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Social Innovation und Change [sic!]

Der Autor

GÜNTHER MOHR, Dipl.-Volkswirt, Dipl.-Psych., Senior Coach DBVC, Supervisor BDP, zertifizierter und lehrender Transaktionsanalytiker im Feld Organisation und Management; Ausbildungen in analytischer Gruppenberatung, Verhaltenstraining und systemischer Beratung; Tätigkeiten am Finanzwissenschaftlichen Institut der Universität Bonn, in einer Psychosomatischen Fachklinik, als Personalberater für technische Führungskräfte, als Führungskräfteentwickler und Bildungsmanager, als interner Coach und Berater in einem Unternehmen; Leiter des Institut für Coaching, Training und Consulting, Hofheim; Autor von zahlreichen Büchern und Fachbeiträgen, im selben Verlag erschienen: Systemische Organisationsanalyse, Coaching und Selbstcoaching, Workbook Coaching und Organisationsentwicklung, Achtsamkeitscoaching, Systemische Wirtschaftsanalyse. Arbeitsmaterialen zum Buch und Kontakt zum Autor: www.mohr-coaching.de.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

I Resilienz im Alltag

Resilienz – ein neues Modewort?

Normale Beanspruchung – Die neue Welt der VUCA

Resilienz lernt man nicht im Wellness-Hotel

Raketenalarm

Levines Konzept der somatischen Erfahrung

»Scharfer« und »weiter« Resilienzbegriff

Individuelle und systemische Resilienz

Resilienz – eine billige Verschiebung von Verantwortung auf den Bürger?

Kollektive Traumata

II Resilienzpraxis mit dem Resilienzquadrat

Resilienzfaktor I: Externe Ressourcen

Social Support

Übungen

Natur als Resilienzfaktor

Mit Kinhin Natur erleben

Resilienzfaktor II: Die Körper-Geist-Verbindung

Embodiment

Yoga oder Krafttraining

Empathie macht Beziehungen möglich

Übungen

Resilienzfaktor III: Sinngestaltung

Seit 2000 Jahren die gleiche Sinnfrage

Resilienzfaktor IV: Interne Ressourcen

Mut zeigen und Vermeidung vermeiden

Selbstwirksamkeit in Beziehungen

Konsistent das Erleben konstruieren

Das »Heilige Land«

Gewohnheiten aufgeben

Realismus

Eigenverantwortung

Improvisationsfähigkeit, Spiel, Spaß und Humor

Im Bunker in Ofakim

Mit den Ambivalenzen des Lebens umgehen – Glücksrezepte

Übungen zu internen Ressourcen

III Sieben praktische Schritte zur Resilienz

Notwendige Begleitung auf dem Weg

Schritt 1: Das Leben zu erkennen ist erste Priorität

Übungen zur inneren Wahrnehmung

Schritt 2: Resilienz durch Meditation und Achtsamkeit unterstützen

Wie geht Meditation praktisch? – Einige Kernpunkte

Was Meditation nicht ist – Einige Mythen

Was ähnelt der Meditation?

Den Tag mit Meditation beginnen

Hausherr oder Hausmeister

Schritt 3: Emotionsregulation und Embodiment

Kognitive Verhaltenstherapie und Imagery Rescripting

Levines Somatic Experience

Energetische Psychotherapie

Advanced Integrative Therapy

Introvision

Neuroimagination

Schritt 4: Resilienz durch Leben im Spannungsgebiet

Jerusalem im Juli 2014

Wie fängt eine große Spannungssituation langsam an?

Schritt 5: Gefühle ausfühlen und Skriptarbeit

Schritt 6: Muster läutern

Antreibermuster

Antreiber beschreiben das Wie des Weges

Die fünf meist-benannten Antreiber

Wie ist die Korrekturrichtung für die Antreiber?

Beraterische Hilfe, um Resilienz an die Stelle des Antreibers zu setzen

Die sechs neuen Antreiber

Schritt 7: Dranbleiben

IV Organisationale Resilienz

Systemische Perspektive

Resilienz in den Systemdynamiken

Systemstruktur – Aufmerksamkeit, Rollen und Beziehungen

Systemprozesse – Kommunikation, Problemlösung und Erfolg

Systembalancen – Gleichgewicht und Rekursivität

Systempulsation – äußere und innere Pulsation

Das 7-Schritte-Programm

Dialogische Organisationsentwicklung

Bedürfnisse in Veränderungsprozessen

Haltung und Kultur

Fünf Brüder – Unternehmerische Resilienz in der Praxis

Abschluss und Ausblick

Literatur

I Resilienz im Alltag

Neben mir im Bus von Jerusalem nach Tiberias sitzt ein Soldat, der für den Sitz viel zu groß ist und dessen Schnellfeuerwaffe mir mit dem Schaft immer wieder mal in die Seite drückt. Gott sei Dank hat er die zwei vollen Magazine nur an das Mittelteil mit Kreppverschluss angebunden und nicht eingesetzt. Aber so ist das hier. Gestern schon hatte einer, während er an seinem Handy herumspielte, dauernd die Mündung seines Gewehrs auf mich gerichtet. Ich fühlte mich an Szenen in Kriminalfilmen erinnert, in denen man sonst so etwas sieht. Ich wollte schon »alles zugeben«. Makaber, surreal, fremd. Aber schon wie beim ersten Aufenthalt im heiligen Land habe ich mich nach einigen Tagen an solche Situationen gewöhnt. Es ist ein Teil dessen, wie man hier in Israel/Palästina mit Bedrohung und Spannung umgeht.

Resilienz ist die Fähigkeit, mit widrigen bis sehr widrigen Umständen umzugehen. Resilienz wird notwendig, wenn plötzliche starke traumatische Ereignisse ins Leben eingreifen oder auch wenn stetige Bedrohungen und Spannungen herrschen. Resilienz bedeutet dann, mit diesen Situationen so umzugehen, dass keine posttraumatische Störung, also etwa depressive oder auch gewalttätige Reaktionen, entstehen. Denn genau das widerfährt Menschen oft, die großen Spannungssituationen ausgesetzt waren oder sind. Und in dieser menschlichen Tendenz, widrige Umstände auch mit sehr archaischen Denk- und Verhaltensmustern zu beantworten, liegt eine große Gefahr. Deshalb gilt es, über individuelle Resilienz nachzudenken, aber auch deren Seite in Humansystemen, also Organisationen bis hin zu Gesellschaften, zu betrachten.

Neben den Konzepten und Ideen zu Resilienz konnte ich das Thema durch mein Interesse an konkreter Erfahrung in zwei Erlebensbereichen sehr intensiv selbst erfahren. Einmal war dies das Leben und Erleben in einer Region der Welt, in der das Thema ›Spannung‹ in Form potenzieller Lebensbedrohung ständig zum Alltag gehört und dadurch Resilienz für die Menschen notwendig macht. Dies ist im Nahen Osten/Palästina/Israel seit langem der Fall. Resilienz war das Thema eines internationalen Projektes an der Hebrew University in Jerusalem, an dem ich teilnahm. Es sollte dann mehr praktische Resilienz auf mich zukommen, als geplant war, denn ich erlebte den Krieg im Jahre 2014, der in Gaza, aber natürlich auch zeitweise auf den Straßen Ost-Jerusalems stattfand.

Der zweite Aspekt von Leben und Erleben war meine Zazen- Praxis. Zazen ist die Meditation im Zen, das lange »Sitzen auf dem Kissen«. Ich hatte Zazen wie viele aus dem Bemühen heraus begonnen, innerlich ruhiger zu werden und tiefere Erkenntnisse über das Leben zu bekommen. Die Reihenfolge der Erfahrungen hatte ich mir so vorgestellt: erst innere Ruhe finden und dann weise werden. Als ich mich ganz auf diesen Weg einließ, war meine Erfahrung dann allerdings anders. Zazen ist über weite Phasen innerlich ein gefühlsmäßig sehr intensiver und keineswegs immer »lustiger« Prozess, wie es der Zenlehrer Alexander Poraj einmal ausdrückte (Poraj 2016). Entgegen meiner anfänglichen Vorstellung übte ich bald nicht die stetige Zunahme innerer Ruhe, sondern das innere »Ausfühlen« sämtlicher Gefühle, die mit dem Menschsein zu tun haben. Dazu war Resilienztraining vor allem in Form konkreter Emotionsregulationstechniken für mich sehr hilfreich. Denn die in diesen Prozessen auftauchenden Gefühle reichen weit über das hinaus, was man allein durch seine individuelle Biographie erklären könnte. Es führt bis in archaische Bereiche des menschlichen Daseins. Zu der Art dieser Gefühlsprozesse werde ich unter Resilienzfaktor II (Körper-Geist-Verbindung) Näheres schreiben.

Der Begriff ›Gefühle ausfühlen‹ im Zusammenhang mit Meditation stammt interessanterweise schon von Johannes Tauler, einem deutschen christlichen Mystiker und Schüler Meister Eckharts, der von 1300 bis 1361 lebte. Meditation und Kontemplation sind nicht vorwiegend etwas Fernöstliches. Sie sind in allen Kulturen bekannt, aber aufgrund der schmerzlichen Konfrontation mit den Gefühlen seltener praktiziert und ins Leben integriert, als es für Menschen günstig wäre. Der Weg der Meditation ist – und davon bin ich mittlerweile sehr überzeugt – ein Königsweg zu gesteigerter Resilienz.

Insgesamt sind die Wege zur Resilienz zu verknüpfen. Dies kann das Erleben in einem Spannungsgebiet sein und die Reflexion in der Meditation, das zum Vorschein-kommen-Lassen was im Menschen in der Tiefe steckt. Es können natürlich bei jedem Menschen andere Wege sein. Den genannten Zugangsweg »Erleben und Meditieren« hatte mir Bernie Glassman nahegebracht. Der Zen-Meister jüdischer Herkunft bietet seit 20 Jahren ein Meditations-Retreat in Auschwitz an. An die schwierigen Stätten der Menschheit zu gehen und dort nicht gleich alles besser zu wissen, in Agitation zu verfallen oder zu resignieren, sondern innezuhalten und zu spüren, das hatte mich beeindruckt. Im Folgenden werden neben den wissenschaftlichen Erkenntnissen zum Thema Resilienz immer wieder Beispiele für praktische und konkrete Wegerfahrungen eingefügt.

Resilienz – ein neues Modewort?

Resilienz ist ein Begriff, der der Materialwirtschaft entlehnt ist. Damit geht es ihm ähnlich wie dem Stressbegriff, der ebenfalls aus der Physik stammt. Der materialwirtschaftliche Resilienzbegriff gibt an, wie sehr ein Material nach Beanspruchung wieder in der Lage ist, seine Ausgangsposition einzunehmen, etwa bei einer Spiralfeder, die gedehnt wird und sich danach wieder entspannt. Übertragen auf die psychologische Resilienz bedeutet dies, nach sehr widrigen Erlebnissen wieder zu einem einigermaßen erträglichen Empfinden zurückzufinden. Aber dieses Bild ist für die psychologischen Situationen zu ergänzen, da in vielen Fällen als Resultat eines Resilienzprozesses ein neues Gleichgewicht entsteht. Es wird selten ganz wieder so, wie es vorher war. Im günstigen Falle erfolgt ein persönlicher Wachstumsprozess nach dem oder sogar durch das Trauma (posttraumatic growth). Menschen entscheiden sich dann oft, in ihrem Leben andere, ihnen selbst wesensgemäßere Prioritäten zu setzen.

Der Resilienzbegriff wurde in der Forschung – in den letzten Jahren besonders von dem Psychologen George Bonanno – ganz besonders auch als Reaktion auf traumatische Erlebnisse untersucht (Bonanno 2012). Er spricht von potenziell traumatischen Ereignissen (PTEs), wie z. B. schweren Unfällen, Verlust von nahen Angehörigen oder auch Gewalteinflüssen. Deren Auftretenswahrscheinlichkeit wird nach Auffassung des niederländischisraelische Traumaforschers Daniel Brom von Menschen gerne verdrängt. Brom spricht hier von einer Illusion, die Menschen haben. Jeder Mensch sei mindestens einmal im Leben mit einer solchen Situation konfrontiert (Brom 2014). Insofern ist das Lernen von Resilienz sinnvoll.

Beeinträchtigungen im Leben können auf zwei Weisen entstehen: durch ein Trauma oder durch »steady poison«. Fundamentale beeinträchtigende Lern- und Erfahrungsprozesse bei Menschen können einerseits durch ein einschneidendes Ereignis bewirkt werden, das alles verändert, andererseits durch eine ständige Konfrontation mit negativen Einflüsse. Dies passiert etwa, wenn einem Kind das Selbstvertrauen oder andere natürliche Fähigkeiten, für die es Wertschätzung braucht, kontinuierlich abgesprochen werden. In der Regel wird im letzteren Falle nicht von Traumatisierung im engeren Sinne der Definition gesprochen; es ist eher eine kontinuierliche, schwere Stresssituation. Der Übergang zwischen schwerem Stress und Trauma gestaltet sich fließend. Interessant ist aber gerade bei den Kindheitserlebnissen, dass hier oft eine Traumatisierung intergenerationell (von Generation zu Generation) weitergegeben wird. Traumata und schwere Stresserfahrungen verschwinden nicht einfach, wenn sie nicht behandelt, sondern verdrängt, abgespalten oder verschwiegen werden. Sie gären unterschwellig weiter und werden mehr oder weniger bewusst weitergegeben. Gerade viele Deutsche haben in diesem Punkt durch die Erfahrungen der Kriegsgeneration und der Nazizeit unbearbeitete Traumata. Die Weitergabe geschieht oft nicht durch ein einschneidendes Erlebnis, sondern subtil. In diesem fundamentalen Zusammenhang der Weitergabe von Traumata zeigt sich schon ein wichtiger systemischer Prozess, der in Systemen wie Familien, Gesellschaften, Bevölkerungen, Staaten auf die Resilienz des Einzelnen Einfluss nimmt.

Mittlerweile wird daher das Resilienzkonzept auf Individuen (Kinder und Erwachsene) aber auch auf Systeme allgemein und Organisationen im Speziellen angewendet. Jessica Di Bella hat beispielsweise die Resilienz von kleinen Unternehmen in einer vergleichenden Studie untersucht, die von fünf italienischen Brüdern geführt wurden (Di Bella 2014). Immer geht es darum, die Faktoren zu ermitteln, die zur Robustheit gegenüber widrigen Ereignissen und Einflüssen führen. Zahlreiche Untersuchungen haben sich mit Resilienz bei Kindern beschäftigt, aber auch im Erwachsenenalter ist es möglich, Resilienz zu entwickeln. Resilienz hat mit der Bewältigungsfähigkeit von Ereignissen und Situationen zu tun. Deshalb zunächst ein kurzer Einblick in die Anforderungsbedingungen, die der Mensch heute zu bewältigen hat.

Normale Beanspruchung – Die neue Welt der VUCA

Schneller, unberechenbarer und gefährlicher? Schon die normale Welt ohne traumatische Schicksalsschläge stellt gerade hohe Anforderungen. Dies wird heute manchmal ›VUCA-Welt‹ genannt. Volatilität (die schnellen Veränderungen), Unsicherheit, Complexity bzw. Komplexität und Ambiguität (Uneindeutigkeit der Vorkommnisse) kennzeichnen den Beginn des 21. Jahrhunderts.

Die Geschwindigkeit der Veränderungen in der Welt hat sich erhöht. Dies wird mit der Volatilität, dem Begriff für die schnellen Schwankungen von relevanten Daten und Kontexten, zu erfassen versucht. Ob die Sicherheitslage in einem Land oder auch die Seriosität und damit Kreditwürdigkeit eines Kunden (siehe VW oder Deutsche Bank) schnelle Veränderungen sind die Herausforderung. Was zunächst nur für die Börsenschwankungen angenommen wurde, ist nun für viele Lebensbereiche zum Thema geworden. Gleichzeitig wird in einer Art Gegenbewegung versucht, alles zu berechnen. Das menschliche Verhalten wird in Algorithmen gepackt, die möglichst viel voraussagen sollen. Wie sich diese Algorithmen wiederum auf das Leben auswirken, erklärt der Journalist Christoph Drösser in seinem Buch Total berechenbar (Drösser 2016). Auch diese »berechnende Welt« erscheint den Menschen nicht gerade geheuer, weil sie mit dem Ziel unserer Beeinflussung erfolgt. Manche glauben gar, ein Überwachungsstaat wie in George Orwells legendärem Buch 1984 werde Wirklichkeit. Ein Ergebnis ist eine große Unsicherheit, die das Empfinden vieler Menschen kennzeichnet. Die Erwartung in Wohlstandsgesellschaften ist aber gerade ein Gefühl der Sicherheit. Wohlstand bedeute Sicherheit. Täglich wird suggeriert, man könne alles versichern, sich gegen alles absichern. Man muss nur dafür bezahlen, dann verliert das Leben seine Bedrohungen. Und wer das nicht hinbekommt, hat eher selbst ein Problem. Der Mensch ist in seiner Schwankung zwischen dem lange Zeit vorhandenen Schicksalsglauben und der Machbarkeitsidee zu sehr auf den zweiten Pol fokussiert worden. Manche nennen es den »Machbarkeitswahn«. Diese Polarität zwischen Schicksalsglauben und Machbarkeitswahn wird von der Daseinsanalytikerin Alice Holzhey-Kunz (2001) sehr schön beschrieben. Die Sozialwissenschaftlerin Herrad Schenk (2000) spricht gar vom Machbarkeitsmythos. Seit der Aufklärung hat der Glaube an ein vorherbestimmtes Schicksal und das Annehmen der höheren, eingreifenden Macht nachgelassen. Das Zurückweichen des Schicksals führt zunehmend zu der Ideologie, dass alles machbar sei. Die ungeheure Schöpferkraft des Menschen, die gerade im Bereich der Technik die segensreichsten, aber gleichzeitig potenziell gefährlichen (z. B. Atomkraft, Gentechnik) Erfindungen macht, steigert die Unsicherheit des Menschen. Das Ausgeliefert-Sein des Menschen an den Zufall, zumindest an das Leben mit allen seinen unberechenbaren Seiten wird mit verschiedenen Mitteln zu bewältigen versucht. Der Philosoph Odo Marquard nennt es so: »Früher wurde nichts gemacht, dann wurde einiges gemacht, jetzt wird alles gemacht« (zit. nach Holzhey-Kunz 2014).

Unsicherheit ist mehr als Risiko. Risiko wird in Investitionsentscheidungen in Szenerien und Wahrscheinlichkeiten abzubilden versucht. Unsicherheit ist aber nicht berechenbar. Sie knüpft an das Archaische des Menschen, das Ausgeliefert-Sein an das Leben an. Lange war in der Welt der Glaube an ein von außen gelenktes Schicksal vorherrschend. Dieser Glaube verliert in der westlichen, vorwiegend christlich geprägten Welt, in der einem personalen Gott die Zuständigkeit zugesprochen wird, an Boden, genauso wie in der östlichen Welt, in der man eher die Lenkung durch den karmischen Zusammenhang zwischen einzelnen Leben annimmt. Gleichzeitig spüren die Menschen, dass nicht alles machbar ist. So bleibt es eine der Fragen, die für die Menschen offen sind.

Zu den schnellen Veränderungen und vor allem ihrer ständigen Abbildung, wenn nicht sogar Inszenierung durch die Medien insbesondere bei tragischen Ereignissen, kommt als drittes die Komplexität hinzu. Komplexität, die Vielfalt von Aspekten in wenig systematischen Zusammenhängen, ist für Menschen eine hohe Herausforderung. Das betrifft die reine Aufnahmefähigkeit und das Verstehen genauso wie die damit eng verbundene emotionale Seite, wenn man etwas nicht überblickt oder sozusagen »keinen Plan« hat. In heutigen Projekten spielen so viele Gesichtspunkte eine Rolle. Ein größeres Bauvorhaben hat so viele Beteiligte, Interessen und Aspekte zu beachten, dass kaum ein Projekt noch in der geplanten Zeit realisiert werden kann. Aber auch auf der kleinen persönlichen Ebene scheint die Komplexität so hoch zu sein, dass Entscheidungen lieber aufgeschoben werden, was dann implizit auch wieder eine Entscheidung ist. Die Frage, soll ich Kinder bekommen, ist nur ein Beispiel für einen sehr grundlegenden menschlichen Lebensprozess, der aber heute dem Optimierungsgedanken unterworfen wird. So passiert es nicht selten, dass Paare das Kinderkriegen fast oder ganz verpassen.

Mit der Komplexität hängt auch die Ambiguität zusammen. Darunter ist die Mehrdeutigkeit von Phänomen zu verstehen. Man kann sie sehr unterschiedlich deuten. Situationen entstehen aus vielen Gründen. Was auf den ersten Blick plausibel erscheint, verliert durch Bewusst-Werden weiterer Elemente oder einfach durch die Zeit an Aussagekraft. Auch seit der »systemischen Revolution« in den 1980er-Jahren ist die Welt nicht mehr so eindeutig. Damals wurde erklärt, dass es nicht eine allseits gültige Wirklichkeit gibt, sondern alles eine subjektive Konstruktion der Welt ist. Gab es vorher die Idee, dass man, wenn man nur lange genug überlege und suche, die richtige und feste Lösung finde, ist die Wahrheitsfindung mittlerweile nicht mehr Programm. Es geht bei vielen Fragen »nur noch« darum, eine praktikable Lösungsrichtung zu finden. Lange Zeit wurde durch Ausblenden wichtiger Aspekte eine einfachere Lösungssituation geschaffen. Autoritäre Festlegungen, was und wer wichtig ist, versuchten hier etwas zu lösen. In demokratischen, pluralistischen Gesellschaften mit Menschenrechten ist dies kaum mehr möglich – und zwar zum Leidwesen vieler Menschen, die zu einfachen und schnellen Lösungen tendieren. Bei Resilienz geht es auch um das Aushalten dieser Spannungszustände, um die Erkenntnis, dass es manchmal keine schnelle Lösung gibt.

Ambiguität bedeutet in vielen Fällen auch Ambivalenz, gegenläufige bis unvereinbare Situationen in den Zielsetzungen und Interessen. Im Extremen liegen manchmal sogar Dilemmata vor, die sich durch unvereinbare Aspekte auszeichnen. Diese können nicht gelöst werden, ohne dass ein Preis gezahlt wird. Das alles in Win-Win-Situationen umformuliert werden kann, ist oft ein Mythos. Manche Lösungen verlangen einen beträchtlichen Preis.

Auf dem Hintergrund der VUCA-Welt ist eine zeitgemäße, neue Orientierung der Menschen nötig. Möglicherweise ist der Resilienzansatz dazu eine Möglichkeit. Entsprechend wurde schon bald die Grundidee der robusten Widerstandsfähigkeit gegenüber widrigen Einflüssen auch auf größere Systeme übertragen. Ökologische Systeme, die durch Umweltverschmutzung bedroht waren, boten sich dafür als erster Forschungsgegenstand an. Später kamen dann Organisationen und Unternehmen hinzu.

Die VUCA-Welt hat für Menschen einige Folgen:

• Die Notwendigkeit der Resilienz im Erwachsenenalter zeigt sich nicht nur in den ganz »normalen« Schicksalsschlägen des Lebens wie Unfällen, Krankheiten, Todesfällen. Hier spricht man von potenziell traumatischen Ereignissen. Über das Auftreten von traumatischen Ereignissen machen sich Menschen psychologisch in der Regel Illusionen. Die meisten nehmen an, dass ihnen nichts passiert, und sind dann nicht vorbereitet, wenn ihre Lebensgewohnheiten durch einen Schicksalsschlag durcheinander geraten.

• Besondere Stressfaktoren kennzeichnen die veränderte Welt, die in dem Kunstwort VUCA mit seinen vier Bestandteilen Volatilität, Unsicherheit, Complexity und Ambiguität, der Mehrdeutigkeit von Situationen, zum Ausdruck kommt. Vielfach wird der Eindruck vermittelt, der Mensch funktioniere am besten als willfähriges Instrument der Konsum-, Arbeits- und Freizeitindustrie und definiere sein Glück als Summe der erlebten, möglichst teuren Events. Das dort geschaffene Menschenbild wird dem Menschen in seiner Ganzheit aber nicht gerecht, sondern reduziert ihn (vgl. Mohr 2014, Achtsamkeitscoaching).

• Die Außenwelt wird vielfach als bedrohlich erlebt (Terror, Kriminalität), obwohl Statistiken belegen, dass Gewaltdelikte zurückgehen. Dabei ist bezüglich allgemeiner Kriminalität anzumerken, dass nicht jede kriminelle Tat, beispielsweise leichte Diebstahldelikte, bei der Polizei angezeigt wird. Vieles scheint hier »privatisiert« zu sein. Der öffentliche Raum wird weniger als geschützter Raum erlebt. Subjektiv gehen Menschen bei der kriminellen Bedrohung von einer Erhöhung aus. Das heißt, psychologisch ist dies sehr wirksam, auch wenn es vielleicht zum Teil an der medialen Darstellung liegt. Die terroristische Gefahr ist hierzulande als eine neue Form der Bedrohung dazugekommen. In Europa konnte man lange Zeit das Thema politische Gewalt und Terrorismus als etwas Fremdes, Absurdes, nur in bestimmten fernen Regionen Vorhandenes ansehen. Zwar kannte man mit der RAF, der IRA und der ETA politischen Terrorismus gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen. Aber mittlerweile ist eine Form des Terrorismus in Europa angekommen, die sich gegen jedermann richtet, die jeden treffen kann. Dies lässt viele Menschen auch unter einem latenten Bedrohungsgefühl leben.

• Gleichzeitig gehen Bindungen zu größeren ehemals vertrauten Systemen verloren. Firmen und andere Systeme verändern so schnell ihre Bindungskultur und ihren psychologischen Vertrag. Diese ungeschriebenen Abmachungen zwischen Firmen und Menschen (etwa »Wenn du gut arbeitest, kannst du immer bei uns bleiben, hast immer einen Arbeitsplatz«) werden heute zu häufig gebrochen. Firmen, die auch immer eine Gemeinschaft von Menschen darstellen, werden wie eine Ware behandelt, als Ganzes gekauft und verkauft, wechseln die Orientierungspunkte der Führung. Oder sie werden von Managergruppen (z. B. VW oder Deutsche Bank) übernommen, die verantwortungslose Praktiken zulassen oder sogar aktiv unterstützen. Dies nimmt den Menschen Sicherheit und Bindungsgefühl (vgl. Mohr 2015).

• Die Unterschiede zwischen Arm und Reich führen zu neuen Verwerfungen in den Gesellschaften. In bestimmten Teilen der Welt – etwa in Südamerika – ist sogar Menschenraub und Kidnapping zu einem alltäglichen Business geworden. Gated Areas, abgezäunte Gelände für Menschen mit Wohlstand, charakterisieren das Leben schon in vielen Ländern.

• Menschen werden heute älter als früher. Einerseits stellt dies höhere Anforderungen an die Gesundheit, auch an die mentale Aktivität. Früher wandten sich alte Menschen der Religion zu. In Indien ist es Tradition, das letzte Lebensdrittel der Spiritualität zu widmen. Die traditionellen Religionen haben aber ihre Attraktivität verloren. Gesucht werden neue Orientierungen.

Es gibt also genügend Gründe, sich mit Resilienz, dem konstruktiven Umgehen mit widrigen Umständen, zu befassen und sich darauf vorzubereiten. Dies ist jedenfalls besser als vordergründig als angepasstes Glied in der Konsum-, Arbeits- und Freizeitindustrie mitzuspielen und dann darüber zu klagen. Dieser Hintergrund macht auch die Einbettung der Resilienz in den gesellschaftlichen Kontext, also das Systemische der Resilienz, deutlich. Ein einseitig individuelles Verständnis des Begriffes Resilienz – im Sinne der Individualisierung gesellschaftlicher Probleme – muss kritisiert werden (z. B. Gebauer 2015). Details dazu später.

Resilienz lernt man nicht im Wellness-Hotel

Auf das Thema der Resilienz sind Entwicklungspsychologen gestoßen, als sie sich mit der Frage beschäftigten, wann sich Kinder selbst unter widrigen Umständen gut entwickeln. Mittlerweile gibt es eine Reihe großer Studien, wie beispielsweise die Kauai- Studie, die Mannheimer Risikostudie, die Bielefelder Invulnerabilitätsstudie oder die Freiburger Resilienzstudie. Die Ergebnisse der Freiburger Resilienzstudie wurden von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung auch zur allgemeinen Umsetzung zusammengefasst (BZgA 2009). Man registrierte, dass Kinder, die unter widrigen Umständen leben, etwa durch Probleme der Eltern oder allgemeine soziale Probleme, sehr unterschiedlich gut klarkommen. Hier interessierten vor allem die Kinder, die sich »resilient«, also robust gegenüber widrigen Bedingungen, zeigten und sich trotz schwieriger Umstände gut entwickelten. Die amerikanische Pionierin der Resilienzforschung, Emmy Werner, beschäftigte sich in einer Studie auf der hawaiianischen Insel Kauai mit der Frage, warum sich bestimmte Kinder trotz einer Vielzahl von Risikofaktoren und entgegen aller gängigen Annahmen zu kompetenten und erfolgreichen Erwachsenen entwickelten (Werner 1993, 2000).

Gründe für diese scheinbare Unverwundbarkeit wurden zunächst vorrangig in den Persönlichkeitsstrukturen der Kinder gesucht. Man forschte nach einem Persönlichkeitsfaktor Resilienz. Da man diesen aber nicht fand, rückte die Resilienzforschung von diesem Verständnis sehr bald ab und interpretiert die Resilienz heute als dynamisches, veränderbares und durchaus auch entwickelbares Konstrukt (Masten / Reed 2002). Inzwischen legt man ein multifaktorielles Geschehen zugrunde. Sowohl soziale und kommunikative Verhaltensmuster als auch systemisch-konstruktivistische Kompetenzen werden betont. Also zum Beispiel, ob man in der Lage ist, einem Ereignis eine Bedeutung zu geben.