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Über dieses Buch:

In einer nebligen Nacht eilt ein Mann einen verlassenen Kanal im Stockholmer Viertel Södermalm entlang. Er muss es irgendwie schaffen, ein letztes Geschäft zu Ende zu bringen – und dann so schnell wie möglich verschwinden. Doch er schafft es nicht zum Treffpunkt … Wochen später findet die Polizei eine Wasserleiche im Kanal: Der Körper ist bis zur Unkenntlichkeit aufgequollen, die Beine mit einer schweren Ankerkette an den Grund gefesselt. Der einzige Hinweis auf die Identität des Toten ist dessen golden schimmernde Drachentätowierung. Bei seinen Ermittlungen stößt Kommissar Axel Hake auf zwei Zeugen. Nur diese können ihm helfen, den Fall zu lösen – doch sie wollen unter allen Umständen eine Aussage verweigern …

»Lundholm ist ein Großmeister der Spannung«, urteilt die schwedische Zeitung Aftonbladet.

Über den Autor:

Lars Bill Lundholm wurde zunächst als Drehbuchautor preisgekrönter schwedischer Film- und Fernsehproduktionen bekannt, bevor er sich auch als Schriftsteller einen Namen machte: Seine Bandbreite reicht dabei von gefühlvollen Inselromanen bis hin zu spannungsgeladenen Kriminalromanen. Er lebt in Stockholm.

Lars Bill Lundholm veröffentlichte bei dotbooks bereits die Inselromane »Der Schärendoktor – Der erste Sommer« und »Der Schärendoktor – Herbstfest auf Saltö« sowie den Stockholm-Krimi »Mord in Östermalm«.

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eBook-Neuausgabe Oktober 2019

Dieses Buch erschien bereits 2005 unter dem Titel »Der weiße Drache« bei Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2003 by Lars Bill Lundholm

Die schwedische Originalausgabe erschien 2003 unter dem Titel »Södermalmsmorden« bei Forum, Sweden.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2005 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shuttestock/Sorranut Kuwantrai

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ae)

ISBN 978-3-95824-547-1

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Lars Bill Lundholm

Tod in Södermalm

Ein Stockholmkrimi

Aus dem Schwedischen von Ulrike Nolte

dotbooks.

KAPITEL 1

Der Mann ging am Pålsund-Kanal entlang und sah leicht fröstelnd auf das dunkle Wasser hinunter. Er fühlte sich unruhig, die Ereignisse der letzten Zeit gefielen ihm gar nicht. Allmählich befürchtete er einen Fehler begangen zu haben. Aber jetzt war es zu spät, um etwas daran zu ändern. Später, wenn die ganze Sache überstanden war, konnte er darüber nachdenken. Auf jeden Fall hatte er sich an seinen Teil des Abkommens gehalten. Niemand konnte Gegenteiliges behaupten. Dennoch fiel es ihm schwer, das unbehagliche Gefühl in der Magengegend zu ignorieren. Er warf einen Blick zurück, sah aber nur das Taxi, mit dem er gekommen war. Es hatte auf der anderen Seite des natürlichen Wasserweges gehalten, der die Insel Långholmen vom übrigen Stockholm trennte, und parkte an der Uferstraße Söder Mälarstrand. Der Fahrer saß im Wagen, zählte sein Geld und hatte die Taxileuchte noch nicht auf »frei« gestellt.

Es regnete unaufhörlich, ein dünner, kalter Nieselregen. Seit mehreren Tagen regnete es ohne Unterbrechung, so dass die Ufer des Kanals schlammig waren und das Röhrichtgestrüpp schmutzigbraun über das Wasser hing. An den Stegen lagen noch immer Boote, die an Land geholt werden mussten. Er konnte nicht verstehen, dass die Leute bis zur letzten Minute damit warteten, anstatt sofort nach Saisonschluss alles Nötige zu erledigen. Wie es aussah, konnte der Kanal jeden Moment zufrieren, und dann war es zu spät. Der Mann steckte die Hände tief in die Taschen und ging an einem schön gearbeiteten Boot vorbei, Eichenholz mit weißem Verdeck. Der Eigner hatte es noch nicht einmal für nötig befunden, die Sitzkissen von den Seitenbänken im Heck zu nehmen. Wie konnte man ein Boot so sträflich vernachlässigen? Er hatte fast Lust, an Bord zu steigen und eines der Sitzkissen mitzunehmen. Nur um dem Bootsbesitzer zu zeigen, wie fahrlässig es war, sein Eigentum draußen herumliegen zu lassen. Aber er ging weiter und zog den Gürtel seines Mantels enger. Es war schnell Abend geworden, und der Sprühregen hüllte den Kanal in einen bläulichen Nebel, der ihn erbärmlich frieren ließ.

Er sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun, und trotz der recht frühen Stunde war kein Mensch in der Nähe. Die großen Weidenbäume, die sich zum Wassersaum hinabneigten, und die dürftige Straßenbeleuchtung trugen wohl ihren Teil dazu bei. Der Kanalhafen war nicht gerade die Gegend, wo junge Damen ihren Hund Gassi führten. Aber er hatte keine Wahl. Hier war der abgesprochene Treffpunkt, und wenn er nicht auftauchte, dann würde auch sein Geld nicht auftauchen. Er bewegte sich von der Brücke fort Richtung Heleneborgs Bootsclub. Schräg über ihm erhob sich die imposante Stahlwölbung der Västerbrücke als dunkler Bogen gegen den gelblichen Himmel.

Der Treffpunkt sollte am Kai 22 sein. Ein motorgetriebenes Boot im Pettersson-Stil lag dort vertäut, aus Mahagoniholz und sehr gepflegt. Als er sich dem Anlegeplatz näherte, sah er, dass in der Kajüte Licht brannte. Er blieb stehen und versuchte durch das Fenster ins Innere zu schauen, konnte aber nur einen Rücken sehen. Auf seinen Zuruf bekam er keine Antwort, also ging er auf den Bootssteg, rief noch einmal und stieg dann vorsichtig auf die Schiffsreling und hinunter auf die Seitenbank. Das Boot schwankte ein wenig, und die Person in der Kajüte wandte den Kopf und löschte sofort das Licht. Es wurde stockfinster. Vom Deck aus konnte der Mann nur mit Mühe die Gestalt in der Kajüte ausmachen, die wahrscheinlich einen Schreck bekommen hatte, als er das Boot betrat. Er wollte gerade sagen: »Ich bin es nur«, als ihn ein harter Gegenstand über dem Auge traf. Zuerst glaubte er, dass er ausgerutscht sei, denn der Holzboden kam mit Hochgeschwindigkeit auf ihn zu, und für einen Moment wirkte es, als seien es die Planken, die mitten in seinem Gesicht gelandet waren. Doch gerade als er sich auf alle viere aufrichten und hochschauen wollte, sah er das Metallrohr herabsausen. Er hatte nicht einmal Zeit zu erklären, dass man ihn mit jemand verwechselt haben musste, bevor ihn die Stange am Kopf traf und ihm für alle Zeiten jede Möglichkeit des Protestes nahm. Die traurige Wahrheit ist: Erklärungen sind nur etwas für die Lebenden.

KAPITEL 2

Kommissar Axel Hake stand in der Küche und lehnte sich auf seinen Gehstock. Er hatte breite Schultern, kurz geschnittenes Haar und trug zu seiner Jeans eine Anzugjacke aus grobem Tweed. »Also, kommst du jetzt?«

Er schaute zu seiner Schwester Julia hinüber, die vor einem Spiegel stand und Ordnung in ihr strubbeliges Haar zu bringen versuchte. Im Gegensatz zu ihrem Bruder sah sie nicht besonders gut aus, aber sie hatte schöne, ironisch funkelnde Augen. Sie selbst fand, dass ihr Gesicht einer Kinderzeichnung mit falschen Proportionen glich. Die Nase war knubbelig, die Lippen etwas zu breit, die Wangen rundlich wie ein aufgegangener Kuchenteig. Allerdings bekümmerte so etwas Julia Hake wenig, denn ihre große Passion war das Leben als Veterinärin im Forstgebiet Tullinge, und an Männern hatte es ihr nie gemangelt. Gut aussehende Männer. Mit anderen gab sie sich nicht ab. »Manche Frauen mögen humorvolle Männer, mächtige Männer oder hochkultivierte Männer. Ich mag meine Männer schön. Mehr ist nicht dabei«, hatte sie einmal leichthin erklärt.

Aber heute hatte Hake das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte sogar einen alten Lippenstift hervorgekramt, den sie sich auf den Mund schmierte, und grimassierte vor dem Spiegel. Das Rot sah aus wie eine blutende Wunde.

»Ich muss Siri in einer Stunde vom Hort abholen, also solltest du dich ein bisschen beeilen«, sagte er und wiegte sich auf seinem Stock.

Er war mit einigen Kartons Rotwein zu seiner Schwester hinübergefahren. Diesen Gefallen tat er Julia hin und wieder, vor allem um zu sehen, wie es ihr draußen in ihrer Einsiedlerklause ging. Das Haus lag einsam mitten in einem großen, dunklen Fichtenwald, kein idealer Wohnort für eine alleinstehende Frau, wie er fand. Aber seine Schwester zeigte sich nie beunruhigt. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich am sichersten, wenn nicht allzu viele Menschen in der Nähe waren.

Etwas geistesabwesend hatte sie die Weinkartons entgegengenommen, auf dem Herd abgesetzt, war eine Weile wirr im Haus herumgerannt und hatte Axel Hake überredet, sie mit seinem Auto ein paar Kilometer zu kutschieren. Ihr Landrover hatte einen Platten, und sie hatte keine Zeit, ihn zu reparieren. Sie wechselte mehrmals ihre Garderobe, nur um schließlich ihre alte Jeansjacke anzuziehen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte sie sich noch nie so oft im Spiegel betrachtet.

Schließlich war sie ausgehfertig, warf einen wirklich allerletzten Blick in den Spiegel, sank ein bisschen in sich zusammen und ging aus dem Haus. Axel Hake folgte ihr mit hinkenden Schritten. Er war nicht gerade ein Invalide, aber er hatte eine Kugel ins Knie bekommen und einen bleibenden Schaden zurückbehalten – nach einer medizinischen Behandlung, die nach Hakes Meinung an Misshandlung grenzte.

»Der Schal!«, rief Julia und lief zurück ins Haus.

Hake seufzte und hinkte weiter zu seinem alten, rostigen Citroën. Er setzte sich auf die Motorhaube und ließ seine Blicke umherschweifen. Julia Hakes Tierarztpraxis sah ein bisschen baufällig aus. Das große Wohngebäude war zwar in gutem Zustand, doch die alte Scheune und die Weidezäune um das Gehege machten einen Eindruck von ... nicht gerade Vernachlässigung, aber zumindest einem Mangel an Pflege. Julias Erklärung war, dass Tiere keine ästhetischen Präferenzen hätten und dass die Arztpraxis, die vor allem kranke Pferde, Hunde und Kleintiere versorgte, ihre Funktion mehr als erfüllte.

Die Tür wurde wieder geöffnet, und Julia kam heraus. Sie trug über ihrer Jeansjacke ein farbenfrohes Tuch um den Hals. Kurz vor Hake blieb sie stehen und blickte ihn direkt an. Die seegrasfarbenen Augen blitzten.

»Na«, fragte sie, »bin ich so okay?«

»Du triffst dich doch nur mit so einem Typen aus einer Veganerkommune, richtig?«

»Bin ich okay?«, wiederholte sie scharf.

Axel Hake nickte. Sie sah mehr als »okay« aus. Aber er war dennoch beunruhigt. Solange er sich zurückerinnern konnte, hatte sie schöne, charakterlose Männer nach Hause geschleppt ... und sie wie Luft behandelt. Das hatte Julia auf gewisse Weise noch interessanter gemacht, denn ihre Liebhaber waren eine solche Gleichgültigkeit nicht gewohnt. Es hatte genug Krach und Streit gegeben, und mehr als einmal hatte Hake dazwischen gehen müssen. Aber er hatte dennoch immer das Gefühl gehabt, dass sie am Ende ohne seelische Kratzer davonkommen würde. Diesmal sah es jedoch so aus, als sei die große Liebe über Julia hereingebrochen. Sie wirkte unsicher und war noch launischer als gewöhnlich. Sie grämte sich darüber, dass sie vielleicht schon zu alt war, um Kinder zu bekommen. Der Mann, dem sie ihr Herz geschenkt hatte, war eigentlich noch ein halber Junge: gerade über zwanzig, von russischer Abstammung und Mitglied einer Veganerkommune, die tatsächlich tiefer im Wald lag als die Tierarztpraxis. Hake kannte ihn bisher nicht und hatte von Julia nur aufschnappen können, dass er blond war und einen glatten, unbehaarten Körper besaß. Als er nach dem Charakter des Jungen fragte, hatte sie ihn verständnislos angesehen und gefragt, was das mit der Sache zu tun haben sollte. Lieber Himmel, der Russe sah schließlich aus wie ein griechischer Gott ...

Marianne de Vrie saß in ihrem schicken, historisch wertvollen Haus auf der Insel Långholmen – mitten in Stockholm – und versuchte sich auf den Reiseführer zu konzentrieren, an dem sie gerade arbeitete. Sie hatte eine Reihe gut geschriebener, faktengespickter Bücher herausgegeben, die von einem treuen Leserkreis gekauft wurden. Jetzt befand sie sich allerdings in einer peinlichen Klemme, denn sie litt mit einem Mal unter einer Schreibblockade, und die Worte kamen nicht so, wie sie sollten. Eine Freundin hatte ihr den Rat gegeben, sich nicht zu überanstrengen, sondern im Internet nach Beschreibungen der Orte zu suchen, über die sie berichten wollte. Das hatte Marianne als unmoralisch abgelehnt. Aber nach einem halben Jahr geistiger Dürre hatte sie sich doch ins Netz begeben und vor kurzem eine französische Reisereportage aufgestöbert, die sicherlich kein schwedischer Leser jemals zu Gesicht bekommen würde. Sie hatte den Tag damit verbracht, den Text zu übersetzen, der vom Besuch eines Vogelmarktes in Marrakesch handelte. »Vögel, die im Wüstensand baden« würde sie ihn nennen und für das erste Kapitel ihres Buches benutzen. Aber nach dieser Kopierarbeit fühlte sie sich nervös und unruhig, schämte sich ein bisschen und beschloss, auf einen langen, beruhigenden Spaziergang zu gehen.

Marianne blickte auf die herbstliche Landschaft, Laubbäume in brennenden Farben, während sie den Skutskepparvägen entlang wanderte. Mit jedem Schritt fühlte sie, wie die Anspannung nachließ, wie die Schuldgefühle sich aufzulösen begannen. Dennoch warf sie unruhige Blicke in alle Richtungen, sie hatte das Gefühl, als würde ihr jemand über die Schulter schauen. Ein Unsichtbarer stand hinter ihr und ermahnte sie, ihr Publikum nicht hinters Licht zu führen. Sie ging schneller, um das Gefühl loszuwerden, was sich jedoch als Fehler erwies. Schnell war sie so ausgepumpt, dass sie sich am Lattenzaun neben dem Pålsund-Kanal abstützen musste. Zum Wasser hin stand ein Holztor offen, und dahinter liefen Bootstege am Wasser entlang.

Sie legte stets Wert darauf, Haltung zu bewahren, niemand sollte sie sehen, während sie nach Atem keuchte. Also trat sie auf den Steg hinaus und schaute seufzend auf die Wellenmuster hinunter. Zuerst glaubte sie, jemand habe sich hinter sie gestellt, um sich im Kanal zu spiegeln. Gleich unter der Wasseroberfläche stand ein Mann in einem Mantel und starrte sie mit leeren Augen an. Erst als sie das schwerelos treibende Haar sah, die milchweißen Augenhöhlen und das entstellte Gesicht, verstand sie, dass es ein Toter war, der dort mehr oder weniger aufrecht im Wasser stand. Zuerst konnte sie nicht begreifen, wie diese Haltung möglich war, doch dann sah sie die Metallkette um sein Bein, die ihn an Ort und Stelle hielt. Und gleich darauf hallte ihr Schrei über den Kanal, fing sich in der gewaltigen Wölbung der Västerbrücke und wurde zu einem Echo, das scheinbar kein Ende mehr nahm.

Die Veganerkommune lag auf einer Lichtung, umgeben von idyllisch rauschendem Fichtenwald. Als Haupthaus diente eine große, gelb gestrichene Jugendstilvilla mit drei Etagen. Das typische schwedische »Bellmann-Gelb«, wie Hake irgendwann gelesen hatte. Ein Farbton, mit dem man mehrere Jahrhunderte lang die eleganteren schwedischen Häuser und Gebäude gestrichen hatte. Neben der Villa befanden sich ein paar Schuppen und davor ein grauer VW-Bus. Als er auf den Wendeplatz einschwenkte, fiel sein Blick auf einen älteren Mann, der ihnen entgegenging. Er war um die fünfzig, hatte ein hageres Gesicht, breite buschige Augenbrauen und kastanienbraunes Haar. Hake hatte sich unter dem Leiter der Kommune eine Art Guru-Gestalt vorgestellt, aber dieser Mann ähnelte eher einem Freizeitjäger als einem Philosophen. Julia winkte ihm zu, und der Mann nickte kurz.

»Wie geht es Elina?«, fragte Julia, als sie beide aus dem Citroën gestiegen waren.

Der Mann musterte Hake und seinen Gehstock mit einem wachsamen Blick, bevor sich seine Augen auf Julia hefteten. »Ich glaube, das Fieber hat nachgelassen, aber du solltest sie dir besser mal ansehen.«

Julia hatte erzählt, dass die Hündin der Kommune ernsthaft krank geworden war, nachdem sie Junge bekommen hatte. Als Ärztin hatte sie es übernommen, sich um das Tier zu kümmern. Auf diese Weise hatte sie auch ihren neuesten Bettgespielen kennen gelernt.

»Ist Juri da?«

Der Mann machte eine Kopfbewegung zum Hauseingang. »Er hält Wache am Krankenbett.«

Julia begann förmlich zu strahlen, öffnete den Kofferraum und holte ihre medizinische Ausrüstung heraus. »Also, ich gehe dann wohl rein«, meinte sie und schaute ihren Bruder an.

»Zehn Minuten höchstens«, sagte Hake.

Julia nickte und hastete ins Haus. Der Mann machte einen Schritt auf Hake zu und streckte die Hand aus. »Gustav Lövenhelm«, stellte er sich vor.

»Axel Hake. Ich bin Julias Bruder.«

»Ach so«, meinte Lövenhelm. »Sie sehen sich nicht sehr ähnlich.« Er musterte Hake ungeniert.

»Tja«, sagte Hake, »unsere Eltern behaupten, wir seien verwandt, aber sicher wissen kann man das ja nie.«

Lövenhelm lächelte andeutungsweise, wiegte sich auf den Fußsohlen und machte eine Handbewegung zum Haus hin. »Wir haben Kräutertee. Bedienen Sie sich einfach, so funktioniert das bei uns in der Kommune.«

Hake bedankte sich und ging auf das Haus zu, gerade als zwei junge Frauen angeradelt kamen und vor Lövenhelm stehen blieben. Hake hörte ihn sagen, dass sie Glück hätten, in der Kommune sei gerade Platz. Den Rest bekam er nicht mit, denn in diesem Moment begann sein Handy schrill zu klingeln. Am anderen Ende war Oskar Lidman, sein Kollege bei der Kripo.

»Es gibt Arbeit«, sagte Lidman. »Wir haben eine Wasserleiche.«

Hake ging ins Haus, um Julia zu finden. Er glaubte, sie im zweiten Stock reden zu hören und ging, der Stimme folgend, eine breite Treppe hinauf. In einem der Räume stand Julia vor einem sehr jungen Mann mit blassem, fast albinobleichem Gesicht und leuchtend weißem Haar.

»Ich weiß noch nicht, Julia«, sagte der Junge mit einem slawischen Akzent. »Ich habe eine Menge zu tun.«

»Bitte, bitte, Liebling«, schmeichelte Julia. Hake gefiel der Ton ihrer Stimme nicht. Sie klang unterwürfig und zuckersüß.

Der Junge nahm ihr Gesicht in seine Hände und schaute sie mit einem zufriedenen Ausdruck an. Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und schob sie dann brüsk von sich weg. Gleich darauf wandte er sich dem Hund zu, der auf einer Decke lag und an dessen Bauch vier Welpen gekuschelt waren. »Wie geht es denn nun eigentlich Elina?«

Julias Augen hingen noch einige Sekunden an seinem Gesicht, ehe sie zu der Hündin hinunterschaute.

In diesem Moment ließ sich Hake in der Tür blicken, so als sei er gerade erst die Treppe herauf gekommen und habe nicht gesehen, was vor sich ging. Juri betrachtete ihn forschend.

»Ich muss los, Julia. Oskar Lidman hat angerufen. Ich habe Bereitschaft, und es ist eilig. Die Spurensicherung ist schon am Tatort.«

»Tatort«, wiederholte Juri. »Bist du ein Bulle?«

»Nein«, sagte Axel Hake. »Ich bin Polizist, und was bist du?«

Juri lächelte versonnen und warf einen Seitenblick auf Hakes Schwester. »Wenn es nach Julia geht, bin ich Fürst Myshkin. Sie wissen schon, aus Dostojewskis Buch.«

»Ein Idiot also.«

Julia warf ihm einen vernichtenden Blick zu, aber Juri antwortete nur ruhig: »Das kann schon sein. Vielleicht bin ich ein Idiot.« Er lächelte Julia zu, und das Lächeln war blendend.

Oskar Lidman wartete unten am Pålsund-Kanal. Die Spurensicherung hatte den Bereich abgesperrt, und einige Schaulustige standen herum und versuchten zu sehen, was passiert war. Die Leiche lag hinter einem aufgespannten Tuch, das dafür sorgen sollte, dass die Pressefotografen keine Gelegenheit zu einem Schnappschuss bekamen. Ein Reporter sprach mit Marianne de Vrie, die mit leiser Stimme von ihrem Fund berichtete. Kommissar Axel Hake trat ein paar Schritte vor, um die Person sehen zu können, die auf der Plastikbahre lag. Das Gesicht war grotesk aufgequollen, man konnte die Züge nur mit Mühe erkennen. Die Haare waren rot, aber die Augenfarbe unmöglich zu bestimmen. Fische und anderes Wassergetier hatten die Augäpfel zum größten Teil weggefressen.

»Wissen wir, um wen es sich handelt?«, fragte Hake.

Oskar Lidman schüttelte den Kopf und versenkte seine Hände in den Jackentaschen. Er war korpulent, um nicht zu sagen fett, aber wenn es nötig war, bewegte er sich gewandt und schnell. Man konnte leicht erraten, dass Tanzen sein Hobby und seine Passion war, denn seine Schritte wirkten rhythmisch, als folgten sie dem Takt einer Salsa- oder Rumbamelodie.

»Allzu schwer kann das nicht werden, mit dieser Tätowierung.« Hake deutete auf den linken Arm des Mannes, wo ein weißer Flügeldrache in chinesischem Stil vor einem schwarzen Hintergrund schwebte. In einer Ecke des Bildes befand sich die Ziffer zwei und mitten in der Tätowierung ein Viereck, das in zwei farbige Flächen aufgeteilt war – rot und grün – und von einer Art goldener Feuerflamme durchschnitten wurde. Hake hatte noch nie etwas Ähnliches gesehen.

»Es wird schwierig, falls er nicht aus Schweden stammt«, gab Lidman zu bedenken.

Die dünne Gestalt von Gerichtsmediziner Brandt kam auf sie zu. Der Mann grüßte mit einem kurzen Nicken. »Ich kann jetzt schon sagen, dass sich der Zeitpunkt des Mordes unmöglich bestimmen lassen wird. Der Mann hat sicher eine gute Woche im Wasser gelegen, und die Wassertemperatur hat in den letzten Tagen sehr geschwankt.«

›Mal wieder typisch‹, dachte Hake. Das bedeutete, dass man eventuelle Verdächtige nicht nach einem Alibi befragen konnte.

»Aber er ist auf jeden Fall ermordet worden«, fuhr Brandt mit seiner heiseren Stimme fort, die wie das Knirschen von trockenem Kies klang. »Jemand hat ihm mit einem gerundeten Gegenstand auf den Kopf geschlagen, zwei- oder dreimal hintereinander. Ein Eisenrohr oder etwas Ähnliches.«

»Also war er tot, bevor man ihn im Wasser versenkt hat?«

Brandt betrachtete Hake mit kaum verborgenem Widerwillen. »Was glauben denn Sie? Wie Sie selbst sehen können, ist der Schädel so gut wie zertrümmert.«

»Man kann einen Menschen wohl zuerst ertränken und ihm dann den Schädel einschlagen«, konterte Hake ruhig. »Manchmal kommt es ja vor, dass ein Mörder nicht mit offenen Karten spielt.« Er dachte nicht daran, Brandt einen so billigen Sieg zu gönnen.

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Brandt um und marschierte Richtung Leichenwagen davon.

Hake schaute erneut auf das Mordopfer. Die Kette um den Fuß des Mannes hatte tief ins Fleisch geschnitten, und man sah deutlich den weißen Knochen unter dem Metall. Der an der Kette befestigte Anker bestand aus Stahl und war schwer genug, um einen Körper ohne Weiteres unter Wasser zu halten.

»Warum hat man ihn ausgerechnet hier versenkt?«

»Vielleicht ist der Mord an dieser Stelle begangen worden«, meinte Lidman.

»Möglich, aber warum sollte man ihn überhaupt unter Wasser anketten? Warum hat man ihn nicht einfach irgendwo liegenlassen? Falls der Tote nicht gefunden werden sollte, dann ist diese Methode denkbar ungeeignet. Es war klar, dass ihn früher oder später jemand sieht.«

»Seit wann sind Mörder intelligent?«, knurrte Lidman und blickte zur viel befahrenen Västerbrücke hinauf, dann auf das Niemandsland darunter. Unter der Brücke wuchs fast nichts, hier fühlten sich nur Asseln und Ratten zu Hause. Alles war genauso tot wie der Mann auf der Plastikbahre.

Die Leiche war an einem Platz genau unter der massiven Stahlkonstruktion der Brücke gefunden worden, so dass die Passanten oben nicht hatten sehen können, was auf dem Landungssteg vor sich ging. Noch immer lagen Boote zu beiden Seiten des Wasserweges vertäut, aber die meisten waren bereits an Land gezogen worden und thronten hoch am Ufer unter schweren Persennings. Einige waren auf Trailern aufgebockt, andere auf Holzgestellen. Eine Reihe Wagen parkte in der näheren Umgebung, und fast ganz unten am Wasser stand ein alter weißer Bus. Das Linienschild über dem Führerstand verkündete »Außer Betrieb«.

Axel Hake schaute auf die Uhr. »Ist Tobisson noch nicht aufgetaucht?«

Lidman schüttelte den Kopf.

»Wenn er kommt, können Sie ihm bestellen, dass er mit ein paar Männern losgehen soll, Klinken putzen und Zeugen suchen.«

»Das wird ihn sicher freuen«, murmelte Lidman. Er sah sich um. »Na ja, immerhin sind nicht besonders viele Wohnungen in der Nähe.«

Hake deutete mit seinem Stock auf die andere Kanalseite, wo hinter der Uferstraße Söder Mälarstrand die hohen, ausladenden Wohnblocks der Lorensbergsgatan standen. »Also, ich dachte eigentlich an die da drüben. Man kann von den Fenstern schließlich bis hierher sehen.«

Lidman wurde blass. Die Zahl der Mieter belief sich vermutlich auf einige hundert, und Tobias Tobisson hatte eine nervenaufreibende Arbeit vor sich. Er wünschte, Hake würde ihm das selbst mitteilen.

Hake warf einen letzten Blick auf den Toten und ging dann zu den Mitarbeitern der Kriminaltechnik hinüber, um ihnen Bescheid zu sagen, dass sie anfangen konnten, den Fundort der Leiche zu dokumentieren. Anschließend schlenderte er mit gemächlichen Schritten den Pålsund-Kanal entlang, bis er zu der alten Mälaren-Werft kam. Er wollte eine Weile alleine sein und die Umgebung auf sich wirken lassen. Die Insel Långholmen war ein hübscher Teil des Bezirks Södermalm, fast eine Idylle. Selbst die einfacheren Häuser und Werkstätten hatten einen gewissen Charme, obwohl man wusste, dass sich hinter dem pittoresken Äußeren ein harter Arbeitsalltag verbarg. In einem der Gebäude war der Schein eines Schweißgeräts zu sehen, flammte auf und erlosch in unregelmäßigen Abständen und erleuchtete die Fensterfront in Richtung des Fußwegs. Hake schaute auf das Wasser hinaus. In seinem Unterbewusstsein rumorte etwas, aber er bekam es nicht zu fassen.

Er ließ den Blick über den Ratshauskai gleiten, weiter in Richtung Riddarholmen und schließlich zurück zur Uferhöhe von Södermalm. Seine Gedanken wanderten zu dem Stadtteil, in dem er sich gerade befand. Stockholms Süden, »Söder«, hatte sich sehr verändert. Zu Beginn war hier eine richtige Arbeitergegend gewesen, mit Spinnereien, Brauhäusern, Trankochereien und einem bunten Gemisch von Kleinbetrieben. Dienstmägde, Lumpensammler, Schichtarbeiter und Handwerker hatten sich durch die Straßen gedrängt. Hier hatten die »Vielkinderhäuser« für sozial schwache Familien gestanden, die Gefängnisse und Schnapsfabriken. Hierhin wurden unter Gustav Vasa die Geistesgestörten und Leprakranken abgeschoben. In den letzten Jahren hatte der Stadtteil allerdings sein Image aufpoliert, denn Journalisten, Kulturschaffende und allerhand Künstlervolk waren hierher gezogen. Im Süden zu wohnen war »trendy« geworden, die Jugend pilgerte in Scharen zu den Cafés, Restaurants und Biergärten. Dennoch war Södermalm weiterhin ein Stadtteil mit ganz eigener Atmosphäre. Etwas ärmlicher als das übrige Stockholm, und es gab noch immer eine Menge Kleinbetriebe, Autowerkstätten, Boxlokale und geduckte alte Arbeiterhäuser. Gleichzeitig war der Süden das Gebiet von Stockholm, wo man sich am deutlichsten bewusst wurde, dass die Stadt ein Teil der Schären war. Hier traten die nackten Granitfelsen zutage, Klippen fielen schroff zum Wasser ab, und an die Steilufer zwischen den Stadtteilen Katarina und Maria klammerten sich Fischerkaten und windschiefe Häuschen.

Hake ließ seinen Blick vom Süden Richtung Kungsholmen weiterwandern. Auf der anderen Seite des Wassers konnte er bis zur Chapmansgatan schauen, wo seine Wohnung lag. Nicht weit davon befand sich auch der Kindergarten seiner Tochter Siri. Bei diesem Gedanken wurde das nagende Gefühl in seinem Hinterkopf plötzlich überdeutlich. Er blieb ruckartig stehen und fluchte leise. »Verdammt, Siri!«

Er sah auf die Uhr und stellte fest, dass er sich über eine Stunde verspätet hatte. Hastig kramte er sein Handy heraus und rief beim Hort an, aber ihm tutete nur das Besetztzeichen entgegen. Hastig humpelte er zurück zu seinem Auto.

KAPITEL 3

Am nächsten Morgen wachte Hake zeitig auf. Das passierte ihm immer zu Beginn eines neuen Falls. Ein Teil seines Bewusstseins arbeitete schon fieberhaft, und er spürte eine nur allzu vertraute Mischung aus Anspannung und Neugier. Wie ein Vollblutpferd, das in die Startbox geführt wird und durchaus weiß, worum es geht, aber dennoch vor dem Wettkampf zurückscheut, sich sträubt und bockt. Wenn erst die Startklappen fielen und das Rennen eröffnet war, dann verschwand dieses Gefühl, aber die Zeit davor war nervenaufreibend.

Hanna schlief noch immer, und er wusste, dass es lange dauern würde, bis er wieder neben ihr lag. Sie wollte ihn nicht im Bett haben, während er mitten in einem Mordfall steckte. Anscheinend hatte sie das Gefühl, der Blutgeruch stecke noch in seinen Kleidern, wenn er vom Gerichtsmediziner oder von einem Tatort zurückkehrte. Zuerst war es ihm schwer gefallen, das zu akzeptieren. Aber sie beide hatten sich nun einmal für diese Art von Beziehung entschieden – für ein unabhängiges Leben. Er hatte eine Wohnung in der Chapmansgatan und sie eine bei der Kungsholmer Kirche.

Hake rollte sich auf die Seite und betrachtete Hanna. Ihr Gesicht hatte etwas Altmodisches, es wirkte fast durchscheinend, mit Sommersprossen um den Nasenrücken und vollen Lippen, die leicht aufgesprungen waren. Das Haar hing ihr halb übers Gesicht, und er strich es vorsichtig mit der Hand fort. Sie murmelte etwas im Schlaf, aber dann öffnete sie ein Auge, beinah farblos, das ihn zuerst scharf ansah, bevor der Blick etwas sanfter wurde. Sie küsste ihn kurz auf den Mund, dann drehte sie sich um und schlief weiter.

Gestern hatten sie einen gelungenen Abend miteinander verbracht. Sie hatte es ihm nicht übel genommen, dass er seine Tochter beim Hort vergessen hatte. Siri hatte ebenfalls nichts gesagt, als er endlich aufgetaucht war. Sie hatte ihn nur mit einem genervten Blick angesehen, bevor sie zur Garderobe ging und ihre Regenjacke herunternahm. »Na, sagen wir es Mama?«, hatte sie leichthin gefragt. Inzwischen war Siri in das Alter gekommen, wo sie nur zu gerne ein bisschen Aufregung und Geheimnisse hatte, um auszutesten, wo ihre Eltern die Grenzen zogen.

»Sie wird es schon verstehen«, meinte Hake.

»Da bin ich nicht so sicher«, antwortete Siri.

Als Hake an diesem frühen Morgen aus der Tür trat, regnete es, wie schon die ganzen Wochen zuvor. Der Friedhof mit seinem schmiedeeisernen Zaun lag in grauen Nebel gehüllt, der eine unheimliche Atmosphäre schuf. Der Blick auf den Horizont wurde von den hohen Wohnblöcken begrenzt, und unten am Wasser schienen die dunklen Wände zurückzuweichen, um sich gegen den Regen zu schützen. Hake schlurfte an den Hausfassaden entlang und benutzte seinen Gehstock als eine Art Fühler, um sich in den undurchsichtigen Regengüssen voranzutasten.

Auf halbem Weg zum Polizeipräsidium fiel ihm ein, dass er eigentlich zur Gerichtsmedizin hatte gehen wollen, und er kämpfte sich gegen den schneidenden Wind zurück zum Auto. Die Fahrt war ein Albtraum. Dunkelgekleidete, schattenhafte Gestalten, die plötzlich auf die Fahrspur traten und voraussetzten, dass man sie durch den Sturzregen sah. Autos, die ohne Vorwarnung direkt vor ihm abrupt bremsten. Stop-and-go-Verkehr, der sich den ganzen Weg bis zum Bezirk Solna hinzog. Er fluchte zwischen zusammengebissenen Zähnen vor sich hin.

Als er endlich bei der Gerichtsmedizin angekommen war und seinen Regenmantel ausgezogen hatte, fand seine schlechte Laune sofort einen neuen Aufhänger. Jetzt ärgerte er sich über die unnatürliche Ordnung und Regelmäßigkeit, die in den Räumen herrschte. Die glatten Wände wirkten steril, die metallblitzenden Kühlapparate reflektierten das Licht der Fenster in scharfen, sachlichen Winkeln, und die frisch gewaschenen Obduktionstische standen in Reih und Glied, als gehörten sie in eine Fabrikhalle. Aber so war das nun einmal bei einem neuen Fall: ein ständiges Gefühl von Gereiztheit, das nur darauf wartete hervorzubrechen.

Hake ging zu dem hintersten Stahltisch, neben dem Oskar Lidman und Brandt standen und auf den Toten herunterschauten. Der Anblick wirkte obszön. Nicht nur der aufgedunsene Körper und das karottenrote Schamhaar, das sich im Schritt kräuselte. Nicht nur die Wunde am Kopf, die inzwischen eine schreiend blaue Farbe angenommen hatte und sich mit den roten Haarresten biss, die dem Rasiergerät entgangen waren. Sondern der grundsätzliche Gedanke, einen splitternackten Menschen auf einem blanken Metalltisch auszustellen. Wie ein Stück totes Fleisch. Noch geschmackloser wurde die Szene dadurch, dass Brandt an dem Körper herumgesäbelt hatte und der Brustkorb mit großen Stichen an der Stelle zugenäht war, wo die Säge ins Fleisch geschnitten hatte.

»Es ist kein Wasser in der Lunge, also ist er an der Schädelfraktur gestorben«, sagte Brandt, als Hake sich näherte, und schaute ihn triumphierend an. »Genau, wie ich vermutet hatte.«

»Sonst noch was?«

Brandt deutete auf eine Schale, in der mehrere innere Organe lagen. »Kranke Leber. Das kann man auf den ersten Blick sehen. Schon an der Grenze zur Verfettung. überhaupt war er in ziemlich schlechtem körperlichen Zustand. Aber er hatte weder Alkohol noch Drogen im Blut.«

»Konnten Sie feststellen, wann er gestorben ist?«

»Nein, und ich bezweifle, dass sonst jemand das könnte. Das Wasser war kalt, und der Verwesungsprozess wird dadurch natürlich sehr verlangsamt.«

»Geben Sie mir zumindest ein ungefähres Datum.«

»Nichts zu machen. Ich bin Wissenschaftler und kein Hellseher.«

»Zwei Wochen, drei Wochen?«

Brandt zierte sich noch etwas, bevor er schließlich mit den Schultern zuckte. »Eher zwei, aber das würde ich nicht beschwören.«

»Können Sie mir wenigstens genauer sagen, wie alt er ist?«

»Seiner körperlichen Verfassung nach sollte er sechzig sein, aber ich schätze, er war ungefähr vierzig.«

»Wieso das?«

»Es gibt keine Vergrößerung der Prostata, wie sie bei den meisten Männern in höherem Alter auftritt, und keinen Zahnverlust.«

»Was ist mit zahnärztlichen Eingriffen?«

»Da bin ich kein Experte, aber jedenfalls sieht sein Gebiss nicht aus, als habe es die typische osteuropäische Behandlung bekommen. Kein Goldzahn, soweit das Auge reicht.«

»Und was ist mit den Verletzungen, an denen er gestorben ist?«

»Olle Sandstedt von der Kriminaltechnik war hier und hat gesagt, dass aller Wahrscheinlichkeit nach ein Metallrohr benutzt wurde. Das Rohr muss recht lang gewesen sein, um einen solchen Schwung zu bekommen, dass der Schädel gleich zersplittert ist.«

Hake nickte und schaute zu Lidman hinüber, der ein Pfefferminzbonbon in seinem Mund von einer Seite auf die andere wandern ließ. Das war sein neuester nervöser Tick, mit dem er versuchte, sich das Rauchen abzugewöhnen. Vorher hatte er auf Streichhölzern herumgekaut, bis seine Frau es satt hatte, überall in der Wohnung feuchte, zerfaserte Holzreste zu finden.

»Wir brauchen ein Foto seines Gesichts, egal wie grotesk es aussieht. Und von dieser Tätowierung will ich auch eine Nahaufnahme.« Er deutete auf den schwarz-weißen Drachen.

»Etwas Ähnliches habe ich noch nie gesehen«, stellte Brandt fest. »Der Stil ist eine Mischung aus asiatisch und europäisch. Eine römische Zwei und ein chinesischer Drache.« Er schüttelte den Kopf.

Hake warf einen letzten Blick auf den Mann auf dem Stahltisch. Der Tod war nie besonders kleidsam, und das galt umso mehr für Wasserleichen.

Axel Hake und Oskar Lidman gingen in die Polizeikantine und aßen Grützwurst, bevor sie oben in ihrer Abteilung einen Raum als zentrales Büro für diesen Fall einrichteten. Bisher gab es noch nicht viel Material, aber das Labor hatte schon die Bilder hochgeschickt, und Lidman pinnte sie an einer großen Wandtafel fest. Es gab Fotos sowohl von der Obduktion als auch vom Fundort der Leiche.

Die Tür schlug auf und Tobias Tobisson kam herein. Neben dem übergewichtigen Lidman wirkte er wie ein Strich in der Landschaft. Er war sehnig und mager aus Überzeugung, betrachtete sich selbst als einen Marathonläufer, der Kilometer um Kilometer den Schmerz besiegt und das Tempo bis zum bitteren Ende durchhält. Auf Lidman schaute er wegen seiner schlappen Figur herab, hatte aber gleichzeitig ein bisschen Angst vor der Intelligenz und Schlagfertigkeit seines Kollegen. Lidmans Kommentare trafen meist zielgenau auf den Punkt. Einmal hatte er eine Liste zusammengestellt, die bewies, dass er weniger oft krank gemeldet war als Tobisson, der immer damit angab, wie fit er durch seinen Leistungssport war. »Da haben Sie es Schwarz auf Weiß. Die Hälfte ihrer Fehltage waren Sportunfälle. Kaputter Meniskus hier und Sehnenentzündung da. Sport ist Mord.«

Tobisson war völlig sprachlos gewesen.

Jetzt blieb er vor der Wandtafel stehen und warf einen Blick auf die Fotografien. Das war das erste Mal, dass er den Zustand der Leiche zu sehen bekam. Schnell wandte er den Kopf ab und beschäftigte sich damit, ein Notizbuch hervorzuholen. »Ich habe den ganzen gestrigen und heutigen Tag damit verbracht, an Wohnungstüren zu klopfen«, sagte er in einem sachlich-kühlen Ton. »Ohne zu wissen, an welchen Zeitpunkt sich die Zeugen erinnern sollen, oder wenigstens an welche Woche. Ohne ein Foto von dem Mann zu haben.«

»Gab es jemanden, der etwas beobachtet hat?« Hake stellte sich ans Fenster und schaute hinaus. Das Wetter war nach der Mittagspause kurz aufgeklart, und ein hellgelber Lichtschimmer hatte sich über die Wolken gebreitet, als die Sonne fast schon hervorgebrochen war. Doch gleich darauf hatte es wieder angefangen in Strömen zu gießen. Jetzt hatte der Himmel eine blauviolette Farbe angenommen, und Hake hörte das Wasser aus den Regenrinnen hart auf den Asphalt klatschen.

»Alles Mögliche haben die Leute gesehen. Anscheinend tut die Hälfte nichts anderes, als den ganzen Tag aus dem Fenster zu starren. Sie haben verdächtige Gestalten gesehen, die bestimmt ein paar Jachten klauen wollten. Ein Paar, das in der Mittagspause zwischen den Booten herumgevögelt hat. Mystische Personen. Aber wenn man genauer nachbohrt, dann kommt oft heraus, dass sie nur jemanden bei der Polizei anschwärzen wollen.« Er zog eine Grimasse. »Die Leute sehen Fixer, Penner, Rumlungerer und leichtsinnige Frauenzimmer. Sie sehen ...«

»Okay, haben sie etwas Wichtiges gesehen?«, fuhr Lidman gereizt dazwischen und sog mit einem schmatzenden Geräusch an seinem Pfefferminzdrop.

»Nein«, sagte Tobisson verstimmt.

»Schreiben Sie trotzdem alles in Ihren Bericht«, befahl Hake und wandte sich vom Fenster ab. »Wir tasten schließlich noch herum, und man weiß nie.«

»Unser Mordopfer könnte der Mann sein, der seine Mittagspausen mit Open-Air-Sex verbringt«, sagte Lidman. »Vielleicht ist ein eifersüchtiger Ehemann dem Paar gefolgt.«

Tobisson schaute ihn mit einem Lächeln an. Es war ein selbstsicheres Lächeln, das deutlich zeigte, wer hier den Trumpf in der Hand hielt. »Kaum. Die beiden waren erst vorgestern wieder zugange.«

Lidman erhob sich und zerrte den hinteren Teil seiner Hose zurecht. »Okay, aber vielleicht haben sie etwas beobachtet. Auf jeden Fall könnte es sich lohnen, das weiter zu verfolgen.«

Hake nickte in Tobissons Richtung, der nur dumpf stöhnte.

»überprüfen Sie die beiden.« Er durchquerte den Raum und setzte sich auf eine Schreibtischkante. »Die Kriminaltechnik dürfte sich um den Anker, die Metallkette und eventuelle Fingerabdrücke kümmern. Lidman, Sie setzen sich mit unseren Informanten in Verbindung und finden heraus, ob jemand auf der Abschussliste stand.« Sie hatten eine Reihe von V-Leuten, die meistens wussten, ob es zwischen den verschiedenen Banden Ärger gegeben hatte. Das galt sowohl für die Ostmafia, die so genannten Jugos, als auch für die Biker-Gangs. »Am wichtigsten ist natürlich, die Identität des Toten herauszufinden. Das hat oberste Priorität.«

»Und welche Aufgabe übernehmen Sie?«

»Ich werde zum Chef gehen und ihn informieren«, antwortete Hake.

»Richtig, schließlich reden wir gerade über Männer ohne Identität«, spöttelte Lidman. »Ich habe Rilke mindestens seit Gustav Vasas Zeiten nicht mehr gesehen.«

Doch Seymour Rilke befand sich dieses Mal tatsächlich in seinem Büro. Zwar musste Hake zwanzig Minuten warten, bis er von der Sekretärin vorgelassen wurde, aber das waren nur die üblichen Machtspielchen des Polizeidirektors. Man konnte wohl kaum erwarten, dass ein Mann in seiner Position ständig erreichbar war.

Hake ließ sich vor dem imposanten Schreibtisch nieder, an dem der kleinwüchsige Polizeidirektor thronte und einen Mont Blanc-Schreiber zwischen den schmächtigen Fingern drehte. Er hatte einen breiten Kopf, der auf den schmalen Schultern überdimensional groß aussah. Der elegant geschneiderte Anzug aus Kammgarn mit einem Einstecktuch in der Brusttasche gab ihm ein dandyhaftes Aussehen, aber Hake ließ sich davon nicht täuschen. Seymour Rilke besaß sowohl Einfluss als auch Ehrgeiz, das hatte er selbst schon mehrmals zu spüren bekommen.

Hake legte seinem Chef das Foto aus dem Obduktionssaal auf den Tisch. Rilke verzog keine Miene, als er das aufgequollene Gesicht sah. Er betrachtete es sachlich eine ganze Weile. »Wer ist das?«

»Wissen wir nicht. Klar ist nur, dass er vor einigen Wochen ermordet und mit einer Ankerkette ums Bein im Pålsund-Kanal versenkt wurde.«

»Ein Schwede?«

»Wie schon gesagt, das wissen wir nicht.« Hake hatte seinen Gehstock an die Stuhllehne gehängt, der aber die ganze Zeit herunterrutschte. Am Ende klemmte er sich den Stock deshalb zwischen die Beine und stützte das Kinn darauf. Die Pose gefiel Rilke nicht. Sie gab Hake eine Autorität, die er in diesem Raum nicht hätte haben dürfen.

»Ich würde das Foto gerne an die Presse weitergeben«, schlug Hake vor, »das könnte die Untersuchung beschleunigen.«

»Kommt gar nicht in Frage. Das würde nur so aussehen, als wären wir mit diesem Fall aufgeschmissen und hätten überhaupt keine Spuren.«

»So kann man die Lage beschreiben.«

»Oh nein, Sie können sich schon ein wenig anstrengen, bevor wir zu solchen drastischen Mitteln greifen. Ich bin sowieso der Meinung, dass der Fall eher niedrige Priorität besitzt.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Nun, das Ganze sieht doch nach einer Rachegeschichte im Bandenmilieu aus. Diese Methode, Leute verschwinden zu lassen, ist doch geradezu sprichwörtlich. Sie wissen bestimmt, was es heißt einen ›Stehplatz in der Nybro-Bucht‹ zu bekommen?«

»Wie schon erwähnt, wir haben keine Ahnung, um was für eine Art von Verbrechen es sich handelt. Außer, dass es Mord war«, sagte Hake milde.

»Jedenfalls bekommen Sie keine zusätzlichen Mitarbeiter«, erklärte Rilke, schraubte die Kappe von seinem Stift und begann zu schreiben.

Die Audienz war zu Ende. Hake stand auf. »Hat der Mord niedrige Priorität, weil er in Södermalm begangen wurde statt in einem besseren Stadtteil?«

Seymour Rilke schaute nicht einmal hoch. »Das ist doch lächerlich, Herr Kommissar«, sagte er.

Axel Hake klingelte bei Lars Larsson-Varg, seinem Nachbarn und Ex-Museumsvorsteher. Die Tür öffnete sich, und der Mann winkte ihn herein. Er trug einen zerknitterten Leinenanzug und darunter ein schmutziges T-Shirt. Auf dem Kopf trug er eine kleine rote Samtmütze und an den Füßen ausgeleierte Sandalen mit Bastsohle. Das Zimmer war voll gestopft mit Kuriositäten und Gemälden. Auf dem Wohnzimmertisch thronte eine große Gipsbüste von Strindberg, gleich daneben lag ein Paar Boxhandschuhe. Es gab eine Kristallkaraffe mit Wein, aus der Larsson-Varg sich ein Glas einschenkte. Er machte eine einladende Geste, aber Hake lehnte dankend ab.

Hake zeigte ihm das Foto mit der Tätowierung, und Larsson-Varg betrachtete es neugierig. Er war Experte für Renaissance-Kunst, hatte aber eine Passion für alle Arten von Bildern. »Interessant«, murmelte er und nahm einen Schluck Wein.

»Die Sache ist eilig.«

»Gib mir ein paar Tage.« Er sah zu Hake hoch. »Ein Toter?«

Hake nickte.

»Dann sollte man ihn häuten und die Tätowierung behalten.«

»Gott, wie makaber.«

»Nein, ganz im Ernst. In japanischen Museen gibt es eine Reihe Beispiele von kunstvoll tätowierter Menschenhaut. Ganze Rückenabschnitte mit den Werken verschiedener Meister. Das sind schließlich Kunstwerke, so etwas muss für die Nachwelt erhalten bleiben.«

»Den hier werden wir jedenfalls nicht häuten«, sagte Hake bestimmt.

»Ganz wie du meinst.« Larsson-Varg fuhr fort, das Bild zu mustern. »Was ich auf jeden Fall schon sagen kann, ist, dass es sich um einen sogenannten Annam-Drachen handelt.« Er ging zum Bücherbord und nahm einen Band heraus. Als er die richtige Seite aufgeschlagen hatte, prangte dort ein Drachenbild, das tatsächlich vage an die Tätowierung erinnerte.

»Das ist doch immerhin ein Anfang«, nickte Hake. »Ruf mich an, wenn du mehr herausgefunden hast.«

Als Hake ging, schien Larsson-Varg das gar nicht zu bemerken. Er war völlig versunken, hatte einige Farbproben neben das Bild gelegt und murmelte vor sich hin: »Diese Flamme, vielleicht soll sie golden sein, das macht es noch interessanter ...«

Hake wanderte langsam den Skutskepparvägen auf Långholmen entlang. Die Insel war eine Oase mitten in der Großstadt, umgeben vom Wasser des Mälaren. Hier stand das ehemalige Gefängnis, aus dem inzwischen ein Kongresshotel geworden war. Ein Teil der Zellen wurde als Künstlerwohnungen benutzt. Hake ging allerdings nicht in diese Richtung, sondern bewegte sich auf die historische Mälaren-Werft zu. Dieser Bereich war geschützter vor neugierigen Blicken. Falls der Tatort nah am Fundort der Leiche lag, dann sollte man die Suche auf jeden Fall auf dieser Seite der Insel beginnen. Nicht beim alten Gefängnis, wo die Gegend von Spazierwegen und Joggingstrecken durchzogen wurde.

Er betrachtete die kleinen Boote, die noch nicht an Land gezogen worden waren und im windbewegten Kanal an ihren Vertäuungen zerrten. Das Wasser hatte einen fast opalfarbenen Schimmer angenommen, nachdem der Regen die Ölspuren von den Booten gewaschen und über den ganzen Kanal verteilt hatte. Hake stieß die Stockspitze gegen eine Persenning, unter der ein Boot wetterfest eingemottet lag, so dass das Regenwasser den imprägnierten Stoff herunter lief. Fröstelnd schlug er den Mantelkragen hoch und sah sich in dem Wirrwarr aus Autoanhängern, Bootshütten und undefinierbarem Gerümpel um. Hier konnte man ohne weiteres einen Mord begehen, ohne dass es jemandem auffiel.

Rechts von der Pålsund-Brücke stand ein hübsches, orange angemaltes Haus mit dem kuriosen Namen Das Verderben, eine ehemalige Kneipe, in der nun verschiedene Vereine ihren Sitz hatten. Hake holte das Notizbuch hervor, das er immer bei sich trug. Er musste daran denken, einen Mitarbeiter dort vorbeizuschicken. Vielleicht hatte jemand etwas beobachtet. Solche Eingebungen und ersten Eindrücke waren wichtig, und er versuchte immer, sie festzuhalten. Manchmal ergaben sich daraus entscheidende Denkanstöße. Zwar mochten diese Ideen abseitig und irrational wirken, aber Hake vertraute darauf und notierte sie sich immer genau. Seine erste Anmerkung zu dem aktuellen Fall lautete: »Wasserstadt Stockholm«. Damit wollte er das Gefühl ausdrücken, dass der Fundort der Leiche von Bedeutung war, dass es einen Grund gab, warum man den Toten gerade in diesem Kanal gefunden hatte. Er glaubte nicht, dass der Mord in irgendeinem Vorort begangen und die Leiche hierher geschafft worden war, um sie ausgerechnet an dieser Stelle zu deponieren.

Als Hake weitermarschierte, kam ihm mit hoher Geschwindigkeit ein Kleinlaster entgegen. Der Wagen fuhr in Richtung Pålsund-Brücke, ein niedriger Brückenbogen, der sich über den Kanal spannte und größeren Schiffen effektiv den Weg abschnitt. Hake drehte um und ging auf den jetzt abgestellten Laster zu, an dessen Lenkrad ein etwa vierzigjähriger Mann in schmutziger Arbeitskleidung saß. Er hatte ein hohlwangiges, ausgemergeltes Gesicht und eine verschlissene Schiebermütze auf dem Kopf, die aussah, als habe sie zu viele Regengüsse abbekommen. Gleichgültige Augen schauten Hake entgegen.

»Guten Tag«, grüßte Hake, »ich bin von der Kripo. Kann ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

Der Mann setzte eine schicksalsergebene Miene auf, als wäre alles Unglück der Welt am selben Tag über ihn hereingebrochen. »Was Bestimmtes?«

»Wir haben da drüben im Kanal eine Leiche gefunden. Genau unter der Västerbrücke.«

»Hab ich von gehört, aber wissen tu ich nichts.«