Otto W. Bringer

Porcus
das charakterlose
Schwein

Fast ein Krimi

Imprint

Porcus das charakterlose Schwein
Otto W. Bringer

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Eine Woche später klingelt es an der Haustür. Portandus in der Küche, Spargel schälen. Legt das Messer auf den Spültisch, geht zur Tür, öffnet sie. Ein Mann, den er nicht kennt. Eine Rose in der Hand: „Ich bin der Fritz. Ihr habt mich Porcus genannt. Und Du bist Portandus.“ Der, zu Tode erschrocken, will die Tür schließen. Im Kopf sofort: er wird keine bösen Absichten haben, so in aller Öffentlichkeit. Ich wollte ihn akzeptieren wie er ist. Jetzt kann ich beweisen, dass ich tolerant bin.

Da reicht Porcus ihm die Hand, mit der anderen die Rose: „Für Deine Frau.“ Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als ihn hereinzubitten. Platz zu nehmen. Schnell in die Küche, ein Glas Wasser. Ergreift die Weinflasche, die auf dem Tisch steht, als wartete sie auf einen Anlass. Was traut er sich eigentlich? Beruhigt sich. Man muss gute Gründe gehabt haben, ihn aus der Psychiatrie zu entlassen.

Porcus Stimme klingt wie die eines Mannes bei der Beichte. „Damit Du gleich klar siehst, ich habe gebüßt. Bereue, was ich getan habe. Dir und anderen Leid zugefügt. Ich bitte Dich um Verzeihung. Werde Dir nicht auf die Nerven gehen. Wohne im Norden der Stadt. Eine Arbeit habe ich schon. Verdiene ordentliches Geld. Außerdem habe ich einiges gespart. Von dem Lohn den ich in der Kinik bekam. Habe Drähte auf Leiterplatten gelötet.“

Einem Impuls folgend, schnell und atemlos heruntergebetet, was er gar nicht erzählen wollte. Das Wichtigste hat er vergessen im ersten Gefühl sich zu erleichtern. Holt tief Luft:

„Ich will Dir erzählen, dass mich die Therapie geheilt hat von falschen Vorstellungen. Tiefer liegende Ursachen für mein Verhalten aufgedeckt“. „Bevor Du „Bevor Du weiter redest, hole ich die Gläser. Wein oder Wasser?“ „Wasser bitte.“ Sitzen sich gegenüber, jeder im Sessel, der eher ein Stuhl als ein Sessel ist. Gepolstert Sitz und Rückenlehne. Bequem genug, aber konstruiert um senkrecht zu sitzen. Portandus will ihn noch nicht mit einem seiner Liegesessel verwöhnen wie andere Gäste.

„Was war Deine schlimmste Tat?“ Porcus überrascht diese Frage nicht. „Ich habe meine Mama erstochen.“ „Was Deine eigene Mutter!“ „Ja, ich war acht Jahre alt, mein Vater im Büro. Als ich sie mit einem anderen Mann aus der Dusche kommen sah, griff ich zum Küchenmesser und stach auf sie ein. Mehrere Male. Sie starb am nächsten Tag. Dachte immer, wie kann sie nur mit einem Fremden duschen? Fühlte mich betrogen, eine Wut in mir aufsteigen, die ich bisher nicht kannte. Stieß blindlings mehrmals zu. Ohne nachzudenken, ob es recht ist. Bestraft sollte sie werden. Die Ehe gebrochen mit einem Mann, der nicht mein Vater war. Ehebruch ist eine Todsünde, steht in der Bibel.“ Mein Therapeut in der Klinik fragte: Haben Sie sich damals als RacheEngel gefühlt? Ich sagte ja. Wusste aber erst später was es bedeutet.

Portandus betroffen. Stärker als je in seinem Leben bei einem Geständnis. Will jetzt alles wissen. „Du hast doch nichts dagegen, wenn ich Dich Porcus nenne? Plötzlich Schwein im Kopf „Oder doch lieber Fritz?“ Da gehen seine Augen auf wie Sonnen. „Dann sage ich Otto zu Dir.“ Erzählt, dass der Therapeut ihn regelrecht in die Mangel nahm. Kam immer auf meine Mutter zurück. Fragte: „Haben Sie daran gedacht, dass Ihr Vater Ursache für ihre Beziehung zu einem anderen Mann war? Später wenigstens, als lange Zeit vergangen war?“

„Nehmen wir einmal an“, sagte er, „Ihr Vater hatte selbst eine Freundin. Prügelte Ihre Mutter, wenn er betrunken war? Trank er, weil er seinen Job verloren hatte? Nutzte sie aus, als wäre sie seine Sklavin, die nur gehorchen muss? Ihre Mama hatte mit Sicherheit solche oder ähnliche Gründe, bei einem anderen Mann alles zu vergessen. Sich als Frau zu fühlen und Freude am Leben zu haben. Überprüfen können wir es nicht mehr, leider. Aber solche Gründe für das Verhalten Ihrer Mutter werden Ihnen helfen, Ihre Meinung über sie und Frauen im Allgemeinen zu revidieren.“

Porcus hatte sich Portandus nackt gezeigt, nackt wie noch nie einem anderen. Gebeichtet und eingesehen, sein Leben war ein einziger Irrtum. Bis der Arzt ihm half, bei der Suche nach seinem besseren Ich. Sich ernsthaft vorgenommen, ein anständiger Mensch zu werden. Nach seiner Entlassung fand er rasch Wohnung und Arbeit in einem Heim für Kinder ohne Mutter oder Vater. Jetzt hatte er Portandus Vergangenheit und Zukunftspläne offengelegt. Einem, der sein Freund werden könnte. „Prost Otto.“ „Prost Fritz!“

Zu später Stunde gehen sie den langen Flur entlang zur Haustür. Beide überzeugt, sie hätten ein gutes Werk vollbracht. Porcus alles erzählt, was zu erzählen war. Verständnis gesehen in Ottos Augen. Vielleicht sogar Mitleid. Darf er hoffen? Kommen an Annegrets Foto vorbei. Das wie eine Kreidezeichnung aussieht. Einen stärkeren Ausdruck hat als je ein Farbfoto haben kann. „Wer ist das?“ „Annegret, meine Frau. Die Witwe von Parvum-Plumbum. Wir heirateten bald nach seinem Herzinfarkt. Annegret starb vor zwei Jahren an einer tödlichen Lungenkrankheit.“

Fritz Schwein, genannt Porcus, starrt das Bild an. Kann den Blick nicht losreißen. Von der Frau, die er liebte, mehr als eine andere in seinem Leben. Glaubte er. Die schwarzweiße Zeichnung wirkt wie ein Fanal auf Porcus.

Wut steigt auf wie damals. Wird größer, als er sich vorstellt: Otto mit ihr im Bett. Vielleicht haben sie auch schon vor Plumbums Tod miteinander geschlafen. Seine Hände zittern. Er versucht, sich zu beruhigen. Atmet tief durch. Zweimal, dreimal. Will etwas sagen, fragen. Bringt kein Wort heraus. Seine Hände flattern, fliegen hoch, an den Hals von Otto. Drücken zu. Portandus derart überrascht, dass er sich zu spät wehrt, keine Kraft mehr hat. Sieht ein Licht aufblitzen. Anne? Verliert das Bewusstein. Porcus drückt weiter und hält die Kehle zu. Obwohl er schon nicht mehr atmet, Drückt und drückt, umklammert den Hals, als müsste er sich an etwas festhalten. Um nicht abzustürzen.

Portandus tot. Porcus, der letzte Lateiner, der ein Mörder ist und wieder nicht. Lässt die Frage zurück: Ist das Böse immer stärker als das Gute? Luzifer stärker als Gott? Liebe Segen oder Fluch?

„Die Rose, wo ist meine Rose?“ Porcus sieht sie in einer Glasvase. Reißt sie heraus: „Das ist meine Rose!“ Steckt sie hinter den Rahmen von Annegrets Bild. „Das ist meine Annegret!“ Stürmt aus dem Haus. Gejagt von seinen Gefühlen. „Zum Teufel mit allen, die wegnehmen, was mir gehört. Mir allein!“ Merkt nicht, dass ihm nichts mehr gehört. Rein garnichts. Ein Nemo.

Portandus bereits mit zweihundertvierzigtausend Kilometer pro Sekunde unterwegs zur Wolke siebzehn. Wo Anne ihn erwartet, ihr Photon mit dem seinen zu verschmelzen. Und wenn sie dieses Buch gut findet, wird er es seinem Verleger senden per Lichtgeschwindigkeit. Damit es möglichst schnell unter die Leute kommt.

„Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust“, stöhnte schon Faust in Goethes Drama. Jeder von uns ist zwiegespalten. In Gut und Böse. Helligkeit und Dunkel. Gott und Teufel. Wie sich diese Tatsache auswirkt, hängt von den Umständen ab. Die sind so unterschiedlich wie Menschen verschieden sind. Ihre Lebensbedingungen, Einflüsse von außen, Emotionen von innen und Schicksalen. Den puren Gutmenschen gibt es nicht. Den Bösen hin und wieder. Mensch ist des anderen Wolf, schreibt der römische Dichter Plautus. Ein Raubaffe, sagt Friedrich Dürrenmatt. Es muss etwas daran sein.

Schon in der Schule fiel Porkus unangenehm auf. Nicht ohne Grund gaben seine Mitschüler Fritz Schwein den lateinischen Namen Porcus. Klingt schon wie ausgekotzt. Eine neue Mode kam ihnen gerade recht, sich lateinisch anzureden. Also Porcus statt Schwein. Wie kann man nur Schwein heißen? Fragte sich mancher. Väter haben es versäumt, die Namensänderung zu beantragen. Oder wohnten seine Vorfahren in einem Lande, in dem es keine Schweine gab? Hätten aber gerne welche gehabt. Sollen lecker schmecken.

Heinrich Kleinebley nannte man ParvumPlumbum. Kurt Vogel Avis. Karl Otto Bauer Agricola. Franz Müller Molerus. Den Autor dieses Buches Portandus. Von portare bringen. Gerundium, der Bringende, wörtlich übersetzt. Alle fühlten sich mächtig stolz als gebildete Lateinschüler. Lateiner waren eine besondere Klasse Jugendlicher. Ein Club der Auserwählten gewissermaßen.

Vorspel oder Lünekichelsdorf dagegen waren die Dummen. Für sie gab es keine lateinische Vokabel. Hätten ihre Eltern gewusst, dass es eine so große Rolle spielt, hätten sie sie aufs Naturwissenschaftliche geschickt. Das Altsprachliche aber hatte einen sehr guten Ruf. Und der war wichtiger als die Marotte einiger Schüler.

Nur wenige von ihnen kamen über die Drei in Latein hinaus. Aber bei ihren lateinischen Namen blieb der Club konsequent bis zum Abitur. Noch bei ihren späteren Jahrestreffen begrüßten sie sich: „Hallo ParvumPlumbum.“ „Hallo Avis.“

Porcus petzte. Hinterrücks. Sie hätten ihn verprügelt, hätten sie es gewusst. Rätselten, wer wohl ihre geheimen Treffen mit den Mädchen des Lyceums einmal die Woche verraten hat? Sie mussten zur Strafe hundertmal schreiben: Du sollst keine kleinen Mädchen verführen. Als wäre es das elfte Gebot und sie der Beelzebub persönlich. Mädchen waren damals noch eine geschützte Kathegorie der Gattung Mensch. Im verschlossenen Schulgebäude eingekerkert. Bewacht von feuerspeienden Drachen, Studienrätinnen ihres Zeichens.

Erst in der Obersekunda erfuhren sie von Porcus´ Verrat. Die heutige Freundin Portandus´ hatte ihn damals gesehen, als er vom Ast einer Kastanie auf der Königsallee Jungen und Mädchen in einem Hauseingang beobachtete, die sich umarmten. Damals dachte sie sich nichts dabei. Als Portandus es ihr erzählte, erinnerte sie sich.

Was sollten sie tun nach so langer Zeit? Porcus verprügeln? Zur Rede stellen? Der inzwischen ein Schwergewicht mit 70 Kilo. Und Muskeln wie ein Ringer. Trainierte seit einem Jahr zweimal die Woche, als wollte er Weltmeister werden. Gegen einen solchen Kraftprotz hatten sie keine Chance. Außerdem gab es andere Probleme. Untersekunda und Obersekunda schaffen. Das Abitur vor der Nase. Da passierte wieder eine sehr schreckliche Sache.

In der Pause marschierten drei finster blickende Männer in Ledermänteln über den Schulhof. Direkt auf zwei Jungen zu, von denen alle wussten, sie waren Juden. Der Direktor hatte sie bis dahin schützen können. Schenkte ihnen neutrale Pullover ohne den gelben Judenstern. Für den Aufenthalt in der Schule. Juden waren sogenannten Ariern immer schon verdächtig, wusste der Direktor, ein Historiker. Die Geheime Staatspolizei Hitlers hatte davon Wind bekommen. Porcus das Schwein?

Sie sahen ihn in der braunen Uniform der Hitlerjugend auf die Polizei zugehen, die rechte Hand heben zum Hitlergruß, hörten ihn lauthals schreien, dass es alle hörten: „Juda verrecke!“

Niemand sonst trug in der Schule diese Uniform. Nur bei den wöchentlichen Diensten. Man hatte sie dazu verpflichtet. Sich weigern bedeutete vier Wochenenden Umerziehung in einem Hitlerjugendheim und peinlichste Verhöre der Eltern. Porcus petzte. Der Schulhof hatte plötzlich große Ohren.

Es verstand sich von selbst, dass alle sich von Porcus distanzierten. Niemand hatte Lust, seine Eltern und sich selbst zu gefährden. Wegen einer leichtsinnig geäußerten Kritik an Hitler oder einem seiner Parteigenossen. Dem Angeber Baldur von Schirach z.B., Reichsjugendführer. Oder dem Fettwanst Robert Ley, Arbeiterführer. Es schien nur noch Führer zu geben. Wo war das Volk? Der zweite Weltkrieg war im Gange. Sirenen heulten fast jeden Abend. Luftschmutzübung nannten sie es.

Abends, wenn alle Arbeiter zuhause beim Bier saßen, Zeitung lasen oder Radio hörten, die Lehrer sich von ihren Frauen zur Belohnung für ihre harte Arbeit umarmen und küssen ließen, kam für die Jungens die Stunde der Freiheit.

Karl Otto Bauer, der Agricola, besaß Schallplatten. Eine ganze Sammlung dieser schwarzen Scheiben. In deren Ritzen geheimnisvollerweise die ganze Welt zuhause war. Italien mit Benjamino Gigli, dem ewig liebeskranken Tenor. Deutschland mit Richard Tauber, dem lyrischen Tenor, der Franz Lehars Operetten zu den meistgespielten Bühnenstücken machte. Bis er als Jude ausgeschaltet wurde. Dann Amerika mit Louis Armstrong, dem Jazz-Trompeter aus New Orleans. Eine Offenbarung.

Alle die Lateiner rutschten von den Stühlen auf die Knie. Sprangen wieder auf und schwangen ihre Arme und Hüften. Schlossen ihre Augen und genossen den ihnen noch unbekannten Rhythmus wie eine Reise in unbekannte Fernen. KO Bauer wusste mehr von seinen Eltern, die Jazz-Fan waren, wie er erzählte. Schon zweimal den Mardi Gras in New Orleans gefeiert. Mit den Schwarzen durch die Straßen gezogen, die ihre Trompeten bliesen, als wäre es ihr letztes Lied. Sehnsucht ist die Grundstimmung des Jazz. Sehnsucht der ausgewanderten Afrikaner nach Irgendwohin. Ihre Heimat?

Wenn sie einmal die Woche bei Agricola Jazz hörten, kroch eine unbestimmbare Sehnsucht ins Gedärm. Von dort übers Herz, das zu zittern begann. Bis in die Ganglien ihres Gehirns. Wo sie ankerte. Und nicht mehr losließ, solange sie lebten. Jazz, ein alter Menschheitsgesang. Der Heimat verspricht. Heimat, die es nicht gibt.

Drei schwere Luftangriffe hatten sie hinter sich. Spannend. Theater, das nichts kostet, meinten die meisten der Klasse. Liefen hinaus ins Freie, wenn sie nicht die Angst fesselte ans scheinbar sichere Gemäuer eines Kellers. Die dröhnenden Geschwader am Himmel zu sehen. In den gekreuzten Fängen der Scheinwerfer waren sie gut zu erkennen. Wie Motten im Licht. Warfen Christbäume ab, die Stadt unter ihnen zu erhellen. Die Ziele, die sie treffen wollten. Bis es orgelte, pfiff und explodierte. Häuser einstürzten oder in Brand gerieten. Ängstlich hockten Eltern und Großeltern in den Kellern, Zitterten. Und hörten nicht auf zu zittern, als es längst vorbei war.

Sie waren noch nicht siebzehn, als sie das Vaterland zum Krieg rief gegen eine ganze feindlich gesonnene Welt. Im Osten den Bolschewismus, im Westen den Kapitalismus. Deutschlands Städte vor englischen und amerikanischen Fliegern zu schützen. Genauer vor ihren Bomben. Mit denen sie die Rüstungsindustrie lahm legen und wichtige Verkehrswege zerstören wollten. Dabei in Kauf nahmen die Zivilbevölkerung zu treffen. Ihre Häuser, Kirchen und Denkmäler zu zertrümmern. Unschuldige Menschen zu töten, hunderttausende bis zum endlichen Schluss. Angst hörte nicht auf. Die Pfarrer hatten viel zu tun. Mehr als jemals wieder danach.

Wie in Trance das Volk, ein Reich, ein Führer entschlossen, auszuhalten bis zum Endsieg. 18. Februar 1943, gut zwei Jahre vor der Kapitulation im Berliner Sportpalast: „Wollt ihr den totalen Krieg? Wollt ihr ihn, wenn nötig, totaler und radikaler als wir ihn uns heute überhaupt erst vorstellen können? Nun Volk, brich auf und Sturm brich los.“ Schrie Propagandaminister Josef Goebbels ins Mikofon. Die Stimme des Jesuitenschülers überschlug sich fast. Ist es typisch für die Natur des Menschen, Engel zu sein und Teufel in einer Person?

Und alle im Saal brüllten Heil, Heil Heil Hitler!“ sangen „Deutschland, Deutschland über alles. Über alles in der Welt.“ Als glaubten sie es. Das Publikum nur eingeladene Parteigenossen. Die nichts anderes konnten als lauthals brüllen. Wenn sie ihre komfortable Stellung behalten wollten. Ja sagen zu was auch immer. Als wäre ihr eigener Wille ausgeschaltet. Nachdenken könnte für sie Folgen haben. Den Kopf kosten. „Goldfasane“ nannte Portandus´ Vater diese Sorte Parteigenossen. Weil sie mit goldenen Schnüren, glitzernden Epauletten auf ihren braungelben Jackets und hohem Salair geadelt waren. Für jedermann Warnung oder Respekt. Je nachdem.

Stalingrad fiel. Auf allen Schlachtfeldern starben Millionen Soldaten. In Konzentrationslagern sieben Millionen Juden, Roma, Zindis, Kriegsgefangene. Weil das Gewissen in Wächtern offensichtlich ausgeschaltet war. Schlummerte, als es wach sein sollte. „Der Untertan“, Heinrich Manns berühmtes Buch charakterisiert diese deutsche Mentalität. Ob Kaiser oder Führer? Hauptsache einer befiehlt. Wir folgen. Letzter Grund für die großen Kriege des letzten Jahrhunderts.

Die Kindersoldaten bekamen eine Uniform in der Farbe der Luftwaffe, blaugrau. Bridgesähnliche Hose, Bluse mit Schulterklappen, Stiefel, Käppi und Stahlhelm. Zu sonntäglicher Heimfahrt oder Bummel auf der Kö eine Schirmmütze. Einen Tornister mit Kochgeschirr. Tabletten gegen ungewollte Versteifung des Gliedes. Sie nannten es „Hängolin“. Führers „Mein Kampf“. Fertig war der Flakhelfer. Ein fast perfekter Soldat.

Flak auf Deutsch Flugabwehrkanone. Sie sollten helfen, Granaten in die Rohre zu schieben. Die leeren Hülsen nach dem Schuss wieder in Bunkern zu lagern. Besser waren die dran, die am Messtisch arbeiteten. Oder am Horchgerät. Beide unentbehrlich, feindliche Flieger auszuspähen, ihren Standort zu bestimmen. Damit die Schüsse aus den vier Rohren der Batterie sie trafen. Wieviel blind in die Luft geballert wurden, hat niemand gezählt. Kanoniere machten ihrem Herzen Luft aus Pflichtgefühl gemischt mit Angst.

Geplant war täglicher Unterricht in der Stellung. Schule sollte nicht zu kurz kommen bei allem Militärischen. Ihr Klassenlehrer Dr. Battes kam zum Unterricht in die Baracke drei. Deutsch und Geschichte. Professor Wernke, ihnen den Logarithmus beizubringen. Pater Johannes Kleine-Natrop das Wort Gottes. Sie lernten und lernten und bereiteten sich aufs Notabitur vor. Aber der Stress des Alltags machte keinen Spaß.

Unteroffiziere ärgerten sie mit läppischen Befehlen. Leutnant Ypsilon durch seine arrogante Art. Ordnete an, ihn jederzeit zu grüßen. Stramm zu stehen, wenn er vorbei ging. Mit an die Schläfe gelegter Hand zu grüßen. Wehe, einer machte es zu lässig. Hatte die Hacken nicht knallen lassen beim Strammstehen. Zwanzig Kniebeugen waren die geringste Strafe. Draußen, ob es regnete oder die Sonne vom Himmel brannte wie Feuer.

Eines Tages waren sie es leid. Beschwerten sich bei Dr. Battes. Sie wussten, er war Hauptmann im ersten Weltkrieg. Der, auf Seiten seiner Schüler, kam am folgenden Morgen in voller Uniform. An seiner Brust prangte der Pour le Mérite, am Hals das Eiserne Kreuz erster Klasse. Und sonst noch, was sie nicht kannten.

Als der Leutnant, nichts ahnend die Baracke betrat, der Unterricht müsste beendet sein, sah er den Klassenlehrer Dr. Battes. Erschrocken riss er die Hacken zusammen, dass sie knallten. Hand an die Mütze: „Heil Hitler Herr Hauptmann!“ „Guten Morgen Herr Leutnant. Das reichte. Ab da benahm er sich freundlicher. Ständig die Furcht im Nacken, angepfiffen zu werden von seinem Vorgesetzten Generalleutnant Übler, wegen falsch verstandener Kameradschaft. Da kann man mal sehen, wozu Uniformen gut sind.

Zweimal feierten sie Weihnachten in einer Flak-Batterie. Das erste in Düsseldorf-Hamm, nahe der gefährdeten Eisenbahnbrücke über den Rhein. Ziel vieler Bombenangriffe. Das zweite in Düsseldorf-Kalkum, den zwischen Kaiserswerth und Lohausen liegenden Flughafen zu verteidigen. Ganz in der Nähe des Diakonissen-Mutterhauses. Ebenso nur ein Katzensprung zu Tante Mathilde und Onkel Willi. Vetter zweiten Grades von Portandus´ Mutter. Er war Aufpasser eines Gaskessels. Die Tante verwöhnte Portandus mit Aprikosenkuchen.

Weihnachten 1943 in Kappeshamm, so nannten sie den ländlichen Vorort. Das Zentrum des Kohlanbaus. Major Oebel ordnete an, eine Zehnmetertanne aufzustellen. Er besaß in seinem Zivilleben eine Brotfabrik in Köln. Gut katholisch, nahe liegend. Als es langsam dunkelte, war die ganze Batterie angetreten, rund um die Tanne. Die mit vielen elektrischen Kerzen illuminiert in den schwarzen Himmel strahlte. Allen Verdunkelungsvorschriften zum Trotz.

Generalleutnant Uebler, der ranghöchste in dieser Runde hob an: „Hohe Nacht der klaren Sterne.“ Neumodisches Weihnachtslied der nationalsozialistischen Jugendbewegung. Kaum einer sang mit. Sie kannten das Lied von ihren nächtlichen Fahrten, aber die Texte nicht bis zur letzten Strophe.

In die relative Stille nach der letzten Strophe tönte die markige Stimme des Brotbäckers Major Oebel: „Stille Nacht, Heilige Nacht.“ Uebler verstummte, verkrümelte sich. Junge und ältere Soldaten aber sangen aus voller Brust das schönste Lied der Christenheit. Vom kräftigen Bariton des Brotbäckers Oebel angeführt.

„Da wird einem öbel und übler“ frotzelten sie nicht lange danach. Erzählten es immer wieder, wenn sie sich trafen, Jahre später und Jahrzehnte noch.

In der Kommandatur ihrer Stellung waren auch Mädels beschäftigt. Luftwaffenhelferinnen genannt. In eine besonders hübsche verguckte sich Portandus, Helene Schuwerak. Lenchen genannt. Kein Problem miteinander ins Gespräch zu kommen. Bereits am dritten freien Samstag gingen sie ins Apollotheater. „Quax der Bruchpilot“ mit Heinz Rühmann gucken. Es gab einiges zu lachen, anderes zu fürchten. Ende gut, alles gut.

Zum ersten Mal mit einer Frau allein. Sein siebzehnjähriges Herz aufgeregt. In seinem Kopf die kühnsten Fantasien. Seine Hand auf ihrem Knie nicht abgewehrt. Portandus machte sich Hoffnung. Nicht vergebens, wie es den Anschein hatte. „Du kannst bei mir übernachten, wenn du willst“. Sie wohnte in Düsseldorf, vom Apollo zweimal um die Ecke.

Natürlich wollte er. Sagte nicht „aber gern“, sondern „wenn du ein Bett für mich hast.“ Sie hatte. Es war eine Couch. Sie legte ein frisches Nesseltuch darauf, holte eine flauschige Wolldecke, ein Sofakissen für den Kopf. Und verschwand ins Bad. In seinem Kopf schlugen die Gedanken Purzelbaum. Sah sie schon im hauchdünnen Nachthemd an seinem Bett stehen. Vielversprechendes Lächeln im schönen Gesicht. Sich herunter neigen, seine Lippen küssen. Hörte den Himmel voller Geigen.

Sie kam. In einen dicken Bademantel gehüllt. Kein blankes Knie, kein Busenansatz zu sehen. Setzte sich auf die Kante der Couch, nahm mit sicherem Griff seine Hände, legte ihre Innenflächen zusammen: „Jetzt wird gebetet: Jesukindchen klein, mach mein Herzchen rein. Soll niemand drin wohnen als Jesus allein.“

Er schlief unruhig. Wälzte sich dauernd hin und her. Sein Kopf das reinste Martyrium. Hätte ich sie doch einfach an mich gerissen, geküsst. Und so weiter und so weiter. „Hast du gut geschlafen?“ Zum Frühstück gab es weich gekochtes Ei. Toast mit Erdbeermarmelade. Eine große Tasse Schokolade für ihn. Sie, drei Jahre älter als er, trank Gerstenkaffee, genannt Muckefuck. Sonderration für die Woche. Wenn er sich später an diesen ersten Versuch erinnerte, als fast Volljähriger eine Frau zu besitzen, musste er schmunzeln. Lachte hellauf, so einfältig kann nur ein Katholik sein. Zu nichts anderem fähig als beten. Dabei den großen Verführer im Kopf, die unreifen Gedanken eines Spätpubertierers.

Wo aber war Porcus geblieben die lange Zeit? Nicht dabei, als es zur Flak ging. Auch nicht beim nachgeholten Abi, Februar 1946. Irgendwie fehlte er ihnen. Mensch braucht einen, den er hassen kann. Man munkelte, er habe sich krankschreiben lassen im Krieg. Seine Leber sei geschädigt. Nachsichtige vermuten, dass ihm mehr als eine Laus über dieselbe gelaufen ist. Grund für sein menschenfeindliches Verhalten. Porcus wurde vom aktiven Wehrdienst befreit.

Wo also steckt er jetzt. Die Lateiner hockten zusammen beim vierten Treffen nach Friedensschluss. Alle bereits vor dem Abschlussexamen. Avis dem Dr. der Orthopädie. ParvumPlumbum als Dipl. Betriebswirt. Portandus als Dipl. Architekt und Dr. der Kunstgeschichte. Molerus hatte bereits den Brennstoffgroßhandel seines Vaters übernommen. Wie gesagt, sie hockten bei Altbier und Röggelchen. Machten sich heftige Gedanken. Über einen, der zu ihrem Leben gehörte. Auch wenn sie ihn für das Arschloch in der dritten Potenz hielten.

ParvumPlumbum meinte, er hätte ihn gesehen, wie er in die Untergrundbahn stieg. Dann aber aus den Augen verloren. Avis vermutete ihn in der DDR. Agricola konnte keine Meinung haben. Er war in den letzten Kriegstagen gefallen. Als sie dies hörten, schwiegen sie belämmert und sehr traurig. Der Mensch Karl Otto Bauer war allen sympatisch. Nicht nur, weil er sie mit dem Jazz bekannt gemacht hatte. Er hatte einen offenen Charakter. Ganz im Gegensatz zu einem Porcus von Schwein. Auf dem Schwarzmarkt gab es schwarze Scheiben mit Armstrong. Wenn man Glück hatte. Portandus hatte fies Glück, wie man so sagte. Lud alle Lateiner zu sich auf die Dachkammer im elterlichen Haus. Ein eigenes hatte er noch nicht. Und lauschten der unnachahmlichen Trompete ihres Louis. Bewegt und hingerissen zugleich.

Da geschah, mit dem niemand gerechnet hatte. Porcus rief an. Hatte sich Avis ausgesucht. Woher aber wusste er von seinem Beruf? Weil Schweine überall rumrüsseln, giftete ParvumPlumbum. Vielleicht auch weil der Orthopäde sich immer verständnisvoll gezeigt hat. Damals und sicher auch heute noch. Charakterliche Schwächen behandelt wie eine verklemmte Bandscheibe. „Du musst mir helfen“, quälte sich ein gepeinigter Porcus am anderen Ende der Leitung um die richtigen Worte. Wusste er doch, warum sie ihn hassten.

Avis überlegte, „Was mag wohl in ihn gefahren sein? Plötzlich so unterwürfig. So gar nicht hinterfotzig. Oder führt er was im Schilde? Avis gewitzt durch Porcus´ üble Petzerei, sein menschenverachtendes Verhalten, wartete, bis er ihm antwortete. Ich lass ihn jetzt zappeln, damit ihm der Arsch auf Grundeis geht. Späte Rache, sagte seine Unvernunft. Nachdenken, seine Vernunft. Wie soll es weiter gehen?

Ließ ihn kommen. Streckte ihn, dehnte Gelenke und Muskulatur, spritzte ihm ein Narkotikum ins Gesäß und empfahl: „In einer Woche wiederkommen.“ Er kam wieder. In jämmerlicher Verfassung. Straft der liebe Gott so die Sünder? Avis wurde von seiner Mutter areligiös erzogen, dachte an Gott und weiß was. Den üblichen Religionsunterricht durfte er schwänzen. Tat was er am besten konnte. Streckte ihn, dehnte seine Gelenke, die Muskulatur, spritzte ihm ein Narkotikum ins Gesäß. Hoffte, es hilft. Auch Ärzte müssen hoffen, dass sie Recht behalten mit ihrer Therapie. Porcus musste ein drittes Mal kommen.

Sie wechselten auch diesmal kein Wort während der Behandlung. Jeder von ihnen konzentriert auf das Naheliegende. Oder Entfernte. Dann Abschied ohne Händedruck: „Tschö“. „Tschö, Porcus Deine Versicherungskarte!“ Rief Avis ihm nach. Glaubte, er habe sie vergessen abzugeben. Porcus war nicht versichert. „Dieses Schwein“, fiel ihm von der Zunge. Schickte ihm eine gesalzene Rechnung.

Die Adresse hatte er ihm entlockt. Bei Verweigerung hätte er ihn nicht behandelt. Wartet auf Zahlung. Kein Geld kam auf sein Konto. Nach vier Wochen nicht, einem Vierteljahr immer noch nicht. Die dritte Mahnung kam zurück: Empfänger unbekannt.

Als er es seinen Mitschülern erzählte, frotzelte Portandus: „Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen.“ Einer lachte. Es war Avis selber, der lachte. Als freute er sich über einen gelungenen Streich. Von außen betrachtet. In Wahrheit aber wurmte es ihn. Trieb ihn auf die Palme. Dahin, wo Gottes Zorn zu spüren ist. Auch bei denen, die nicht an ihn glauben. Porcus ist und bleibt ein charakterloses Schwein. „Ja, du hast Recht Portandus: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen. Ha, ha.“

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