GreenFiction


Alina Becker, Anna Matthey, Johanna Vogt und Timo Zemlin



Schwarzer Staub und andere Geschichten

Mit den Mentoren Ilona Einwohlt, Jasna Mittler, Jens Schumacher und Gerlis Zillgens

Herausgegeben von Lizzynet.de und digi:tales

 

 

Impressum


Ein Imprint der Arena Verlag GmbH
© Arena Verlag GmbH, Würzburg 2017
Alle Rechte vorbehalten
E-Book-Herstellung: Arena Verlag 2017

ISBN: 978-3-401-84010-9

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In Kooperation mit Lizzynet.de

 




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Vorwort
von Ilona Einwohlt

Solange du etwas zu sagen hast, solange musst du schreiben! Und welches Thema inspiriert mehr als „Green Fiction“? Hinter diesem Stichwort verbirgt sich ein Universum an Geschichten und als Schreibcoach dieses Wettbewerbs war es mir eine große Freude zu lesen, was all die jungen Schreibtalente zu sagen haben! Welche Gedanken, Lösungsansätze sie präsentieren, um unsere Umwelt zu retten. Wie sie mit Kontexten und Klischees spielen und literarische wie sprachliche Vorlagen verfremden. Denn ob realistische oder naturalistische Erzählung, Krimi oder Dystopie – so vielseitig das Thema Umweltschutz ist, so vielseitig sind auch die Texte, die entstehen, wenn man etwas zu sagen hat. Wenn man sich wie Alina Becker, Anna Matthey, Johanna Vogt und Timo Zemlin darauf einlässt, aus einer Idee, einem Gedanken, eine mehrseitige Geschichte zu erzählen. Und auch, wenn die Seiten dieses Büchleins begrenzt sind, bin ich mir sicher: Das ist noch nicht alles, was die Vier zu sagen haben.
Viel Spaß beim Lesen!

Ilona Einwohlt im September 2017

 

 

Alina Becker

mit Gerlis Zillgens als Mentorin

Lonesome George

Es gibt Schlimmeres, als ein Leben als Junggeselle zu führen. Zum Beispiel, zu einem Leben als ewiger Junggeselle verdammt zu sein.

Jeden Morgen pflückt mein Pfleger Fausto Blätter von den Bäumen meines Geheges und füllt meinen Trinknapf auf. Während ich das köstliche Grünzeug knabbere, tätschelt er meinen Panzer und redet auf mich ein. Viel zu erwidern habe ich in der Regel nicht, weil mein Mund meist voll mit Blättern ist und wir Riesenschildkröten sehr viel Wert auf Etikette legen – da verbietet sich das Sprechen von selbst. Nur ein einziges Mal, vor vielen Jahren, begehrte ich auf, als er mir mit den Worten „Weißt du übrigens, wie sie dich neuerdings nennen? Lonesome George!“ schlagartig den Appetit verdarb.

„Na, danke auch“, antwortete ich erbost und ein Teil der zermatschten Blätter landete auf Faustos Turnschuhen. Recht so. „Nicht genug, dass ihr Zweibeiner dafür verantwortlich seid, dass ich hier ohne Artgenossen vor mich hinvegetiere und regelmäßig eure geschmacklosen Kuppelversuche über mich ergehen lassen muss – jetzt stigmatisiert ihr mich auch noch! Lonesome George, einsamer George … nenne ich dich etwa Panzerloser Futterpflücker?“ Ich funkelte Fausto an, denn obwohl ich zugeben muss, dass ich meinen Pflegern und den Forschern, die sich mit mir beschäftigen, durchaus auch solche schmeichelnden Spitznamen verpasse, war ich pikiert – schließlich hatte ich es mir nicht ausgesucht, als das letzte lebende Pinta-Riesenschildkrötenmännchen zu enden.

Fausto schien etwas irritiert. Normalerweise lasse ich mich nicht so schnell von meinem Essen abhalten. Doch auf sein besorgtes „George, ist alles okay?“ reagierte ich nur mit Nichtachtung. Die Strafe hatte er verdient.

Nicht, dass ich komplett ohne schildkrötige Gesellschaft auskommen muss. Georgina und Georgette, zwei, nun ja, reizende Schildkrötendamen, mit denen man mich seit Jahren zu verkuppeln versucht, leisten mir in meinem – irgendwie muss ich es ja selbst zugeben – einsamen Dasein als Letzter meiner Unterart Gesellschaft, und würden, den Hoffnungen der Forscher nach, in Kürze für das Fortbestehen meiner Art sorgen. Ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei ihnen eben nicht um Pinta-Schildkröten handelt. Riesenschildkröte ist eben nicht gleich Riesenschildkröte.

Würde man mich nur einmal nach meiner Meinung fragen, könnte ich klarstellen, dass ich mich mit den beiden dauerplappernden Kröten nicht einmal unter erfüllten biologischen Voraussetzungen vermehren wollen würde – mit Sicherheit würden die Plappermäuler der zwei nicht einmal im schönsten Techtelmechtel stillstehen. Welcher Mann hält so etwas schon aus? Aber da mich in der Regel niemand nach meiner Meinung fragt, bleibt mir nichts anderes übrig, als die Gesellschaft der Ladies zu ertragen und die Hoffnungen der Forscher auf kleine Halb-Pinta-Babys zu erhalten. Ihre Erwartungen, mich eines Tages beim Begatten einer der beiden Ladies zu erwischen, garantieren mir immerhin freie Kost und Logis auf Lebenszeit.

Einer der wenigen Tage, die ich in meinem üblichen ereignislosen Schildkrötenalltag hervorheben könnte, war ein Dienstag. Fausto hatte mir mein Frühstück serviert und anschließend lag ich faul in der Sonne und hoffte, Georgina und Georgette würden mir einen Tag ohne ihre Zwangsgesellschaft gönnen, als sich zwei Männer meinem Gehege näherten. Einen kannte ich, er war einer der Forscher, die mich immer wieder zu meinen amourösen Eskapaden mit den beiden G.s drängten. Der andere war mir gänzlich unbekannt, und doch war er es, der stehen blieb, sich von seinem Begleiter mit Handschlag verabschiedete und sich mir dann allein näherte.

„Na, du?“, sagte er.

Träge hob ich meinen Kopf. „Tach, Kumpel. Was geht ab?“

„Ich bin Dr. Marshall Sinclair. Ich werde dich ein klein wenig beobachten, für eine Forschungsarbeit. Ich hoffe, das ist okay für dich?“

„Eigentlich nicht“, erwiderte ich, stemmte meine Vorderbeine in den Boden und ging in Abwehrhaltung. „Bin ich ein Ausstellungsstück? Trage ich statt einem Panzer eine Vitrine auf meinem Rücken herum, oder hat sich ein Graffitiartist dran vergriffen, dass man mich unbedingt begaffen müsste? Mach ‘nen Abgang, du Vogel, hier laufen schon genug von euch Fruchtfliegenzüchtern herum.“

Vor einigen Jahren hatten sich zwei Studenten, während sie durch das Schildkrötengehege schlenderten, über ein überaus spannendes Projekt unterhalten, das mir den Panzer zu Berge stehen ließ. Fruchtfliegenaufzucht. Ich hatte mir sogar den biologischen Fachbegriff für diese Biester gemerkt. Drosophila melanogaster. Wer gab diesen Nervensägen denn bitteschön einen speziellen Namen und züchtete die auch noch?

Wie erwartet wurde meinem Einwand kein Gehör geschenkt, im Gegenteil, der junge Forscher ging vor mir in die Hocke und legte eine Hand auf meinen Panzer.

„Finger weg, Freundchen, wenn ich in der Stunde mehr als fünfzig Meter zurücklegen könnte, würde ich dich jetzt durch das Gehege jagen!“, knurrte ich ihn an.

„Du hast schon ein trauriges Leben, oder?“

Ich schnaubte. „Danke, dass du das merkst. Wenn du also bitte …“ Ich bewegte meinen Kopf in Richtung seines Arms, und tatsächlich zog er seine Hand wieder zurück und ließ sich im Schneidersitz vor mir nieder. Ich seufzte. Diese Pose kannte ich. Immer, wenn einer der Pfleger oder Forscher mit mir allein war, musste ich stundenlanges Lamentieren über mich ergehen lassen – als wäre es nicht schon Strafe genug, mit zwei äußert mitteilungsbedürftigen Schildkrötendamen ein Gehege teilen zu müssen.

„Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, dir ein kleines Gastgeschenk mitzubringen“, begann Dr. Sinclair seinen Sermon. „Was hättest du wohl zu einem witzigen Klebetattoo auf dem Panzer gesagt?“

Es ist doch immer wieder erstaunlich, welchen Blödsinn Menschen ständig von sich geben. Wenigstens ersparten sie mir angesichts meiner altersbedingten Seriosität in der Regel solch rhetorische Glanzstücke wie „Ei, wo ist er denn? Gutschi, gutschi, gutschi.“

„Ein Klebetattoo?“, echote ich also. „Ehrlich, wenn du erst einmal hundert Lenze zählst, hast du schon schlimmere Schmerzen hinter dir, als ein paar Nadelstiche. Wenn schon ein Bild auf dem Körper, dann ertrage ich das auch wie ein echter Mann.“ Ich gähnte und streckte mich, so gut ich es eben konnte – die traurige Wahrheit ist nämlich, dass ich meinen Panzer liebend gern einmal aufpeppen würde, und sei es nur mit einem dämlichen kleinen Klebetattoo. Ganz im Ernst, wenn man schon so eine beständige Last mit sich herumschleppen muss, dann sollte sie wenigstens ästhetisch ansprechend sein und nicht aussehen, wie eine deformierte Holzbadewanne. Meine Meinung. Die beiden Damen pflegen sich regelmäßig darüber zu ereifern, welche von ihnen denn nun den hübscheren Panzer trägt, wessen Hals länger und schlanker wirkt, und wer auf den stummeligsten Beinen durch das Gehege kriecht. Keine Frage, wer bei diesen Disputen in der Regel den Schiedsrichter geben muss.

Ich seufzte und versuchte, mich auf die Ansprache des jungen Forschers zu konzentrieren.

„… obwohl ihr hier ja eigentlich im Paradies lebt, nicht wahr? Immer Sonne satt, regelmäßige Mahlzeiten, kein Stress und keine Hektik, und mit größeren Problemen müsst ihr euch auch nicht herumschlagen. Schildkröte müsste man sein.“

Ich war mir nicht sicher, was dieser gesprächige Jungspund beabsichtigte. Meine Laune besserte sich jedenfalls nicht dadurch, dass mir jemand das Hohelied des Schildkrötendaseins schmetterte. Ich rupfte ein paar Blätter von einem Busch ab und ließ sie in meinem Mund verschwinden. „Ja“, nuschelte ich durch den Blätterklumpen, „vor allem mein Speiseplan hat so Einiges zu bieten.“ Ich schaute Dr. Sinclair grimmig an, und er strahlte glücklich zurück und klopfte leicht auf meinen Panzer.

„Mach du mal weiter, alter Junge. Ich zieh mich jetzt zurück und schau dir einfach ein wenig zu.“

Schildkröten haben keine Augenbrauen. Nichtsdestotrotz haben wir diesen skeptischen Blick ziemlich lässig drauf. Ich bedachte Dr. Sinclair also mit meinem zweifelndsten Blick, zog mich in den Schatten einiger hoher Sträucher zurück und streckte alle viere von mir. In der Ferne sah ich Georgina und Georgette herumstreifen und von Zeit zu Zeit kleine Büschel Gras ausreißen und zerkauen.

Hier in der Forschungsstation auf Santa Cruz, die seit fast vierzig Jahren mein Zuhause ist, finde ich es zwar grundsätzlich nett, schildkrötige Gesellschaft zu haben, aber noch netter hätte ich es gefunden, mir diese selbst aussuchen zu dürfen. Um in diesem eintönigen, von oberflächlichem Geplapper und bissigen Spötteleien seitens der beiden holden Dämlichkeiten angefüllten Alltag nicht an Depressionen zugrunde zu gehen, hilft meines Erachtens nur eine Maßnahme: Schlafen, solang es die Augenlider erlauben.

Ich schloss die Augen. Es war ein wunderschöner, sonniger Tag, eine leichte Brise wehte durch das Gehege und ich dämmerte den Nachmittag über vor mich hin. Der junge Forscher blieb tatsächlich in einigem Abstand sitzen und verhielt sich ruhig. Gelegentlich öffnete ich mein linkes Auge einen Spalt breit und schielte zu Sinclair hinüber. Er schrieb konzentriert in ein Notizbuch, mit gerunzelter Stirn und der Zungenspitze zwischen den Vorderzähnen. Ich grinste und fragte mich, welch bahnbrechende Beobachtungen Sinclair da zu Papier brachte. Musste ein regelrechter Thriller werden. Aber gut – Sinclair wollte mich in meinem Alltag beobachten, also sollte er auch meinen alleralltäglichsten Alltag bekommen.