Der verlorene Seemann

Ort der Handlung: St Levan

(Karte Punkt Nr. 12)

 

In Saint Levan auf der Penwith-Halbinsel lebte einst der Kaufmann Samuel Trelogan. Geboren in ärmlichen Verhältnissen brachte er es durch harte Arbeit und einen eisernen Willen zu einem kleinen Vermögen, erbaute sich ein herrschaftliches Haus direkt neben der mittelalterlichen Dorfkirche mit den kunstvoll geschnitzten Bankenden und handelte mit feinen Stoffen aus Indien und China, die auf Segelschiffen im Hafen von Falmouth eintrafen. Samuel Trelogan war aber auch ein strenger, harter Mann, der niemals wieder arm sein wollte. Seine Frau starb zusammen mit seinem Sohn im Kindbett und ließ ihn und die erstgeborene Tochter allein zurück.

Aus dem Mädchen wurde eine wunderschöne, junge Frau, die ihrem Namen alle Ehre machte: Rose. Ihre Haut war weiß und zart, ihre Wangen wie feine, chinesische Seide, ihr helles Haar schimmerte wie kostbarer Samt, und ihre Augen waren so türkis und strahlend wie das Meer in der nahen Port­hchapel Bay. Rose erhielt die beste Erziehung und Ausbildung, die für Geld zu bekommen war, elegante Kleider und all das, was einer Frau Zerstreuung bereitete. Eines jedoch hatte Rose nicht: Freiheit! Wie Zerberus wachte Trelogan über seine Tochter, schloss sie nächtens in ihr Zimmer ein, und während des Tages durfte sie nur in Begleitung ihrer Erzieherin das Haus verlassen, um im weit­läufigen Park spazieren zu gehen. Sie hatte keine Freundin, niemanden in ihrem Alter, mit dem sie sich hätte austauschen und Freud und Leid teilen können. Still fügte Rose sich in ihr Schicksal, kannte sie doch kein anderes Leben, und glaubte den Worten ihres Vaters, der nicht müde wurde, ihr zu erklären: »Das Leben ist grausam, die meisten Menschen sind schlecht. Ich werde dich vor allem beschützen, bis die Zeit gekommen ist, dich zu verheiraten.«

 

Dann jedoch geschah es, dass wegen bewaffneter Aufstände und Kämpfe in Indien die Waren über mehrere Monate ausblieben. Die Schifffahrtsstraßen waren unsicher, die Segler wurden von Piraten gekapert, auch Trelogan verlor Ladungen, die er bereits bezahlt hatte. Der Kaufmann musste Kredite aufnehmen, konnte diese nicht zurückzahlen, und sein Geschäft und sein schönes Heim standen vor dem Ruin. Es gab aber einen Lichtstreifen am Horizont in Gestalt des vermögenden Lord Boscarren.

»Du wirst den Lord heiraten«, sagte er zu seiner Tochter. »Die Hochzeit soll noch in diesem Jahr sein.«

Zum ersten Mal begehrte Rose gegen einen Wunsch ihres Vaters auf.

»Ich kenne den Mann nicht und er mich auch nicht. Wieso sollte er mich zur Frau nehmen wollen?«

»Er hat ein Porträt von dir gesehen und sich sofort in dich verliebt.«

Das war eine Lüge. Samuel Trelogan wusste ge­­nau, dass der Adlige seine Tochter heiraten wollte, weil er dringend einen Sohn und Erben brauchte, mit Gefühlen hatte das nichts zu tun. Lord Boscarren war zudem bereit, Trelogan finanziell nicht nur zu retten, sondern zusätzlich in dessen Unternehmen zu investieren, was Trelogan eine hübsche Summe bescheren würde, mit der er all seine Verluste ausgleichen und seinen Lebensstil beibehalten konnte.

 

An einem regnerischen und windigen Nachmittag im September wurde Lord Boscarren zum Tee er­­wartet. Rose hatte den Tisch sorgfältig gedeckt, die Köchin hatte schmackhafte Scones gebacken, und für den Besucher stand eine Karaffe mit bestem ­französischem Cognac bereit. Dieser Erwerb hatte zwar ein weiteres tiefes Loch in Trelogans Börse gerissen, von Lord Boscarren hing jedoch seine Zu­­kunft ab.

Gespannt sah Rose dem Besuch des Adligen entgegen. Es schmeichelte ihr, dass ein Mann sich aufgrund eines Bildes entschlossen hatte, um ihre Hand zu bitten. Rose war dazu erzogen worden, die Wünsche ihres Vaters nicht in Zweifel zu ziehen, außerdem war sie im heiratsfähigen Alter. Insgeheim hoffte Rose, durch eine Ehe dem Gefängnis im Haus ihres Vaters zu entfliehen und eine eigene Familie zu gründen. In einer eleganten Kutsche, das Familienwappen in goldener Farbe auf dem Schlag, fuhr Lord Boscarren vor. Begleitet wurde er von zwei livrierten Dienern. Aus dem geöffneten Fenster beobachtete Rose seine Ankunft und erschrak, als einer der Diener dem Lord aus dem Gefährt half und ihm den Gehstock reichte. Der Mann war alt, viel älter als ihr Vater. Schnell verbarg sie sich hinter der Gardine, um von ihm nicht bemerkt zu werden. Auf den Stock und zusätzlich von einem Diener gestützt, hinkte Lord Boscarren zum Portal, wo er von Trelogan erwartet wurde.

»Meine Tochter wird uns später Gesellschaft leisten«, hörte Rose den Vater sagen. »Sie fühlt sich über Euer Interesse sehr geehrt und wird Euch eine gute und treue Gemahlin sein.«

Boscarren lachte, es klang wie das nervöse Ga­ckern eines Huhnes.

»Es wird auch nicht jeden Tag ein Mädchen aus der Kaufmannsschicht eine Lady der ersten Ge­­sellschaft. Ich hoffe, Eure Tochter hält, was Ihr, ­Trelogan, versprochen habt.«

Trelogan rieb sich zufrieden die Hände und er­­widerte: »Rose wird Euch zufriedenstellen, Mylord. Ich habe meine Tochter dazu erzogen, ihre Pflichten zu erfüllen.«

Die Männer betraten das Haus, und Rose konnte keine weiteren Worte mehr verstehen. Die gespann­­te Erwartung wich Beklemmung, die sich wie ein Eisenband um ihren Brustkorb schlang. Sie hatte keine Erfahrung mit Männern, ja sogar nur wenig Erfahrung mit Menschen, denn ihr Vater lud selten Gäste ein, aber sie spürte, dass von dem Mann, dessen Frau sie werden sollte, etwas ausging, was sie unglücklich machen würde.

Rose warf einen letzten Blick in den Spiegel, zupfte ihr Haar zurecht, das ihr in sanften Wellen offen über die Schultern fiel, zog jedoch den Rand ihres Dekolletés nach oben und legte sich zusätzlich einen Schal um die bloßen Schultern.

 

Lord Boscarren erhob sich nicht, als Rose den Salon betrat. Abwartend, den Kopf gesenkt, die Hände sittsam vor dem Körper gefaltet, blieb sie an der Tür stehen. Der eine Blick, den sie auf Lord Boscarren warf, ließ sie innerlich erschauern. Nicht nur, dass sein Gesicht von tiefen Furchen durchgezogen war, seine Haut war zusätzlich noch von tiefen Pockennarben entstellt. Durch sein graues, dünnes Haar schimmerte die blasse Kopfhaut. Obwohl Rose sich einige Meter von ihm entfernt befand, dünstete sein Körper einen scharfen, muffigen Geruch aus. Sie musste alle Beherrschung aufbringen, um nicht auf dem Absatz kehrtzumachen und davonzulaufen.

»Rose, schenke den Tee ein«, wies ihr Vater sie an, »und für mich und Mylord Cognac.«

Zögernd näherte sie sich, der unangenehme Geruch wurde intensiver, und Lord Boscarren blickte ihr zum ersten Mal ins Gesicht. Für einen Moment hielt sie seinem Blick aus den wasserhellen, stechenden Augen stand, dann war sie froh, sich mit dem Einschenken beschäftigen zu können.

»Dreh dich einmal um«, sagte Boscarren in einem Tonfall, der einem Befehl glich.

»Wie bitte?«

»Hast du nicht gehört, was Mylord gesagt hat?«, herrschte Trelogan sie an. »Na los, zeige dich deinem künftigen Bräutigam.«

Als wären ihre Glieder aus Blei, drehte sich Rose langsam um die eigene Achse. Lord Boscarren schnaubte, runzelte die Stirn und sagte: »Ihr Becken ist sehr schmal, Trelogan. Ich hoffe, sie wird mir viele Söhne gebären.«

»Sie ist kerngesund«, versicherte Roses Vater schnell. »Ihre Mutter war ebenfalls zierlich, gebar mir aber drei Kinder, von denen leider nur Rose überlebte, was aber nicht meiner Gattin anzulasten ist.«

Der Lord griff zu seinem Glas und stürzte den Cognac mit einem Schluck hinunter, dann griffen sei­ne langen, dünnen Finger nach Roses Handgelenk. Sie meinte, in einer Stahlklammer gefangen zu sein.

»Ich vertraue Euren Worten, Trelogan. Wenn wir jetzt zum Geschäftlichen kommen könnten?«

»Sicher, sicher.« Rose sah ihrem Vater an, dass er sich am liebsten vor Zufriedenheit die Hände gerieben hätte. »Rose, du kannst gehen, warte aber in deinem Zimmer. Ich will nachher mit dir sprechen.«

Rose deutete vor dem Lord einen Knicks an, zügelte ihre Schritte, bis die Tür hinter ihr zugefallen war, dann rannte sie die Treppe hinauf, als wäre der Teufel höchstpersönlich hinter ihr her.

 

»Ich kann diesen Mann nicht heiraten!«

»Was sagst du da?« Ungläubig starrte Trelogan seine Tochter an, glaubte, sich verhört zu haben, denn zum ersten Mal in ihrem Leben erhob sie Widerspruch.

»Ach, Vater, er ist so alt und hässlich ... und er riecht unangenehm«, stieß Rose hervor, Tränen in den Augen. »Ich werde ihn niemals lieben können.«

»Du sollst ihn nicht lieben, sondern ihm Söhne gebären.« Trelogans Lippen wurden schmal, als er fortfuhr: »Ich glaube, du bist dir über deine Lage nicht bewusst, Tochter! Du ... wir sind nicht in der Position zu wählen. Boscarren hat Geld, viel Geld, das uns vor dem Ruin retten wird. Oder willst du ­bettelnd, hungernd und frierend in der Gosse ­landen?«

Rose erschrak. »Steht es so schlimm? Du hast nie etwas gesagt, Vater!«

»Geschäftliche Angelegenheiten gehen Frauen nichts an«, antwortete er kühl. »Du wirst Lord Boscarren heiraten und dich anstrengen, bald seinen Sohn zur Welt zu bringen.«

Ohne seiner Tochter einen weiteren Blick zu schen­­ken, ließ er sie allein. Rose hörte, wie von außen der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Sie warf sich aufs Bett, barg ihr Gesicht in den Armen und ließ ihren Tränen freien Lauf.

 

Die Verlobung fand im Stillen statt, lediglich eine kleine Notiz in den gängigen Zeitungen wies da­­rauf hin, dass die Kaufmannstochter Rose Trelogan den ehrbaren und vermögenden Lord Boscarren ehelichen würde. Da Rose jetzt offiziell verlobt war, gewährte der Vater ihr mehr Freiheiten. Es galt, nicht nur das Brautkleid, sondern eine komplette neue Garderobe schneidern zu lassen. Das riss zwar wieder ein Loch in Trelogans Kasse, und er musste einen weiteren Kredit aufnehmen, würde den Verlust aber mehr als zehnfach von seinem zukünftigen Schwiegersohn zurückerhalten.

 

Rose betrachtete bunte Bänder, Spitzen und Litzen in den Vitrinen. In Begleitung des Kutschers und eines Dieners war sie zu der Schneiderin nach Penzance gefahren, die weit über die Grenzen der Stadt hinaus für ihre Kreationen bekannt war. Rose war jedoch zu früh, musste daher warten, bis die Schneiderin eine andere Kundin bedient hatte.

»Sie sind doch Miss Trelogan?« Rose sah die junge Gehilfin an und nickte. »Und Sie werden Lord Boscarren heiraten?«, fuhr das Mädchen fort.

»Das ist richtig.«

Die Augen des Mädchens wurden kugelrund. Sie kam ganz dicht an Rose heran und flüsterte: »Haben Sie denn gar keine Angst?«

Rose war in ihrem Leben viel zu viel allein gewesen, sodass sie nicht darauf achtete, keine vertraulichen Gespräche mit Angestellten zu führen, daher erwiderte sie: »Ich sehe meiner Ehe mit Spannung entgegen.«

Das war nicht gelogen, sie würde gegenüber dem Mädchen aber nicht eingestehen, dass sie ihren Bräutigam aus ganzem Herzen verabscheute.

»Meine Cousine arbeitet in der Nähe seines Besitzes«, fuhr die Gehilfin fort. »Ich habe ihr geschrieben, dass Sie bald in diese Gegend ziehen werden. Ich kann nämlich schreiben und lesen«, fügte sie stolz hinzu. »Nicht sehr gut, aber für Briefe mit meiner Cousine reicht es aus.«

»Das ist erfreulich«, sagte Rose und fragte sich, worauf das Mädchen hinauswollte.

»Meine Cousine schreibt, der Lord habe bereits zwei Ehefrauen begraben.«

Bei dieser Nachricht zuckte Rose zusammen. Weder ihr Vater noch Boscarren hatten erwähnt, dass er bereits verheiratet gewesen war. Nun, er war im fortgeschrittenen Alter, da war dies nicht weiter verwunderlich.

»Ich bin jung und gesund und ...«

»Er soll sie ermordet haben!«, unterbrach das Mädchen Rose, Sensationslust im Blick. Sie bemerkte, wie es Rose die Sprache verschlug, und fuhr schnell fort: »Natürlich konnte ihm nichts nachgewiesen werden, außerdem geschieht einem Aristokraten ohnehin nichts, die halten doch alle zusammen. Seine Ehefrauen waren ebenfalls jung und gesund, aber dann plötzlich tot.«

»Wahrscheinlich sind sie im Kindbett gestorben.« Roses Gaumen war trocken, ihre Zunge schwer wie Blei.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Meine Cousine schreibt, sie hätten zwar Fehlgeburten gehabt, hätten sich danach aber wieder erholt. Man sagt auch, sie wären vor Kummer gestorben, hätten ihren Ehemann nicht mehr ertragen, vielleicht haben sie sich auch selbst getötet. Das ist doch auch eine Art von Mord, nicht wahr?«

»Elly, was stehst du hier herum und schwatzt? Hast du nichts zu tun?« Scharf unterbrach die Schneiderin den Redefluss des Mädchens, und zu Rose gewandt sagte sie: »Miss Trelogan, ich hoffe, Elly hat Sie nicht belästigt. Das Mädchen ist einfach zu nichts zu gebrauchen.«

»Nein, nein, es ist alles in Ordnung«, erwiderte Rose mit belegter Stimme und sah, wie Elly ihr verstohlen zuzwinkerte und sich dann in den hinteren Bereich des Geschäftes trollte.

»Noch einen Moment, Miss Trelogan, dann habe ich Zeit für Sie«, fuhr die Schneiderin fort. »Ich habe einen ganz besonders schönen Stoff für eine Abendrobe ausgesucht, Sie werden begeistert sein.«

»Ich ... ich ... verzeihen Sie, aber ich ...«

»Fühlen Sie sich nicht wohl, Miss Trelogan?« Besorgt sah die Schneiderin Rose an.

»Ich brauche nur etwas Luft, entschuldigen Sie mich bitte.«

Rose lief aus den Laden, schlug einen Haken nach links, um von dem Kutscher und dem Diener nicht bemerkt zu werden, und rannte, ohne auf den Weg zu achten, durch die verschlungenen Gassen der Stadt. Erst als sie Seitenstechen verspürte und mühsam nach Atem rang, hielt sie inne. Sie war auf der Promenade angelangt, das Meer schlug in sanften Wellen auf den Strand. Langsamer ging Rose weiter, ihre Atmung normalisierte sich wieder. Die Worte des Mädchens dröhnten in ihren Ohren. Rose zweifelte nicht an einem gewissen Wahrheitsgehalt. Würde auch sie vor Kummer sterben oder sich sogar umbringen? Sie konnte ja jetzt schon die seltenen Besuche Boscarrens – er kam höchstens einmal die Woche nach Saint Levan – kaum ertragen und war jedes Mal froh, wenn er wieder abfuhr. Wenn er ihre Hand nahm oder sie, scheinbar zufällig, am Arm oder an der Schulter berührte, wurde ihr speiübel. Wie sollte sie es ertragen, Tag für Tag und Nacht für Nacht an der Seite dieses Mannes auszuharren? Ihr Vater verschloss gegenüber Roses Bedenken seine Ohren, er dachte nur an seinen Profit. Dafür war er bereit, seine einzige Tochter wie eine Zuchtstute meistbietend zu verkaufen. War es da nicht besser, ihr Leben gleich zu beenden? Bevor Boscarren Hand an sie legen konnte? Rose hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was zwischen Mann und Frau im Ehebett geschah, es gab schließlich Hunde und Katzen, die sie beobachtet hatte, und diese hatten dann Junge bekommen. Bevor sie das zulassen würde, wollte sie lieber sterben.

Erst als sie den Fischerhafen des Nachbarortes Newlyn erreichte, bemerkte Rose, wie weit sie sich von der Stadt entfernt hatte. Trutzig ragte der mächtige Saint Michael´s Mount in der Bucht auf, weit und breit war keine menschliche Seele auszumachen. Wie eine Marionette näherte sie sich dem Ende des Kais. Unter ihr schwappte das dunkle Wasser gegen die Mauer, schien bereits nach ihr zu lecken. Sie konnte nicht schwimmen, und um diese Jahreszeit war das Wasser eiskalt. Nur noch drei Schritte, noch zwei, noch einen – dann schwebte ihr rechter Fuß in der Luft ...

Ein harter Griff um ihre Hüfte, ein heftiger Ruck, und Rose stürzte rücklings auf den Boden.

»Das wollten Sie nicht wirklich tun!«

Rose hob den Kopf, sah in ein ­wettergegerbtes Gesicht, das von zwei himmelblauen Augen be­­herrscht wurde. Der Mann reichte ihr seine Hand, und mühsam rappelte sie sich auf die Füße.

»Ich weiß nicht, was in Ihrem Leben so schlimm ist, das Sie diesen Schritt tun wollen, Miss«, sagte er mit besorgtem Blick. »Für alles gibt es aber eine Lösung. Man muss sie nur suchen und finden.«

Rose starrte den Mann stumm an. Er war noch jung, vielleicht ein paar Jahre älter als sie selbst. Seine Kleidung und seine ganze Erscheinung wiesen auf einen Seemann hin, auch ging von ihm ein leichter Geruch nach Fisch aus. Dieser war jedoch nicht abstoßend, im Gegenteil. Der Geruch erinnerte Rose an die grenzenlose Freiheit des Meeres. Eine Freiheit, die für sie bald für immer vorüber sein würde.

»Soll ich Sie nach Hause begleiten?«

Sein Akzent war zwar der eines einfachen Fischers, er verstand aber, sich gewählt auszudrücken.

»Das ist nicht nötig«, murmelte sie, langsam wieder zu sich selbst findend. »Meine Kutsche wartet in der Stadt. Ich ... danke Ihnen.«

»Gern geschehen«, er tippte sich an seine Mütze, »aber machen Sie das niemals wieder, Miss ...«

»Rose, Rose Trelogan.« Sie wusste nicht, was sie veranlasste, ihren Namen zu nennen. Wahrscheinlich war es Dankbarkeit, denn nun erkannte Rose, dass Selbstmord keine Lösung und zudem noch eine große Sünde war.

Ein Erkennen zog über sein Gesicht, und als er lächelte, bildeten sich Grübchen in seinen Wangen. Rose konnte ihren Blick nicht von seinem Antlitz wenden. Eine ihr unbekannte Hitze zog durch ihren Körper, gleichzeitig erschauerte sie, als er kurz ihren Arm berührte. Es war aber ein angenehmes Zittern, und sie wünschte, er würde seine Hand dort belassen.

»Der Name Ihres Vaters ist mir bekannt«, sagte er. »Soll ich Sie nicht doch wenigstens bis zu Ihrer Kutsche bringen, Miss Rose?«

Sie nickte, nicht daran denkend, was die Leute sagen könnten, würden diese sie in der Begleitung eines Seemanns sehen. Während des Rückweges nach Penzance erzählte er, dass er zur See fuhr, seit er vier Jahre alt war. Seine Eltern waren schon lange gestorben, Angehörige hatte er keine, und er lebte in einer kleinen Fischerhütte in Newlyn.

»Das Meer ist mein Leben, ich kann ohne die ­salzige Brise, die Gischt im Gesicht und die unendliche Weite, die man nur auf dem Wasser findet, nicht existieren.«

Aus jedem Wort sprach seine Liebe zum Meer, und viel zu schnell kam die Kutsche in Sicht. An der Ecke verabschiedete sich Rose von ihm, da der ­Diener bereits Ausschau nach ihr hielt. Als er mit leicht schwankendem Gang, der jedem Seemann eigen ist, davonschritt, fiel Rose auf, dass sie seinen Namen nicht kannte.

 

In der folgenden Woche ließ sich Rose jeden Tag nach Penzance fahren. Gegenüber ihrem Vater be­­gründete sie es mit dem Anfertigen ihrer neuen Garderobe und dass dafür zahlreiche Anproben notwendig sei­en. Samuel Trelogan ließ sie gewähren, schien doch Rose sich mit der Situation nicht nur abgefunden zu haben, sondern sogar Gefallen an ihr zu ­finden. Stets gelang es Rose, etwas Zeit zu finden, um allein an die ­Promenade zu gehen, die sich bis nach Newlyn hinzog. Sie wusste nicht, warum sie Ausschau nach dem Seemann hielt, wahrscheinlich, weil sie ihm noch einmal danken wollte.

Am vierten Tag war das Glück ihr hold. Der junge Mann saß auf einer niedrigen Mauer und sprang auf, als er Rose auf sich zukommen sah.

»Ich möchte mich nochmals bei Ihnen bedanken ...«, begann sie, da schlangen sich seine Arme auch schon um ihren Körper, und seine Lippen verschlossen ihren Mund.

Rose ließ sich in seine Umarmung und Küsse fallen. Es gab kein Richtig oder Falsch, es gab nur sie beide. Später saßen sie Hand in Hand nebeneinander und wussten, dass sie zusammengehörten – für den Rest ihres Lebens.

Stockend erzählte Rose, dass sie bald heiraten wür­­de, heiraten musste, und wie zuwider ihr ­Boscarren war.

»Wenn ich es nicht mache, dann stürze ich meinen Vater in die Armut.«

»Du bist für das Fehlverhalten deines Vaters nicht verantwortlich«, antwortete Jake, denn so lautete sein Name. »Von ihm ist es verwerflich, dich in eine Ehe zu zwingen, dein Vater hat keine Schonung verdient. Geh mit mir zusammen fort«, bat er plötzlich. »Wir fangen woanders ganz neu an. Das heißt, wenn du es dir vorstellen kannst, an der Seite eines Seemanns zu leben, der dir keine Diamanten und seidene Kleider zu Füßen legen kann.«

»Ich brauche das alles nicht, wenn ich nur für immer mit dir zusammen sein kann«, antwortete Rose atemlos. In diesem Moment war ihre Entscheidung gefallen. Sie würde mit Jake durchbrennen, und niemand, am wenigstens ihr Vater, würde sie daran hindern können.

Sie verabredeten, in zwei Wochen Cornwall ge­meinsam zu verlassen. Jake würde hier am Hafen auf sie warten.

»Morgen segle ich nach Frankreich, eine Fracht holen«, sagte er. »Unser Schiff wird in sechs, spätestens sieben Tagen wieder zurückkehren.«

Sie verabschiedeten sich mit einem langen, leidenschaftlichen Kuss, und Rose wünschte, die Zeit vorstellen zu können.

 

Mit dem November kamen auch die Stürme nach Cornwall. Zwei Tage, bevor Jake zurückkehren soll­­te, tobte ein besonders heftiges Unwetter über dem Kanal. Die Wellen überschwemmten die Uferpromenade von Penzance ebenso wie zahlreiche Häuser und Hütten der Stadt. Auch die Dörfer Marazion, Newlyn und Mousehole waren den Wassermassen hilflos ausgeliefert. Der Tag, an dem Rose mit Jake fortgehen wollte, kam und ging, bei diesem Sturm war es unmöglich, die schützenden Mauern ihres Heims zu verlassen. Erst drei Tage später beruhig­te sich das Wetter. Als Rose bei Jakes Haus in Newlyn ankam und niemand öffnete, musste sie von ­Nachbarn erfahren, dass er auf dem Meer ge­­blieben war.

»Die ganze Mannschaft, es ist so furchtbar«, sagte ein alter Mann. »Lediglich ein paar Planken wurden in der Bucht angespült, das Schiff ist mit Mann und Maus untergegangen.«

Rose wusste später nicht mehr, wie sie nach Hause gekommen war. Ihr Vater bemerkte nicht, wie verändert seine Tochter war. In Hinblick auf die baldige Verwandtschaft mit einem einflussreichen Adligen hatte Trelogan neue Aufträge erhalten und lukrative Geschäftsbeziehungen geknüpft, denen er sich ausgiebig widmete.

 

Von diesem Tag an existierte Rose nur noch. Sie atmete, aß und schlief, sie lebte aber nicht mehr. Mit Jakes Tod war auch ihre Seele gestorben. Sie ließ alles mit sich geschehen, funktionierte und tat, was von ihr erwartet wurde. Selbst Lord Boscarren verabscheute sie nicht länger, denn Rose war zu keinem Gefühl mehr fähig.

In der Nacht vor der Hochzeit erwachte Rose, weil sie jemand ihren Namen hatte rufen hören. Sie lauschte in die Dunkelheit, dann hörte sie es wieder:

»Rose! Geliebte Rose ...«

Sie ging zum Fenster, öffnete es und sah hinunter. Es war eine mondhelle Nacht, und auf dem Hof stand Jake, sah zu ihr hinauf und winkte. Er war triefend nass, Seetang hing in seinen Haaren und an der ­Kleidung, sein Gesicht war totenbleich.

So wie sie war, im Nachthemd und barfüßig, verließ Rose das Haus. Trelogan, von ihren Schritten geweckt, folgte ihr und rief sie mehrmals beim Namen. Rose drehte sich zu ihrem Vater um, der Ausdruck in ihren Augen schien nicht mehr von ­dieser Welt zu sein.

»Jake ist gekommen, um mich zu sich zu holen«, sagte sie. »Siehst du ihn denn nicht, Vater?«

Sie deutete auf den jungen Mann, der erwartungsvoll die Arme ausbreitete. Auch Trelogan sah ihn nun und meinte, den Verstand zu verlieren, denn dieser Mensch stammte aus dem Reich der Toten. Eine unsichtbare Macht lähmte Trelogans Gliedmaßen. Er konnte keinen Fuß mehr vor den anderen setzen, selbst seine Stimme versagte.

Jakes Körper war feucht und kalt, als sich seine Arme um Rose schlangen, seine Lippen wie Eis, als er sie küsste. Rose bemerkte es nicht und erwiderte seine Zärtlichkeiten.

»Ich wusste, du würdest kommen«, hauchte sie glücklich. »Ich wusste, du wirst mich retten und mich nicht diesem Mann überlassen.«

Hand in Hand schritten Rose und Jake zur Bucht von Saint Levan hinunter und stiegen in ein bereitstehendes Ruderboot. Jake ergriff die Riemen, das kleine Boot schoss schnell durch die Brandung auf das offene Meer hinaus. Da zog ein heftiger Sturm auf. Der Wind heulte, das Meer schäumte und die Brandung schlug hoch gegen die Klippen, die den schmalen Sandstrand umschlossen. Immer weiter entfernte sich das Boot mit den Liebenden. Als der Bann von Trelogan wich, rannte er zur Bucht hi­­nunter, konnte das Boot mit seiner Tochter aber nicht mehr ausmachen. Rose und Jake wurden niemals wieder gesehen.

 

So mancher, der sich in stürmischen Nächten an den Strand der Porthchapel Bay wagt, berichtet, er habe weit draußen ein kleines Ruderboot mit einem Mann und einer Frau in inniger Umarmung auf den Wellen schaukeln sehen. Bei Tagesanbruch ist keine Spur eines Bootes mehr zu entdecken.

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Impressum

1. Auflage 2018, © Dryas Verlag

 

Herausgeber: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Herstellung: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

Lektorat: Sandra Thoms, Frankfurt

Korrektorat: Andreas Barth, Oldenburg

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München (www.guter-punkt.de) unter Verwendung von Motiven von iStock

Illustrationen: Miriam Blaschke, Berlin

Satz: Dryas Verlag, Frankfurt am Main

 

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar


ISBN Print: 978-3-940258-81-6, ISBN E-Book: 978-3-941408-98-2

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Inhaltsverzeichnis

Die schlaue Agnes

Jack, der Riesentöter

Als der Teufel nach Cornwall kam

Die Macht von Avalon

Die seltsamen Damen im Saint Nectan´s Glen

Das Netz der Spinnen

Das Spiel der ewigen Verdammnis

Die Meerjungfrau von Zennor

Das Tal der Piskies

Der seltsame Pfarrer von Warleggan

Der König von Preußen

Der verlorene Seemann

Karte

Impressum


Piksie

Sagen aus Cornwall

 

von Rebecca Michèle (Hrsg.)

 

Am Ende des Buches befindet sich eine Karte mit den Orten, an denen die Sagen spielen.

 

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Vorwort

In keinem anderen Landstrich der britischen Inseln sind so viele Sagen, Legenden und Mythen über­liefert wie in Cornwall im äußersten Südwesten. Meistens steckt in jeder Sage auch ein Körnchen Wahrheit. Wenn ich als Reiseleiterin Gäste durch dieses wundervolle Herzogtum führe, stelle ich fest, dass gerade diese unglaublichen Geschichten auf großes Interesse der Reisenden stoßen. Nicht trockene Jahreszahlen oder historische Begeben­heiten bleiben den Menschen im Gedächtnis haften – es sind die Sagen, die Besuchern den wahren ­Zauber Cornwalls nahebringen und einen Aufenthalt zu einem unvergesslichen Erlebnis machen.