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Liv Hoffmann

Endstation Wildnis

Greetings from Alaska





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Kapitel 1

 

Als Redakteurin und Moderatorin beim Fernsehen zu arbeiten, war bereits in frühester Kindheit mein großer Traum. Jeder der fragte, was ich denn mal werden möchte wenn ich groß bin, bekam dieselbe Antwort: Fernsehfrau. Damals wusste ich nämlich noch nicht wie man die Leute, die für die Sender arbeiten, eigentlich nennt.

Ich hatte mich jahrelang auf meine Karriere vorbereitet indem ich, im Beisein aller meiner Puppen und Kuscheltiere, Ansagen probte und so tat, als würde ich irgendwelche wichtigen Personen interviewen. Meine Eltern hielten es damals noch für eine Phase, die sicher irgendwann vorbeigehen würde. Doch so kam es nicht. Ich hielt trotz aller Ablenkungen, denen man mit sechzehn Jahren bis zum Erreichen der Volljährigkeit so erliegen kann - Partys, Jungs, noch mehr Partys, Zickenkrieg, noch mehr Jungs, und so weiter - an meinem Vorhaben fest.

Nun war ich mittlerweile dreißig Jahre alt und arbeitete tatsächlich beim Fernsehen. Selbst meine Eltern hatten irgendwann kapiert, dass ich nicht von meinem Traum abrücken würde, komme, was wolle.

Dass das Überleben in der Fernsehwelt allerdings ein ganz anderes Thema war, hatte mir vorher leider niemand gesagt. Denn ab einem gewissen Alter, eignete man sich eben nicht mehr für die Moderation von hippen Lifestylemagazinen und muss so langsam anfangen, sich nach etwas Seriöserem umzusehen. Leider erging das wohl einigen Amerikanerinnen so, und somit war ein dauerhafter Platz vor der Kamera hart umkämpft. Wie hart, dass sollte ich bald am eigenen Leib erfahren.

 

***

 

„Wir brauchen hier nochmal jemand von der Maske!“, rief die blonde Aufnahmeleiterin mir der riesigen Nerd-Brille, und sah sich suchend um. Ich blickte irritiert von meinen Moderationskarten auf, die ich gerade noch einmal durchgegangen war. Während der Sendung konnte ich nämlich nicht auf sie zurückgreifen. Das war old school, sowas von out. Immerhin waren die Produzenten von „What´s up, America?“, dieser Meinung. Alles musste cool, nicht einstudiert und möglichst spontan wirken. Da man aber sicherstellen wollte, dass wir trotz aller Coolness und Spontaneität auch souverän durch die Sendung moderierten hieß es, viel auswendig lernen um nur selten auf den Teleprompter blicken zu müssen. Denn das war ebenfalls total uncool.

Nachdem Birdy, die Aufnahmeleiterin noch einmal lautstark nach der Maske verlangt hatte, schoss eilig ein hochgewachsener, spindeldürrer Typ, dessen schmalen Körper unzählige Tattoos schmückten, mit einer Art Malkasten auf mich zu.

„Hey Aaron, ihre Poren sind zu groß, da muss noch was drüber!“, wies Birdy, die eigentlich Betthany hieß und fünf Jahre jünger war als ich, den Visagisten knapp an.

Was? Meine Poren? Wieso zu groß? Ich verstand im ersten Moment nicht, worauf Birdy hinaus wollte. Aaron packte wortlos eine Puderquaste aus seinem Kasten und begann an meinem Gesicht herumzutupfen, ohne eine Miene zu verziehen.

„Ähm“, meldete ich mich zaghaft zur Wort und hatte Mühe, bei dem ganzen Puderstaub der meinen Kopf umkreiste, nicht zu niesen. „Wie meinst du das, meine Poren wären zu groß?“

Ich hörte, wie Birdy Luft ausstieß. „Na, die heutigen Fernsehgeräte zeigen einfach jeden klitzekleinen Makel. Das liegt an der immer höher werdenden Auflösung. Und niemand möchte eine Mondkraterlandschaft im Gesicht der Moderatorin präsentiert bekommen.“

Ich schluckte bei ihren unverblümten Worten. Immerhin hatte ich meine Haut für ganz ansehnlich gehalten. Zum Glück war ich bisher von übermäßigen Falten, oder Hautunreinheiten verschont geblieben. Außerdem gönnte ich mir einmal die Woche eine Gesichtsbehandlung. Und nun musste ich es mir tatsächlich gefallen lassen, dass man mein Gesicht mit einer Kraterlandschaft verglich.

Ich hatte keine Zeit meiner Entrüstung freien Lauf zu lassen, denn kaum hatte Aaron seine Arbeit an mir beendet, gab Birdy letzte Anweisungen vor der Aufzeichnung.

 

Heute drehte sich in der Sendung alles um Minimalismus. Entrümple dein Leben, entrümple deine Seele, lautete der Titel, den ich irgendwie lächerlich fand. Aber das Thema war aktuell und so mussten wir es natürlich auch aufgreifen. Ich hatte sogar einen Gast in der heutigen Sendung. Megan, vierundzwanzig, Bloggerin und selbsternannte Minimalistin. Sie gab auf YouTube Tipps, wie man sein Leben entrümpeln und neu organisieren konnte.

 

Als Megan mir wenig später gegenübersaß und in gekürzter Fassung das zum Besten gab, was man sich auch auf ihrem Videokanal reinziehen konnte, musste ich innerlich schmunzeln. Wahrscheinlich würde sie beim Anblick meines vollgestopften Mini-Apartments der Schlag treffen.

„Wie sehr hat das bewusste Verzichten auf überflüssige Konsumgüter sich auf Ihr Leben ausgewirkt?“, stellte ich ihr brav die Frage, die gerade über den Bildschirm des Telepromters flimmerte. Während Megan ausholte, um auf meine Frage zu antworten, wurden für die Zuschauer einige Bilder aus ihrem Alltag eingeblendet. Sie zeigten die „Konsumverweigerin“ mit Spiegelreflexkamera an einem Strand in Griechenland und beim arbeiten an ihrem Laptop mit dem Apfelemblem.

Und dann passierte es, mir rutschte eine Frage zwischen den Lippen hindurch, die mir nicht von den Produzenten vorgegeben worden war. Doch beim Anblick der Fotos konnte ich es einfach nicht unterdrücken.

„Wie kommt es eigentlich, dass man als sogenannter Konsumverweigerer über sämtlichen neuwertigen und teuren Technikschnickschnack verfügt? Gehört das irgendwie zur Philosophie dazu? Bloß keine neuen Klamotten kaufen, dafür aber ein Smartphone und einen Laptop?“

 

Für einige Sekunden herrschte fassungslose Stille. Und als ich bemerkte, was mir da eben herausgerutscht war, wusste ich, das würde Konsequenzen haben. Megan war sichtlich bemüht ihr ich-bin-mit-mir-und-der-Welt-völlig-im-Einklang-Lächeln aufrecht zu erhalten. Sie räusperte sich und blinzelte kurz. „Na ja … bei jedem Menschen ist da wohl die Grenze unterschiedlich gezogen. Wenn man aber wachrütteln und sich der Allgemeinheit mitteilen will, kommt man wohl oder übel nicht daran vorbei, einige Kompromisse einzugehen …“ Megan klimperte mit ihren Wimpern und grinste wie ein Honigkuchenpferd in die Kamera. Ich spürte, dass sich unter meinen Armen der Schweiß sammelte.

Irgendwie schaffte ich es, die Sendung zu Ende zu moderieren. Kaum aber waren die Kameras und Schweinwerfer aus, flüchtete ich in die Umkleide.

 

„Scheiße! Scheiße, was bist du nur für ein Idiot!“, zischte ich in mich hinein und rieb mir die Schläfen. Es klopfte an die Tür und eine Zehntelsekunde später stand Birdy vor mir. „Sag mal, was ist denn in dich gefahren? Hast du irgendwas geraucht?“ Sie schob sich ihre Brille auf der Nase zurück.

Ich stieß geräuschvoll Luft aus und ließ mich auf einen der beiden blauen Sessel sinken. „Ich weiß es echt nicht“, gab ich kraftlos zurück und griff mir an die Stirn.

„Das wird Sterling nicht gefallen“, orakelte Birdy und schnalzte mit der Zunge. „Er sucht doch sowieso schon einen Grund, dich gegen eine jüngere Ausgabe auszutauschen.“

Ruckartig hob ich den Kopf. „Bitte was?!“

Birdy sah mich gespielt mitleidig an. „Ups, da ist mir wohl auch gerade etwas rausgerutscht.“

In mir flammte die Wut hoch. Glaubte diese fünfundzwanzigjährige Schnepfe denn, sie würde vorm Altern verschont bleiben?! Überhaupt – Birdy! Wie kam sie bloß darauf es wäre irgendwie cool, sich so einen albernen Namen zu verpassen!

„Raus!“, knurrte ich drohend.

Birdy zuckte grinsend die schmalen Schultern. „So ist das Business, Schätzchen. Sieh es einfach ein!“ Damit verschwand sie und ich sank wie ein trauriges Häufchen Elend in dem Sessel zurück.

So ein gottverdammter Mist!

 

Auf dem Heimweg kaufte ich mir bei Bradley´s Deli ein Sandwich und einen Salat. Ich kochte nur ungern in meiner winzigen Küche und ehrlich gesagt war ich auch oft zu faul dazu. Deshalb griff ich nur zu gern auf die Annehmlichkeiten der Großstadt zurück in der man alles haben konnte was das Herz begehrte, und das vierundzwanzig Stunden am Tag, sieben Tage die Woche.

Mit einer Dose Bud Light und meinem Abendessen machte ich es mir auf meiner Bettcouch vor dem Fernseher gemütlich. Wahllos zappte ich mich durch die Programme, bis es endlich einundzwanzig Uhr war und meine Sendung lief, die wir heute aufgezeichnet hatten.

Ich robbte an mein TV-Gerät heran, um Birdys Aussage was meine Poren betraf, zu überprüfen. Ich konnte rein gar nichts Kratermäßiges in meinem Gesicht erkennen. Allerdings war mein Flachbildschirm auch kein Gerät der allerneuesten Generation.

Während ich aß und mir selbst beim moderieren zusah, beschlich mich ein eigenartiges Gefühl. Ich sah irgendwie unzufrieden aus.

 

Und als ich in mich hineinhorchte musste ich mir unwillig eingestehen, dass mich dieser Job nicht wirklich ausfüllte. Ich konnte mich ja noch nicht einmal mit dem Großteil der Themen identifizieren, über die ich tagtäglich sprach.

War es vielleicht endgültig an der Zeit, für eine Veränderung?

Nachdenklich kaute ich auf einem Karamelldonut, den ich mir zum Nachtisch gönnte. Hatte ich die letzten Monate einfach aus Bequemlichkeit gehandelt?

 

Das Piepsgeräusch meines Smartphones riss mich aus meinen Gedanken. Ich hatte eine neue Nachricht erhalten.

Hugh Sterling, mein Boss schrieb:

Donovan, wir haben dringenden Redebedarf. Morgen um neun in meinem Büro! H.S.

 

Die Tatsache, dass diese Nachricht völlig grußlos daherkam war nicht weiter schlimm. Es entsprach Sterlings Art den Leuten solche unpersönlichen Nachrichten zu schreiben. Aber die Tatsache, dass er mich mit meinem Nachnamen ansprach, sorgte für eine gewisse Unsicherheit, die sich in mir breit machte. Denn wenn er mir milde gestimmt war, nannte er mich Brooke.

Nachdenklich kaute ich auf meiner Unterlippe herum und starrte auf die Zeilen. Er würde mir wegen meines Ausrutschers heute bestimmt die Hölle heiß machen. Vielleicht sollte ich morgen vorsorglich gleich einen Karton mitnehmen, denn es wäre nicht weiter verwunderlich, wenn Sterling mich einfach feuern würde. Wahrscheinlich hatte Birdy recht gehabt, und er sucht einfach nur noch nach dem passenden Grund, um mich auszutauschen.

Mit einem lauten Seufzen schob ich das Smartphone auf meinen Couchtisch. Den Grund hatte ich ihm ja heute selbst geliefert – ich Vollidiot!

 

Es dauerte ewig, bis ich endlich einschlafen konnte, denn während ich später hellwach in meinem Bett lag und an die Decke starrte, kamen mir die absurdesten Gedanken. Am Ende hatte ich mich so hineingesteigert, dass ich mich schon mit allen meinen Habseligkeiten auf der Straße sah. Denn wenn ich meinen Job verlor, konnte ich mir die horrende Miete meines zwanzig Quadratmeter kleinen Reiches nicht mehr leisten. Dabei hatte ich mir doch gerade einen Minigarten auf der kleinen Plattform neben der Feuertreppe angelegt. Seit ich im Wartezimmer meines Zahnarztes nämlich einen Artikel einer Gartenzeitschrift gelesen hatte, war ich der Meinung, dass es sicher nicht besonders schwer sein konnte Gurken und Tomaten selbst anzubauen. Bisher waren die Pflanzen zwar erst wenige Zentimeter groß, doch ich goss sie jeden Tag voller Hingabe in der Hoffnung, sie würden die lebensfeindliche Umgebung New Yorks überstehen.

 

Irgendwann mussten mir wohl doch die Augen zugefallen sein, denn als am nächsten Morgen der Wecker meines Telefons losplärrte, entfuhr mir ein unwilliges Brummen. Mit geschlossenen Lidern tastete ich mich auf meinem Nachtkästchen entlang, stieß gegen das Wasserglas, das natürlich prompt klirrend zu Boden fiel und eine Überschwemmung verursachte, bis ich endlich mein Telefon zu fassen bekam. Ich brachte es zum Schweigen und zog mir die Decke über den Kopf. Nein, ich zählte definitiv nicht zu den Menschen, die morgens fröhlich und fit aus dem Bett sprangen. Ich gehörte eher zu denjenigen, die sich gleich mehrere Wecker stellen mussten, um dann, etwa dreißig Minuten nach dem ersten Weckton, brummelnd und im Halbschlaf Richtung Bad schlurften.

 

Während sich meine elektrische Zahnbürste summend durch meinen Mund bewegte, schaltete ich die Kaffeemaschine ein. Denn ohne eine Tasse Kaffee war ich zu nichts zu gebrauchen. Das schwarze Gebräu war mein Treibstoff, der mich morgens in die Gänge brachte.

Als ich mich anzog, begann es in meiner Magengrube nervös zu kribbeln. Ich dachte sorgenvoll an das bevorstehende Gespräch mit Sterling und spürte, wie sich meine Kehle verengte.

Während ich mein Outfit und das Make up im Spiegel überprüfte, nickte ich mir selbst zu und straffte die Schultern. „Bringen wir´s hinter uns!“

 

Als ich im sechsten Stock des WTWA-Senders ankam, herrschte dort schon geschäftige Betriebsamkeit. Das klappernde Geräusch von Tastaturen mischte sich mit den klingelnden Telefonen und dem monotonen Stimmengemurmel der Mitarbeiter. Es summte wie in einem Bienenstock.

Ich lief mit gesenktem Kopf an Birdys Schreibtisch vorbei und rutschte hinter die Sichtschutzwand, die meinen Schreibtisch, der sich an der Fensterfront befand, zur anderen Seite hin abschirmte. Während mein Laptop aus seinem Schlaf erwachte, überprüfte ich die aktuelle Uhrzeit. Zehn vor neun. In meinem Brustkorb begann es zu flattern. In zehn Minuten würde mein Kopf rollen.

In diesem Moment vernahm ich eine gesenkte Stimme hinter der Trennwand: „Sie hat gleich einen Termin bei Sterling – ich denke, das war´s für sie.“ Die Stimme gehörte zu Ellie, die die Morgensendung moderierte.

„Was hat sie sich dabei auch nur gedacht?“, flüsterte es zurück. Das kam von Birdy.

„Wenn du mich fragst, sie passt sowieso nicht mehr in diese Sendung. Wir bräuchten dringend jemand … jüngeres und frischeres. Jemand, der sich mit den Themen identifizieren kann“, erwiderte Ellie.

Ich hielt kurz inne und rieb mir meine pochenden Schläfen. Dann stand ich von meinem Stuhl auf und blickte über die Wand. „Ich kann euch hören!“

Elli schnappte ertappt nach Luft, doch Birdy machte ein eher gleichgültiges Gesicht und zuckte die Achseln. „Ist doch wahr!“

Ich ballte die Hände zu Fäusten und presste mein Kiefer zusammen. Diese dämliche, eingebildete …

Ehe ich mich so richtig in meine aufkeimende Wut steigern konnte, erschien Sterlings Sekretärin Julia.

„Ähm … Brooke, Mr Sterling wäre jetzt soweit“, erklärte sie und trat dabei von einem Fuß auf den anderen. Es musste daran liegen, dass sie noch so jung war, denn im Vergleich zu den anderen Hyänen die mich hier umgaben, vermied sie jeden Ärger und ging Konfrontationen lieber aus dem Weg.

„O-Okay“ Ich schluckte hart und schlagartig war der Ärger über meine Kolleginnen verflogen. Stattdessen breitete sich ein flaues Gefühl der Angst in mir aus.

Mit schweißnassen Händen taperte ich hinter Julia her, während sämtliche Augenpaare aller Anwesenden auf mir ruhten. Es war grauenvoll!

 

Hugh Sterling hatte sich in seinem braunen Ledersessel leicht zurückgelehnt und betrachtete mich einen Moment lang mit zusammengekniffenen Augen.

Der teure Füllfederhalter – ein Geschenk seiner Frau – wanderte in atemberaubender Geschwindigkeit durch seine Finger. Mir wurde vom Hinsehen beinahe schwindelig.

„Donovan“, begann er gedehnt, während seine tiefe Stimme mein Zwerchfell zum vibrieren brachte. Pause.

Darauf folgte ein langgezogener Seufzer.

Ich krallte mich in die Armlehnen meines Stuhls. Wollte er mich denn absichtlich leiden lassen?!

„Ich muss sagen …“, sprach er endlich weiter und ich spürte, wie mein Herz kurz aussetzte. „Zuerst war ich schockiert und habe mich ernsthaft gefragt, ob Sie eventuell vorhaben, meine Sendung zu sabotieren.“ Nachdenklich kraulte er sein Kinn. „Aber dann!“ Er schlug so unvermittelt mit seiner flachen Hand auf den Tisch, dass ich unwillkürlich zusammenzuckte. „Dann habe ich es begriffen!“ Jetzt weiteten sich seine Augen und ein Grinsen umspielte seine Lippen. Er richtete seinen Zeigefinger auf mich. „Ich habe Sie durchschaut!“

„Ach ja?“, entfuhr es mir irritiert. Sterling nickte fast triumphierend. „Sie sind keine von den leeren, meinungslosen Moderatorinnenhüllen, die tagtäglich wie die Marionetten über Amerikas Bildschirme staksen und lächeln, als hätte man ihnen die Mundwinkel fest getackert.“

Ich musste blinzeln, denn seine Umschreibung sorgte für ein verstörendes Bild, das sich in meinem Kopf formte.

„W-Wie meinen Sie das?“, kam es mir stammelnd über die Lippen.

„Sie haben eine eigene Meinung und hinterfragen die Dinge – das gefällt mir!“ Jetzt richtete Hugh Sterling sich auf und wedelte weiterhin mit seiner Hand vor meinem Gesicht herum.

„Ach wirklich?“, hörte ich mich ungläubig fragen.

Sterling nickte nachdrücklich. „Natürlich! Seit die sozialen Netzwerke so engmaschig mit unserem Leben verbunden sind, kann jeder seine Meinung kundtun. Die Leute beginnen wieder vermehrt, angebliche Tatsachen zu hinterfragen. Sie schlucken nicht mehr alles, was wir ihnen präsentieren. Und genau dafür bräuchten wir mehr Leute, die so sind wie Sie!“

Verstohlen kniff ich mir in den Oberschenkel. Ich wollte nur ganz sicher gehen, dass ich gerade nicht träumte. Der Schmerz, der sich durch mein Bein fraß, bestätigte es. Ich saß tatsächlich in Sterlings Büro und im Moment sah es nicht danach aus, als müsste ich gleich meine Sachen packen.

 

Hugh Sterling griff nach dem Wasserglas, das neben seinem Laptop stand und nahm einen Schluck. Als er das Glas wieder abstellte, trafen sich unsere Blicke. „Ich habe da ein neues Baby in der Wiege. Ein neues Format für das Abendprogramm am Wochenende.“ Er machte eine bedeutsame Pause. „Und Sie scheinen mir genau die Richtige dafür zu sein!“, platzte es dann freudestrahlend aus ihm heraus.

In meinem Kopf begann es zu summen. Meine Kehle wurde trocken. „T-tatsächlich?“ Ich blinzelte ihn fragend an. „Um … was für eine Sendung handelt es sich denn da?“

Jetzt wurde Sterlings Grinsen so breit, dass es fast schon gruselig wirkte. „Sie werden sich ein halbes Jahr lang ein paar Leuten anschließen, die in der tiefsten Wildnis Alaskas leben. Ein kleines Fernsehteam wird sie dabei begleiten, wie Sie sich so durchschlagen!“

Ich war mir sicher, in diesem Moment blieb mir wohl der Mund sperrangelweit offen stehen.

„Unglaublich, oder?“, schwärmte Sterling euphorisch. „Das wird etwas ganz Großes – das habe ich im Gefühl!“

„Ah … ha“, war alles, was ich in diesem Moment erwidern konnte.

„Dann ist es also abgemacht! Sie und ihr neues Team reisen in zwei Wochen nach Alaska!“

Ich bekam noch mit, wie Sterling mir überschwänglich die Hand schüttelte und mich dann sanft, aber bestimmt aus seinem Büro schob. Er hätte jetzt noch ein wichtiges Meeting, erklärte er.

Dann fand ich mich plötzlich im Flur vor seiner Tür wieder und versuchte fast schon verzweifelt, wieder Herr über meinen Körper zu werden. Wie ferngesteuert lief ich zu meinem Schreibtisch zurück. Die neugierigen Blicke meiner Kollegen nahm ich nur verschwommen am Rande wahr. Sie alle tuschelten, doch kein verständliches Wort drang an meine Ohren.

Ich ließ mich auf meinem Stuhl nieder und atmete geräuschvoll aus. Die Worte „Wildnis“ und „Alaska“ kreisten in meinem Verstand und ich begann mich zu fragen, ob es mir nicht doch lieber gewesen wäre, wenn Sterling mich gefeuert hätte.