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Thomas Mulitzer

TAU

Roman

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Alle Figuren und Handlungen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Ereignissen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01095-5

Copyright © 2017
by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien

Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Christine Fischer
Unter Verwendung einer Grafik von: Shutterstock/Nithid
Lektorat: Paul Maercker
Satz und typografische Gestaltung: Ekke Wolf, www.typic.at

In das erste Buch, da schreibt man alles hinein.
Thomas Bernhard

Inhalt

ERSTER TAG

ZWEITER TAG

DRITTER TAG

VIERTER TAG

FÜNFTER TAG

SECHSTER TAG

SIEBENTER TAG

ACHTER TAG

NEUNTER TAG

ZEHNTER TAG

ELFTER TAG

ZWÖLFTER TAG

DREIZEHNTER TAG

VIERZEHNTER TAG

FÜNFZEHNTER TAG

SECHZEHNTER TAG

SIEBZEHNTER TAG

ACHTZEHNTER TAG

NEUNZEHNTER TAG

ZWANZIGSTER TAG

EINUNDZWANZIGSTER TAG

ZWEIUNDZWANZIGSTER TAG

DREIUNDZWANZIGSTER TAG

VIERUNDZWANZIGSTER TAG

FÜNFUNDZWANZIGSTER TAG

SECHSUNDZWANZIGSTER TAG

SIEBENUNDZWANZIGSTER TAG

DANKSAGUNG

ERSTER TAG

Das Schreiben besteht ja nicht nur aus dem Hirnwichsen und den Bewegungen der Hand, aus dem ewigen Grübeln, dem Zermartern und Zweifeln, es besteht wirklich nicht nur aus der stolzen Einsamkeit und dem Flüchten in eine Fantasiewelt. Das Schreiben ist nicht nur das: die Unlust, zum Bruttosozialprodukt dieses Landes etwas anderes beizutragen als einen in die Luft gereckten Mittelfinger. Auch besteht es nicht aus dem Nachforschen und Häuten, dem Hinrotzen von Gespinsten und dem maßlosen Verstümmeln unverfälschter Unschuld, wie wenn man einem Neugeborenen noch im Kindbett beide Arme abhackt. Jede Seite dampft vor Schweiß, jeder Satz ist fleischgewordenes Talent, und die Spur des Rotstifts gleicht den Spritzern frischen Babybluts. Aus der Gier nach Ruhm allein kann das Schreiben auch nicht bestehen, nicht aus dem, dass ich sage »Ich bin Schriftsteller!« und wochenlang vor weißen Blättern hocke. Das Schreiben ist ja nicht nur eine Kur für den Geist, für das Begreifen und Sinnieren. Das Schreiben muss auch mit außergeistigen Tatsachen rechnen und mit lästigen Möglichkeiten wie der Realität. Mein Vorhaben, das Überschneiden des Lebensweges meiner Großeltern mit jenem eines lungenkranken Literaten zu erfassen, zwingt mich dazu, mich mit solchen Tatsachen und Möglichkeiten auseinanderzusetzen. Meine elfenbeinerne Umgebung zu verlassen und aufs Forschungsfeld zu wandern. Schichten freizulegen und die Funde sauber zu vermessen. Wie wenn man ein Dinosaurierskelett ausgräbt. Und mit Schichten meine ich den Schutt der Zeit, der sich über alles legt wie im Herbst Blätter auf das Gras und dann im Winter Schnee und Eis. Und es kann ja sein, dass das Außergeistige, also das, was außerhalb unseres Wahns liegt, außerhalb des fiktionalen Rahmens tuberkulöser Aufzeichnungen, dass diese jahrzehntelange Vermutung jahrzehntelange Wahrheit ist. Es kann ja durchaus sein, dass das Schreiben im Leben stattfindet und nicht umgekehrt.

ZWEITER TAG

Ich wollte mit dem Auto fahren. Aber Professor Lavie meinte, da könne der Archäologe die Kelle ja gleich ins Parkett seines Wohnzimmers rammen. Also bin ich zum Bahnhof gegangen und hab den Elfuhrzehnzug genommen, gezwungenermaßen. Die Kopfhörer waren schon eingestöpselt, da besann ich mich auf den Zweck dieses Unterfangens, nahm sie ab und schaute mich um. Die Menschen im Großraumabteil schienen normal auszusehen. Studenten, die übers Wochenende nach Hause fuhren, Familien, Pensionisten. Nichts Auffälliges. Aber noch waren wir in Stadtnähe, noch stiegen Leute aus und zu, und der Flachgau zog, wie es sich für ihn gehört, flach am Fenster vorüber. Also wartete ich ab, schlief sogar ein wenig. Die Stopps wurden seltener und die Aussicht zunehmend unwirtlich. Ich hatte das Buch dabei, und als ich es aus dem Rucksack nahm, kroch ein Frösteln über meinen Rücken. Der Himmel war weg, Felswände auf beiden Seiten. Jetzt überschreiten wir die Grenze, dachte ich, und so fühlte es sich auch an, wie der Eintritt in ein anderes Land, ohne Sonne oder Gastlichkeit. Die Gleise verliefen dicht am Gestein vorbei, ich hätte die verdreckten Grasbüschel darauf von meinem Fenster aus berühren können, auf der anderen Seite brodelte der Fluss. Rechts und links nichts als Kälte. Wie er es beschrieben hatte. Ich fühlte ein unbehagliches Grollen in mir aufsteigen und ein Gefühl der Verbundenheit mit einem Toten, der dieselbe Reise vor über fünfzig Jahren antrat. Mir war schlecht. Ich rang nach Atem. Dann stieß ich auf, und es ging besser. Nach zehn Minuten ließen wir das Gebirgsmassiv hinter uns, und die Sonne schien, als wäre nichts geschehen.

Mir schräg gegenüber saß ein Mann, der eine Wurstsemmel aß. Ich versuchte, eine Vulgarität in dieser scheinbar alltäglichen Handlung zu erkennen, ein Schlingen, Stopfen oder Würgen, irgendeinen primitiven Aspekt des In-die-Semmel-Beißens, ein wüstes Fressen oder Schmatzen, aber vergebens. Kein viehisches, nationalsozialistisches, katholisches Gebaren trat hervor. Er war ein Mann, und er aß eine Wurstsemmel. Nichts weiter.

Am Bahnhof fühlte ich mich seltsam heimisch. Die Trafik, in der ich nie Zigaretten gekauft, das Bahnhofsrestaurant, in dem ich nie gegessen, die Menschen, die ich nie gekannt hatte. In Gedanken war ich kurz weit fort, in irgendeiner durchkreuzten, abgehakten Großstadt. Dann wieder zurück. Gestrandet am Kap des Heiligen Vinzenz kletterte ich die Böschung hoch. Das Ende der Welt ist gleichzeitig ihr Anfang. Mein Großvater konnte mich nicht abholen, weil mein Onkel ihm das Autofahren verboten hatte, was er ganz und gar nicht verstehen konnte, war er doch sein Leben lang – bis auf zwei, drei rauschbedingte Abstürze in Gebirgsbäche – völlig unfallfrei gefahren. Also nahm ich den Bus. Im Innergebirg verkehren die öffentlichen Verkehrsmittel in ausgedehnteren Intervallen als anderswo, nicht weil die Uhren hier langsamer laufen würden, sondern weil es nichts gibt, wohin man fahren könnte. Die Leute fahren mit dem Auto zur Arbeit und mit dem Auto nach Hause, sie fahren mit dem Auto zum Wirten und mit dem Auto nach Hause. Und die Kinder werden in der Früh in einen Bus gezwängt und in die größeren Nachbarorte verfrachtet, wo man versucht, Wissen in ihre Köpfe zu stopfen. Zu Mittag oder am Abend, je nachdem, wann die Köpfe gefüllt sind, werden sie zurückgekarrt, die Finger voller Filzstiftstriche und die Achseln sauer dünstend. Dazwischen kräht ab und zu ein Hahn, und die Alten zetern auf der Hausbank.

Die Wartezeit von fünfundvierzig Minuten verbrachte ich im Café auf der anderen Straßenseite. Vom Fenster aus konnte ich die braune Suppe von einem Fluss sehen, die jeden Abfall mit sich reißt und an die Ufer ferner Städte spült. Treibholz, Plastikflaschen, Ratten. Ich trank ein kleines Bier. Auch am Tresen tranken sie Bier, obwohl erst früher Nachmittag war. Der vertraute Klang des Dialekts machte mir die Männer augenblicklich sympathisch. Ich hörte ihnen zu, aber ich gehörte nicht dazu. Ich vertiefte mich ins Buch. Von einer Blutspur las ich und von Staub am Ärmel, von Brotbrocken und Schnee. Im Café war es schwül wie in einem Schweinebauch. Die Kellnerin hielt den Organismus am Leben, indem sie Bier zu allen Zellen pumpte. Die Männer lachten, wie man nur lachen kann, wenn man untertags schon angetrunken ist und die nächsten Tage ohne Verpflichtungen weitertrinken kann. Ich war ein Eindringling in diesem Mikrokosmos, nur ein Virus auf der Durchreise. Im WC hatte jemand ins Pissoir gekotzt. Ich zahlte und ging. Schwemmgut, das flussaufwärts treibt, ist ein schlechtes Omen.

Der Bus überquerte die Ache. Schon von Weitem sah ich das Krankenhaus, wo sie im Winter den verunglückten Skifahrern reihenweise die Füße absägen und die Ordensschwestern dem Leitspruch ihres Schutzpatrons folgend Liebe in die Tat umsetzen. Die Liebe der Ordensschwestern bekamen über Jahre hinweg auch die Schülerinnen der angeschlossenen Haushaltungsschule zu spüren, die im Internat jeden Abend das Nachthemd hochheben mussten, um zu beweisen, dass sie keine Unterwäsche trugen. Dabei wurden ihre Vaginen penibel auf Pilz- und andere Infektionen untersucht. Auch das Schlafen auf dem Bauch war strengstens verboten, da durch Reibung an der Matratze sexuelle Erregung ausgelöst werden konnte. Als ich Jahre zuvor in diesem Krankenhaus meinen Zivildienst geleistet hatte, trugen wir aus Protest keine Unterhosen, um in Kombination mit der weißen Dienstkleidung einen bleibenden Eindruck bei den liebestollen Nonnen zu hinterlassen. Die alte Lungenheilanstalt thronte noch immer am Fuße des Berges. Im Gegensatz zu früher siechten die Kranken nicht mehr in einer halbverfallenen Liegehalle, sondern vegetierten in modern gestalteten Räumlichkeiten dahin, die mit allen Annehmlichkeiten ausgestattet waren, die sich die Todgeweihten des 21. Jahrhunderts nur wünschen konnten. Kabelfernsehen bis zum allerletzten Augenblick. Verrecken am Puls der Zeit.

Dem Schatten des Heukarecks entkommen, tauchte der Bus in den nächsten, noch dunkleren Schatten ein. Der Tiefgraben führt vom Luftkurort nach Weng. Die Straße war gerade breit genug für den Bus und zog sich wie eine vernarbte Stichwunde durch die Landschaft. Weng kommt von wenig. Und viel darf man sich wahrlich nicht erwarten, wenn man die Reise ins Hinterland des Innergebirgs auf sich nimmt. Ich war mit wenig aufgewachsen und das Wenige hatte mir nie gereicht. Jetzt kam ich zurück, mit weniger in den Händen als bei meiner Abreise. Ich stieg aus dem Bus in die frische Alpenluft und hörte den Wasserfall plätschern. Weng, Heimat hasserfüllten Herzens.

Das Zimmer war klein, aber nicht ungemütlich. Vom Fenster aus konnte man den Dorfplatz sehen, die Kirche und die Berge. Es lag noch kein Schnee. Das Gasthaus war seit über dreißig Jahren geschlossen, in den Nullerjahren wurde es renoviert und ausgebaut, Wohnungen wurden an Ärzte und Krankenschwestern vermietet, die Schankanlage und die Musikautomaten verkauft. Ich wohnte im selben Stock wie mein Großvater, in der kleinsten Wohnung des Hauses, ein Zimmer, ein Vorraum mit Küchenzeile, daneben Bad und WC. Er hatte das Bett mit einem frischen Laken überzogen und Staub gesaugt, und das, obwohl er bald neunzig wurde. Den Fernseher, ein altes Röhrengerät, hatte er extra aus dem Keller nach oben getragen. Wir saßen in seinem Wohnzimmer und tranken Bier. Als ehemaliger Wirt ließ er keine Gelegenheit aus, Bier aufzutischen. Zuerst Bier, später Cognac.

»So schlecht kann das nicht sein. Schau mich an, ich lebe immer noch.«

Wenn ich meinen Großvater sah, freute ich mich. Es war dieselbe Freude, die mich als Kind beim Dreiradfahren durch den Tanzsaal hatte lachen lassen. Seitdem meine Großmutter gestorben war, lebte er allein. Er trug seit Jahren dieselben Hemden, war aber immer ordentlich gekleidet und eine stattliche Erscheinung. Bis auf seine Zeitung und zwei Mahlzeiten am Tag inklusive der passenden Getränke brauchte er nichts.

»Das zahlt sich alles nicht mehr aus. Ich müsste doch schon längst tot sein, eigentlich. So wie es die Zigeunerin vorausgesagt hat. Fünfundsiebzig wirst du, wenn’s gut geht sechsundsiebzig, mit mehr darfst du nicht rechnen. Bin schon über zehn Jahre zu lange hier, warum auch immer.«

Das Gute an meinem Großvater war, dass er Dinge, die ihn nicht störten, hinnahm, ohne sich lange damit zu beschäftigen. Ich hatte ihn vor einer Woche angerufen und gefragt, ob die kleine Wohnung noch leer stehe. Ich sagte, ich brauche eine Auszeit vom Leben in der Stadt. Er fragte mich nicht weiter aus, sondern sagte nur, dass ich willkommen sei. Also fuhr ich los.

Nach dem Cognac lenkte ich das Gespräch ungeschickt auf den Autor. Wie das damals gewesen war, als er im Stüberl saß und als dann das Buch heraus kam. Mein Großvater schaute mich verwundert an. Ich fragte mich, ob er mich verstanden, ob er mich überhaupt gehört hatte. Ich wartete auf eine Reaktion, eine Schimpftirade, Verwünschungen, einen gehässigen Monolog. Ich wartete lange – er schwieg.

Weng war mir düsterer in Erinnerung. Als Kinder diente uns das Gasthaus als riesiger Spielplatz, aber die Treppe in den Dachboden, die mit Gerümpel vollgestellten Zimmer und die Gasthaustoiletten jagten meinen Geschwistern und mir immer Angst ein. Meine Lieblingsbeschäftigung war es, mit dem Dreirad durch den leeren Tanzsaal und das Vorzimmer zu fahren. Als ich das erste Mal »Shining« sah, fühlte ich mich sofort in meine Kindheit zurückversetzt, ich hatte zwar keine toten Zwillingsschwestern gesehen, aber meine Cousinen waren schrecklich genug. Am unheimlichsten war der Keller. Da gab es den Kohlenraum, die Waschküche, unverputzte Gewölbe, kalte Mauern und einen Fitnessraum mit Bildern an den Wänden, die entblößte Männer mit gigantischen Muskeln zeigten. Wir durften uns überall frei bewegen, aber nur selten trauten wir uns, in unbekannte Regionen des Hauses vorzudringen. Während unsere Eltern im Stüberl Kaffee tranken, erfuhren wir zum ersten Mal in unserem Leben, was Freiheit bedeutet, mit all ihren Vor- und Nachteilen. Draußen gab es einen Zauberwald und von Herzen böse Kinder. Darum war Weng für mich nie die ländliche Idylle, mit der auf den bunten Ansichtskarten geworben wurde. Weng war das Gasthaus, Weng waren meine Großeltern. Erinnerungen sind trügerisch. Im Lauf der Jahre verwischen die Bilder in unseren Köpfen und vermengen sich mit Gefühlen, Träumen und Befangenheiten. Schablonen schieben sich zwischen uns und die Vergangenheit, falls es so etwas wie eine Vergangenheit überhaupt gibt. Wer weiß denn schon, was wirklich passiert ist? Die Fotos sind vergilbt, und nichts ist je abgeschlossen. Ich ging nach draußen, es roch nach Herbst.

Mein Vorhaben war streng geheim, mehr oder weniger. Professor Lavie war sicher schon vor längerer Zeit der Einfall gekommen, mich nach Weng zu schicken. Ob die Ergebnisse zufriedenstellend sein würden beziehungsweise ob es überhaupt Ergebnisse geben würde, konnte ich ihm nicht versprechen. Fakt war, dass ich tatsächlich eine Auszeit brauchte. Und das würde ich auch sagen, wenn man mich fragte, warum ich in Weng war, dass ich Urlaub auf dem Land mache und meinem Großvater unter die Arme greife. Professor Lavie hatte mir aufgetragen, nicht aufzufallen. Er verlangte von mir detaillierte Aufzeichnungen über meinen Aufenthalt. Eine präzise Beschreibung der Begegnungen und Gespräche, der Erzählungen meines Großvaters, meiner Gedanken. Einen Bericht über alles, was ich in Erfahrung bringen konnte. Die Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft. »Schreiben Sie alles auf, es kann alles von Bedeutung sein.«

Ich musste die Sache langsam angehen. Einerseits wollte ich meinen Großvater nicht unnötig mit Fragen nach Ereignissen belasten, die vor einem halben Jahrhundert passiert waren, andererseits war es auch nach allgemeinen Gesichtspunkten ratsam, in dieser Sache keinen Staub aufzuwirbeln. Die Bewohner von Weng waren überaus empfindlich, wenn es um die Geschichte und Geschichten ihres Dorfes ging, und neigten zu Argwohn gegenüber Fremden. Und das war ich wohl, ein Fremder, obwohl ich in der Nähe aufgewachsen und als Kind immer wieder zu Besuch gewesen war. Wer in die Stadt zieht, wird ein Fremder, ist wahrscheinlich immer schon einer gewesen. Und die bösen Kinder waren jetzt erwachsen.

Professor Lavie war nie in Weng gewesen, aber er hatte darüber gelesen und ich hatte ihm in ausführlichen Sitzungen davon erzählt. Dass der Autor Gast im Wirtshaus war, dass er mit einem Mofa kam und meine Großmutter glaubte, er sei ein Vorarbeiter oder Polier der Firma, die im Tiefgraben eine Baustelle betrieb. Dass er immer im Stüberl saß und nie im Saal. Dass das Buch ein Schock für die Leute war, oder genauer gesagt nicht nur das Buch selbst, sondern auch die Reaktionen darauf. Schaulustige reisten an, um zu erkunden, wo die Protagonisten gewohnt hatten, um die Wirtin zu sehen, die sie in meiner Großmutter gefunden zu haben glaubten. Es gab noch andere Wirtshäuser im Ort, aber die waren schwieriger zu finden oder mussten in der Zwischenzeit schließen. Da gab es die Studentengruppe, einer lenkte unten ab, die anderen gingen rauf und stöberten in den Zimmern. Da gab es den Pfarrer aus dem Nachbarort, der mit dem Bischof beim fünften Bier saß, mit dem Finger auf meine Großmutter zeigte und sagte: »Das ist die Wirtin aus dem Buch.« Der genaue Wortlaut ihrer Antwort ist nicht überliefert, aber es ging in Richtung: »Wer Kinder fickt, sollte nicht mit Steinen werfen.«

Um sechs Uhr verließ ich das Haus. Ich ging in den Wald und kletterte wie ein Kind zwischen Baumstümpfen herum. Zuerst folgte ich dem Rundweg, dann bog ich ins Dickicht ab und nahm die Fährte von etwas auf, das ich nicht einordnen konnte. Ich stieg einen Abhang hinauf und stapfte durch knöcheltiefes Laub. Der Wald wurde lichter, dutzende Bäume waren gefällt worden, der Zauberwald meiner Kindheit war zu einer traurigen Ansammlung kranker Lärchen geschrumpft. Kurz vor der Anhöhe rutschte ich aus und konnte mich gerade noch an einem Grasbüschel festhalten. Mit beschmutzten Händen kehrte ich um. Der Abend kommt schnell in dieser Jahreszeit. Der Berg deckt Weng mit seinem Schatten zu, würde es schier mit seiner Finsternis ersticken, wären da nicht die Laternen, die mit ihrem blassen Neonlicht den Weg ins Dorf erhellen. Aus dem Buswartehäuschen sah ich die Glut von Zigaretten leuchten, parkende Roller und Fahrräder standen auf der Straße und am Gehsteig. Gelächter und das Klimpern von Flaschen. Ein provisorischer Bretterverschlag war der Treffpunkt der Jungen, dort kamen sie am Samstagabend zusammen, etwas anderes gab es nicht. Im Wirtshaus tranken ihre Eltern und Großeltern, und dort würden sie selbst irgendwann trinken, aber jetzt saßen sie noch in Anoraks in diesem dünnwandigen Häuschen mit ihren Bierflaschen und Zigaretten und jugendlichen Liebeleien. Beim Vorbeigehen schaute ich weg. Als mein Blick auf den Wegrand fiel, dachte ich an mein erstes Mal.

DRITTER TAG

Ein guter Tag beginnt mit einem guten Frühstück. Ich frühstücke nie.

Dass er am Sonntag die Heilige Messe besuchte, war bei meinem Großvater wie bei den meisten Menschen nicht Resultat einer tiefen Überzeugung, sondern vielmehr eine Angewohnheit, die er nicht mehr ablegen konnte. Je älter man wird, desto stärker nimmt einen der Glaube, mit anderen Worten: die Angst vor dem Tod, in Beschlag. Ich musste mit, da gab es keine Widerrede. Die Bänke waren hart, und ich konnte meine Beine nur umständlich zwischen dem Rest meines Körpers und der vorderen Sitzreihe verstauen. Ergonomische Sitzmöbel sind ein Fremdwort in der katholischen Kirche, denn ihrer Auffassung zufolge ist der Mensch zum Leiden geboren. Das wird nicht nur in den Kreuzigungsszenen an den Wänden deutlich, sondern zeigt sich auch an der fehlenden Heizung beziehungsweise, falls vorhanden, der Weigerung, diese einzuschalten. Die Kirche braucht keine weltlichen Annehmlichkeiten, denn sie hat Gott. In Ihm werden die Herumirrenden Obdach finden, die Traurigen Trost und die Fröstelnden werden gewärmt werden. Ich bezweifelte, dass all die lebendig verbrannten Heiden und Hexen sich nach Wärme gesehnt hatten. In der Kirche allerdings fanden sie wahre Herzenswärme. Bevor ich am Scheiterhaufen brannte, fror ich lieber.

Der Pfarrer war ein bärtiger Bergfex. Er trug die Kleidung eines Geistlichen, aber darunter war er Alpinist, Schweinehirt und Kuhtreiber durch und durch. Als emeritierter Biologieprofessor nutzte er den Rahmen der sonntäglichen Zusammenkunft grundsätzlich dazu, den Kirchgängern einen Vortrag über die Flora und Fauna des Innergebirgs zu halten. Er referierte über Fakten aus dem Tierreich und schaffte es am Ende manchmal nur mit Mühe, seine Darlegungen wie ein Gleichnis aussehen zu lassen und einen Bezug zum Glauben herzustellen. Hinter seinen Hallelujas und Hosannas verbargen sich Lockrufe: »Kuadei, kuadei!«, »Meck, meck, meck!«, »Puli, puli, puli!« Und das vielstimmige Amen der versammelten Gemeinschaft hallte als Muhen, Blöken und Gackern in meinen Ohren wider.

Sie nannten ihn den Schweindlpfarrer. Der Grund dafür war nicht der naheliegende, der Spitzname rührte vielmehr daher, dass er auf seinem Bergbauernhof eine alte Schweinerasse züchtete und diese somit vor dem Aussterben bewahrte. Die zähen Urzeitviecher sind um einiges widerstandsfähiger als ihre modernen Artgenossen, nur so können sie auf dem Hof des Pfarrers überleben. Neben den Schweinen züchtete er die Alpine Steinziege, die ohne seine Anstrengungen ebenfalls nicht mehr existieren würde, das Alttiroler Berghuhn sowie eine unbestimmte Anzahl seltener Vögel und Insekten. Unterstützt wurde er dabei von der Pfarrersköchin, seiner Kameradin im Geiste und – wie manche behaupteten – im Bett.

An diesem Sonntag sprach er über den Trauerschnäpper. Dieser Singvogel brütet in Höhlen oder künstlichen Nistkästen, die in Parks oder Obstgärten für ihn angelegt werden. In manchen Gebieten ist das Angebot an natürlichen Nistmöglichkeiten so gering, dass er ganz auf die Fürsorge von Ornithologen angewiesen ist. Ohne deren löbliche Arbeit würde der Trauerschnäpper womöglich aus unseren Breiten verschwinden. Bauet Gott ein Nest, und Er setzt sich bereitwillig hinein. Seinen Gesang wiederholt er bis zu siebentausend Mal am Tag: »Bit bit bit bit wütsi wütsi tsi tsi tsi, bit bit bit bit wütsi wütsi tsi tsi tsi, bit bit bit bit wütsi wütsi tsi tsi tsi.« Der Schweindlpfarrer legte sich voll ins Zeug. Mein Großvater wurde zunehmend unruhig, früher hätte es so einen Singsang in der Kirche nicht gegeben. Auch ich konnte nicht still sitzen und rutschte von einer Position in die andere, um eine Stellung zu finden, in der mein Rücken nicht schmerzte. Mea culpa, zum Leiden geboren. Wohl kaum einer hätte sich am Sonntagmorgen aufgerafft und seinen müden Körper zu einem ornithologischen Vortrag geschleppt. Welch geschickte Taktik war es, neben seiner umfassenden Forschungs- und Lehrtätigkeit Priester zu werden, da geht einem das Publikum nie aus, denn in die Kirche kommen die Leute nicht, weil sie wollen, sondern aus Gründen, die sie längst vergessen haben oder sich gar nicht erst bewusst machen möchten.

Er sprach noch immer angeregt von Vögeln. Und genau in diesem Moment kamen – auch durch den Anblick der Jugendlichen am Abend zuvor – Bilder in mir hoch, die mich wie meine Kindheitserinnerungen für immer an Weng binden würden. Bilder einer glühenden Mainacht in den Nullerjahren, Bierzeltrausch und funkelnde Sterne, ein klassischer Exzess jugendlichen Leichtsinns. Julia war Marketenderin des Schützenvereins und schenkte aus einem kleinen Holzfass schwarz gebrannten Obstler aus. Wir hatten einen Trichter dabei und tranken Bier auf dem Feld hinter den Dixi-Klos. Sie war einen Kopf kleiner als ich und hatte die vollen Lippen von Frauen, die mit ihrem Schmollmund alles bekommen, was sie sich in den Kopf setzen. Ihre Haare waren schwarz und lockig, die kleinen Brüste prall im Dirndl, das nicht lang genug war, um ihre Knie zu bedecken, bunt und an der Taille straff geschnürt. Sie wirkte reif für ihr Alter, ihr Äußeres war ihrer Naivität um Jahre voraus – ihrem Wesen nach ein gefundenes Fressen für ältere Schürzenjäger, trotzdem gab sie mir den Vorzug, und alles dank eines Trichters aus der Abteilung für Gefahrstofflagerung im örtlichen Lagerhaus. Ich kannte sie vom Sehen, sie ging in die Hauptschule, ich ins Gymnasium. Wir waren fünfzehn, völlig ahnungslos und glaubten, die Welt gehöre uns. Die Konturen des Zeltes verschwammen mit dem Himmel, der Schnaps gab uns den Rest. Am nächsten Tag hatte ich nicht nur einen Mordskater, sondern auch Julias Telefonnummer in meinem gigantischen Mobiltelefon. Da ich den Trichter im Feld liegengelassen hatte, gab es einen Grund, erneut nach Weng zu fahren.

Der Pfarrer beschrieb das Federkleid des Trauerschnäppers in allen Details, das schwarz-weiße Gefieder des Männchens, die schlichte Zeichnung des Weibchens, den Schnabel, den Scheitel, den Schwanz. Der Flügelspiegel ist bei beiden Geschlechtern weiß, das Männchen ist besonders durch seinen weißen Stirnfleck zu erkennen. Bei Erregung zucken die Flügel und manchmal auch der Bürzel.

Am nächsten Abend fuhr ich mit meinem Moped zu Julia. Ich hatte Bier in meinem Rucksack, sie nahm ihr Holzfass mit. Das Feld war frisch gedüngt. Wir stiegen vorsichtig über den Mist und machten uns auf die Suche nach dem Trichter. Als wir ihn fanden, hielt sie ihn in die Höhe und ich schluckte ein Bier auf ex. Sie trank Schnaps. Wir hockten uns zwischen die Gülle und quatschten über den gestrigen Abend und triviale Themen, auf die Jugendliche ihr Dasein bauen und an die ich mich beim besten Willen nicht erinnern konnte. Nach dem vierten oder fünften Bier war die Sonne hinter den Bergen versunken. Ohne Vorwarnung steckte ich ihr die Zunge in den Mund. Sie schmeckte aufregend und feucht, ihr Speichel brannte in meinem Rachen, alles vermischte sich, Bier und Lipgloss und Schnaps und Angstschweiß und Pfingstrosen und Dünger und Orangenblüten, ich verlor mich im Strudel wie ein verrückter Kapitän, der sein Schiff bereitwillig ins Unwetter navigiert, das Auge fest am Fernrohr und ein wildes Grinsen im gischtumtosten Gesicht. Als ich ihre Brüste aus dem Dirndl murkste, griff sie nach dem Holzfass und nahm einen großen Schluck. Irgendwo bellte ein Hund. Zum Glück war es schon dunkel, denn der Anblick dieser Szene hätte uns bestimmt einen Mordsschrecken eingejagt, ihr die Bluse und das Höschen im Dreck, dazu mein Schwanz, mein zuckender Bürzel, und mir das splitternackte Mädchen mit den vollen Lippen auf der Wiese voller Dung. Ich drang in sie ein. Sie schrie, und ich zog ihn wieder raus.

Die Paarungszeit des Trauerschnäppers dauert von Mai bis Juni. Das Männchen steigt auf den Rücken des Weibchens und begattet sie, indem er seine Kloake auf die ihre presst. Über einen nicht ausstülpbaren Penis, der genau genommen kein Penis ist, sondern eine Ansammlung von erigierbaren Hautunebenheiten, fließt die Samenflüssigkeit des Männchens in den Abzugskanal des Weibchens. Der Akt ist nach wenigen Sekunden vorbei.

Sie trank einen Schnaps und noch einen, ich exte ein Bier, um ihr nicht in die Augen schauen zu müssen. Sie so sauweh und Blut und schöner vorgestellt und ich sorry und leider kein Kondom und was machen wir jetzt. Da schluckte sie den Schnaps runter und nahm meinen Schwanz in den Mund. Sie lutschte dran, als wäre er ein Wassereis mit Colageschmack, es tat weh und fühlte sich irgendwie auch gut an, so sicher war ich mir da nicht, aber ja, es fühlte sich bestimmt gut an. Erst als sie ihre Hände zu Hilfe nahm, zuerst die rechte, dann aus Ermüdung auf die linke wechselnd, kam ich. Sie ließ sich auf die Wiese fallen, ihre Knie und Unterschenkel waren schmutzig. »Jetzt brauch ich eine Tschick«, schnaufte sie.

Ich so wow und danke und Julia und dann war mein Kopf schon zwischen ihren Beinen. Das schien mir in dieser Situation das einzig Richtige. Ich strengte mich gewaltig an und versank erneut in diesem unbekannten Strudel, diesem Duftgemisch aus süß und sauer und bitter, und über allem schwebte der Geruch von Jauche.

Später fuhr ich mit dem Moped nach Hause und kapierte erst Wochen später, dass dieser kurze Moment der Vereinigung mein erstes Mal gewesen war. Ob es Liebe war? Ich hätte es damals nicht sagen können und konnte es auch heute noch nicht, Leidenschaft mit Sicherheit, Dummheit sowieso, aber das, was wir einander da geschenkt oder genommen hatten, am Wegrand im Dunkeln, als Unzucht zu bezeichnen, lag mir fern, schon alleine deshalb, weil moralische und sittliche Normen in der Pubertät keinerlei Geltung besitzen.

Der Trauerschnäpper gehört zur Familie der Fliegenschnäpper. Er harrt in seiner Sitzwarte und fängt Insekten im Flug, bevorzugt Fliegen, Schmetterlinge, Bienen und andere Hautflügler. Er schlägt sie so lange gegen einen Ast oder einen Stein, bis die Gliedmaßen abbrechen. Dann schluckt er den Kopf und den Leib hinunter. Die restlichen harten Bestandteile werden mit dem Kot ausgeschieden.

Da ich den Trichter ein zweites Mal vergessen hatte, musste ich erneut nach Weng. Ein Freund fuhr mit, ich hatte Schiss. Auf dem Feld konnten wir ihn nicht finden, also fuhren wir zu Julia. Ich klingelte. Ihr Vater machte auf. Ich fragte nach dem Trichter und nach Julia, oder umgekehrt, zuerst nach Julia, dann nach dem Trichter, er rief nach ihr, sie kam die Treppe runter, schaute mich kaum an und holte ihn aus der Garage. Ihr Vater stutzte und fragte, was wir denn mit dem Trichter vorhätten. Er konnte nicht verstehen, warum man, wenn man Durst hatte, das Bier nicht aus der Flasche trinken sollte.

Das Peinlichste war, dass ich mein Moped nicht zum Anspringen brachte und es die Einfahrt hinunterrollen lassen musste, mein schönes schwarzes Moped. Noch lange Zeit danach brachte ich den Geruch von Frauen mit Jauche in Verbindung. Und umgekehrt. Es dauerte Jahre, diese unglückliche olfaktorische Verknüpfung aufzulösen.

Bauet Gott ein Nest, und Er setzt sich bereitwillig hinein. Betet so oft, wie der Trauerschnäpper singt, und Gott wird euch erhören. Atemlos teilte der Schweindlpfarrer dem Chor mit, dass es nun an der Zeit sei, Gott mit Gesang zu erfreuen.

Ich verlor mich in der Maserung der Holzbretter vor meinen Knien, verschlief das halbe Vaterunser und schreckte auf, als ich die dröhnende Stimme des Pfarrers hörte.

»Der Friede des Herrn sei allezeit mit euch.«

Geblöke.

»Gebt einander ein Zeichen des Friedens und der Versöhnung.«

Die Herde rieb ihre Hufe aneinander. Mein Großvater gab grundsätzlich niemandem außerhalb der Familie die Hand, also schaute er an die Decke und tat so, als hätte er anderes zu tun und sei zu abgelenkt für dieses Ritual. Der Mann vor mir drehte sich um und streckte mir die Hand entgegen.

»Friede sei mit dir!«

Es war Julias Vater. Er schaute mich an, zuerst zuversichtlich in Erwartung eines festen Händedrucks, dann irritiert ob meiner Untätigkeit, sein Blick in meine Augen wandelte sich von gutmütig über verunsichert zu ablehnend, erst da gab ich ihm die Hand, und er wandte sich dem Nächsten zu. Meinem Großvater. Der schaute angestrengt hinauf ins Gewölbe und drehte sich halb um, bis der Händeschüttler aufgab und wieder den Worten des Pfarrers lauschte. Von da an konnte ich meinen Blick nicht mehr von der Halbglatze vor mir lassen. Ich verfolgte jede Bewegung seines Kopfes, mir schien, als würde er darüber nachgrübeln, woher er mein Gesicht kannte, als würde ihm jeden Moment einfallen, dass ich der Typ war, der seiner Tochter die Jungfräulichkeit genommen, ihre Bluse beschmutzt und ihren Ruf zerstört hatte. Sein Kopf zuckte merklich öfter als vor dem Friedensgruß.

Als uns der Schweindlpfarrer in den sonnigen Sonntagvormittag entließ, hatten sich meine Rückenschmerzen zu einer gefühlten mittelschweren Querschnittlähmung ausgeweitet. Ich bekreuzigte meine Stirn. Mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa.

Mein Großvater kochte Würstel. Er tischte Frankfurter mit Schwarzbrot auf, Kren und scharfen Senf. Dazu gab es Bier. Er wollte nicht wahrhaben, dass ich kein Fleisch aß.

»Das sind gute Würstel.«

»Mag schon sein.«

Ich tunkte das Brot in den Senf und dann in den Kren. Die Würstel schob ich meinem Großvater auf den Teller.

»Schmecken’s dir nicht?«

»Du weißt eh, dass ich das nicht esse.«

Er hielt inne.

»Ich hab bis jetzt nur einen Vegetarier gekannt, und der war ein Arschloch.«

»Den Onkel Ferdi?«

»Nein, den Hitler.«

Wir lachten. Beruhigend, wenn über achtzig Jahre Dasein auf diesem Planeten, noch dazu in diesem Dorf am Arsch der Welt, es nicht fertigbrachten, einem den Humor zu rauben.

»Lass es dir schmecken!«, sagte er und gab mir seine Brotscheiben.

Nach dem Essen legte ich mich aufs Bett und las im Buch des Autors, eine Stunde vielleicht, höchstens eineinhalb. Den Rest des Tages verbrachte ich im Keller.

Wenn man in diesem Land geboren wird, hat man naturgemäß eine Affinität zum Dunklen, Feuchten, Modrigen, man strebt nie nach oben, auch wenn es für Außenstehende so aussehen mag, sondern immer nach unten, tief, tief unten, die Leute steigen ja niemals Karriereleitern hoch, sie schürfen an ihrem Fundament und schaufeln ihr Grab, sie stecken ihren Kopf in ein Erdloch und lassen sich in den Arsch ficken. Unter Tage fühlen sie sich wohl, weich gebettet auf Finsternis und Schimmel, das ganze Land ein kollektiver Kohlenkeller, der sich vor der Sonne verschließt und die Probleme der Welt verkennt, ja ignoriert. Eine Hand umfasst die Bierdose, die andere tätschelt einen Kinderkopf. So döst das debile Volk der Katastrophe entgegen und verschläft jede Möglichkeit des Aufbegehrens. Und die Dörfer in den Tälern, all die Behausungen und Betriebsstätten und Wirtshäuser im Schatten der Berge dienen ihm als Unterschlupf und Schutz. In Niederösterreich müssen sie die Keller erst graben, hier ist die Landschaft selbst Keller. Sie bildet natürliche Mauern, Erdwälle, Berge und schroffes Eis, die Mentalität dient als Balken vor dem Tor. Menschen verschwinden und werden vermisst. Dann gibt es Menschen, die nie an der Oberfläche, das heißt im Krankenhaus, im Kindergarten, in der Schule waren und somit nicht verschwinden können, sie waren niemals da und werden nicht vermisst. Wenn ich durch Straßen voller Menschen gehe, gegen den Strom, dann frag ich mich, welcher der mir Entgegenkommenden solche Geister in sich trägt, durch welchen Kopf und welchen Schritt sie spuken. Sie sind da, aber man sieht sie nicht. Auch im Keller wachsen Pflanzen. Ganze Wälder wuchern in dieser alpinen Unterwelt, die sich mit massiven Felsen von der Öffentlichkeit abschottet. Hier gehen die Leute nicht, sie kriechen. Wie Kumpel in vertrackten Stollen beugen sie sich ihrem Schicksal, dem Wetter, ihrer Alkoholsucht. Gewissermaßen ist jedes Dorf in dieser Gegend eine Miniaturausgabe der Nation, ja der ganzen Welt. Es modert und die Fäulnis schwillt.

Ich hörte seine Stimme in meinem Kopf. Elendslange Verwünschungen, in direkte Reden gequetscht wie zu viel Fleisch in einen Kranzdarm. Ich schlug mir die Faust an die Schläfe und die Einbildung verflog. Im Keller gab es einen Raum mit riesigen Schränken, gefüllt mit Dingen, die bei der Renovierung des Hauses nicht weggeworfen worden waren. Ich suchte nach Fotos, Briefen, einem Tagebuch und fand einen Schatz. Früher standen im Tanzsaal leuchtende Jukeboxes, für Jahrzehnte der einzige Lichtschimmer in diesem tristen Tal. Als Kinder bekamen wir fünf oder zehn Schilling zum Einwerfen und spielten immer wieder die gleichen Songs. Mittlerweile waren die Jukeboxes verkauft. Die dazugehörigen Schallplatten wurden in Kisten und damals schon vergilbten Ledermappen verstaut und verstaubten nun in diesem Raum. Es mussten hunderte, wenn nicht tausende sein. Schwarzes Gold. Der erste Karton, den ich aus dem Schrank hob, bremste jedoch meinen Enthusiasmus: regionale Volksmusik und deutscher Schlager. Sicher waren auch hier vereinzelt Raritäten zu finden, vergriffene Gassenhauer und obskure B-Seiten von zugekoksten Schnulzensängern, aber auf diesem Gebiet war ich wahrlich kein Experte. Also nahm ich mir die nächsten Kisten vor, eine nach der anderen, und dann die in Leder gebundenen Sammelalben. Hier vor mir waren alle großen Hits von den späten Fünfzigern bis zu den Achtzigern. Von Fats Domino bis Madonna. Die meisten Platten waren nach Labelfarbe sortiert. Rot waren die Rolling Stones, grün die Beatles, jede Farbe ein anderes Universum.

Ich atmete Staub ein und musste husten. Vielleicht lag es an der stickigen Luft oder am Vinyl. Schallplatten werden aus Polyvinylchlorid hergestellt, einem starken Nervengift, das Krebs verursacht. Dieses narkotisierende Gas reizt die Augen und kann zu genetischen Schäden führen, betroffen sind insbesondere die Speiseröhre, die Leber, die Milz und die Knochen der Hand. Höchstwahrscheinlich gelangte, als ich die Türen öffnete, der im Schrank abgelagerte Feinstaub an die Luft und dann über die Nase und den Mund direkt in mein Hirn. Das Gift wirkte sofort.

Mein Großvater war kein Sammler, die Anhäufung der Schallplatten hatte pragmatische, wirtschaftliche Gründe. Die Neonboxen und die Musik lockten über Jahrzehnte hinweg Einheimische und Urlauber in den einzigen Tanzsaal des Dorfes. Liebhaber würden ein kleines Vermögen für die Sammlung hinblättern. Es gibt tatsächlich Leute, die ihr Leben mit massenhaft Gegenständen füllen, die sie nicht brauchen, die sie sich genau genommen gar nicht leisten und die sie aufgrund der Vielzahl nicht einmal angemessen genießen können, nur um ihrem Dasein einen fragwürdigen Sinn zu verleihen. Alles Gesammelte dient letztendlich als Staubfänger und Sammelplatz für Milben. Die Milben legen Kotballen und Eier in die Sammlungen und die Haut der Sammler, aus den Eiern schlüpfen Larven, die Larven verursachen Asthma, Fleckfieber und Krätze. Sechs Wochen nach der Infektion treten erste Bläschen auf, rote Pusteln und enorme Blasen, die Betroffenen verspüren starken Juckreiz, der zu Kratzwunden führt, später kommt es zu großflächigen Krusten und schmerzhaften Entzündungen. Wenn mehrere Furunkel nebeneinander aus dem Körper der Sammler wuchern, können sie zu einer gigantischen qualvollen Eiterbeule zusammenwachsen. Ohne einen chirurgischen Eingriff unter Vollnarkose wartet der sichere Tod.