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Das Buch

Wem ist man mehr verpflichtet - den Gefühlen des eigenen Herzens, oder dem Menschen, der das eigene Herz vor dem Tod bewahrte?

John Woodward ist sieben Jahre alt, als er zum ersten Mal ohnmächtig zusammenbricht. Er ringt seinem Zwillingsbruder Rupert das Versprechen ab, niemandem davon zu erzählen. Bald darauf kann nur eine Herzoperation Johns Leben retten. Er wird wieder gesund, doch die Krankheit reißt eine Wunde in das Verhältnis der Brüder.

Knapp zwanzig Jahre später setzt Johns Herz erneut aus. Rupert rettet ihm das Leben. Wie könnte John danach noch beichten, dass er sich in Ruperts Freundin Peggy verliebt hat?

Die Autorin

Andrea Gärtner schrieb schon als Kind Geschichten, im Alter von dreizehn Jahren reichte sie das erste Manuskript bei einem Verlag ein. Es folgten unzählige Gedichte, Liedtexte und Geschichten.

Nach einigen veröffentlichten Kurzgeschichten legt sie mit „Herzfehler“ nun ihren ersten Roman vor.

Andrea Gärtner lebt mit ihrem Mann und zwei Katzen in Südniedersachsen.

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© 2017 Andrea Gärtner

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN

Paperback: 978-3-7439-1776-7
Hardcover: 978-3-7439-1777-4
e-Book: 978-3-7439-1778-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Für Joachim - der mein Herz schlagen lässt!

KAPITEL 1

November 1971 - Bexhill-on-Sea, Sussex, England

„… neun, zehn, ich komme.“ John stieß sich vom Regal ab, an dem er mit geschlossenen Augen gezählt hatte. Er sah sich aufmerksam um. In der geräumigen und ordentlich aufgeräumten Bootswerkstatt seines Vaters gab es nicht viele Möglichkeiten, sich zu verstecken. In der Mitte des Raumes stand Jim Woodward und baute an einer kleinen Yacht, die auf einem speziellen Gerüst stand. An den Wänden standen Schränke voller Dosen, Töpfe und Lacke und überall hingen Regale, die den vielen Werkzeugen Halt gaben. An einer Längsseite der Werkstatt thronte eine große Werkbank, daneben warteten Maschinen auf ihren Einsatz: Fräsen, Sägen, Bohrer und Hobel. Die Pläne über dem Schreibtisch zeigten, wie die Yacht einmal aussehen würde.

John hatte die schwere Werkstatttür nicht gehört, die jedes Mal quietschte und ächzte, wenn sie bewegt wurde. Rupert musste sich also im Inneren der Werkstatt versteckt haben. Was auch sinnvoller war, denn draußen herrschte schmuddeliges Herbstwetter. Vorsichtig suchte John den Raum ab. Als er die Yacht umrundete und gerade unter dem Kiel an den Beinen seines Vaters vorbei linste, kam Rupert aus seinem Versteck geschossen. Er hatte hinter dem großen Sägetisch gehockt und auf einen günstigen Moment gewartet. Der war nun gekommen. Rupert flitzte zum Regal, an dem John gezählt hatte, um sich frei zu schlagen. John sah Rupert hinter der Säge auftauchen und setzte alles daran, zuerst am Regal ankommen. Er machte auf dem Absatz kehrt und rannte los. Er kam nicht weit. Jim hielt ihn am Jackenkragen fest und sagte: „Halt! Hiergeblieben. Was habe ich euch gesagt?“

„Frei!“, klang es von der anderen Seite des Raumes. Rupert jubelte. „Ha, ich habe schon wieder gewonnen.“

„Oh menno“, John zappelte, „Dad, lass mich los.“ Seinem Bruder rief er zu: „Das zählt nicht, Dad hat mich festgehalten.“

Jim Woodward ignorierte Johns Schimpfen und rief: „Rupert, komm her!“

Das Siegeslächeln nicht mehr im Gesicht, erschien Rupert auf der anderen Werkstattseite und blieb neben seinem Bruder stehen. Jim Woodward blickte mit strenger Miene als er sich zu ihnen hinunter beugte. „Was habe ich euch gesagt?“

„Kein Toben in der Werkstatt“, antworteten John und Rupert leise und unisono. Sie hielten die Köpfe gesenkt.

„Genau. Und warum nicht?“

„Weil wir uns verletzen könnten.“ John hatte die Antwort gegeben. „Oder, weil etwas kaputt gehen könnte“, fügte Rupert hinzu.

„Genau.“ Jim erhob mahnend den Zeigefinger. „Und das wollen wir doch nicht, oder?!“

„Nein“, sagten die beiden wie aus einem Mund, sie schauten sich erleichtert an.

„Na also“, sagte Jim und machte sich wieder an die Arbeit.

Da quietschte die Tür. „Mr. Woodward?“ Ein Mann trat herein. Der Wind wehte Laub in die Werkstatt. „Ah, da sind Sie ja“, sagte Mr. Longshaw, als sein Blick auf Jim fiel.

„Mr. Longshaw. Hallo, kommen Sie doch herein.“ Jim winkte den Mann zu sich an das Boot heran. „Sie wollen sicher schauen, wie weit ich mit Ihrer Yacht bin.“

Während ihr Vater mit dem Mann an das Boot trat, um ihm die neuesten Fortschritte zu zeigen, setzten sich John und Rupert an den Schreibtisch und schnitten Grimassen. Sie mochten Mr. Longshaw nicht. Er war groß, dick, hatte schwarzes Haar und blaue Augen, die so kalt waren wie Eiszapfen. Er trug immer einen feinen Anzug, mit dem er überhaupt nicht in die Werkstatt ihres Dads passte, und einen klobigen goldenen Ring am linken kleinen Finger. Außerdem fanden die Jungs, dass er stank wie ein Iltis. Obwohl ihr Vater ihnen erklärt hatte, dass der Geruch von einem teuren Parfum käme, hatte Mr. Longshaw seinen Spitznamen weg: Iltis.

John hielt sich die Nase zu, Rupert tat so, als würde er in Ohnmacht fallen, beide feixten. Flüsternd begannen sie ihr Lieblingsspiel, bei dem sie abwechselnd alles aufzählten, was ihnen zu Iltissen einfiel: Stinktier, Fell, Schwanz, Höhle, Jäger. Den Blick dabei unverwandt auf Mr. Longshaw gerichtet, versuchten sie, nicht zu laut zu lachen. Aber Mr. Longshaw bemerkte sie.

„Da sind ja auch die Zwillinge“, sagt er und kam mit einem raubtierähnlichen Grinsen auf John und Rupert zu. „Wer ist nochmal wer?“ Typisch. Gerade jene Menschen, die Zwillinge besonders aufregend fanden, konnten sie am wenigsten auseinanderhalten. Dabei gab es ganz deutliche Unterschiede zwischen ihnen. Johns Augen waren eher blau, die von Rupert mehr grünlich. Zwischen Johns Schneidezähnen klaffte eine große Lücke, die es bei Rupert nicht gab. Ruperts Gesicht wurde von jeder Menge Sommersprossen getupft und sein blondes Haar hatte einen rötlichen Schimmer. An der Stirn erhoben sich die Haare widerspenstig durch einen Wirbel, der seinen Pony immer etwas abstehen ließ. John dagegen fielen die Haare bis über die Augen, deshalb hatte er sich angewöhnt, die Haarsträhne immer wieder aus der Stirn zu streichen. Eine Angewohnheit, mit der Rupert ihn gerne aufzog. Eltern, Großeltern, ihre Schwester Mandy, die meisten Lehrer und auch fast alle Kunden ihres Vaters konnten Rupert und John problemlos unterscheiden. Wem das nicht gelang, der hatte bei den beiden verloren.

Mr. Longshaw hielt John seine fleischige Hand entgegen. „Du bist Rupert, richtig?“

„Stimmt“, sagte John und kam damit seinem Vater zuvor, der schon Luft geholt hatte, um den Irrtum richtig zu stellen.

„Und ich bin John“, log Rupert und ergriff ebenfalls die massige Pranke. Ihr Vater schüttelte den Kopf. „Jungs, jetzt lasst mich mal mit Mr. Longshaw allein. Wir müssen etwas besprechen. Geht rüber und spielt, oder schaut, ob ihr Ma helfen könnt. Sie wollte heute Plumpudding machen.“

Schnell waren die Jungs draußen. Sie liebten Plumpudding, den es nur an Weihnachten gab und der nach der Zubereitung ewig warten musste. Die Aufforderung ihrer Ma, in der Küche zu helfen, ließ sie sonst eher das Weite suchen, aber Pflaumen und Äpfel für ihre Lieblingsspeise schnippelten sie durchaus gern. Das war die beste Weihnachtsvorbereitung für die Zwillinge.

Sie flitzten den Pfad hoch zum elterlichen Haus. Es stand auf einer kleinen Anhöhe ein gutes Stück außerhalb von Bexhill-on-Sea, nahe einer Klippe über dem Meer. John liebte das kleine weiß getünchte Haus. In der großen Küche in der unteren Etage spielte sich an dem Tisch, an dem alle Platz hatten, das Leben der Woodwards ab. In den Polstermöbeln im Wohnraum verbrachte die Familie gern Abende am offenen Kamin. Oben waren die Schlafzimmer. Jeder Zwilling hatte sein eigenes Zimmer. Meistens spielten sie aber sowieso unten, draußen oder in der Werkstatt ihres Vaters. John und Rupert verbrachten ihre Tage gemeinsam, waren beste Freunde und kannten einander in- und auswendig. Als sie das Haus betraten, lachten sie immer noch über den stinkenden Iltis-Mann und seine Unfähigkeit, sie auseinander zu halten.

Elaine Woodward war klein, hatte dünnes blondes Haar und blaue Augen. Ihr zierliches Äußeres und ihr fröhliches Wesen standen in krassem Widerspruch zu ihrem resoluten Auftreten, mit dem sie den Alltag der Familie Woodward steuerte. Obwohl Jim das ungekrönte Familienoberhaupt war, konnte Elaine sich mit ihrem Starrsinn manches Mal gegen ihn behaupten. Sie stand in der Küche, trug eine Schürze über ihrem Kleid und steckte mit den Händen tief im Puddingteig. Der schwere Geruch von Rum zog durch den Raum, ein sicheres Zeichen dafür, dass die Früchte schon geschnitten waren. John und Rupert warfen einen Blick auf Tisch und Arbeitsfläche, in der Hoffnung, eine kleine Leckerei ergattern zu können. Doch ihre Mutter durchschaute sie sofort und sagte in warnendem Ton: „Wehe! Hier wird nicht genascht. Schon gar nicht mit ungewaschenen Fingern!“ Lächelnd gab sie einen Klaps auf Johns Hand, mit der er gerade nach einer Apfelspalte greifen wollte.

„Ma“, quengelte Rupert, „wir haben aber Hunger.“ John nickte bestätigend.

„Ich kann euch ein Brot machen. In einer Stunde wollen wir aber losfahren. Reicht es nicht, wenn wir in Brighton etwas essen?“ Elaine hatte sich wieder dem Teig zugewandt und darum auch nicht bemerkt, dass John nun doch zwei Apfelspalten vom Tisch stibitzt hatte. Die Brüder grinsten sich an. „Na gut“, sagte Rupert mit langgezogenem Stöhnen, „dann warten wir eben solange.“ Noch immer in ihre dicken Jacken gehüllt gingen sie hinaus, um sich die Zeit bis zur Abfahrt mit Spielen zu vertreiben. Gegen den heftigen Novemberwind brüllten sie Sätze von der Klippe auf das offene Meer. Niemand außer ihnen konnte die Worte hören und sie genossen die seltene Gelegenheit, ungestraft Schimpfwörter und Flüche zu johlen.

KAPITEL 2

7. August 2013 - Kingston, Norfolkinsel, Australien

John ballte im Schlaf die Hände zu Fäusten und streckte die Finger dann wieder aus. Unvermittelt griff er blitzschnell nach etwas, das nur er in seinen Träumen sehen konnte.

Schrilles Telefonklingeln weckte ihn und die Traumbilder verschwanden im Nebel, der sich auflöste, je wacher er wurde. Beim dritten Klingeln des Telefons schlug John die Augen auf und warf einen Blick auf den Wecker. „Verdammt“, murmelte er vor sich hin. Es war noch nicht einmal sechs Uhr. Wer um alles in der Welt rief ihn so früh schon an? Seine Praxis öffnete erst um acht. Notfallpatienten sollten sich bis dahin ans Krankenhaus wenden. Das Klingeln hörte nicht auf. John rappelte sich fluchend hoch, fegte das Moskitonetz zur Seite, stieg aus dem Bett und ging in den Flur zur Kommode, auf der das Telefon lag. Mit dem noch immer klingelnden Telefon stieg er zurück ins Bett, legte sich mit geschlossenen Augen wieder hin und nahm mit einem mürrischen „Was?“ das Gespräch entgegen. Zuerst dachte er, es habe sich jemand verwählt oder erlaube sich einen schlechten Scherz mit ihm. Durch das Telefon drang nur Keuchen und Knistern. „Hallo? Wer ist denn da?“, fragte er genervt.

„John? John bist du’s?“ Er erkannte die Stimme seiner Ma und die typische Frage, mit der sie ihre Telefonate eröffnete. Wer sollte es denn sonst sein, wenn sie seine Nummer anrief? Aber irgendetwas stimmte nicht. Hellwach setzte er sich im Bett auf. „Ma? Alles in Ordnung?“

„Ach, John…“ Er hörte wieder dieses Keuchen und ihm wurde klar, dass es von seiner Mutter kam. Es knisterte, dann hörte er seinen Dad dumpf im Hintergrund: „Elaine, lass mich mit ihm reden.“

„Nein!“ Das war deutlich seine Ma. Sie atmete noch einmal hörbar, dann sagte sie: „John, es ist etwas passiert.“

„Was ist passiert, Ma? Geht’s dir gut? Was ist denn bei euch los?“ Angst und Sorge hatten ihn schnell gefangen. Gepresst sog er die Luft ein und hielt sie dann an, um keinen Laut aus dem Telefon zu versäumen. Am anderen Ende hörte er seine Mutter weinen. In seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie spät war es gerade bei seinen Eltern in London? Es musste Abend sein, so gegen halb acht. Was konnte bloß passiert sein, das seine Ma derart aus der Fassung brachte? War sein Dad krank? Aber nein, er konnte ihn ja im Hintergrund auf seine Mutter einreden hören. War mit Mandy oder seinen Nichten etwas geschehen? Aber dann würde doch Mandys Ehemann Luke anrufen. Ging es um Rupert?

„Ma, bitte, rede mit mir! Was ist passiert?“ Er erschrak über den schrillen Ton seiner Stimme. Seine Mutter zog schniefend die Nase hoch, hielt kurz die Luft an und stieß dann eilig hervor: „Rupert hatte einen Unfall.“

„Einen Unfall? Was für einen Unfall? Ma, was ist passiert?“ Seine Hände wurden kalt. Wieder hörte er seine Mutter stöhnen. Sein Vater sprach im Hintergrund beruhigend auf sie ein. John hörte sein Blut in den Ohren rauschen, während er auf weitere Erklärungen wartete. Endlich sprach seine Mutter wieder: „In Ruperts Institut gab es eine Explosion. Das ganze Labor ist in die Luft geflogen, sagen sie.“

Nun begann John als Arzt zu denken und verscheuchte die aufkommende Panik durch Professionalität. Sein Bruder war Physiker und erforschte mit seinem Team, unter welchen Bedingungen Staub explodierte. Bei einer ungewollten und unkontrollierten Explosion entstanden sicher hohe Temperaturen und wurden Teile durch die Luft geschleudert, womöglich traten giftige Stoffe aus. Rupert konnte alle möglichen Verletzungen davongetragen haben. „In welche Klinik wurde er gebracht, Ma? Wie schwer ist er verletzt?“

„John, er ist tot.“

Die Zeit stand still. John sah Rupert vor sich: Groß, etwas kräftig, das blonde Haar ordentlich frisiert, das Gesicht mit Sommersprossen übersät. Das war Rupert, sein Zwillingsbruder, der ein paar Minuten älter war als er selbst. Rupert, der immer gesund und robust gewesen war. Rupert, der in jeder Situation einen blöden Witz auf Lager hatte. Rupert, der sein bester Freund war und ihm das Leben gerettet hatte. Rupert, bei dem die innere und äußere Entfernung der letzten Jahre am meisten schmerzte.

„Bist du noch da, John?“ Die Frage seine Mutter brachte die Zeit wieder in Bewegung. Er hauchte ein tonloses „Ja“ in die Leitung.

Immer wieder von Schluchzern unterbrochen, erzählte seine Mutter weiter. „Es ist heute Mittag passiert. Sogar im Radio haben sie darüber berichtet. Wir wussten erst gar nichts. Peggy hat versucht, etwas heraus zu finden, aber sie haben ihr nichts gesagt. Wir haben die ganze Zeit dagesessen und Daumen gedrückt, dass Rupert nichts passiert ist. Aber dann haben sie angerufen und gesagt, dass ….“ Jetzt weinte sie so heftig, dass John nichts mehr verstand. Im Grunde hatte er sowieso nur ihre Worte gehört. Den Sinn dessen, was sie sagte, konnte er nicht begreifen.

Es knisterte wieder in der Leitung, dann hörte er dumpf seinen Vater. „Elaine, bitte beruhige dich. Ich rufe sonst wieder bei Dr. Langley an.“ Schließlich übernahm sein Dad das Telefonat. „John, kannst du kommen?“

„Was ist mit Ma? War Dr. Langley schon da?“ John fand zum logischen Denken zurück. Ihr Hausarzt Dr. Langley könnte ihr sicher etwas zur Beruhigung spritzen. Sie war mittlerweile neunundsiebzig Jahre alt und ihr Herz geriet manchmal etwas ins Stolpern.

„Du kennst sie ja, John. Sie wollte kein Beruhigungsmittel. Aber Dr. Langley hat versprochen, noch einmal zu kommen, wenn ich das Gefühl bekäme, dass es nicht anders geht. Wie sieht es aus? Kannst du kommen? Sie wissen noch nicht genau, wann Rupert frei gegeben wird, aber nächste Woche soll die Beerdigung sein.“

Sein Vater hatte es schon immer verstanden, seine Gefühle hinter den pragmatischen Dingen zu verbergen. Auch für John war es leichter zu planen und zu handeln, als dem Unglaublichen Raum zu geben und seinen Empfindungen Platz zu schaffen. Es war so viel leichter, die nächsten Schritte mit seinem Dad zu besprechen, einen Flug zu buchen und die Koffer zu packen, als über den Verlust seines Zwillings zu reden oder gar zu weinen.

„Natürlich. Ich gebe euch Bescheid, wann ich ankomme. Habt ihr schon mit Mandy gesprochen?“

„Sie hatte es auch im Radio gehört und bei Peggy angerufen. Aber Luke und die Kinder können ja nicht einfach so aus dem Job und der Schule. Die vier kommen also, wenn wir den genauen Termin für die Bestattung haben.“

Das Gespräch geriet ins Stocken. Was gab es noch zu besprechen? Alle nötigen Informationen waren ausgetauscht. John und sein Vater beendeten das Gespräch. Seine Ma rief aus dem Hintergrund: „Vielleicht ruft er mal bei Peggy an.“ John drückte die Aus-Taste am Telefon und wusste, mit der Frau seines Bruders würde er sich später beschäftigen müssen.

Für eine Weile saß er reglos da und lauschte in sich hinein. Wie fühlte es sich an, wenn von Zwillingen nur noch einer übrigblieb? Bemerkte er eine Veränderung in sich?

Nicht sicher, ob er etwas spürte oder wie zu deuten war, was immer er fühlte, erhob er sich vom Bett. Er horchte auf seinen Herzschlag, der kräftig und gleichmäßig war. Dass Ruperts Herz nun nicht mehr schlug, war ihm unbegreiflich, war es doch immer das kräftigere von beiden gewesen. Aber seines hatte scheinbar den längeren Atem.

KAPITEL 3

7. August 2013 - Kingston, Norfolkinsel, Australien

John klopfte energisch an die Tür. Atemlos stand er auf Stewards Veranda. Gestern Abend hatte er noch hier mit seinem Freund gesessen und eine entspannte Zeit verbracht. Da hatte er noch nicht gewusst, dass seine Welt kurz davorstand, aus den Fugen zu geraten. Jetzt war alles anders. Unvorstellbar anders. Wie sehr, darüber wagte er nicht nachzudenken.

Er klopfte erneut. „Sally? Steward? Ich bin’s!“

Endlich hörte er Schritte hinter der Tür. Gleich darauf stand Sally vor ihm. Ihre schlaftrunkenen Augen schauten ihn unter dichten schwarzen Brauen verwirrt an. Sie trug den Abdruck ihres Kissens im Gesicht und das üblicherweise zum Pferdeschwanz gebundene dunkle Haar fiel ihr zerzaust über die Schultern. Sie zog ihren Bademantel über dem Nachthemd zusammen und fragte erschrocken: „John, was ist denn los? Wir schlafen noch. Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?“ Eine Mischung aus Ärger und Besorgnis schwang in ihrer Stimme.

„Das Festnetz ist mal wieder ausgefallen“, sagte John und schob sich an ihr vorbei ins Haus. „Und ans Handy seid ihr auch nicht gegangen.“

„Ans Handy?“, fragte Sally verwirrt. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht einmal, wo die Dinger gerade rumliegen.“

John ging nicht weiter darauf ein. „Ich wollte Steward bitten, mir einen Flug zu organisieren“, sagte er.

Sally starrte ihn entgeistert an. „Einen Flug?“, wiederholte sie. Eine Sorgenfalte erschien über ihren zusammen gekniffenen Augen. „John, du bist kreideweiß. Komm erst einmal rein. Ich mache uns einen Tee und du erzählst, was passiert ist.“

„Nein, keinen Tee. Ich muss dringend nach London und wollte Steward fragen, ob er als ehemaliger Pilot seine Kontakte nutzen könnte, um mir so schnell wie möglich eine Verbindung zu besorgen.“

In diesem Moment kam Steward die Treppe herunter. Er rieb sich über den dunklen Dreitagebart und musterte John aus blauen Augen eindringlich. „Was ist denn los? Bist du aus dem Bett gefallen?“ Auf seinen markanten Gesichtszügen lag ein sorgenvoller Ausdruck.

„Aus dem Bett gefallen? Ja, kann man sagen“, antwortete John. „Ich muss nach London. Kannst Du mir einen Flug buchen?“ Steward runzelte die Stirn und sah Sally fragend an. „Hab ich was verpasst?“ An John gewandt sagte er: „London? Jetzt gleich? Was willst du denn da?“

„Von Wollen kann keine Rede sein“, antwortete John dumpf.

„John, jetzt komm doch bitte kurz rein und erzähl, was los ist. Du machst mir ja Angst.“ Sally wies in Richtung Küche.

„Sally hat recht. Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen. Natürlich mache ich für Dich einen Flug klar. Und ich fahre dich dann auch zum Flughafen. Aber vorher hast du sicher noch so viel Zeit, zu erzählen, was eigentlich los ist.“

John ließ sich von Steward in Richtung Küche schieben. Während Sally mit Wasserkocher und Teekanne hantierte, setzten sich die beiden Männer an den Küchentisch. Steward sah John schweigend an, der hielt einen Moment sein Gesicht in den Händen verborgen, hob dann den Blick und sagte: „Rupert ist tot.“

Scheppernd fiel die Teedose auf den Boden. „Was?“ Sally sah John entsetzt an.

„Ach du Scheiße“, entfuhr es Steward.

„John, das tut mir leid.“ Sally fand als Erste ihre Worte wieder, setzte sich zu John und legte ihm eine Hand auf den Arm. „Wie furchtbar. Was ist denn passiert?“

John zog seinen Arm zurück und ließ ihre Frage unbeantwortet. „Ich muss so schnell es geht nach London“, sagte er stattdessen. „Meine Eltern hat das ziemlich mitgenommen. Und die Beerdigung …“ Er brach ab.

„Ich vermute, das hat nicht nur deine Eltern mitgenommen“, bemerkte Steward. Die Worte schienen in der Luft hängen zu bleiben. John runzelte die Stirn, sagte aber nichts.

„Versprich mir, dass du auf dich Acht gibst“, mahnte Steward und legte eine Hand auf Johns Arm. Dorthin, wo eben noch Sallys Hand gelegen hatte. John ließ es geschehen und nickte.

Schweigen senkte sich über die drei. John überschlug im Kopf die nächsten Schritte: Koffer packen. Praxis auf unbestimmte Zeit schließen. Lindsay anrufen, um zu fragen, ob er bei ihr wohnen könne.

„Hast du schon was von Peggy gehört?“ Stewards Frage katapultierte John zurück in die Gegenwart und ließ sein Herz heftig schlagen. Er sah seinen Freund mahnend an und sagte: „Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du mir jetzt einen Flug organisieren könntest.“

„Klar“, murmelte Steward, erhob sich und verschwand aus der Küche. Sally blickte ihrem Mann überrascht hinter und wandte sich dann John zu. „Das tut mir wirklich leid“, wiederholte sie und nahm die Teezubereitung wieder auf. „Danke“, sagte John und meinte damit auch die dampfende Tasse, die Sally kurz darauf vor ihn hinstellte. Während sie schweigend am Küchentisch saßen, konnte John seinen Freund im Nebenzimmer telefonieren hören. Der Tee floss heiß durch seinen Rachen und verströmte Wärme in seinem Körper. Ein Schauer lief ihm über den Rücken. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er fröstelte.

„Alles klar.“ Steward kehrte zurück. „Ich konnte Dich auf einer Maschine in vier Stunden unterbringen. Du fliegst über Sydney und Auckland zwar leider länger, als über Hongkong. Dafür bist Du aber letztlich eher in London.“ Er reichte John Notizen zu Flugnummern und –zeiten.

„Okay, danke!“, sagte John und erhob sich.

„Ich hole dich in zwei Stunden ab und bringe dich zum Flughafen. Und wenn du sonst noch etwas brauchst: Melde Dich! Ich bin da!“

John ließ zu, dass Steward ihn umarmte, wandte sich aber schnell ab, als auch Sally auf ihn zutrat. „Ich muss los.“ Er verließ das Haus, stolperte von der Veranda und machte sich auf den Heimweg.

* * *

„Melde dich, wenn du zurückkommst. Ich hole dich wieder ab.“ Steward umarmte ihn zum Abschied, ehe John auf die Passkontrolle am Terminal zuschritt. „Und grüß Lindsay!“, rief Steward ihm hinterher. John winkte, um zu signalisieren, dass er gehört hatte. Er fühlte sich zu müde, um seinem Freund zu antworten. Die letzten Stunden hatten ihn Kraft gekostet. Seit dem Anruf seiner Eltern stand er neben sich, beobachtete lauernd jede körperliche und seelische Reaktion und filterte alles wie durch ein Sieb aus Fragen. Benahm er sich angemessen für einen nahen Angehörigen eines gerade Verstorbenen? Wann und wie würde er zu trauern beginnen? Spürte er Unregelmäßigkeiten an seinem Herzen? Fühlte er schon Schmerz oder würde das erst noch kommen?

Er hatte sein Team gebeten, eine Vertretungsregelung für die Praxis zu organisieren. Er hatte das schmutzige Geschirr vom Vortag abgespült und nass stehen gelassen. Er hatte seine Tasche gepackt und sich gefragt, für welchen Zeitraum er Wäsche brauchen würde. Er war mit einer Gießkanne durch sein kleines Haus gegangen, um seine Zimmerpflanzen vor der Abreise noch einmal mit frischem Wasser zu versorgen. Als dabei sein Blick auf eine Kiste alter Fotos gefallen war, hatte er kurz gezögert, dann aber doch hineingegriffen. Manche der Bilder waren uralt: Rupert und er in einem selbstgebauten Boot ihres Vaters, die ganze Familie Woodward bei der Taufe seiner ältesten Nichte oder Rupert als stolzer Gewinner eines naturwissenschaftlichen Wettbewerbs. Eines der Bilder aber war erst wenige Wochen alt. Es zeigte Rupert mit einem Glas Milch und einem breiten Grinsen auf Johns Veranda.

John verstaute die Bilder wieder in der Kiste und warf einen Blick zum Telefon. Die ganze Zeit hatte er gehofft, dass Lindsay zurückrufen würde. Sie hatten zusammen in London in einer WG gelebt: Lindsay Milton, Steward Beat und John. Steward und Lindsay gehörten nach wie vor zu seinem Leben. Sie waren die besten Freunde, die er je gehabt hatte. Mit Ausnahme von Rupert. Aber das war lange her.

„Flug 3578 nach Sydney. Wir bitten die Passagiere zum Boarding.“ Die schnarrende Stimme holte John in die Gegenwart des Wartebereichs des Flughafens zurück. Er ging zum Gate. In gut zwei Stunden würde er in Sydney landen, dann könnte er noch einmal versuchen, Lindsay zu erreichen.

„Entschuldigung, ist das nicht Ihr Rucksack?“ Eine ältere Dame mit grauen Locken und einem freundlichen Lächeln zupfte an seinem Ärmel und hielt ihm seinen grünen Rucksack entgegen. „Oh ja, tatsächlich, vielen Dank. Den habe ich ganz vergessen“, antwortete John und nahm ihr das Gepäckstück ab.

„Ist Ihnen nicht gut, junger Mann? Sie sehen ganz verschwitzt aus. Und blass dazu.“ Instinktiv wischte sich John über die Stirn. Er schwitzte, obwohl es eigentlich kühl war. „Nein, nein, alles in Ordnung“, beschwichtigte er. Ihm stand nicht der Sinn nach Smalltalk mit einer Fremden. Er drehte sich von ihr weg und trat auf die Stewardess zu, die gerade ihre Hand nach seiner Boardkarte ausstreckte.

Kaum hatte John seinen Rucksack im Gepäckfach verstaut, sich auf seinem Platz niedergelassen und die Augen geschlossen, als die ältere Dame neben ihm auftauchte. „Ach, was für ein schöner Zufall“, sagte sie, „ich sitze direkt neben Ihnen.“ Sie stellte ihre Handtasche auf dem Sitz ab, zog ihre Strickjacke aus und legte sie ins Gepäckfach. Dann nahm sie neben John Platz und begann, in ihrer altmodischen Handtasche zu kramen. „Ha!“, stieß sie schließlich triumphierend hervor, um gleich darauf John ihre Hand hin zu halten. Darauf lag ein Bonbon. „Hier, nehmen Sie. Das ist ein Notfallbonbon. Es hilft sicher gegen Ihre Flugangst. Und falls nicht, schmeckt es immerhin ganz lecker“, fügte sie augenzwinkernd hinzu. John verzog seinen Mund zu einem schiefen Lächeln, nahm aber nach kurzem Zögern das Bonbon entgegen. Es schien ihm zu aufwendig, der Frau zu erklären, dass er nicht unter Flugangst litt. Stattdessen war er auf dem Weg, seinen Zwillingsbruder zu beerdigen, dem er so gerne noch so viel gesagt hätte. Er hatte Angst vor dem, was ihn erwartete. Und weil er Lindsay nicht erreichen konnte, von der er gehofft hatte, dass sie ihm helfen würde, all das durchzustehen.

Wieder tauchte die faltige Hand der alten Dame vor seinem Gesicht auf. Dieses Mal lag ein Papiertaschentuch darauf. Mit Erstaunen bemerkte John, dass ihm Tränen die Wangen hinab liefen. Er schaute zu der Frau im Nebensitz. Ohne Worte, nur mit einem milden Lächeln im Gesicht, hielt sie ihm weiter das Taschentuch entgegen. Er nahm das Tuch entgegen, nickte zum Dank und ließ den Tränen freien Lauf. Es war nicht die Erinnerung an Rupert, wie John eigentlich erwartet hatte. Es kam ihm so vor, als würde seine Erschöpfung aus seinem Körper fließen. Mit jedem weiteren verbrauchten Taschentuch – der Vorrat der Dame war unerschöpflich – spürte John das drückende Gewicht in seinem Innern leichter werden.

Sie waren längst gestartet, als John sich beruhigte. Er putzte sich ein letztes Mal die Nase, atmete tief ein und wandte sich der Frau neben sich zu.

„Tut, mir leid, Sie müssen denken …“

„Ich denke gar nichts“, unterbrach Sie ihn sofort. „Ihnen geht es nicht gut, das habe ich sofort gesehen. Warum auch immer, das geht mich gar nichts an. Wenn ich helfen kann, tue ich das gern. Schön, wenn es Ihnen jetzt besser geht.“

„Mein Bruder ist gestorben.“ John hatte nicht gewusst, dass er das sagen würde, bis er die Worte aus seinem Mund hörte.

„Das tut mir leid.“ Das Lächeln der Frau verschwand nicht, aber ein Schatten verdunkelte ihre Augen.

„Mein Zwillingsbruder, genauer gesagt. Ich bin auf dem Weg zu seiner Beerdigung.“

„Das ist sicher kein leichter Weg für Sie“, erwiderte die Frau. Sie trug eine gelbe Bluse zu einem altmodischen Tweedrock. Die grauen Locken umrahmten ein rundes freundliches Gesicht, dessen blaue Augen von vielen Falten umgeben waren. Ihre schwarze Handtasche hielt die Frau noch immer auf ihrem Schoß fest. „Entschuldigung, wir reden immer nur von mir“, sagte John und zerknüllte das Papiertaschentuch in seiner Hand. „Und Sie?“, fragte er, „wohin geht Ihre Reise?“

„Oh, ich fliege nach Hause. Ich war nur zu Besuch auf Norfolk. Meine Enkelin hat ein Baby bekommen und ich wollte meinen Urenkel doch gern mal auf den Arm nehmen.“ John sah Freude in ihren Augen aufblitzen. Plötzlich war es, als würde in seinem Kopf ein Puzzleteil an die richtige Stelle fallen. „Ach, dann sind Sie Grandma Lucy“, entfuhr es ihm.

Die alte Frau schaute ihn verdutzt an. „Äh, ja, tatsächlich, die bin ich. Aber woher wissen Sie das?“

John streckte ihr die Hand entgegen. „Dr. John Woodward, angenehm. Ich bin der Arzt von Miranda, ihrer Enkelin, und seit neuestem auch von ihrem Urenkel Brad.“ Nun war es an ihm, sie anzulächeln, bis die Verwirrung aus ihrer Miene wich.

„Ach, Sie sind der Arzt. Ja, von Ihnen hat Miranda schon einmal erzählt.“

Es wurde ein angenehmer Flug. Lucy Moody war eine liebenswerte Person und eine unterhaltsame Sitznachbarin. Als ihr Flugzeug in Sydney gelandet war, verabschiedeten sie sich wie alte Bekannte und Grandma Lucy versprach, ihn mit Brad zu besuchen, wenn sie wieder einmal auf der Insel wäre.

Erst als John in der Abfertigungshalle vor einem Kaffee saß und auf seinen nächsten Flug wartete, wurde es ihm bewusst. Das war es also gewesen. Das erste Weinen nach dem Tod seines Bruders. Daran würde er sich wohl den Rest seines Lebens erinnern. Er war dankbar, dass es mit einer so netten Frau wie Lucy Moody verknüpft war. Er zückte sein Handy und versuchte erneut, Lindsay zu erreichen. Ohne Erfolg.

KAPITEL 4

November 1971 - Bexhill-on-Sea, Sussex, England

Der fertige Plumpudding war in die Speisekammer gebracht worden und nun waren Jim und Elaine mit John und Rupert auf dem Weg nach Brighton. Mandy ging dort aufs College. Das Beste an diesen Besuchen waren die Strandtage bei gutem Wetter, weil ihr Dad dann mit ihnen toben konnte. Jetzt aber war schlechtes Wetter. Und die Eltern hatten schlechte Laune.

„Er kann doch nicht einfach den Auftrag stornieren“, sagte seine Ma gerade. „Du hattest im Vorfeld doch genau mit ihm besprochen, wie du die Yacht bauen würdest.“

„Allerdings. Und ich habe ihm auch erklärt, dass meine kleine Bootswerkstatt eigentlich nicht dafür ausgelegt ist, eine Yacht zu bauen. Aber Mr. Longshaw hat darauf bestanden, weil meine Referenzen so gut seien.“ Mit der flachen Hand schlug Jim Woodward auf das Lenkrad. John erschrak. Sein Vater war eigentlich die Ruhe in Person. Groß, muskulös und mit vollem, dunklem gewellten Haar erschien er John manchmal wie ein Held aus einer Sagengeschichte, der auch dem größten Sturm zu trotzen wusste, indem er besonnen und friedfertig auf alles reagierte. Er fluchte nie, hob selten die Stimme – und wenn doch, dann war es wirklich ernst. Vor allem aber war John von den Händen seines Vaters beeindruckt. Kräftige Pranken voller kleiner Narben waren es, die sowohl fest zupacken als auch zart berühren konnten. Eine dieser Pranken, von denen John noch nie hatte Gewalt ausgehen sehen, hatte gerade auf das Lenkrad geschlagen.

„Und jetzt?“, fragte Elaine.

„Tja, jetzt bin ich in Vorleistung gegangen und der feine Mr. Longshaw wechselt mir nichts dir nichts den Bootsbauer. Und ich bleibe auf einer halbfertigen Yacht sitzen, die mir von meinen üblichen Kunden keiner abkaufen wird.“

John verstand nicht genau, worum es ging. Lediglich, dass der Iltis dafür verantwortlich war, dass seine Eltern sorgenvoll klangen, hatte er begriffen. Während sie vorne im Wagen weiter heftig diskutierten, flogen Johns Fantasien schon nach Brighton voraus. Wenn schon kein Strandtag drin war, dann vielleicht das Zweitbeste: eine Stippvisite auf dem Palace Pier, einer Art großem Jahrmarkt. Beim vorigen Besuch hatten ihre Eltern zum ersten Mal erlaubt, dass Rupert und John alleine mit etwas Geld loszogen. Darauf hofften sie auch heute. Doch der gepresste Ton seiner Mutter und die Unruhe des Vaters ließen John allmählich zweifeln, ob dieser Ausflug am Ende Spaß machen würde.

Rupert schien es ähnlich zu gehen. Er begann lauthals Witze zu erzählen, wohl in der Hoffnung, dadurch alle zum Lachen zu bringen. John durchschaute seinen Plan. Er lachte laut über jeden noch so lahmen Witz. Bis ihrem Vater die Geduld riss. „Es reicht jetzt!“, fauchte er mit einem raschen Blick über seine Schulter. Rupert brach seinen Witz mitten im Satz ab. Erschrocken schaute er zu seinem Bruder. John zuckte mit den Schultern. Elaine Woodward legte beruhigend eine Hand auf die ihres Mannes. Der Rest des Weges verlief schweigend.

Die Stimmung besserte sich aber, als Mandy am College ins Auto einstieg. Nun scherzten alle Woodwards und erzählten wild durcheinander, so dass John vergaß, wie bedrückt seine Eltern eben noch gewesen waren. Mandy durfte aussuchen, wo sie essen gehen sollten. Zur Freude der Zwillinge wählte sie einen Imbiss, an dem sie sich den Bauch mit fish and chips vollschlugen.

Beim Essen erzählte Mandy von ihren Freundinnen, schimpfte auf die Lehrer und bekam glänzende Augen, als sie vom neuen Sprecher ihres Biologie-Clubs erzählte. Immer wenn sie seinen Namen sagte, schien es, als umhüllte Nebel ihre Stimme. John stupste Rupert in die Seite. „Sam Rosenberg“, hauchte er den Namen und versuchte, Mandys heiseren Ton zu treffen. Jim und Elaine lachten, während seine Schwester ihm unter dem Tisch einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein verpasste.

Es dämmerte schon, als sie aufbrachen, um zum Pier zu gehen. Die Eltern steuerten ein Café an und drückten jedem der Kinder etwas Geld in die Hand. „Denkt daran: In einer Stunde am Ausgang!“, riefen sie ihnen hinterher, als John, Rupert und Mandy auf den Pier stürmten. Mandy traf bald einige Freundinnen, bei denen sie stehen blieb. John zog Rupert mit sich weiter. Das Geld klimperte schwer in seiner Hosentasche. So muss es sich anfühlen, erwachsen zu sein, dachte John und stürzte sich mit Rupert ins Vergnügen. Zwischen parfümierten Damen und verschwitzten Männern suchten sie sich ihren Weg von den Trampolinen zum Glücksrad und zurück zu den Karussells. Dort lieferten sie sich ein rasantes Auto-Skooter-Rennen, beobachteten einige ältere Jugendliche am Punchingball und entschlossen sich dann, ihre letzten Pennys in einem einarmigen Banditen zu versenken. Sie sprinteten über den Pier in eine der Spielhallen. Der Raum wurde von einer Vielzahl blinkender Lampen und tutender Töne durchflutet. Rupert und John schoben sich durch die Menschentrauben und versuchten im dämmrigen Licht, eine freie Maschine zu finden. Mit vor Aufregung zittrigen Fingern steckte John schließlich fünfzig Pence in den Automaten. Rotes und gelbes Licht leuchtete abwechselnd vor ihm auf, während sich die Räder der Maschine drehten. Lachende Sonnen, grinsende Gesichter oder die Abbildung von Münzen sausten an seinem Blick vorbei. Rupert klatschte neben ihm aufgeregt in die Hände und knuffte ihn in die Seite. „Ja, zwei gleiche hat er schon. Komm, komm!“

Ruperts Stimme entfernte sich immer mehr. Jählings verschwammen alle Farben und Geräusche in Johns Kopf und sackten dann wie ein schwerer Brei auf seine Brust. Er konnte nicht atmen und riss den Mund weit auf. Dann kippte die Welt unter ihm weg.