Über Jean-Marc Ceci

Foto: Ceci Jean-Marc Photo 2016 © DR.

Jean-Marc Ceci, geboren 1977, hat die italienische und belgische Staatsbürgerschaft. Er lehrt Rechtswissenschaften und lebt mit seiner Familie in Südbelgien. Herr Origami ist sein erster Roman.

 

Claudia Kalscheuer, geboren 1964, überträgt u. a. Marie NDiaye und Antoine Laurain aus dem Französischen. Sie wurde zusammen mit Marie NDiaye mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet.

Für meine Frau und meine Kinder

Da

Ganz einfach

Unter dem fallenden Schnee

Kobayashi Issa

(17631827)

Washi

Die neunte Tagung des zwischenstaatlichen Ausschusses für die Erhaltung des immateriellen Kulturerbes findet vom 24. bis 28. November 2014 im Sitz der Unesco in Paris statt.

Dieser Ausschuss verfolgt insbesondere das Ziel, eine bessere Sichtbarkeit des immateriellen Kulturerbes zu gewährleisten.

Das Kulturerbe wird in eine repräsentative Liste eingetragen, die von der Unesco erstellt, geführt, aktualisiert und veröffentlicht wird.

Meister Kurogiku sitzt auf dem Boden. Seit etwas über einer Stunde schon.

In Zazen-Haltung.

Vor ihm ein quadratisches Blatt Papier.

Etwas zerknittert.

Auf einem niedrigen Holztisch.

 

Zu seinen Füßen schnurrt die Katze Ima.

 

 

 

 

Kurogiku bedeutet: schwarze Chrysantheme.

 

In Japan ist die Chrysantheme eine heilige Blume. Sie symbolisiert Freude, Lachen und Ewigkeit.

Bis heute ist sie das Emblem des japanischen Kaiserhauses. Der Chrysanthemenorden ist in Japan die höchste Auszeichnung.

Meister Kurogikus Vater war ein fröhlicher Mann. Er legte Wert darauf, dass sein Sohn das Symbol der Freude in sich trug, der die edle Blume die höchste Würde verlieh.

 

 

 

 

Meister Kurogiku sitzt in Zazen-Haltung.

Draußen verbrennt die Sonne der Toskana Haut und Gräser.

Meister Kurogiku sitzt im Schatten, auf seiner Veranda.

Vor ihm liegen die Trümmer eines verfallenen Schwimmbads.

Er sieht sie nicht.

Meister Kurogiku betrachtet etwas anderes.

Ein Blatt Papier.

Quadratisch.

Und zerknittert.

 

 

 

 

Meister Kurogiku hat einen Beruf.

Er ist sechzig Jahre alt und stellt Washi her, das er dann verkauft.

Washi ist ein japanisches Papier, die Geheimnisse seiner Herstellung werden seit dem achten Jahrhundert von Generation zu Generation weitergegeben.

Tatsächlich wählt er, bevor er es verkauft, ein paar Blätter aus. Die schönsten. Zu seinem persönlichen Gebrauch.

Von den übrigen trennt er sich, um sie zu verkaufen.

 

 

 

 

Washi bedeutet: Papier des Friedens und der Harmonie.

 

Das Wort besteht aus zwei Kanji.

 

Das erste Kanji bedeutet Friede, Harmonie.

Im weiteren Sinne bezeichnet dieses Kanji alles, was aus Japan stammt.

 

Das zweite Kanji bedeutet Papier.

 

 

 

 

Im Alter von zwanzig Jahren verlässt Meister Kurogiku Japan.

 

Vor der Abreise lädt sein Vater ihn zum Chadō ein, der traditionellen Teezeremonie.

Er gibt ihm ein gefaltetes Blatt Papier.

Ein Origami.

Es stellt einen Kranich dar.

 

 

 

 

Nach fünfzehntägiger Reise kommt Meister Kurogiku völlig mittellos in Italien an, in der Toskana. Er findet eine Ruine für die Nacht.

Er pflanzt drei Baumsetzlinge und schläft ein.

 

 

 

 

Die Ruine liegt hoch über einem grünen Meer, einer endlosen, hügeligen Weite. In einem jener Winkel Italiens, in denen es keine Wege gibt und die zu weit vom nächsten Dorf entfernt sind, um irgendeinen Namen zu tragen.

In einem jener Winkel Italiens, in denen es nicht immer warm ist.

Eines Tages wird vielleicht der Eigentümer kommen. An diesem Tag wird Meister Kurogiku gehen müssen.

In der Nacht nach seiner Ankunft schläft er dort.

 

 

 

 

Aus Japan hat Meister Kurogiku nur seinen schwarzen Kimono, sein Wissen um das Washi und seine Bäume behalten.

Seine Bäume.

Als einziges Gepäck auf seiner weiten Reise trägt er einen Blumentopf.

In dem Topf, drei Baumsetzlinge.

 

 

 

 

An jeder Grenze stellt man ihm dieselbe Frage.

– Etwas zu verzollen?

– Nein.

– Und das da?

– Das sind drei Baumsetzlinge.

– Die müssen Sie deklarieren.

– Nun, dann deklariere ich sie: Ich besitze drei Baumsetzlinge.

Man schaut ihn an.

– Sind sie gefährlich?

– Jede Schönheit hat ihre Schattenseite …

– Wie meinen Sie?

– Nichts ... nichts. Nein, sie sind nicht gefährlich. Sie werden nicht explodieren.

– Nichts anderes zu deklarieren?

– Nichts anderes. Nur drei Baumsetzlinge.

– Drei Baumsetzlinge.

– So ist es.

– Dann gehen Sie weiter. Gute Reise.

 

Und man lässt ihn passieren.

 

 

 

 

Manchmal fragt man ihn:

– Was sind das für Bäume, diese Setzlinge?

Kōzo.

– Was ist das denn?

– Der Name des Baums.

– Kenne ich nicht.

– Sehen Sie diese Setzlinge und diese Blätter?

– Ja.

– Das ist ein Kōzo. Sie sehen den Baum und Sie hören seinen Namen. Jetzt kennen Sie ihn.

– Dann gehen Sie weiter.

Manchmal dreht sich der junge Kurogiku um und sagt:

– Der andere Name des Kōzo lautet: Papiermaulbeerbaum.

 

 

 

 

Manchmal fragt man ihn:

– Reisen Sie geschäftlich oder zum Vergnügen?

Weder noch.

– Geschäftlich.

– Was für eine Art Geschäfte?

Beim ersten Mal muss er nachdenken.

Er betrachtet seine drei Setzlinge und antwortet:

– Papier.

Papier.

– Papier?

– Papier.

 

Papier.

 

Dann lässt man ihn passieren.

 

 

 

 

Manchmal fragt man ihn:

– Kennen Sie dort jemanden?

– Ja.

– Name?

– Kurogiku.

– Nicht Ihren. Wen besuchen Sie?

Wen ...