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Masterminds. Im Angesicht der Wahrheit

Gordon Korman

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Gordon Korman, geb. 1963 in Kanada, schrieb seinen ersten Roman bereits im Alter von 12 Jahren. Mittlerweile hat er zahlreiche Bücher für Jugendliche und Erwachsene geschrieben, die in 14 Sprachen übersetzt wurden. Er lebt mit seiner Familie auf Long Island, New York.

Für Leo Korman

Das ultimative Mastermind

1

Amber Laska

Der Ast kommt wie aus dem Nichts.

Ich sehe ihn erst, als es schon zu spät ist, um noch einen Warnruf auszustoßen. In der einen Sekunde fahren wir noch nichts ahnend den Fluss runter, in der nächsten erwischt der Ast Malik seitlich am Kopf und wirft ihn von unserem provisorischen Floß.

Ich zögere nicht eine Sekunde. Das kann ich gar nicht. Die Strömung ist so stark, dass ich in null Komma nix einen halben Kilometer von Malik entfernt sein würde, wenn ich erst noch abwäge. Und außerdem war mein Handeln auch nicht gerade uneigennützig. Immerhin habe ich schon Eli und Tori verloren: Wenn ich auch noch Malik verliere, bin ich ganz allein.

Mit einem beherzten Sprung tauche ich ins Wasser ein und beginne, flussaufwärts zu schwimmen. Der Fluss um mich herum schäumt und sprudelt, es ist anstrengend und ich bin wohl das erste Mal dankbar für mein regelmäßiges Wasserballtraining in Serenity.

Ich hätte nie gedacht, dass ich überhaupt mal über irgendwas froh sein würde, das mit dem Aufwachsen in dieser Stadt zu tun hat.

Malik wird nun von der Strömung auf mich zugetrieben. Er sieht unverletzt aus, abgesehen von der Platzwunde hinter seinem Ohr. Ich packe ihn und nehme ihn in den klassischen Abschleppgriff der Rettungsschwimmer.

Er ruft mir etwas zu, doch das Rauschen des Flusses ist so laut, dass ich zuerst kein Wort verstehe. Was sagt er da?

»Du Idiot, Laska! Was tust du da?«

»Dich retten!«, schreie ich zurück.

»Ich muss aber nicht gerettet werden! Warum bist du vom Floß gesprungen?«

Er versucht, sich aus meinem Griff zu befreien. Ich lasse nicht locker und steuere weiter aufs Ufer zu. »Wir sind stärker, wenn wir zusammenhalten!«

»Erspar mir diesen Serenity-Quatsch. So werden wir nur alle beide geschnappt!«

Jetzt schafft er es doch, mich abzuschütteln, und schwimmt allein weiter. Wir müssen uns durchs dichte Schilf kämpfen, bis wir endlich trockenen Boden unter den Füßen haben. Erschöpft lassen wir uns aufs Gras fallen und starren uns finster an. Wenn er nicht so außer Puste wäre, würde er mich jetzt garantiert anschreien, was wiederum mich wütend werden lässt.

Mit einer Sache hat er allerdings recht. Die Gefahr, dass wir geschnappt werden, ist verdammt groß. Die lila Menschenfresser haben gesehen, wie wir auf dem Floß davongefahren sind. Wenn man vor einer solchen Kommandotruppe flieht, muss man damit rechnen, dass sie einem permanent dicht auf den Fersen sind.

Wir laufen los, wobei wir darauf achten, uns immer in Deckung der Bäume aufzuhalten. Nach etwa zehn Minuten erreichen wir eine zweispurige Schnellstraße mit unbefestigtem Seitenstreifen. Ich will schon darauf zugehen, doch Malik hält mich zurück.

»Benutz doch mal dein Gehirn«, zischt er mir zu. »Das nächste Auto, das um die Ecke biegt, könnte einer ihrer SUVs sein. Ich checke lieber schnell mal von oben die Lage.«

»Von oben?«

Er geht auf einen riesigen alten Baum zu und klettert daran hoch. Ich folge ihm. Ich bin eben schon vom Floß gesprungen, um nicht allein zu sein. Jetzt werde ich bestimmt nicht hier seelenruhig am Straßenrand stehen und darauf warten, von den lila Männern aufgesammelt zu werden. Ich finde, das zeigt, wie viel wir seit unserer Flucht aus Serenity durchgemacht haben: dass keiner von uns auch nur eine Sekunde zögert, eine zehn Meter hohe Eiche hochzuklettern. Ständig um sein Leben zu rennen, kann einen ganz schön verändern.

Als wir oben ankommen, bereue ich die Aktion allerdings sofort. Die beiden schwarzen SUVs unserer Verfolger fahren in unsere Richtung. In regelmäßigen Abständen halten sie am Straßenrand, um Suchtrupps in den angrenzenden Wald zu schicken. Das erste Auto hält gerade etwa dreihundert Meter von uns entfernt und vier Männer springen heraus.

Wir tauschen einen entsetzten Blick. Sie sind uns nicht nur dicht auf den Fersen, sondern wir sitzen auch noch in zehn Metern Höhe in der Falle.

Da taucht ein Pick-up in der Ferne auf, der in die entgegengesetzte Richtung unterwegs ist. Er zieht einen großen weißen Wohnwagen hinter sich her. Auch wenn der Wagen gerade noch ziemlich schnell fährt, wird er für die Kurve die Geschwindigkeit drosseln müssen. Es ist verrückt und gefährlich – aber es ist unsere einzige Chance.

Malik schwingt sich bereits auf einen der niedrigeren Äste hinab und zieht mich mit sich.

»Schon verstanden!«, fahre ich ihn an. »Bleib mir gefälligst von der Pelle!«

Etwa fünf Meter über dem Boden ragt ein langer Ast bis über die Straße. Wir legen uns bäuchlings darauf und robben nach vorn. In ein paar Sekunden wird der Wohnwagend direkt unter uns vorbeikommen.

»Spring rechtzeitig ab«, rate ich Malik. »Du weißt schon, wegen der Bewegung des –«

Weiter komme ich nicht, denn in diesem Moment schubst er mich vom Ast und lässt ebenfalls los.

Unser Fall kann nicht mehr als zwei Meter tief sein und dennoch fühlt es sich an wie hundert. Vielleicht liegt das auch daran, dass wir während des Fallens nicht wissen, ob wir katzengleich auf dem Dach des Wohnwagens landen werden oder mit einem Klatschen auf dem Asphalt.

Ich treffe das Dach und mache mich auf der metallischen Oberfläche sofort ganz flach. Malik landet nur den Bruchteil einer Sekunde später neben mir. Ich funkele ihn böse an.

Er zuckt nur mit den Achseln. »Du hast gesagt, rechtzeitig springen.«

Fast hätte ich gesagt, dass ich ihm das nie verzeihen werde. Doch ich verkneife es mir, weil es mindestens schon die fünfzehnte Sache wäre, die ich Malik niemals verzeihen werde. Außerdem lässt die Tatsache, dass er mich zuerst runtergeschubst hat, darauf schließen, dass er wahrscheinlich noch mehr Angst davor hat, allein zu sein, als ich. Malik mag zwar nach außen den harten Kerl markieren, doch innerlich ist er nur ein großes Baby.

Weil wir uns so flach wie möglich auf das Dach drücken, verpassen wir den Moment, als der Wohnwagen an den SUVs vorbeisaust. Eigentlich schade. Ich hätte den Typen nur zu gern ins Gesicht gelacht. Aber damit hätten wir uns verraten, weshalb wir uns wohl mit der Gewissheit zufriedengeben sollten, dass sie uns noch stundenlang erfolglos suchen werden. Ich hoffe, die Stechmücken sind heute Nacht besonders durstig.

Auf der geraden Strecke beschleunigt der Wohnwagen wieder und der Wind zerrt heftig an unseren nassen Kleidern. Ich friere trotz der Hitze, doch das ist längst nicht unser größtes Problem. Wir hängen an dem Dach des Wohnwagens wie Fliegen an der Wand, ohne etwas zum Festhalten.

Malik rutscht vorsichtig näher. »Und was jetzt?« Er muss brüllen, um den Lärm des Fahrtwindes und des Motorengeräuschs zu übertönen.

»Woher soll ich das wissen?«, schreie ich zurück. »Das war deine Idee!«

»Ich wollte doch nur da wegkommen! Weiter habe ich nicht gedacht!«

Ich schaue mich nach einem Dachträger oder irgendwas anderem um, doch da ist rein gar nichts. »Halt dich einfach fest!«, bringe ich mühsam hervor.

Trotz allem, was wir schon durchgestanden haben, hatte ich noch nie im Leben eine solche Angst. In jeder Kurve müssen wir befürchten, vom Wohnwagen geschleudert zu werden. Jede Unebenheit auf der Straße könnte uns ins Weltall befördern. Wir liegen flach auf dem Bauch, die Hände und Füße gegen das unnachgiebige Metall gedrückt. Innerhalb von Minuten schmerzt mein ganzer Körper vor Anstrengung. Ich bin zwar ein Sportfreak, aber das übersteigt mit Sicherheit die körperlichen Fähigkeiten eines jeden Hochleistungssportlers.

Damals in Serenity habe ich jeden Morgen eine Liste geschrieben, um meinen Tag zu planen. Wenn ich das jetzt tun könnte, da ich mich voller Panik und Schmerzen an ein Wohnwagendach klammere, würde die Liste sehr kurz ausfallen:

To-do-Liste

Der Pick-up fährt immer weiter und weiter und zieht den Wohnwagen hinter sich her. Der Abstand zwischen uns und den lila Menschenfressern vergrößert sich zusehends, aber unsere halsbrecherische Flucht wird uns nichts helfen, wenn wir uns dabei tatsächlich den Hals brechen.

»Tut mir leid!«, ruft Malik auf einmal.

»Was?«

Es sprudelt geradezu aus ihm heraus. »Tut mir leid, dass ich dich vom Ast geworfen habe! Und – auch all die anderen Dinge! Für den Fall, dass wir das nicht überleben, solltest du das wissen!«

Ehe ich etwas erwidern kann, verändert sich plötzlich das Motorengeräusch des Autos, und wir werden langsamer. Ich wage es, den Kopf ein wenig anzuheben, und sehe, wie wir auf eine alte, heruntergekommene Tankstelle zusteuern.

»Wir halten an!«, rufe ich aufgeregt. Ich glaube, wir hätten uns wirklich nicht viel länger festhalten können.

»Ich hatte schon befürchtet, dieser Idiot fährt zum Campen nach Oregon«, motzt Malik und klingt schon wieder viel mehr nach sich selbst.

Die Reifen knirschen auf dem Kies, als wir von der Straße abfahren. Vor einer Zapfsäule kommen wir zum Stehen. Der Fahrer steigt aus, geht am Eingang des Tankstellenshops vorbei und nimmt Kurs auf die Toiletten.

Malik und ich warten gar nicht erst eine schriftliche Einladung ab, sondern krabbeln blitzschnell zur Rückseite des Wohnwagens, wo wir über eine schmale Leiter nach unten klettern. Meine Arme schmerzen von der Schulter bis in die Fingerspitzen. Als meine Füße den Boden berühren, bin ich erstaunt, dass ich auf meinen weichen Knien überhaupt stehen kann.

»Entschuldigung angenommen«, flüstere ich.

»Was für eine Entschuldigung?«, knurrt er. »Los, komm schon!«

Wir laufen gerade auf das Waldstück hinter der Tankstelle zu, als Malik plötzlich vor dem Kiosk stehen bleibt. Ich drehe mich genervt um.

Er steht vor einem Zeitungsständer der Dallas Morning News. Die Schlagzeile der heutigen Ausgabe hat irgendwas mit globaler Erwärmung zu tun, aber als ich den Blick über die Seite gleiten lasse, sehe ich, was Maliks Aufmerksamkeit erregt hat:

GUS ALABASTER AUS GESUNDHEITLICHEN GRÜNDEN
AUS DEM GEFÄNGNIS ENTLASSEN

Ich erkenne den Namen sofort, und genauso schnell weiß ich, warum Malik von dieser Nachricht so fasziniert ist.

Gus Alabaster ist einer der berüchtigtsten Gangster in der Geschichte der Vereinigten Staaten.

Er ist außerdem das kriminelle Genie, das als Klonvorlage für Malik gedient hat.

2

Eli Baris

Echt schickes Armband: Gold, mit glitzernden Edelsteinen besetzt.

»Kein Preisschild«, stelle ich fest.

»Das sind Diamanten, Eli«, erklärt Tori. »Diamanten sind teuer. Außerdem musst du dir nur anschauen, wie sie es im Schaufenster platziert haben. Man sieht gleich, dass es der Star der Show ist. Ich frage mich, wie viel es wohl wert ist.«

Ich trete näher an das Schaufenster des Juweliers heran, bis meine Nase das heiße Glas berührt. Ich mache mir keine Sorgen, dass wir zu viel Aufmerksamkeit erregen könnten. Das Geschäft ist geschlossen und die Straßen sind wie leer gefegt. Es ist ein brütend heißer Nachmittag in Amarillo, Texas, und die meisten Leute ziehen es offenbar vor, ihre klimatisierten Räume nicht zu verlassen.

Unsere lange Busfahrt von Lubbock hat uns auch nicht in kühlere Gefilde gebracht.

Ich verstehe, was Tori meint. Es scheint, als wären alle anderen Ausstellungsstücke um das Armband herum drapiert. Es überrascht mich nicht, dass ihr das aufgefallen ist. Sie hat einen sehr guten Blick fürs Detail, was sie zur besten Künstlerin in unserer Heimatstadt, Serenity, New Mexico, gemacht hat. Ich bin ebenfalls nicht überrascht, dass sie sich zielsicher das eine Schmuckstück im ganzen Laden rausgepickt hat, das es wert wäre, gestohlen zu werden.

Das liegt an dem Teil in Tori, den wir alle am liebsten verdrängen würden.

Um ehrlich zu sein, sehen für mich alle Stücke ziemlich teuer aus – Ringe, Halsketten, Ohrringe und Broschen; Gold, Platin, Edelsteine. Dabei haben wir in Serenity nicht wirklich viel über Geld gelernt, dafür haben unsere Eltern schon gesorgt. Sie schienen immer genug Geld zu haben. Das war allerdings, bevor wir rausgefunden haben, dass die ganze Stadt eine Fälschung ist, und das Falscheste daran waren unsere Eltern. Die gruselige Wahrheit: Sie sind Wissenschaftler, deren Studienobjekte wir von dem Tag unserer Geburt an gewesen sind.

Natürlich haben wir seit unserer Flucht aus Serenity eine Menge über Geld gelernt. Zum Beispiel, dass man ohne Geld einfach nicht überleben kann. Und das bisschen, was wir haben, geht allmählich zur Neige.

»Es hat doch keinen Zweck, darüber nachzudenken, wie viel wir für ein Armband bekommen würden, dass wir niemals auch nur berühren werden.« Ich zeige auf ein Schild im Fenster:

DIESE GESCHÄFTSRÄUME SIND GESCHÜTZT
DURCH APEX SICHERHEITSDIENST.

Sie tritt einen Schritt zurück und mustert das Geschäft konzentriert. Wenn Tori sich etwas ansieht, nimmt sie jedes noch so kleine Detail in sich auf, fast so, als würde sie die Szene inhalieren. »Also, die Drähte der Alarmanlage gehen durch die Tür.« Sie zeigt auf ein Fenster im zweiten Stock des Geschäfts, das in einer Einkaufszeile liegt. »Aber ich wette, dass man durchs Dachgeschoss irgendwie reinkommen kann.«

»Das Geschäft hat Bewegungsmelder«, bemerke ich.

Das lässt sie nur kurz stutzen. »Siehst du den Briefschlitz in der Tür? Wenn wir einen Vogel da durchstecken –«

»Du willst einen Vogel fangen?«

»Ich denke doch bloß laut. Mein Gehirn macht das von ganz allein. Ist das bei dir nicht so?«

Nun ja, schon, aber nicht so wie bei Tori. Ihr Gehirn scheint ganz anders zu funktionieren als das aller anderen. Okay, streicht das. Es gibt wahrscheinlich noch eine weitere Person, deren Gehirn Toris ähnelt – und diese Person sitzt im Gefängnis.

»Jedenfalls«, fährt sie fort, »löst der Vogel den Alarm über den Bewegungsmelder aus. Wenn dann die Polizei kommt, denken sie, dass es nur ein Vogel war. Also wird der Besitzer den Bewegungsmelder bis zum nächsten Morgen ausschalten, weil er erst dann zurückkommt und den Vogel rausjagen kann. Dadurch haben wir die ganze Nacht dafür Zeit, durch das Fenster oben einzusteigen und ins Geschäft zu gelangen. Ganz einfach.«

Ich starre sie an, doch es ist auf einmal nicht mehr Tori, die vor mir steht. Es ist eine verurteilte Bankräuberin namens Yvonne-Marie Delacroix, die gerade in einem Gefängnis in Florida ihre lebenslange Haftstrafe absitzt. Tori ist eine exakte Kopie dieser Frau, bis hin zum letzten Gen in ihrer DNA. Tori hat in ihrem ganzen Leben noch keine Bank ausgeraubt. Trotzdem muss man sich klarmachen, dass alles, wozu Yvonne-Marie fähig war, auch irgendwo in Tori stecken muss.

»Aber das werden wir nicht tun, oder?«, versuche ich es vorsichtig.

Ich muss das fragen, denn genau wie Tori besitze ich ebenfalls das Erbgut eines Verbrechers. Nicht das eines Bankräubers. Das wäre ein immenses Upgrade für mich. Aber in letzter Zeit haben wir verdammt oft das Gesetz gebrochen. Versteht mich nicht falsch; wir sind nicht aus Serenity geflohen, um eine Verbrechenstour zu starten. Es ist eher so, dass wir das Gesetz brechen mussten, um die Flucht zu bewerkstelligen. Und um nicht wieder geschnappt und zurückgebracht zu werden.

Plötzlich streckt Tori den Arm aus. »Aufgepasst!«

Auf der anderen Seite des Parkplatzes öffnet sich die Schiebetür des Supermarkts, und eine ältere Frau tritt heraus, die einen schwer beladenen Einkaufswagen schiebt.

Tori saust los, doch ich bin ihr dicht auf den Fersen. »Ich bin dran!«, zische ich ihr zu.

»Nein, ich bin dran!«

»Auf keinen Fall. Du hattest den dicken Kerl mit dem Cowboyhut, weißt du nicht mehr?«

Tori lässt sich zurückfallen, und ich gehe auf die Frau zu, als sie gerade den Kofferraum des Buick öffnet.

»Guten Tag, Ma’am, lassen Sie mich Ihnen helfen.« Ich schnappe mir eine große Tüte und lade sie ins Auto.

Sie strahlt mich an. »Ach, was für ein lieber Junge.«

Ich bin gar kein lieber Junge. Ich bin die genetische Kopie von Bartholomew Glen, Kaliforniens berüchtigtem Kreuzworträtsel-Killer. Doch bei über 35 Grad ist wohl jeder, der einem die Einkaufstüten trägt, ein lieber Junge.

Zum Dank gibt sie mir einen Dollar. Einen Dollar! Allein die Seife und das Wasser, die ich brauchen würde, um mir den Schweiß vom überhitzten Körper zu waschen, kosten schon mehr. Ich stapfe zurück zu Tori und wir zählen unsere Tageseinnahmen.

»Vierzehn Dollar und fünfzig Cent«, verkünde ich seufzend. »Für vier Stunden auf dem Parkplatz.«

»Dieses Armband würde uns mehr einbringen«, wendet Tori ein. »Dann könnten wir uns ein Hotelzimmer leisten. Mit echten Betten. Und einem Badezimmer.«

»Wir sind doch keine Verbrecher!«

»Irgendwie doch«, meint sie nachdenklich.

»Nur, weil wir die Klone von Kriminellen sind, heißt das noch lange nicht, dass wir irgendwas von dem verschuldet haben, für das sie im Gefängnis sitzen«, erwidere ich beharrlich.

Das war es nämlich, was Serenity, New Mexico, in Wirklichkeit war: keine echte Stadt, in der Menschen leben und arbeiten und ihre Kinder großziehen, sondern nur die Fassade eines abgedrehten Experiments namens Projekt Osiris. Im Grunde geht es bei Osiris um die Frage, was stärker ist, Natur oder Erziehung. Wenn man Verbrecher in einer perfekten Gemeinde aufziehen könnte, ihnen ein perfektes Leben gäbe, würden sie dann trotzdem böse werden, weil es ihrer Natur entspricht? Oder würden sie zu anständigen Menschen heranwachsen, weil man sie so erzogen hat?

Ein solches Experiment muss man bei null beginnen, was in diesem Fall bedeutet, dass man böse Babys braucht. Für Projekt Osiris wurden DNA-Proben der schlimmsten Verbrechergenies genommen, die in den USA im Gefängnis sitzen, und daraus wurden wir geklont – exakte Kopien des absoluten Abschaums. Und sie haben uns wie menschliche Versuchskaninchen großgezogen, um zu sehen, ob wir den vermeintlichen Vorgaben unserer furchtbaren Gene entkommen können.

Es gibt elf von uns, doch nur fünf sind aus Serenity geflohen. Einer von uns hat sich bereits als Verräter herausgestellt: Dank Hector Amani sind wir vor vier Tagen fast geschnappt worden. Tori und ich sind gerade noch davongekommen. Als wir Malik und Amber zuletzt gesehen haben, wurden sie gerade vom Wildwasser mitgerissen. Selbst wenn sie die Strömung des reißenden Flusses überlebt haben sollten, waren sie sicherlich nicht in bester Form, um ihren Verfolgern zu entkommen – unseren Serenity-Eltern und ihren angeheuerten Muskelprotzen, die wir lila Menschenfresser nennen.

Also sind wir jetzt die Einzigen, die Projekt Osiris noch stoppen können. So verlockend es auch sein mag, einfach abzutauchen und uns irgendwo ein ganz neues Leben aufzubauen – wir können unsere Vergangenheit nicht einfach so abschütteln. Sechs der Klone sind noch in Osiris’ Hand und sie haben keinen blassen Schimmer von der Wahrheit. Wir denken oft an sie. Wenn man in so einem winzigen, abgeschiedenen Ort aufwächst, sind alle anderen Kinder praktisch wie Geschwister.

Unsere Mission scheint aussichtslos. Ich bin dreizehn und Tori ist erst zwölf. Außerdem klingt unsere Geschichte total verrückt. Wie sollen wir beweisen, was uns angetan wurde? Serenity ist inzwischen nur noch eine Geisterstadt, alle Beweise sind verbrannt.

Die Türen des Supermarktes gleiten wieder auf und ein Mann tritt in die flirrende Nachmittagshitze. Er müht sich mit zwei riesigen Einkaufstüten ab.

Tori läuft schon los. »Jetzt bin ich aber dran«, ruft sie mir über die Schulter zu.

Ich beobachte, wie sie den Mann einholt und ihm die größere Tüte abnimmt – er lässt sie offenbar nicht beide tragen. Sie gehen zu seinem Wagen und scheinen sich nett zu unterhalten.

Tori lädt die Lebensmittel in den Kofferraum und der Mann gibt ihr ein Trinkgeld. Das Grinsen auf ihrem Gesicht ist umso erstaunlicher, nachdem wir in den vergangenen Tagen so wenig zu lachen hatten. Sie steckt den Geldschein in die Hosentasche und streckt mir die offene Handfläche entgegen. Das bedeutet fünf Dollar, unsere höchste Einnahme für heute. Ich bin ein wenig eingeschnappt, dass mir niemand so viel Trinkgeld gibt. Wahrscheinlich ist Tori einfach charmanter als ich, was daran liegen könnte, dass ihre falschen Eltern sie aufrichtig lieb hatten – anders als mein Dad, der Kopf des Projekts, der in mir nie etwas anderes gesehen hat als ein Versuchskaninchen.

Eine lange, dunkle Limousine rast über den Asphalt des Parkplatzes und hält mit quietschenden Reifen neben Tori. Die Beifahrertür geht auf, und ein großer Mann in schwarzem Anzug und Sonnenbrille springt heraus und versucht, Tori zu packen.

Meine Warnung kommt zu spät: »Tori – lauf!«

Doch Tori denkt gar nicht erst daran, sich schnappen zu lassen: Sie greift in die Einkaufstüte im immer noch geöffneten Kofferraum des Mannes und zieht ein Glas Gewürzgurken heraus, das sie nach ihrem Angreifer wirft. Sie trifft ihn mitten ins Gesicht. Er taumelt rückwärts, seine Sonnenbrille hängt ihm schief auf der Nase. Das Glas zerschellt auf dem Parkplatz.

Ich renne so schnell ich kann zu Tori, in meinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Hat Osiris uns wieder aufgespürt? Ich erkenne den Mann mit der Sonnenbrille nicht, aber er könnte dennoch einer der lila Menschenfresser sein.

»Was bilden Sie sich ein?« Der geschockte Mann aus dem Supermarkt stellt sich schützend vor Tori.

Der Fahrer der Limousine springt nun ebenfalls aus dem Wagen und schubst den Mann so heftig, dass der auf dem Hosenboden landet. »Kümmern Sie sich um Ihren eigenen Kram, alter Mann!«, knurrt er dabei.

Tori greift wieder in den Kofferraum, offenbar auf der Suche nach einer weiteren Waffe. Dieses Mal hat sie weniger Glück. Sie zieht ein Baguette hervor, das sie wie einen Baseballschläger schwingt. Der Fahrer lacht hämisch und lässt sie ein paarmal zuschlagen, ehe er ihr das Weißbrot aus der Hand reißt.

Tori weiß sich nicht mehr anders zu helfen, als davonzulaufen. Der Fahrer sprintet hinter ihr her. Sie ist die Schnellste und Sportlichste von uns – Einbrecher-Gene –, und ich halte es nicht für unmöglich, dass sie ihm entkommen könnte. Doch er hat lange Beine, für jeden Schritt, den er tut, muss Tori zwei machen. Er holt schnell auf.

Ich muss ihr helfen, aber wie? Ich bin mehr als zehn Meter hinter ihnen und langsamer als beide.

Doch da fällt es mir wie Schuppen von den Augen – die Limousine steht einfach so da, der Motor läuft und beide Türen stehen offen!

Ich springe rein und lege einen Gang ein. Ich bin schon Auto gefahren – Malik und ich haben es uns selbst beigebracht, ehe wir aus Serenity geflohen sind. Ich will gerade losfahren, als eine Hand über den Beifahrersitz greift und mich am Ellenbogen packt. Den anderen Kerl hatte ich ganz vergessen – der, den Tori mit dem Gurkenglas erwischt hat. Seine Sonnenbrille ist zerbrochen und eine lange, hässliche Wunde prangt mitten auf seiner Stirn.

Ich trete das Gaspedal durch und reiße das Lenkrad nach links. Das Auto saust los und schlingert in eine Linkskurve. Ich spüre, wie sich der Griff um meinen Arm löst, und als ich mich wieder zu dem Angreifer umschaue, ist er weg. Ich entdecke ihn im Rückspiegel, er rollt immer noch über den Asphalt.

Vor mir hat der andere Mann Tori fast eingeholt. Es sieht so aus, als könnte er sie jeden Moment packen. Ich brause heran und rufe Tori durch die geöffnete Beifahrertür zu, dass sie reinspringen soll.

Der Mann verzieht erschrocken das Gesicht, als er feststellt, dass ich hinter dem Steuer sitze und nicht sein Partner.

Er greift nach Toris T-Shirt, doch sie schüttelt ihn ab und wirft sich ins fahrende Auto, wo sie mit einem lauten »Uff!« auf dem Beifahrersitz landet.

Der Mann versucht, den Türgriff zu fassen zu bekommen, doch ich trete erneut das Gaspedal durch. Das Auto macht einen Sprung nach vorn und lässt den Mann in einer Staubwolke zurück. Mit quietschenden Reifen biegen wir vom Parkplatz in die Hauptstraße ein.

Tori setzt sich gerade hin und schnallt sich an. »Du wirst es nicht glauben!« Sie strahlt mich an. »Dieser Typ hat mir fünf Dollar Trinkgeld gegeben!«

Ich wäre fast in den Graben gefahren. »Das ist alles, was dir zu dem einfällt, das da gerade passiert ist? Du wärst um ein Haar entführt worden!«

»Na gut, okay. Das auch.« Sie nickt ernst. »Hey, du musst übrigens nicht so schnell fahren. Es ist ja nicht so, dass uns die beiden Kerle zu Fuß einholen könnten.«

Ich behalte die Geschwindigkeit bei. »Um die mache ich mir auch keine Sorgen, sondern um deinen großzügigen Spender – der heute Abend keine Gurken zu Abend essen wird. Er ruft garantiert die Polizei. Deshalb will ich möglichst schnell von diesem Parkplatz wegkommen.«

»Waren das lila Menschenfresser?«, fragt sie mit einem Anflug von Panik in der Stimme. »Hast du sie wiedererkannt?«

»Nicht wirklich«, gebe ich zu. »Aber sie haben sich auch die ganze Zeit bewegt. Außerdem, wer sollte sonst hinter uns her sein?«

»Vier Tage«, stöhnt sie. »Länger haben sie nicht gebraucht, um uns zu finden? Wie sollen wir die jemals abschütteln?«

»Ganz einfach«, erwidere ich. »Wir fahren aus der Stadt heraus und dann so lange weiter, bis wir Tausende Kilometer von hier entfernt sind.«

»Genau das erwarten sie doch von uns«, überlegte Tory. »Und sie wissen, in was für einem Auto wir unterwegs sind. Vielleicht können sie uns sogar über GPS aufspüren.«

GPS. Das fällt in meinen Bereich. Ich habe ein Händchen für alles Elektronische. Handys und Tablets und die meisten Computer haben heutzutage ein eingebautes GPS-Gerät, doch bei Autos hätte ich daran gar nicht gedacht. Meine Gedanken rasen. Das Übertragungsgerät befindet sich vermutlich auf dem Dach, damit die Kabine des Wagens nicht das Signal blockiert.

Wir fahren noch eine Viertelstunde weiter, ehe ich in eine verlassene Gasse hinter ein paar Geschäften einbiege, die zum großen Teil geschlossen und vernagelt sind. Ich muss nur ein paar Seiten des Handbuchs überfliegen, bis ich den Absatz über die GPS-Antenne finde. Es ist das kleine, flossenförmige Dingsbums auf dem Dach.

Ich klettere auf den Kofferraum und versuche mithilfe des Wagenhebers, die Antenne vom Dach zu hebeln.

»Vorsichtig«, warnt Tori. »Du machst noch Dellen rein.«

»Der Wiederverkaufswert des Autos ist gerade meine geringste Sorge«, bringe ich mit vor Anstrengung zusammengepressten Zähnen hervor. »Vor allem, weil der Besitzer des Wagens gerade versucht hat, dich zu entführen. Schau mal, da sind die Drähte. Ist der Abstand groß genug, dass du sie durchschneiden kannst?«

Sie zückt die Schere aus dem Erste-Hilfe-Kästchen im Handschuhfach. Kurz darauf höre ich ein schnappendes Geräusch. »Ich glaube, das waren alle«, berichtet sie. »Aber woher wissen wir, dass es geklappt hat?«

Wir steigen wieder ins Auto und schalten das Radio ein. Stille.

Als wir wieder auf die große Straße einbiegen, fühle ich mich ein bisschen sicherer. Um die Polizei müssen wir uns allerdings immer noch Sorgen machen, falls das Auto als gestohlen gemeldet wird.

Wir fahren unbehelligt durchs Zentrum von Amarillo, und kurz darauf deutet die vorortähnliche Gegend darauf hin, dass wir uns dem Stadtrand nähern.

Plötzlich schreit Tori »Stopp!«, und zwar genau in mein Ohr.

Erschrocken steige ich auf die Bremse. »Was ist los?«

»Sieh doch!« Sie zeigt auf einen hohen Zaun, an dem ein Schild hängt:

FÜR UNBEFUGTE ZUTRITT VERBOTEN

»Was ist damit?«, frage ich verwirrt.

Sie weist mich auf ein zweites Schild hin, das neuer zu sein scheint als das erste.

LAGERHALLE ZU VERPACHTEN
10.000 QUADRATMETER
AB 8. MAI VERFÜGBAR

»Verstehst du nicht?«, sagt sie aufgeregt. »Jetzt haben wir den – was, den fünfzehnten? Den sechzehnten? Puh, wenn man ständig um sein Leben rennt, ist es schwer, noch das Datum im Kopf zu behalten.«

»Ja, aber was hat das jetzt mit uns zu tun?«

»Denk doch mal nach.« Sie wirkt schon fast ungeduldig. »Wenn sie die Halle gerade erst vor einer Woche dichtgemacht haben und darauf hoffen, sie bald wieder zu vermieten, ist sie wahrscheinlich nicht in der schlechtesten Verfassung. Ich wette, da gibt es sogar noch Strom und fließendes Wasser. Und sieh dir mal das Tor an –« Sie nickt in Richtung der Verladerampe. Das Metalltor ist nicht ganz heruntergelassen.

»Es ist nicht abgeschlossen«, stelle ich fest.

»Genau. Wir können das Auto dort reinstellen und uns für eine Weile verkriechen. Das würde uns die Gelegenheit geben, kurz durchzuatmen und in Ruhe rauszufinden, was wir als Nächstes tun können.«

Das muss man Tori lassen, wenn es um Planung geht, kann sich Yvonne-Marie Delacroix noch eine Scheibe von ihr abschneiden. Die einzige besondere Fähigkeit, die meine Gene mir mitgegeben haben könnten, ist es, Leute zu ermorden. Oder vielleicht noch, Kreuzworträtsel zu erfinden.

Erst als wir aus dem Auto ausgestiegen sind, fällt uns der Fehler in unserem Plan auf: Das Haupttor zum Gelände der Lagerhalle ist mit einer Kette und einem Vorhängeschloss verschlossen.

»Und was ist damit?«, fragte ich. »Und erzähl mir jetzt nicht, dass du mit einer Haarklammer das Schloss knacken kannst.«

»Ich wünschte, ich könnte es.« Tori mustert alles mit diesem besonderen Ausdruck auf dem Gesicht. »Die Kette ist ziemlich verrostet. Vielleicht können wir sie mit dem Schraubenschlüssel fürs Reifenwechseln zerschlagen.«

»Keine Chance«, erwidere ich, »das ist stabiles Eisen.«

»War da ein Werkzeugkasten im Kofferraum?«

Ich schüttele den Kopf. »Nur der Schraubenschlüssel und der Wagenheber …«

Ich breche ab. Wenn man einen Reifen wechselt, benutzt man den Wagenheber, um das ganze Auto anzuheben. Wenn er ein solches Gewicht aushält, kann man damit vielleicht auch eine Eisenkette aufstemmen.

Wir öffnen den Kofferraum und holen den Wagenheber heraus. Ich betrachte das Werkzeug skeptisch. Sieht ganz schön mickrig aus, doch wenn man die Kurbel betätigt, faltet es sich weit auseinander.

Tori schiebt den Wagenheber zwischen die Glieder der Kette, die verhindert, dass wir das Tor öffnen können. Dann beginne ich, an der Kurbel zu drehen. Doch anstatt ein Auto anzuheben, dehnt der Wagenheber nun die Kette aus. Als das Metall aufs Äußerste gespannt ist, wird das Kurbeln immer schwieriger, bis ich sie kaum noch bewegen kann. Ich muss an Malik denken, dessen starke Arme wir jetzt mehr als gut gebrauchen könnten.

Ein Lieferwagen rattert auf dem unebenen Asphalt vorbei und Tori und ich erstarren in der Bewegung wie zwei verängstigte Kaninchen. Glaubt mir, nichts hat je so sehr nach einem Einbruch ausgesehen wie das, was wir hier gerade tun. Doch der Fahrer sieht nicht einmal in unsere Richtung und gleich darauf ist der Wagen auch schon wieder verschwunden.

Der Schreck verpasst mir einen Energieschub, der Kräfte in mir freisetzt, von denen ich nicht einmal geahnt habe, dass ich sie besitze.

Ich habe vorher schon geschwitzt, doch jetzt triefe ich, als hätte man mich in ein Schwimmbecken getaucht. Der Wagenheber knarzt unter der Belastung.

Zack!

Die Kette zerreißt und das eine Ende saust in einem tödlichen Halbkreis herum. Wahrscheinlich hätte die Kette uns einen Kopf kürzer gemacht, wenn sie uns getroffen hätte. Das Vorhängeschloss fällt klappernd auf den Boden.

Wir nehmen die zerrissene Kette ab und das Tor schwingt auf. Ich springe zurück ins Auto und fahre auf das Gelände des Lagerhauses. Tori zieht das Tor hinter mir zu, und wir legen gemeinsam die Kette wieder so an das Tor, wie wir sie vorgefunden haben. Das Schloss ist zwar noch intakt, doch wir können das Tor jederzeit öffnen. Hauptsache, niemand sieht auf den ersten Blick, dass das Tor geöffnet wurde.

Nächster Punkt auf der Tagesordnung: das Auto verstecken. Wir wenden unsere Aufmerksamkeit dem zum Teil geöffneten Tor an der Laderampe zu. Ich versuche es weiter nach oben zu schieben, doch es gibt keinen Zentimeter nach.

Doch Tori lässt sich nicht beirren. Sie rollt sich einfach durch den Spalt unter dem Tor durch und ein paar Sekunden später hebt es sich elektrisch. Wir sind drin.

Ich fahre das Auto in die Halle und wir schließen das Tor wieder. Wir sind in Sicherheit – zumindest soweit das in unserer Situation möglich ist.

Die Lagerhalle ist ziemlich düster, doch das Licht funktioniert, die Klimaanlage ebenfalls. An diese Art von Luxus sind wir schon gar nicht mehr gewöhnt. Fast unser gesamtes Geld ist für die Busfahrkarten von Lubbock draufgegangen, und seitdem teilen wir uns alles extrem sparsam ein, damit wir möglichst lange davon leben können. Unsere Karriere als Tütenträger vor dem Supermarkt hat leider nicht gerade viel eingebracht. Geschlafen haben wir die letzten Nächte hinter dem Supermarkt, wo wir uns aus Kartons einen Unterschlupf gebaut haben. Allerdings sinken die Temperaturen im Moment selbst nachts kaum unter dreißig Grad.

Die Lagerhalle ist riesig, Reihen von bis unter die Decke reichenden Stahlregalen, soweit das Auge reicht. Am einen Ende befindet sich ein kleiner Bürobereich mit besserer Beleuchtung, gepolsterten Möbeln und sogar einem Pausenraum mit Fernseher. Die Sofas sehen verlockend aus, besonders, wenn man so müde ist wie wir. Es gibt sogar Toiletten – richtige Toiletten. Tori freut sich noch mehr darüber als ich. Und das Büro des Chefs hat sogar eine Dusche.

»Das passt«, beschließt sie mit einem zufriedenen Lächeln.

Es ist schön, sie glücklich zu sehen, auch wenn ich nicht umhinkomme, darüber nachzudenken, wie tief wir gefallen sind. In Serenity hatten wir nur das Beste vom Besten – große, gemütliche Häuser mit Pool und jedem anderen erdenklichen Luxus. Natürlich waren wir nur Versuchsobjekte für die Erwachsenen und das sind wir jetzt nicht mehr. Jetzt sind wir Flüchtlinge, die wie Tiere gejagt werden. Dennoch würde ich die Freiheit jederzeit vorziehen.

»Ich frage mich, wofür die Lagerhalle benutzt worden ist«, überlege ich laut.

Tori betritt einen der Gänge zwischen den Regalen und öffnet einen Karton. Sie zieht eine Schachtel Butterkekse heraus.

»Wie geil ist das denn!«, rufe ich aus.

Sie reißt die Packung auf, und wir haben die Hälfte verputzt, ehe wir auch nur einmal Luft holen. Nichts hat je besser geschmeckt.

»Endlich wendet sich das Blatt zu unseren Gunsten«, murmelt sie mit vollem Mund.

»Definitiv«, stimme ich zu und lasse den Blick über das Regal vor uns schweifen. Auf den Kartons entdecke ich Aufkleber, die den Inhalt angeben: Schoko-Minz-Blättchen, Chocolate Chip Cookies, verschiedene Schokoriegel, Haselnusswaffeln, Erdnüsse mit Schokoüberzug – so geht es immer weiter. Kiste über Kiste stapelt sich bis unter die Decke der an die fünfzehn Meter hohen Lagerhalle. »Wir können uns Jahrhunderte hier aufhalten, ohne dass uns jemals die Süßigkeiten ausgehen.«

»Amber könnte damit absolut nicht umgehen«, meint Tori. »Du weißt doch, was sie immer für ein Trara um gesunde Ernährung macht.«

Der Gedanke an unsere verlorenen Freunde dämpft unsere Feierstimmung ein wenig. Wenn die lila Menschenfresser Malik und Amber wieder eingefangen haben, bedeutet das, dass wir die letzte Hoffnung für unsere Gruppe sind. Und was machen wir? Verkriechen uns in einem alten Lagerhaus und schlingen Butterkekse in uns rein.

Das ist unser eigentliches Problem. Bisher haben wir immer auf ein Ziel zugearbeitet. Erst war es die Flucht aus Serenity, doch das war nur der Anfang. Als Nächstes mussten wir Tamara Dunleavy, die Milliardärin, die Projekt Osiris mitbegründet hatte, finden. Doch anstatt uns zu helfen, hat sie geleugnet, irgendetwas über das Projekt zu wissen. Zuletzt war unser Ziel, Kontakt mit C. J. Rackoff aufzunehmen, einem der Genspender für Osiris. Wir haben uns auf einen Handel mit ihm eingelassen und ihm sogar die Flucht aus dem Gefängnis ermöglicht, doch er und Hector, sein Klon, haben uns verraten.

Wenn Tamara Dunleavy eine Sackgasse ist, genau wie die kriminellen Genies, von denen wir geklont wurden, was können wir dann noch tun?

Klar, wir haben einen lebenslangen Vorrat an Keksen, doch das ist leider nicht das, was wir brauchen.

Wir brauchen eine Zukunft.

3

Malik Fratello

Als ich den ersten Blick auf die Skyline von Chicago erhasche, weiß ich endgültig, dass ich nicht mehr in Happyhausen bin.

Okay, wir haben schon ein paar Städte gesehen bisher. Allein dieser Zug ist schon durch Oklahoma City, Kansas City und St. Louis gefahren.

Niedlich im Vergleich zu Chicago.

Versteht mich nicht falsch. Jede Großstadt – und 99,9 Prozent aller Kleinstädte – ist besser als Serenity, New Mexico, der winzigste, dümmste, falscheste Pickel auf dem haarigen Hintern der Menschheit. Die Tatsache, dass Serenity nicht mehr existiert – oder zumindest verlassen ist –, macht die Welt eindeutig zu einem besseren Ort.

Zu schade, dass Laska den ersten Blick auf diese Wahnsinnshochhäuser verpasst.

Der Zug bremst allmählich ab, und die Durchsage verkündet, dass der nächste Halt Chicago Union Station sein wird.

Ich stehe auf und gehe zur Toilette am Ende des Waggons. Dort klopfe ich so, wie wir es ausgemacht haben – dreimal, zweimal, einmal.

Amber öffnet die Tür nur einen kleinen Spalt.

»Chicago«, sage ich. »Und warte nur, bis du die Hochhäuser siehst!«

Sie kommt heraus und bedenkt mich mit ihrem fiesesten Blick. »Nächstes Mal bekomme ich die richtige Fahrkarte und du versteckst dich in der Toilette.«

Wir hatten nur noch genug Geld für ein Zugticket, also musste einer von uns als blinder Passagier reisen. Da ich eindeutig älter aussehe, zumindest alt genug, um allein zu reisen, musste Amber in den sauren Apfel beißen.

Ich frage mich, ob meine Widerrede das Gemecker wert ist, das mir bevorsteht. »Du redest, als hättest du die letzten beiden Tage da drin verbracht. Dabei hast du die meiste Zeit neben mir gesessen. Erst als der Schaffner aufgetaucht ist, musstest du dich verdünnisieren.«

»Bring mich einfach aus diesem Zug«, grummelt sie. »Die Leute starren mich schon an, als gehörte ich ins Krankenhaus. Niemand verbringt so viel Zeit in der Zugtoilette.«

»Vielleicht wärst du lieber in Texas geblieben bei den lila Menschenfressern«, stichele ich.

Ich spüre, wie sie innerlich nachgibt. Sie weiß genauso gut wie ich, dass Gus Alabaster unsere einzige Spur ist, die einzige Verbindung zum Beginn von Osiris vor unserer Geburt. Alle anderen Verbrecher, die für das Projekt als Klonvorlage gedient haben, sind entweder tot oder im Gefängnis. Außer C. J. Rackoff natürlich. Doch der einzige Grund, dass er nicht mehr hinter Gittern sitzt, ist der, dass wir ihm zum Ausbruch verholfen haben. Und zum Dank hat er uns verraten. Saudumm von uns, Rackoff zu vertrauen; saudumm, irgendjemandem zu vertrauen, der eine Verbindung zu Hector hat. Oder vielleicht ist es auch andersherum, immerhin ist Hector Rackoffs Klon.

Jedenfalls wurde vor ein paar Tagen Gus Alabaster – mein Typ – aus dem Gefängnis entlassen. Dabei hat er seine Haftstrafe für Steuerhinterziehung, die sie ihm am Ende nachweisen konnten, noch nicht abgesessen. Das wären wohl noch elf Jahre. Aber er hat Krebs, und die Ärzte sagen, er hat nicht mehr lang zu leben. Also haben sie ihn rausgelassen, damit er seine letzten Tage zu Hause verbringen kann.

Ich schmuggele Amber sicher aus dem Zug, auch wenn der Schaffner uns immer wieder misstrauische Blicke zuwirft. Schon bald laufen wir durch Downtown Chicago und bestaunen die Menschenmenge und die Gebäude und die Hochbahn und den Fluss, der mitten durch die Stadt fließt. Ich merke sofort, dass Chicago um einiges größer und cooler ist als Denver, die einzig andere Großstadt, die wir bisher gesehen haben. Man spürt einfach die Energie in den Straßen, als würde die ganze Stadt summen wie ein Bienenstock. Ich liebe es.

Doch ein Problem gibt es. Wie sollen wir in einer solchen Millionenstadt einen sterbenden Gangster ausfindig machen? Wir sind immerhin nicht in Happyhausen, wo man innerhalb von zwanzig Minuten an jede Haustür geklopft hat. Oder, sagen wir, in einer halben Stunde, maximal.

Amber hat einen Vorschlag. »Warum gehen wir nicht in die Bibliothek?«

»Weil wir keine Zeit haben zu lesen?« Ich verdrehe genervt die Augen. »Dieser Kerl könnte den Löffel abgeben, ehe wir eine Chance bekommen, mit ihm zu reden.«

»Eine Bibliothek ist doch dazu da, um sich zu informieren«, beharrte sie. »Vielleicht finden wir seine Adresse irgendwo in einer Akte oder so.«

Ich spüre einen Funken Hoffnung in mir aufkeimen. In Serenity war Ambers Mom unsere Lehrerin gewesen. Also, ihre falsche Mom, meine ich. Der Punkt ist, dass Amber in einem Haus aufgewachsen ist, in dem es viel ums Lernen ging.

Die Stadtbibliothek von Serenity bestand aus einem Bücherschrank im Rathaus. Die Bibliothek, auf die wir jetzt zusteuern, nachdem wir mehrfach nach dem Weg gefragt haben, sieht eher aus wie ein asiatischer Palast aus rotem Backstein. Drinnen muss es Abermillionen von Büchern geben, doch wir stürzen uns gleich auf einen freien Computer.

»Computer erinnern mich immer an Eli«, seufzt Laska.

Ich weiß, dass sie sich vor allem Sorgen um Tori macht, ihre beste Freundin. Ich muss an meinen eigenen besten Freund denken – Hector. Wenn er jetzt hier wäre, würde ich ihm seine Verräterzähne einschlagen. Was bedeutet, dass ich wahrscheinlich doch mehr mit Gus Alabaster gemein habe, als ich dachte.

Jedenfalls erinnern Computer Laska deshalb an Eli, weil er ein Genie im Umgang damit ist, was besonders bemerkenswert ist, wenn man bedenkt, dass wir an einem Ort aufgewachsen sind, wo das Internet totaler Beschiss war. Aber wir brauchen unser Computergenie gar nicht – wir müssen nur alles durchschauen, was wir zu Alabaster finden können. Laska und ich bekommen das schon hin.