwechselnd zwischen Herrn Brecht und meiner Oma hin und her. Dann begann Oma schallend zu lachen.

Was bitte gab es an dieser Frage zu lachen?

„Die Schneiderei Sommer ist seit der Gründung im Jahre 1953 mehr oder weniger eine One-Man-Show“, lachte Oma weiter und fuhr mir liebevoll über den Handrücken.

„Du hattest nie Angestellte?“, fragte ich verblüfft.

„Bis auf Matthias, der vor neunundzwanzig Jahren die Aufgabe als Schneider und Geschäftsführer übernahm, nein!“

 

****

 

Nachdem mir Matthias das Du angeboten, mir die Adresse der Schneiderei gegeben und sich von Oma und mir verabschiedet hatte, ging ich in mein Zimmer. Mörri saß in seinem Käfig und knapperte vergnügt an einer Karotte.

„Ach Mörri, manchmal würde ich wirklich gerne mit dir tauschen. Keine Probleme, keine Arbeit. Einfach nur den ganzen Tag gekrault werden, schlafen und fressen. Du hast es gut!“

Da ich Alexandra um zwanzig Uhr abholen wollte und mir nur noch eine Stunde zum Duschen und schick machen blieb, musste jetzt alles etwas schneller gehen als sonst. Geschwind ging ich ins Badezimmer, zog mich aus und stellte mich unter die Dusche. Das Wasser der Brause lief mir lauwarm über den Kopf, hinab über meinen Körper und verschwand im Ausguss unter mir. Ich griff nach dem Shampoo, öffnete es und der Duft von Granatapfel stieg mir in die Nase. Ich drückte einen Klecks auf meine Handflächen und verrieb es mit kreisenden Bewegungen auf meinem Haar, dann nahm ich mein Minze-Duschgel und den Waschlappen und begann, mir meinen Körper damit einzuschäumen. Mit geschlossenen Augen stellte ich mich wieder unter die Brause, um mir den Schaum aus den Haaren und vom Körper zu spülen.

Mit einem Handtuch auf dem Kopf und einem um meinen Körper gewickelt ging ich zurück in mein Zimmer, öffnete den Kleiderschrank und zog ein gelbes Rockabilly-Kleid mit weißen Punkten heraus, legte es über einen Stuhl und begann mich abzutrocknen. Als ich in den Spiegel, der über meinem Schminktisch hing, blickte, erschrak ich kurz. Denn ich hatte mich vor dem Duschen nicht abgeschminkt und die Mascara hatte sich einen Weg von meinen Augen hinunter zu meinen Wagen gebahnt. Schnell zog ich ein Abschminktuch aus der Packung und rieb es mir über die Augen.

Gut, jetzt sehe ich wenigstens wieder wie Hannah Sommer aus und nicht wie Alice Cooper.

Aus meiner Kommode nahm ich einen weißen Spitzen-BH und die passende Panty, zog es an und setzte mich auf den Stuhl vor meinem Schminktisch. In Windeseile trug ich etwas Make-up auf, zog mir einen Lidstrich und tuschte meine langen dichten Wimpern. Der typische Hannah-Sommer-Rockabilly-Stil eben. Mit dem Handtuch, das wie ein Turban auf meinem Kopf drapiert war, rubbelte ich mir die Haare etwas trocken, um sie anschließend mit dem Föhn und einer Rundbürste wellig zu föhnen. Als meine blonden Haare genauso lagen, wie ich es mir vorstellte, nahm ich ein gelbes Haarband und band es mir im Rockabilly-Stil ins Haar. Ein kurzer Blick auf die Uhr und ich wusste, jetzt musste ich Gas geben. Denn Alexandra hasste es, wenn ich zu spät kam. Eilig zog ich mir mein Kleid und weiße Pumps an, griff nach meiner Handtasche und verließ mit einem „Ciao Mörri, bis später!“ mein Zimmer.

„Oma, ich bin dann mit Alexandra essen“, rief ich durch den Flur und bekam als Antwort ein „Viel Spaß und liebe Grüße.“

 

****

 

Mit schnellen Schritten verließ ich das Haus und ging auf meinen kleinen grünen Mini Cooper, der in der Hofeinfahrt stand, zu. Steckte den Schlüssel in die Fahrertür, öffnete sie und setzte mich hinein. Mit einem lauten Brummen erwachte meine kleine Knutschkugel zum Leben und ich setzte auf die Straße zurück. Etwas zu schnell fuhr ich zu Alexandra, die am anderen Ende von Böthberg wohnte. Na ja, eigentlich waren es gerade mal drei Straßen, die uns trennten, aber ich wollte ja nicht zu spät kommen. Von Weitem konnte ich meine beste Freundin schon sehen, denn sie wartete ungeduldig vor ihrem Haus auf mich. Mit leicht quietschenden Reifen hielt ich vor ihr, sie riss die Beifahrertür auf und setzte sich neben mich.

„Schnell los!!“, schrie sie und ich drückte aufs Gaspedal. „Sorry, aber wenn mich die Kinder jetzt gesehen hätten, dann hätte Nils das größte Drama überhaupt“, fuhr sie fort.

„Du bist vor deinen Kindern geflüchtet?“, fragte ich irritiert und bog auf die Hauptstraße in Richtung Tegernsee ab.

„Ja, kann man so sagen. Die beiden haben mitbekommen, dass die Mama heute Abend weggeht, und wollten mit. Nils hat ihnen dann erklärt, dass das nicht geht, und während er das gemacht hat, hab ich mich heimlich aus dem Haus geschlichen.“

„Und was ist, wenn sie jetzt mitbekommen, dass du gar nicht mehr da bist?“

„Bekommen sie nicht mit, denn Nils schaut mit ihnen Bob der Baumeister und dann schlafen sie sowieso auf dem Sofa ein. Alles ganz easy“, lachte Alexandra und blickte zu mir rüber. „Wo willst du eigentlich essen gehen?“, fragte sie neugierig.

„Bei diesem superschönen Wetter dachte ich an Biergarten. Am Tegernsee hat ein neuer aufgemacht. Denke, den sollten wir mal testen.“

„Sehr gute Idee. Eine Maß Bier, eine leckere Brotzeit und quatschen.“

„So wie früher“, lächelte ich sie an.

„Ja, nur mit dem kleinen Unterschied, dass wir anschließend nicht auf irgendwelche Dorffeste gehen“, begann Alexandra schallend zu lachen.

Als wir noch jünger waren, war kein einziges Dorffest vor uns sicher. Alexandra und ich waren ja schon fast bekannt dafür, irgendwann zu später Stunde auf der Bühne bei der Band zu stehen und ordentlich abzurocken. Wobei ich die Mutigere von uns beiden war. Denn wenn sich Alexandra irgendetwas nicht zutraute, dann hieß es immer „Hannah, geh du vor“ oder „Hannah, mach du das.“

Zu meinem achtzehnten Geburtstag hatte sie mir ein Gedicht geschrieben und darin stand: „Die Hannah macht das, denn die hat den meisten Mut“, oder so ähnlich. Ich müsste das Gedicht mal aus meinem Alexandra-Hannah-Karton hervorkramen, um den richtigen Wortlaut widergeben zu können. Von uns beiden gab es so einige lustige Anekdoten zu erzählen.

„Huch, da geht es aber ordentlich zu“, stellte ich fest, als ich auf den Parkplatz des Biergartens fuhr. Zwischen Münchner, Starnberger und Rosenheimer Autos fand ich im letzten Eck eine Parklücke, stelle den Motor ab und stieg gleichzeitig mit meiner Freundin aus.

„Na dann, schauen wir mal, ob wir einen schönen Platz im Biergarten finden“, sagte Alexandra und hakte sich bei mir unter.

Der typisch bayerische Biergarten war brechend voll, was nicht nur daran lag, dass er erst vor einigen Wochen eröffnet hatte, sondern auch daran, dass er einen herrlichen Blick auf den Tegernsee bot.

„Wir müssen uns wohl irgendwo dazusetzen“, seufzte ich und ging direkt auf ein älteres Paar, das alleine an einer Biertischgarnitur saß, zu. „Entschuldigung, ist bei Ihnen noch Platz für zwei Personen?“, fragte ich mit einem zuckersüßen Lächeln.

„Ja, aber natürlich“, antwortete der Mann mit schwäbischem Akzent.

Alexandra und ich dankten dem Pärchen, setzten uns zu ihnen und steckten unsere Köpfe sofort in die Speisekarten, die auf dem Biertisch lagen. Wir saßen noch keine zwei Minuten und schon kam eine Kellnerin, die ein schwarzes Dirndl mit hellblauer Schürze trug, auf uns zu.

„Guten Tag, was darf es für euch sein?“, fragte sie an uns gewandt und zückte ihren Notizblock und einen Stift.

„Für mich bitte eine Maß Bier und die bayrische Brotzeit“, sagte Alexandra und strahlte die Bedienung an.

„Und für mich bitte ein Radler und auch die bayrische Brotzeit.“

„Sehr gern“, antwortete die Kellnerin und verschwand.

Während wir auf unsere Getränke und unser Essen warteten, erzählte ich Alexandra von dem Gespräch zwischen Herrn Matthias Brecht und meiner Oma.

„Und du willst wirklich versuchen, die Schneiderei zu retten?“, fragte sie, zog eine Augenbraue nach oben, warf ihre braunen schulterlangen Haare nach hinten und beugte sich leicht zu mir nach vorne. „Hannah, mal ganz ehrlich. Du hast überhaupt keinen Plan vom Nähen“, fuhr sie fort und versuchte sanft zu lächeln.

„Das mag schon sein, aber ich werde das, was sich meine Oma mühsam aufgebaut hat, nicht so einfach aufgeben.“

„Und wo ist die Schneiderei genau?“

„In der Nähe vom Viktualienmarkt“, beantwortete ich ihre Frage, zog mein Handy aus meiner Handtasche und tippte die Adresse, die mir Matthias gegeben hatte, ein.

Mit großen Augen blickte Alexandra auf mein Handy und erschrak, als die Bedienung etwas zu laut die Maßkrüge vor uns abstellte.

„Die Brotzeitplatten kommen gleich“, sagte sie und kehrte uns den Rücken.

„Na dann, prost!“, sagte ich zu meiner besten Freundin und hob meinen Krug in die Luft, um mit ihr anzustoßen.

Kapitel 3

„Wie bitte? Du willst mit dem Auto nach München?“, sagte Alexandra und verschluckte sich fast an dem Stück Käse, das sie sich gerade in den Mund geschoben hatte.

„Ja, wieso nicht?“, fragte ich und biss von dem Landjäger, der köstlich schmeckte, ab.

„Wieso nicht? Das fragst du nicht wirklich, oder? Wann warst du das letzte Mal in München mit dem Auto?“

„Äh, ich denke, vor gut zehn Jahren, als wir zusammen in einen Club gefahren sind.“

„Da haben wir es ja schon. Erstens ist das schon zehn Jahre her. Zweitens hatte der Club einen eigenen Parkplatz und drittens … äh … ja …“

„Zu drittens fällt dir nichts ein? Und einen Parkplatz finde ich schon“, lachte ich und nahm einen Schluck von meinem Radler.

„Du hast gesagt, dass die Schneiderei mitten in München ist. Also wäre es doch sinnvoller, mit der Bahn zu fahren.“

Ich überlegte kurz und schon der Gedanke, alleine mit dem Zug nach München zu fahren, machte mir höllisch Angst.

„Alexandra, ich hasse es, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Allerdings …“, ich unterbrach meinen Satz und blickte meine Freundin auffordernd an.

„Hannah, ich kenne diesen Blick!“

„Fahr bitte mit!“, flehte ich sie förmlich an.

„Na gut, aber ich muss das erst mit Nils klären. Schließlich ist Fynn noch krank und es ist fraglich, ob mein Ehemann es schafft, auf meinen kranken Spatz aufzupassen.“

„Dein Mann ist Tierarzt, der wird doch mit einem kranken Kind fertigwerden!“, sagte ich und Alexandra begann Nils eine SMS zu schreiben.

„Zwischen einem kranken Tier und einem kranken Kind liegen für Nils Meilen dazwischen. Glaub mir, er mag der beste Tierarzt im Landkreis sein, aber in Sachen Kinderkrankheiten versagt er kläglich“, seufzte sie und blickte nervös auf ihr Handy, das nach kurzer Zeit mit einem leisen ‚Pling‘ den Eingang einer SMS meldete. „Bingo! Nils passt auf Fynn und Emma auf!“, strahlte sie, hob ihren Bierkrug und prostete mir zu.

„Perfekt! Das wird bestimmt lustig!“, lächelte ich.

„Wann willst du morgen losfahren?“

„Ist neun Uhr für dich in Ordnung?“

„Passt perfekt. Dann fahren wir zum Bahnhof nach Holzkirchen und von dort aus nehmen wir die S-Bahn.“

„Kennst du dich mit den öffentlichen Verkehrsmitteln aus?“, fragte ich und eigentlich hätte ich mir diese Frage sparen können, denn Alexandra war in Sachen Zugverbindungen genauso doof wie ich.

„Nö, aber so schwer kann das doch nicht sein, oder?“, antwortete sie und winkte der Bedienung, um ihr zu sagen, dass wir zahlen wollten.

„Süße, das geht aber auf mich!“, sagte ich ernst, aber Alexandra zückte schon ihre Geldbörse und schüttelte den Kopf.

„Nein, heute bezahle ich.“

„Alexandra!“

„Keine Widerrede. Du hast schon das letzte Mal bezahlt. Und wenn du mich unbedingt zum Essen einladen willst, dann mach das morgen in München“, lächelte sie.

„Sie möchten bezahlen?“, fragte die Kellnerin und Alexandra nickte ihr zustimmend zu. „Getrennt oder zusammen?“

„Zusammen“, beantwortete meine beste Freundin die Frage der Bedienung.

„Das macht dann 47,60 Euro.“

Fast dachte ich, die Bedienung will uns auf den Arm nehmen, aber der Preis war für einen Biergarten am Tegernsee schon fast normal. Alexandra gab ihr einen Fünfzig-Euro-Schein und nickte ihr zu, dass es passte, was die Kellnerin ihr mit einem Lächeln dankte.

„Ganz schön gesalzene Preise“, schnaubte Alexandra, als die Bedienung außer Hörweite war, und packte ihren Geldbeutel zurück in ihre Handtasche.

„Das ist eben das Tegernseer Tal, die wissen schon, wie sie den Einheimischen und den Touristen das Geld aus der Tasche ziehen können. Aber ich muss sagen, die Brotzeit und das Bier waren hervorragend“, sagte ich leise, nahm den letzten Schluck von meinem Bier und zog meine Schachtel Marlboro Gold aus meiner Tasche.

„Hannah, hör doch endlich mit dieser Qualmerei auf!“

„Das ist heute meine dritte Zigarette, ich nähere mich allmählich meinem Ziel, endlich Nichtraucher zu werden“, zwinkerte ich ihr zu und zündete mir die Kippe an.

„Ich hab damals ja von einer Minute auf die andere aufgehört zu rauchen“, stachelte sie.

„Ja, aber auch nur, weil du bei deiner letzten Zigarette einen Schwangerschaftstest gemacht hast“, erwiderte ich, nahm einen tiefen Zug, warf meinen Kopf in den Nacken und blies den Rauch aus.

Noch gut erinnerte ich mich an diesen Nachmittag, als Alexandra ihre letzte Zigarette rauchte. Nervös saßen wir an ihrem Küchentisch, beide eine Zigarette im Mund, und starrten auf den Test. Die Minuten verstrichen wie in Zeitlupe, bis wir endlich zwei eindeutige rosa Striche erkennen konnten. Vor Schreck hatte Alex den Test genommen und mit den Worten „Verdammt! Mein Leben ist vorbei!“ quer durch ihre Küche geworfen.

Und das, obwohl das Kind geplant gewesen war. Es war wahrscheinlich einfach nur der Schock, dass es im ersten Zyklus ohne Verhütung gleich geklappt hatte. Diesen Tag würde ich niemals vergessen, denn es war auch das erste Mal, dass sie selbst einen Schwangerschaftstest gekauft hatte. Sonst musste ja immer ich herhalten. Es war nicht selten, dass Alexandra mir eine SMS schrieb oder mich anrief, um mich zu bitten, ihr einen Test aus dem Drogeriemarkt oder der Apotheke zu besorgen. Die Apothekerin schmunzelte schon immer, wenn ich wieder nach einem Test fragte. Bestimmt lag ihr auf den Lippen, mir zu sagen, dass es auch Kondome oder die Pille gab. Am liebsten hätte ich manchmal einfach gesagt: „Der ist nicht für mich, meine beste Freundin bildet sich nur wieder mal ein, dass das Kondom geplatzt ist!“ Aber ich verkniff es mir jedes Mal, kaufte den überteuerten Test und brachte ihn Alexandra. Und trotzdem liebte ich meine beste Freundin über alles, denn wir hatten die besten Urlaube, die man sich vorstellen konnte. Unsere Ausflüge an die Costa Brava waren einfach legendär, denn in der zweiten Pfingstwoche war es Pflicht für uns, nach Spanien zu fliegen. Wobei wir nicht nur Pfingsten in Lloret de Mar verbrachten, sondern auch Ostern. Einmal hatten wir uns eingebildet, dass es eine gute Idee sei, im Hochsommer für zwei Wochen auf einem Campingplatz in Lloret de Mar zu zelten. Oh je, wenn ich nur dran denke, tut mir mein Kreuz weh! Unsere Freundin Gabriela war damals auch dabei. Drei Mädels, ein Zelt und eine Matratze, die wir mühsam mit einem Blasebalg aufgepumpt hatten. Erst nach vier Stunden schwitzen und Krämpfen in den Waden stellten wir nämlich fest, dass es beim Obstmann, der einen Laden am Campingplatz hatte, einen Kompressor gegeben hätte. Tja, shit happens!

„Sag mal, wie geht es eigentlich Gabriela?“, fragte ich Alexandra, die mehr Kontakt zu ihr hatte als ich.

„Der geht es gut. Ihr Mann und sie ziehen gerade in ein neues Haus, in der Nähe von Boston“, beantwortete sie meine Frage.

„Schön! Und das Baby entwickelt sich auch so, wie es sein soll?“

Gabriela hatte vor drei Jahren einen Amerikaner geheiratet und war im sechsten Monat schwanger, ich sollte sie unbedingt mal anrufen. Alexandra erzählte mir irgendetwas von dem Haus und dass Ethan, Gabrielas Ehemann, alles selbst machte. Aber ich hörte ihr gar nicht mehr richtig zu, denn meine Gedanken waren ganz woanders. Denn ich hatte noch nicht meinen Mr. Right gefunden, mit dem ich gemeinsam ein Haus bauen und Kinder bekommen wollte. Ich, Hannah Sommer, war mit meinen zweiunddreißig Jahren noch immer ledig, kinderlos und wohnte in meinem alten Kinderzimmer bei meiner Oma. Leise seufzte ich auf, was meine beste Freundin zu bemerken schien.

„Alles klar, Hannah?“, fragte sie mich.

„Ja, ja. Alles bestens“, log ich. „Willst du noch lange bleiben oder sollen wir uns allmählich auf den Weg nach Hause machen?“, fuhr ich fort.

„Wir müssen morgen früh raus, also denke ich, wir sollten langsam nach Hause fahren“, beantwortete Alexandra mir meine Frage.

„Sag mal, wann ist denn das schwäbische Ehepaar gegangen?“, fragte ich erstaunt, denn ich hatte nicht mitbekommen, dass sie sich verabschiedet hätten.

„Kurz nachdem wir unser Essen bekommen haben.“

„Die haben sich aber nicht verabschiedet, oder?“

„Nö, hielten es anscheinend nicht für nötig.“

 

****

 

Um kurz nach Mitternacht setzte ich Alexandra zu Hause ab und fuhr durch die verlassenen Straßen von Böthberg. Hier auf dem Land war es üblich, dass um spätestens neunzehn Uhr niemand mehr auf den Straßen war. Man konnte schon sagen, dass die Bürgersteige hochgeklappt wurden. Was wir früher als Jugendliche alles andere als super fanden, denn für uns war es manchmal wirklich todlangweilig in diesem Kuhkaff. Nur im Sommer, wenn an den Wochenenden ein Wein- oder Waldfest das nächste jagte, war etwas geboten. In Böthberg und den umliegenden Dörfern hatten diese Feste schon Kultstatus. Jeder, ob jung oder alt, zog dann seine bayerische Tracht an und ging zum Feiern. Die Dorffeste waren einfach, aber trotzdem lustig. Nur zu meinem achtzehnten Geburtstag, der ja nun doch schon einige Jährchen zurücklag, hatte ich mir gewünscht, mit Alexandra und Gabriela in einer Münchner Nobeldisco zu feiern. Da Gabriela damals einen Typen gedatet hatte, der aus der Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft kam, hatten wir die Chance, im P1, Münchens Nobeldisco schlechthin, zu feiern. Während ich meinen Wagen in der Einfahrt vor dem Haus meiner Oma parkte, schweiften meine Gedanken an diesen Abend ab. Wir drei Landeier inmitten von aufgetakelten Tussis und Männern, die ihr Bier mit ihrer schwarzen American Express bezahlten. Wir Mädels hatten uns für diesen Abend extra hübsch zurechtgemacht, aber mussten schnell feststellen, dass unsere Outfits bei Weitem nicht so gewagt waren wie die der Münchnerinnen. Als wären wir von einem anderen Planeten, wurden wir von den Damen gemustert, als uns der Türsteher reinließ. Was aber auch nur daran lag, dass Gabrielas Bussi-Bussi-Gesellschaft-Typ im P1 ein- und ausging, als wäre es sein Wohnzimmer. Für die Männer machte es keinen Unterschied, ob unsere Handtaschen von Prada oder von H&M waren, denn sie starrten uns sowieso nur auf unsere, wohlbemerkt echten, Brüste. Es dauerte nicht lange, bis Alexandra und ich zwei Münchner an der Backe kleben hatten, die uns zu sich in den VIP-Bereich einluden, und wir das erste Mal in unserem Leben in den Genuss kamen, Champagner zu trinken.

Gedankenverloren stieg ich aus meinem Mini Cooper, setzte mich auf die Hausbank und zündete mir eine Zigarette an. Zwar erst die vierte heute, aber ich sollte doch lieber aufhören. Der laue Sommerabend, das Zirpen der Grillen und die hell leuchtenden Sterne über mir machten den heutigen Abend perfekt.

Was mich morgen wohl in München erwartet? Wie die Schneiderei wohl aussieht? Ob man sie noch retten kann oder ist dieser Zug schon abgefahren?

„Ah, ich hab mir doch gedacht, dass ich dein Auto gehört habe“, riss mich meine Oma aus meinen Gedanken.

„Hallo Oma“, strahlte ich und sie setzte sich neben mich.

„Hattet ihr einen schönen Abend?“

„Ja, war schön und teuer. Der neue Biergarten am Tegernsee hat ordentliche Preise.“

„Das habe ich mir schon gedacht. Wie geht es Alexandra?“

„Gut. Sie fährt morgen mit nach München.“

„Hannah, wegen der Schneiderei. Ich habe mir heute Abend noch mal Gedanken gemacht und es ist das Beste, wenn wir das Objekt verkaufen oder vermieten.“

„Oma, lass es mich doch bitte versuchen, die Schneiderei zu retten“, flehte ich leise.

„Aber du hast doch überhaupt keine Branchenkenntnisse, wie willst du da etwas retten?“

„Lass mich mal machen“, zwinkerte ich ihr zu, zog ein letztes Mal an meiner Zigarette und blies den Rauch in die sternenklare Nacht.