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Ein Denkmal wird errichtet

Selbstverständlich war im Schubart-Gymnasium in Aalen, wo ich in den 1950er Jahren dem Abitur entgegenstrebte, von den Geschwistern Scholl und ihrem Freundeskreis, dem Widerstand der Weißen Rose die Rede. Das hatte Gründe in einer Zeit, in der man den noch kaum überwundenen oder überstandenen Nationalsozialismus lieber beschwieg als darüber zu sprechen. Das historische Ereignis gehörte quasi auch zur lokalen Geschichte, denn Ulm, der Heimatort von Sophie und Hans Scholl, war kaum 60 Kilometer entfernt. Auch der Generalfeldmarschall Rommel gehörte zum regionalen Erfahrungshorizont, und auch er galt als präsentabel, weil er auf Befehl Hitlers Selbstmord begehen musste. Ein anderer, der Schreinergeselle Georg Elser aus Königsbronn, das zwischen Aalen und Ulm liegt, wurde erst Jahrzehnte später als Widerstandskämpfer entdeckt und gewürdigt. Im Gegensatz dazu war der studentische Widerstand der Weißen Rose auch für die in Sachen Drittes Reich eher beklommenen und höchst unsicheren Studienräte der Nachkriegszeit sicheres Terrain. Die jungen Menschen der Weißen Rose waren Helden und ihr Mut war vom Unrechtsregime hart bestraft worden, das machte sie zu Vorbildern (oder wenigstens achtbaren Gestalten) in der keimenden Demokratie der gerade gegründeten Bundesrepublik.

Außerdem (das zu erkennen lag freilich noch weit außerhalb des Schülerhorizonts) wurde die Erinnerung an die Weiße Rose glänzend inszeniert und öffentlich gemacht. Inge Scholl, die ältere Schwester der hingerichteten Studenten Hans und Sophie Scholl, und Otl Aicher, Jugendfreund der Geschwister, der später Inge Scholl heiratete, stellten ihre Talente in den Dienst des Andenkens der Weißen Rose: Inge Scholl als Autorin des 1952 erstmals erschienenen und bis heute immer wieder neu aufgelegten Buches Die Weiße Rose und Otl Aicher als begnadeter Gestalter. Inge Scholl machte sich einen Namen mit der Gründung der Volkshochschule Ulm, Otl Aicher, der Bildhauerei studiert hatte, erregte als Graphiker und Designer Aufsehen mit der Gestaltung des Erscheinungsbildes der Olympischen Spiele 1972 und später des Zweiten Deutschen Fernsehens. Gemeinsam errichteten sie eine Stiftung zum Gedächtnis von Hans und Sophie Scholl. Diese Stiftung war Träger der Hochschule für Gestaltung, die als Legende in die Geschichte der frühen Bundesrepublik einging.

Die Hochschule für Gestaltung trat 1953 in Ulm ins Leben, und – das faszinierte mich mehr als der Mythos Weiße Rose –, sie knüpfte unmittelbar an die Idee des Bauhauses an, jener Kunst- und Design-Schule, die 1919 in Weimar im demokratischen Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg gegründet war, dann – 1925 – als Opfer reaktionären Kleingeistes nach Dessau auswich, schließlich auch dort vertrieben und 1933 in Berlin aufgelöst wurde, aber als international gefeierter Mythos weiterlebt. Die Ulmer Hochschule für Gestaltung war als Denkmal zu Ehren der jugendlichen Widerstandskämpfer Hans und Sophie Scholl und ihrer Freunde gedacht, die mit ihrem Leben das Engagement für eine humane Gesinnung bezahlen mussten, die alles im Kampf gegen das Unrechtsregime des Nationalsozialismus riskiert hatten. Konservative bürgerliche Gegner des NS-Regimes, die so dachten wie die Münchner Studenten, gab es natürlich, aber sie waren weniger mutig, trauten sich nicht, sich erkennbar zu verweigern oder gar zu protestieren, ganz zu schweigen von handelndem Widerstand.

1968, im Jahr der Studentenrevolution, kam das Ende: Das Projekt einer privaten, unkonventionellen, unabhängigen Hochschule scheiterte. Die Erinnerung an die Geschwister Scholl und den studentischen Widerstand der Weißen Rose war aber etabliert. Straßen und Plätze waren nach ihr benannt, die Stadt München vergibt den Geschwister-Scholl-Preis, Schulen tragen die Namen der Widerstandskämpfer der einstigen jungen Generation. Der Freundeskreis Weiße Rose hat seinen Platz in Lehrplänen und Festreden, die Geschwister Scholl sind wie das Mädchen Anne Frank zu Kultfiguren geworden, die als Opfer der Barbarei und Zeugen eines »anderen Deutschland« und einer besseren Welt verehrt werden.

Diktatur und Krieg

Die Nationalsozialisten hatten bei ihrem Machterhalt 1933 zwar nicht die Mehrheit der deutschen Wähler hinter sich, aber sie wussten durch eine raffinierte Herrschaftstechnik, die Lockung und Zwang wirkungsvoll verband, Gegner und Oppositionelle auszuschalten. Das waren Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberale und andere Demokraten, aber auch entschiedene Christen. Im Zeichen der NS-Rassenideologie waren Juden Unerwünschte, die erst diskriminiert, dann verfolgt wurden. Die Mehrheit der Deutschen ließ sich für die Ziele der Nationalsozialisten begeistern. Die Erfolge in der Außenpolitik, die Scheinerfolge in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, das Ende der Arbeitslosigkeit und der innere Frieden in einer »Volksgemeinschaft«, der im Deutschen Reich zu herrschen schien, bestätigten die Nationalsozialisten und festigten ihre Herrschaft. Dass die Gegner des Regimes in Konzentrationslagern und Gefängnissen verschwanden oder auswandern mussten, berührte viele Menschen, die der NS-Herrschaft insgesamt oder teilweise zustimmten, wenig: Sie hatten ja nichts mit ihnen zu tun und kannten sie nicht.

Hitler wurde vom Jubel der nationalen Aufbruchstimmung getragen, von einem Widerstand aus dem Bürgertum war keine Rede, der Rückzug ins Private oder in die »innere Emigration« (eine Haltung der Nichtbeteiligung, stillen Abwehr und Verweigerung) schien Regimekritikern als einziger Ausweg. Viele gaben sich auch der trügerischen Hoffnung hin, die NS-Herrschaft könne nicht lange dauern – wegen der Unfähigkeit ihrer Funktionäre, wegen der überspannten außen- und militärpolitischen Ziele, wegen des Auslands, das die Provokationen und die Exzesse der Nationalsozialisten nicht endlos hinnehmen werde.

Als diese Hoffnung sich als trügerisch erwies, hatten die Nationalsozialisten längst alle öffentlichen Einrichtungen nach ihrem Willen umgebaut oder beseitigt, den Rechtsstaat zerstört, einen Herrschaftsapparat aufgebaut, der als Staat im Staate funktionierte, mit eigenen Ausführungsorganen wie der »Schutzstaffel« (SS), der Geheimen Staatspolizei (Gestapo), dem System der Konzentrationslager, womit sie Gegner einschüchtern, einsperren und vernichten konnten.

Wichtiger noch als der Zwang waren aber die Lockungen des Regimes. Aufmärsche und Kundgebungen hielten den nationalistischen Jubel am Leben, Organisationen wurden gegründet wie »Kraft durch Freude«, die den Arbeitern bisher unbekannte Freizeiterlebnisse bescherten. Das bestätigte die Begeisterung über die »nationale Revolution« und stärkte die Hoffnungen auf eine glänzende Zukunft. Sinnbild für den Aufschwung waren die Autobahnen. Tatsächlich war das nationalsozialistische »Wirtschaftswunder« verursacht durch die Aufrüstung, die Vollbeschäftigung und Wachstum brachte. Und es war nicht, wie die Propaganda verkündete, eine menschenfreundliche Sozialpolitik, sondern Hitlers Wille zum Krieg, der die Entwicklung bestimmte.

Die nationalsozialistische Diktatur war keineswegs wie eine Naturkatastrophe über die Deutschen gekommen, wie viele gerne glauben wollten. Die NS-Herrschaft wurde schrittweise verwirklicht, und Hitler hatte sich die Ermächtigung zum Umbau von Staat und Gesellschaft vom Reichstag geben lassen: »Nun, Deutsches Volk, gib uns die Zeit von vier Jahren, und dann urteile und richte uns!« Was im Taumel der vermeintlich »nationalen Revolution« dem künftigen Diktator gewährt wurde, konnte aber nicht mehr zurückgenommen werden.

Mit Schlagworten wie dem, dass nun alle Deutschen in der »Volksgemeinschaft« vereint seien, wurden die wahren Absichten des Regimes vertuscht. Die Aufmärsche und Kundgebungen, die prunkvollen Reichsparteitage in Nürnberg, der Mutterkult, die Uniformen und Fahnen dienten einem Zweck: der Einordnung der Deutschen in ein System, in dem nur Befehl und Gehorsam galten. Junge Männer waren in der Hitlerjugend organisiert, es folgten der Arbeitsdienst und die Wehrpflicht, Mädchen mussten in den Bund Deutscher Mädel (BDM), junge Frauen hatten ein Pflichtjahr in der Land- oder Hauswirtschaft zu absolvieren oder dienten im weiblichen Arbeitsdienst. Für alle Bereiche des Lebens gab es eine nationalsozialistische Organisation, in der man Mitglied werden konnte oder der man zwangsweise über seinen Beruf angehören musste. Man wurde »ausgerichtet«, war »gleichgeschaltet«, wurde »weltanschaulich geschult« und war bis in die Freizeit hinein reglementiert.

Außenpolitische Ziele waren die Vergrößerung Deutschlands auf Kosten der Nachbarn, die Gewinnung von »Lebensraum«, die Vorherrschaft über andere Nationen. Schritte dazu waren die Annexion Österreichs 1938, dann die Zerschlagung der Tschechoslowakei. Hitler wollte Krieg, um weiteres Gebiet zu erobern. Und dieser Krieg wurde seit 1934 planmäßig vorbereitet. Im August 1939 wurde der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen, ein Nichtangriffs-Bündnis zwischen dem Deutschen Reich und der Sowjetunion. Die Welt staunte, denn Hitler hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass der Kommunismus der größte Feind des Nationalsozialismus sei. Der Vertrag hatte jedoch nur den praktischen Zweck, die Hände frei zu haben zum Überfall auf Polen und um die Beute mit Stalin zu teilen. Zwei Jahre später, im Juni 1941, wurde die Sowjetunion selbst überfallen.

Nach dem deutschen Überfall auf Polen im Herbst 1939 wurde Polen als Staat ausgelöscht. Die polnischen Westgebiete wurden Deutschland einverleibt, das Zentrum des Landes wurde als »Generalgouvernement« vom Deutschen Reich als eine Art Kolonie verwaltet und beherrscht. Aus den annektierten Westgebieten wurde die polnische Bevölkerung vertrieben, Juden wurden in abgeriegelte Wohngebiete (Ghettos) eingesperrt, ehe sie in die KZ und Vernichtungslager deportiert und dort ermordet wurden. Im April 1940 wurden Dänemark und Norwegen ohne Kriegserklärung besetzt, im Mai 1940 traf das gleiche Schicksal Belgien, Luxemburg und die Niederlande, die als neutrale Nationen überfallen und deutscher Herrschaft unterstellt wurden. Nach der Niederlage im »Blitzkrieg« wurde im Juni 1940 auch Frankreich von Berlin aus kontrolliert.

Für den Osten Europas, für die slawische Bevölkerung, die Tschechen und Polen, Serben und Kroaten, Ukrainer, Russen, Weißrussen, deren Länder in deutsche Hand fielen, galten nun die Grundsätze unbedingter deutscher Herrschaft, und die Methoden dazu waren Unterdrückung, Ausbeutung und Versklavung der Brauchbaren, Ausrottung der Unerwünschten. Die einheimische Bevölkerung wurde nur als Kriegsbeute, als Reservoir billiger Arbeitskraft betrachtet. Millionen Menschen wurden aus Osteuropa als Zwangsarbeiter nach Deutschland verschleppt.

Die rassistische Weltanschauung des Nationalsozialismus wurde zuerst gegenüber den Juden in Taten umgesetzt. In Deutschland lebten etwa eine halbe Million Menschen (0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung), die sich zur jüdischen Religion bekannten, nichts unterschied sie sonst von anderen Deutschen. Zuerst wurden sie aus Wirtschaft und Gesellschaft, aus ihren Berufen verdrängt, damit wurde Druck ausgeübt, dass sie Deutschland verließen. Die Maßnahmen der Diskriminierung erfolgten ohne Protest der deutschen Bürger, wurden, da formal »legal«, als neues »Recht« hingenommen. Im April 1938 mussten Juden ihre Vermögen deklarieren, ab Mai 1938 waren sie von öffentlichen Aufträgen ausgeschlossen, im Juli gab es einen besonderen Ausweis für sie, im August erging die Verordnung zur Führung der zusätzlichen Zwangsvornamen Sarah bzw. Israel. Zusätzliche Schikanen dachten sich Bürgermeister und Ortsgruppenleiter der NSDAP aus, wie die Schilder am Ortseingang »Juden unerwünscht« oder die Parkbänke mit der Aufschrift »Nur für Arier«, oder das Verbot für Juden, städtische Badeanstalten zu benutzen.

Im Krieg radikalisierte sich die Verfolgung. Ab Herbst 1939 war das besetzte Polen das Experimentierfeld des Vernichtungskampfes gegen Juden. Ab Herbst 1941 wurden die Juden in die besetzten Gebiete im östlichen Europa deportiert. Das wollten die Machthaber geheim halten, aber auch ohne Kenntnis dessen, was im Einzelnen geschah, wussten die Deutschen vom Judenmord oder ahnten ihn. Urlauber von der Ostfront erzählten, was sie gesehen hatten, die Stigmatisierung durch den Judenstern war unübersehbar, das Verschwinden von Nachbarn blieb nicht unbemerkt, die NS-Propaganda verhöhnte und verteufelte die Juden als Untermenschen – es war nicht möglich, von der Tragödie nichts zu bemerken. Die Ausrottung aller Juden Europas war beschlossen. Der Völkermord als Ziel der Rassenpolitik erreichte 19421944 den Höhepunkt, als in den Vernichtungslagern Juden aus ganz Europa mit Giftgas ermordet wurden.

Zu den Illusionen Hitlers und seiner Generale gehörte die Vorstellung, die Sowjetunion in einem »Blitzkrieg« wie 1939 Polen und 1940 Frankreich besiegen zu können. Der deutsche Angriff blieb jedoch schon im Winter 1941 vor Moskau stecken. Die Kriegserklärung an die USA besiegelte zur gleichen Zeit das deutsche Schicksal. Der Zweite Weltkrieg war für Deutschland längst verloren, obwohl die Wehrmacht noch in einzelnen Schlachten siegte. Im November 1942 war die sechste Armee der deutschen Wehrmacht, eine Viertel Million Mann, bei Stalingrad von sowjetischen Streitkräften eingekesselt worden. Am 2. Februar 1943 musste sie kapitulieren. 146 000 deutsche Soldaten waren gefallen, 100 000 gerieten bei Stalingrad in sowjetische Gefangenschaft. Die Niederlage war ein Ergebnis der militärischen Unfähigkeit und Sturheit Hitlers, der sich als »größter Feldherr aller Zeiten« feiern ließ, der sich nur mit liebedienerischen Generalen umgab, der sich nicht von militärischem Sachverstand beraten ließ und der dem Oberbefehlshaber der sechsten Armee, General Paulus, die Kapitulation verboten hatte, weil er von ihm und allen hohen Offizieren den »Heldentod« erwartete. Der Untergang bei Stalingrad sollte als Tragödie nach antikem Vorbild, als unausweichliches »Schicksal« dargestellt werden.

Hitler überließ dem Propagandaminister Goebbels die Aufgabe, die Ängste der Bevölkerung und die starke Beeinträchtigung der Siegeszuversicht zu bekämpfen. Goebbels erfüllte den Auftrag mit einer grandiosen Inszenierung am 18. Februar 1943. Er versetzte einige tausend ausgewählte fanatische Nationalsozialisten, die in den Berliner Sportpalast befohlen waren, mit seiner Rede in einen Taumel der Kriegsbegeisterung und stilisierte ihre minutenlang gebrüllte Zustimmung auf die Frage »Wollt ihr den totalen Krieg?« zum Gelöbnis der Nation an ihren Führer. Die Propaganda schlachtete das Ereignis aus als Bekenntnis der Deutschen zum Nationalsozialismus und als Durchhaltewillen. Ein anderes Ereignis am gleichen Tag wurde zur Sternstunde des Widerstands gegen das Unrechtsregime.

Tatbestand: Hochverrat und Feindbegünstigung