J'accuse ...

Inhaltsverzeichnis

Nach zwei Jahren. – Schatten der Vergangenheit. – Vision. – Die Allgemeinheit und die Fremdenlegion. – Die politische Seite. – Die menschliche Seite. – Der springende Punkt. – Ein unsauberes militärisches Geschäft. – Eine Frage, die unsere Zeit schon längst gelöst haben sollte. – Der leise Zweifel des Herrn Jaurès. – Quousque tandem...?


Zwei Jahre sind vergangen.

Kampfjahre in jedem Sinne, von den anfänglichen kleinen Sorgen ums tägliche Brot bis zum inneren Ringen um Fortentwicklung; Jahre, in denen die Arbeitslampe viel Mitternachtsöl verbrauchte, und jeder kleine Erfolg ein Freudenfest war. Mein persönlicher Standpunkt zur Fremdenlegion war ein sehr merkwürdiger in der ersten Zeit. Viele Monate lang zwang ich mich, niemals an meine Legionszeiten auch nur zu denken. Sie sollten mir ein verblaßter Schatten der Vergangenheit sein.

Sie waren mir eine häßliche Schriftlinie auf der Lebenstafel, die ich gar zu gerne ausgelöscht hätte. Weil ich sie nicht auslöschen konnte, glitt ich beim rückschauenden Lesen scheu über sie hinweg. Das war bequem und praktisch. Aber vergangene Dinge, die man vergessen will, haben ihre eigene Art, sich ungebeten und unerwünscht aufzudrängen.

Oft, wenn ich in lässigen Viertelstunden im Lehnstuhl lag, schlichen sich in die feinen blauen Rauchgebilde der Zigarette Legionärsgestalten.

In endlosen Reihen zogen sie an mir vorbei, bepackt wie Lasttiere, gebeugt unter ihrer Bürde, vorwärtsstampfend im tiefen Sand, dahinkeuchend in langer Kolonne. Ich sah die stieren Augen, die gekrümmten Rücken. Ich fühlte, wie sie sich quälten, wie sie mit letzter Kraft sich schleppten. Mir war, als ob ich ihr Stöhnen hören konnte. Jede der Gestalten schien mich anzusehen, in haßerfülltem Neid: Im Lehnstuhl sitzst du? Kultur umgibt dich? Künstlerische Dinge sind um dich? Zu uns gehörst du! An deinen Platz mit dir als Flügelmann in der ersten Viererreihe der 11. Kompagnie, Legionär! Marschier', Legionär, oder verreck! Her zu uns! – Wenn ich ein Goldstück ausgab für ein Vergnügen, sah ich Legionärshände, zitternde, krallende Finger, die das Gold fassen, die es mir wegnehmen wollten. Gold! Unerhörter Wert, in dem Hände voll der jämmerlicher Kupferstücke der Legion steckten. Gib her, sagten die Finger. Gib uns! Denkst du an unsere fünf Centimes, Legionär?

Die Gebilde plagten mich.

Ich gab ein Stück meines Lebens preis. Nach langem Zögern schrieb ich dieses Buch. Ich gab nur die einfache Routine des Lebens im Regiment der Fremden, wie ich sie am eigenen Leibe miterlebte und mit eigenen Augen sah. Das Mindestmaß dessen, was jeder Legionär erlebt.

Ich wollte den Legionär zeigen, wie er lebt, wie er arbeitet, wie er ist. Ich bin nicht von der Voraussetzung ausgegangen, törichte junge Leute vor der Fremdenlegion warnen zu können. Törichte Menschen lassen sich nicht warnen. Aber ich glaubte, und glaube noch, daß eine wahre, unverzerrte Schilderung der französischen Fremdenlegion ihr Scherflein dazu beitragen könnte, einer Institution ein Ende zu machen, die so wenig in unsere Zeit hineinpaßt, die dem modernen Menschen so unverständlich sein sollte wie Sklavenhalterei. Und vor allem wollte ich die Gebilde bannen, die mich plagten.

*

In der Beurteilung der Fremdenlegion sollte vor allem nicht mit Gemeinplätzen operiert werden, mit verallgemeinernden Voraussetzungen. Gerade in Deutschland findet man so häufig die Auffassung, alle deutschen Fremdenlegionäre seien verlorene, verdorbene Menschen, Verbrecher gar – moralisch und wirtschaftlich wertlose Existenzen im besten Fall. Eine nichtsnutzige Gesellschaft, an der nicht viel verloren sei.

Man tut die deutschen Legionäre mit einigen Phrasen ab, kühl denkende Männer schreiben in deutschen Zeitungen über »die Angehörigen deutscher Nationalität, die sich dazu hergeben, die mittelalterliche Reisläuferei als französische Söldner in verächtlichster Art wieder aufleben zu lassen...« Diese Auffassung ist geradezu die »offizielle«. Ich bin der Ansicht, man sollte die Fremdenlegion mit etwas mehr menschlichem Verständnis betrachten. Ich bin vor allem überzeugt, daß es mit den »verlorenen, verdorbenen Menschen« gar nicht so schlimm ist. Einen strikten Beweis dafür kann ich zwar nicht antreten. Eine Statistik der Fremdenlegion gibt es nicht, und ich so wenig wie ein anderer Mensch bin imstande, authentisches Material vorzulegen. Es existieren ja nicht einmal offizielle Daten über den jeweiligen Effektivbestand der beiden Legionsregimenter. Ich gebe von vornherein gerne zu, daß ein Teil des deutschen Menschenmaterials der Fremdenlegion die gleichgültige Beurteilung verdient, die man dem Fremdenregiment angedeihen läßt. Ich nehme aber auch Glauben für meine Ueberzeugung in Anspruch, daß, nach allem, was ich gesehen und gehört habe, der andere große Teil der deutschen Legionäre durchaus nicht Verdorbene sind! Als arme deutsche Handwerksburschen sind sie in die Legion gekommen! Ihre Geschichte ist die traurige Geschichte der wanderlustigen deutschen Handwerksburschen, die auf einer französischen Landstraße hungerten; die keine Arbeit fanden, weil sie der fremden Sprache nicht mächtig waren. Diese armen Menschen haben von jeher den Kern der Legionsdeutschen gebildet. Wenn man daran denkt, daß die Hälfte aller Fremdenlegionäre Deutsche sind, so vergesse man die deutschen Handwerksburschen der Legion nicht! Und ihren Hunger! Und die Verlockungen des Werbebureaus, das Brot versprach! Und die fürchterlichen fünf Jahre, mit denen sie ihre »verächtliche Reisläuferei« büßen mußten!

Der Hunger ist das hauptsächlichste Motiv, das Menschen in die Legion treibt, Deutsche und Franzosen, Italiener und Spanier, Oesterreicher und Engländer.

Der Hunger ist der rührigste Werber für das Regiment der Fremden.

Der Hungernde, der in ihm Zuflucht sucht, bekommt zwar sein tägliches Brot. Er wird jedoch schmählich betrogen! An diesem Hebel möchte ich immer wieder einsetzen und immer wieder darauf hinweisen, wie schwer der Legionär arbeiten muß, wie hart sein Leben ist, wie er seine ganze Manneskraft hergibt für ein Entgelt, das gleich Null ist. Wir denken sehr praktisch in unserem modernen Leben; der Arbeiter jeder Art weiß den Wert seiner Leistung sehr wohl in Münzwert umzurechnen und benützt jede Gelegenheit, um eine bessere Entlohnung zu erzielen. Und in einer Zeit, die den » standard of life« verbessert und die Lebensansprüche des Aermsten hinaufgetrieben hat, ist es möglich, daß ein Unternehmen wie die Fremdenlegion (sie ist nichts anderes als ein Unternehmen, ein Geschäft), immer wieder Tausende von Arbeitssoldaten für einen Sold bekommt, mit dem verglichen der ortsübliche Tagelohn des kleinsten Nestes Reichtum ist! Das Ausschlaggebende für den modernen Menschen sollte die Löhnung sein, die der Fremdenlegionär erhält – vier Pfennige im Tag. Das ist weniger als der fünfte Teil der minimalen Entschädigung, die z. B. der deutsche Infanterist erhält, der ja nicht als bezahlter Söldner dient. Die unerhört niedrige Bezahlung der fremden Söldner der Legion stellt eine häßliche Ausbeutung menschlicher Armut und menschlichen Leichtsinns dar. Das ist der springende Punkt! Man vergleiche nur die Legion mit den beiden anderen Söldnertruppen, dem amerikanischen und dem englischen Heer, die beide, nebenbei bemerkt, für die Innehaltung eines gewissen, durchaus nicht niedrigen, moralischen Niveaus unter ihren Angehörigen sorgen. Beide dieser Söldnerheere bezahlen, im schreienden Gegensatz zur Fremdenlegion, ihre Söldner ausgezeichnet! Der amerikanische »Reguläre« erhält als Mindestsatz dreizehn Dollars im Monat; der englische »Tommy« bekommt einen Schilling im Tag. Und beide sind nur Soldaten, keine Arbeiter. Sie sind Söldner, aber – sie bekommen wenigstens Sold!

Wenn man, von der Basis der vier Pfennige Tagessold ausgehend, die allgemeinen Verhältnisse in der Fremdenlegion betrachtet, wird jedem, sei er nun kühl kritisierender Ausländer oder patriotischer Franzose, die Ueberzeugung aufgedrängt werden, daß die Institution der Fremdenlegion gegen die einfachsten Gebote der Menschlichkeit sündigt – seit achtzig Jahren gesündigt hat! Hekatomben von Menschen aller Nationen liegen im Sand Algeriens, in den Sümpfen Madagaskars, in der fiebergeschwängerten Erde Tonkins, in Mexiko begraben. Opfer der Fremdenlegion. Sie sind gestorben gegen ein Aequivalent von Gefüttertwerden und vier Pfennigen täglicher Löhnung!

Läßt man die Toten ruhen und beschäftigt man sich mit den Lebenden, so kommt man auch dann zum gleichen Resultat: militärisches Ausbeutertum! Gegen alle Gebote der Menschlichkeit sündigend: durch Uebertölpelung von unerfahrenen Menschen, die niemals in die Legion kommen würden, wenn sie wüßten, was ihnen bevorsteht; durch gleichgültige Mißachtung des Wertes von Menschenleben; durch ein Aufzwängen von Existenzbedingungen, die die Gesundheit schädigen müssen.

Nicht nur dafür ist das militärische Ausbeutertum verantwortlich, sondern auch für die Sünden und Laster der Legion, denn das System ist es, das diese Sünden und diese Laster aus den kleinen Keimen gezüchtet hat!

*

Ueber die politische Seite der Fremdenlegion dürfte man in der zivilisierten Welt der Gegenwart kaum verschiedener Meinung sein.

Die Fremdenlegion ist ein veraltetes, lächerlich unzeitgemäßes Ueberbleibsel mittelalterlicher Landsknechtseinrichtungen, mit all den Fehlern und Nachteilen des Söldnertums, aber ohne den Schimmer der Romantik, der in den Kriegszeiten vergangener Jahrhunderte ritterliche »soldiers of fortune« verklärte.

Für das Empfinden moderner Menschen ist es eine monströse Idee, daß heutzutage noch eine der Großmächte, eine der kulturell führenden Nationen der Welt, ein militärisches Korps unterhält, das wahllos aus Menschen aller Länder zusammengestellt ist, das eingestandenermaßen aus fremden Deserteuren und hungernden Armen rekrutiert wird, und dessen Fahne die magere Devise trägt: Valeur et Discipline! Tapferkeit und Disziplin. Die Inschrift der französischen Fahnen: Honneur et Patrie – Ehre und Vaterland, konnte man der gemischten internationalen Gesellschaft natürlich nicht geben. Aber die beiden Wörtchen sind illustrativ. Vergleiche mit dem amerikanischen oder dem englischen Söldnerheer sind nicht nur in Hinsicht auf die Löhnung sehr interessant, denn beide unterscheiden sich himmelweit von der Fremdenlegion. Das englische Heer wirbt nur geborene Engländer an. Das amerikanische Heer nimmt zwar Ausländer in Dienst, verlangt jedoch, daß sie im Besitze des sogenannten »ersten Papiers« sind, daß sie vor einem amerikanischen Gerichtshof ihre Absicht beschworen haben, nach Ablauf der gesetzlich vorgeschriebenen fünf Jahre amerikanische Bürger zu werden. Der amerikanische Söldner wird als Bürger der Vereinigten Staaten betrachtet, und der Treuschwur wird ihm abgenommen. Die Fremdenlegion dagegen kennt nicht einmal einen Fahneneid. Das hektographierte oder gedruckte Stück Papier, das der Fremdenlegionär unterzeichnet, in einer Sprache abgefaßt, die der Rekrut in den meisten Fällen gar nicht versteht, ist weiter nichts als ein Zivilkontrakt, ein Dienstvertrag. Dieser Vertrag ist das einzige Band, das den Angeworbenen an die Legion bindet – ein Vertrag, der eigentlich nach modernen Rechtsbegriffen null und nichtig ist! Heutzutage gibt es auch im internationalen Recht den Begriff eines Vertrags »wider die guten Sitten«. Und was könnte mehr gegen die guten Sitten sein, als solch ein Vertrag der französischen Republik mit einem Legionsrekruten, als dieser Kontrakt, dessen Forderungen in einem geradezu wucherischen Mißverhältnis stehen zu dem vereinbarten Lohn!

Man kann über die Institution der Fremdenlegion nicht verschiedener Meinung sein.

Jeder Mensch mit gesundem politischem Instinkt muß sich sagen, daß es ein unerhörter Zustand ist, wenn ein Land die Deserteure und die Verbrecher (ich spreche jetzt von der anderen Hälfte der Legionäre) seiner Nachbarländer, aller Länder, mit offenen Armen aufnimmt, sie grundsätzlich für eine besondere militärische Organisation verwendet. Man kann nicht irren, wenn man diese Handlungsweise als einen militärischen Egoismus bezeichnet, der etwas Unnatürliches, Anwiderndes, Verächtliches hat. In der Fremdenlegion lebt ein Stück Mittelalter. Und zwar nicht nur mittelalterliches Landsknechtstum, sondern auch mittelalterliche Moral, die Moral jener Zeiten, in denen ein armer Teufel zur Werbetrommel eilte, weil er sonst nichts mehr anzufangen wußte mit seinem bißchen Leben und freudig aufgenommen wurde, weil er billig war, die mittelalterliche Moral, die einen Ueberläufer hochschätzte, weil er die eigene Truppe um zwei Fäuste und zwei marschierende Beine bereicherte. In jedem Werbebureau der Fremdenlegion wird ein Rekrut, der angibt, deutscher Deserteur zu sein, mit besonderer Freude aufgenommen, wird besonders hoch geschätzt als wünschenswerte militärische Bereicherung des Fremdenregiments. Noch weit schlimmer ist die Tatsache, daß Frankreich in seiner Fremdenlegion flüchtigen Verbrechern ganz offenkundig Asyl gewährt. Die Fremdenlegion liefert nur Mörder aus – allen anderen Verbrechern gibt sie Schutz! Und zwar nur aus dem egoistischen Grunde, für ein Regiment, das ständig für Frankreich im Kampfe steht und in ungesundem Klima arbeitet, billiges Menschenmaterial zu beschaffen.

Der Durchschnittsfranzose hat sich in den achtzig Jahren des Bestehens der Legion damit begnügt, die Erfolge der fremden Söldner der französischen Fahne gutzuschreiben und die Fremdenlegion als eine von Gewohnheitswegen bestehende, gute, vorteilhafte, patriotische Institution zu betrachten. Erst in neuerer und vor allem in allerletzter Zeit betrachten französische Kreise die Legion als ein Problem. Heutzutage ist die Fremdenlegion nicht mehr eine Institution, die von allen Franzosen gutgeheißen wird. Auch im französischen Kriegsministerium hat man sich mit dem Legionsproblem beschäftigt. Man konnte sich aber nicht dazu entschließen, die Legion aufzugeben. Ein Soldat, der fünf Centimes, bare vier Pfennige Tagessold erhält und in den häßlichsten Klimaten, zu den gewagtesten Operationen verwendet werden kann, weil kein Hahn nach ihm kräht und seine Kommandeure keine Rechenschaft für sein Leben abzulegen haben, stellt ein zu verlockendes Geschäft im militärischen Sinne dar.

Dem auf militärische Traditionen stolzen Frankreich mag es ja auch schwer fallen, eine Truppe aufzulösen, die seit über achtzig Jahren existiert und von den berühmtesten Generälen und Marschällen Frankreichs geführt wurde.

Man warf die Frage auf, ob es nicht angebracht sein würde, den Rekrutierungsmodus zu ändern. Man wollte Legitimationspapiere verlangen, die darzutun hätten, daß der ausländische Rekrut in keinerlei Konflikt mit den Behörden seines Heimatlandes geraten war. Deserteure der Armeen anderer Länder sollten von vornherein nicht genommen werden.

Ueber diesen Vorschlag ist die Meinung in französischen Militärkreisen geteilt. Bis jetzt hat immer die Ansicht den Ausschlag gegeben, daß die Fremdenlegion mit den fremden Deserteuren ihren in anderen Armeen ausgebildeten Kern von Soldaten verlieren würde. Die andere Partei behauptet jedoch, daß namentlich bei einer Erhöhung des Tagessoldes und einer Verkürzung der zur Pension berechtigenden Dienstzeit, die Abenteuerlichkeit des Lebens in der Fremdenlegion und die Hoffnung auf Avancement immer noch brauchbares Material genug aus aller Herren Ländern zum Dienst unter der Fremdenlegionsflagge verleiten würden. Bei diesen Debatten war nur der militärische Standpunkt maßgebend. Da als militärischer Faktor die Fremdenlegion sich stets glänzend bewährt hat, so ließ man die Dinge beim alten. Die Erwägungen über etwaige Aenderungen im System der Fremdenlegion gingen natürlich in aller Stille vor sich. Die Legion hat jedoch in allerletzter Zeit auch die allgemeine Öffentlichkeit in Frankreich beschäftigt.

Es ist zweifellos, daß man in Frankreich anfängt, der Institution der Fremdenlegion kritisch gegenüberzustehen. Es ist erwachendes Verständnis, beginnender leiser Zweifel, ob das Landsknechtsregiment existenzberechtigt ist. Jaurès schrieb anläßlich der Massenmeuterei von Fremdenlegionären bei Saïda in der » Humanité«:

»Die Fremdenlegion wird uns gewiß andauernd Schwierigkeiten schaffen; die Idee, aus Fremden, zumeist aus fremden Deserteuren, eine französische Streitkraft zu bilden, ist jedenfalls seltsam.«

Das ist ein Schritt auf dem richtigen Weg. Man debattiert über das Problem der Fremdenlegion. Man findet ihre Beibehaltung nicht mehr selbstverständlich. Die Frage ist angeschnitten. Wenn die Fremdenlegion nicht existierte und das französische Volk in seiner parlamentarischen Vertretung heute vor die Wahl gestellt würde, die Neuschaffung einer Truppe von fremden Söldnern, vorzugsweise aus fremden Deserteuren zusammengestellt, zu autorisieren, so würde zweifellos solch eine Zumutung mit Entrüstung abgelehnt werden! Der talentloseste Politiker würde wenigstens das (auf der Hand liegende) Argument finden, daß es sich mit der Würde der französischen Nation nicht vereine, Fremde unter der französischen Trikolore zu versammeln und mit ihnen französischen Boden zu verteidigen. Man würde sehr schöne Reden hören über die Ungeheuerlichkeit eines solchen Verlangens. In den Balkanstaaten oder in Honduras oder in Venezuela könne dergleichen möglich sein, aber nicht im stolzen Frankreich! Irgendein Deputierter würde vielleicht vor der (auf der Hand liegenden) Konsequenz warnen, daß andere Staaten Fremdenregimenter errichten könnten, mit der Tendenz, dafür französische Deserteure zu verwenden. Man würde schaudern bei dem Gedanken, daß mit französischen Deserteuren deutsche Kolonien erobert oder englische Kriegsschiffe bemannt werden könnten!

... Die Fremdenlegion lebt von ihrer Vergangenheit. Sie existiert, weil sie da ist. Der Franzose ist an sie gewöhnt und merkt deshalb gar nicht, welch' ein ungeheuerlicher Anachronismus diese Institution ist. Das Problem der Legion ist ja so einfach – es läßt sich in zwei Fragen zergliedern:

Ist es » fair«, einem hart arbeitenden Menschen einen Tagelohn von fünf Centimes zu bezahlen?

Ist es » fair«, das Unglück armer Teufel oder deren Konflikt mit ausländischen Gesetzen wucherisch für nationale Zwecke auszubeuten?

Die Beantwortung dieser beiden Fragen, in denen sich das ganze Prinzip der Fremdenlegion verkörpert, ist nicht schwer. Gerade in den letzten Jahren hat das französische Volk mit so manchem Ueberkommenen aufgeräumt, das ihm mit Würde und Menschenrecht unvereinbar schien. Man kann überzeugt sein, daß auch die Institution der Fremdenlegion dem Rechtsgefühl der Franzosen früher oder später als unwürdig erscheinen wird. Die Frage ist nur: Wie lange wird es noch dauern?

Quousque tandem ...?


Quosque tandem?

Der französischen Nation
gewidmet.


Ueber allem im Leben steht die Frau ...


Es war einmal ein Mann, der das Glück fand – in jungen Jahren, aber nach einem wilden Leben. Vom Häusermeer Neuyorks bis zum Goldenen Tor des Pazifischen Ozeans hatte er die Neue Welt durchstreift in seiner gedankenlosen Jugend; hatte den Kampf der Amerikaner auf Kuba mitgemacht und seine junge Nase in kleine zentralamerikanische Republiken gesteckt. Hatte sich von den Zeitungskönigen Amerikas lehren lassen, wie man ein guter Journalist wird. Abenteuerzeiten waren es gewesen, in denen sich die Erlebnisse und der Werdegang von Jahren in Monate zusammendrängten. Dann kam er in die deutsche Heimat zurück und wurde deutscher Journalist, Redakteur, Schriftsteller, bis eine Art Erfolg und eine Art Seßhaftigkeit kam und – das Glück.


Ueber allem im Leben steht die Frau.


Der Schriftsteller verstand es nicht, sein Glück zu halten. Nach seinem amerikanischen Leben voller Auf und Nieder, voller Wechsel und Daseinskampf, war er noch nicht reif für die Seßhaftigkeit. Kluge Menschen schüttelten die Köpfe über ihn, der die Werte seiner Begabung durch die Folgen seines Leichtsinns zerstörte; neue Erfolge wurden immer wieder durch neuen Leichtsinn vernichtet, bis die Frau, die ihn liebte, nicht mehr an ihn glauben konnte.


Und das Glück zerbrach ...


Er wußte, was er verloren hatte – – er schlich sich aus Hamburg fort in stumpfer Hoffnungslosigkeit und wollte untergehen, wollte sich das Leben nehmen. Da wallte in einer verzweifelten Stunde das Abenteurerblut in ihm auf, der Drang nach dem wildesten Leben, das es geben – in dem er vergessen konnte.

Er ließ sich anwerben für die französische Fremdenlegion.

*

Der Mann war ich. Ich hatte alle Brücken hinter mir niedergerissen. Niemand wußte, wo ich war. Für die Menschen, die mich liebten, wollte ich ein Toter sein. Ich vergaß alle Hoffnungen, allen Ehrgeiz, alle Persönlichkeit und lebte das rohe Legionärsleben wie die anderen Legionäre. Arbeitete und marschierte, schlief und aß, tat das, was mir anbefohlen wurde, stöhnte, wenn die Strapazen für meine Kräfte zu viel wurden, schimpfte, wenn man mich schlecht behandelte. Nur in schweren Nächten dachte ich dann und wann an das, was gewesen war.

Etliche fünfhundert Jahre lang mochte ich Legionär gewesen sein. So lange wenigstens dünkte es mich. Da brachte eines glutheißen Tages die algerische Militärpost einen Brief auch für mich. Die Liebe hatte mich gefunden.

Ich las und las und las wieder ...

In dieser Stunde erwachte das gestorbene Glück zu größerem und tieferem und gewaltigerem Sein.

Die alte Energie kam. Ich sprengte meine Fesseln; aus dem Söldner wurde ein freier Mann, der sich sein Glück und sein Arbeitsfeld wieder eroberte.


Hamburg, im März 1909.

Erwin Carlé.
(Erwin Rosen).

Wie ich Legionär wurde.

Inhaltsverzeichnis

In Belfort. – Von Sonnenstrahlen und der Angst in der Kehle. – Madame und der Oberkellner. – Der französische Leutnant. – »In d' Leschion willscht?« – Die Untersuchung im Werbebureau. – Ungewaschene Menschlichkeit. – Der Stabsarzt mit der unempfindlichen Nase. – Officier allmand. – Herr von Rader und der deutsche Deserteur. – Der französische Oberstleutnant. – Die bitteren Tränen der ersten Nacht.


Ein anderer hätte sich vielleicht erschossen. Ich ging in die Fremdenlegion ...

Abends war ich in der alten Festungsstadt Belfort angekommen, um mich anwerben zu lassen. Wie in Selbstverhöhnung hatte ich die Nacht im elegantesten Hotel Belforts verbracht.

Das Erwachen war häßlich. Die Sonnenstrahlen spielten auf den weißen Spitzen des Bettes, kletterten umher, wanderten empor, beleuchteten jeden Winkel der weißen Stuckdecke, senkten sich wieder und gaben der schablonenmäßigen Eleganz des Zimmers etwas Warmes. Im Halbtraum guckte ich dem Sonnenspiel zu. Schläfrig wunderte ich mich über das riesengroße Bett mit den vielen weißen Spitzen, über die fremdartigen Möbel, über den schönen Perserteppich, der einen so scharfen Gegensatz zu den übrigen Geschmacklosigkeiten bildete. Dann wurde ich wach. Wie Blei lag es mir in den Gliedern. Tausend Gedanken, tausend Vorstellungen wirbelten mir durch den Kopf. Dazwischen klang es wie Frauenweinen und Liebesflüstern und mahnende Mutterstimme. Und irgendein Teufel trommelte in ewig gleichem Takt: Vorbei – vorbei!

Zum zweitenmal in meinem Leben saß mir die große Angst in der Kehle. Ein unbeschreibliches Gefühl. Als ob ein harter Gegenstand in der Luftröhre stäke, als ob einem der Hals zugeschnürt wäre, als ob man nie wieder würde atmen können. Damals, das erstemal, als ich die Angst in der Kehle kennen lernte, war die erste spanische Granate vom San Juanhügel her dicht neben mir krepiert. Diesmal wars schlimmer.

Ah, man muß sich zusammennehmen! Irgendein Vers fiel mir ein:

Sei fröhlich, lieber Wandersmann!
Nun fängt ein neues Leben an.

Hu, wie ironisch das klang! Wie ich nur gerade auf diese lustigen zwei Zeilen gekommen sein mochte ...

Mit lächerlicher Sorgfalt kleidete ich mich an und brachte es sogar fertig, mich krampfhaft über den Schwarzbefrackten zu amüsieren, der die silbernen Kaffeegeräte so hübsch umständlich und zierlich zurecht stellte. Dann bezahlte ich unten im Bureau die Rechnung und erntete für mein Goldstück ein liebenswürdiges Lächeln von Madame und ein ganz leises Aufblitzen in den hübschen Augen. Der Oberkellner stand an der Tür, ein bißchen katzenbuckelnd, sehr erwartungsvoll.

Ich griff in die Westentasche und gab ihm ein großes Silberstück:

»Siehst du, mein Sohn, du bist der letzte Mensch auf dieser niederträchtigen Welt, dem ich ein Trinkgeld gebe. Das ist doch traurig, nicht wahr?«

Der Oberkellner machte ein dummes Gesicht.

» Je ne parle pas...«

»Ist schon gut,« sagte ich.

Langsam schlenderte ich durch die winkeligen Gassen Belforts. Da reihte sich Laden an Laden, und vor jedem Laden standen, weit die Hälfte des Trottoirs einnehmend, kleine Tische, auf denen allerhand Sachen verlockend ausgebreitet lagen. Wie bequem für Diebe! dachte ich – und mußte gleich darauf lachen. Wie kam ich Verzweifelter dazu, an Belforter Ladenbesitzer und Belforter Diebe zu denken! Mechanisch überschaute ich die Umgebung. Von einem weiten freien Platz schimmerte es blau herüber: die Belforter hatten das Riesendach ihrer neuen Markthalle aus saphirblauem Glas erbaut, und Frau Sonne ließ sich häuslich darin nieder, um aus dem prosaischen Gehäuse für Kohlköpfe und Kartoffeln die allerschönsten Farbenspiele hervorzuzaubern. Lebhafte Franzosen und Französinnen eilten hin und her, und auf den Straßen herrschte ein Gewimmel und ein Gedränge ... Kinder, krabbelt doch nicht so umher – dies Leben ist der Plage gar nicht wert!

Nein, es will nicht gehen mit dem Spott, und das große Vergessen will gar nicht kommen. Ich rappele mich zusammen. Machen wir Schluß!

Ein blutjunger Leutnant kam die Straße herauf. Ich suchte mühsam mein holperiges Gymnasial-Französisch zusammen und lüftete den Hut.

»Würden Sie so liebenswürdig sein, mir zu sagen, wo das Werbebureau der Fremdenlegion ist?«

Der Offizier griff an die Mütze und blieb verwundert stehen.

»Sie können mich begleiten, mein Herr. Ich bin sowieso auf dem Wege zu den Festungsbureaus.«

Wir schritten nebeneinander her.

»Sie scheinen ein Deutscher zu sein?« fragte der Leutnant in recht gutem Deutsch. »Falls Sie auf dem Legionsbureau irgendwelche Erkundigungen einziehen wollen, kann ich Ihnen vielleicht behilflich sein. Ich bin der Adjutant des Festungskommandanten.«

»Ich bin Deutscher und gedenke mich für die Fremdenlegion anwerben zu lassen,« murmelte ich. Wie fürchterlich schwer doch dieser erste Schritt war! Ich glaubte, ersticken zu müssen an den paar Worten.

»Oh la, la ...« sagte der Offizier verblüfft.

Noch einmal glitt sein prüfender Blick über meinen äußeren Menschen. Dann plauderte er (der Junge war ein prächtiges Exemplar französischer Liebenswürdigkeit) unbefangen weiter. Die Legion sei ein ungemein interessantes Korps. Er selbst hoffe, einmal auf ein paar Jahre zu den »étrangers« versetzt zu werden. Da unten sei doch immer etwas los.

»Nirgends ist das Kreuz der Ehrenlegion so leicht zu haben wie im algerischen Süden. Brillante Karrieren da unten. Oh la, la! Eh bien – mein Herr, Sie werden bald die französische Uniform tragen. Wünschen Sie, mir irgend etwas Besonderes zu sagen?«

Wieder der prüfende Blick.

Ich verneinte.

»Wirklich nichts?« fragte der Leutnant ernst.

»Nein, durchaus nicht! Ich dachte, die Fremdenlegion lege ein ausschließliches Gewicht auf körperliche Tauglichkeit, ohne sich für das Vorleben der Rekruten zu interessieren.«

Der Leutnant nickte: »Ah, das ist ganz richtig. Ich fragte nur in Ihrem eigenen Interesse. Wenn Sie zum Beispiel besondere militärische Kenntnisse hätten, so könnte Ihnen Ihr Weg in der Legion sehr leicht gemacht werden.«

Was er meinte, verstand ich erst später. Ich antwortete, ich hätte gedient, wie jeder Deutsche.

Da standen wir auch schon vor dem niedrigen Bureaugebäude. Der Leutnant ging voran, eine steile schmutzige Treppe empor, öffnete die Türe zu dem Bureauzimmer und sagte ein paar Worte zu dem Korporal. Dann nickte er mir zu und ging ins Nebenzimmer.

»In d' Leschion willscht?« fragte der Korporal, der irgendwo von der elsässischen Grenze her sein mochte. »Du siehscht aber fein aus für an Leschionsrekrute. Votre nom?«

Ich überlegte blitzschnell. Schließlich gab ich den richtigen Namen. Es war ja wirklich so gleichgültig.

»S–scho! Venez avec moi zu de' andere. Der médecin major wird glei' komme.« Das Zimmer, in das mich der Korporal hineinschob, strömte einen Menschengeruch aus, vor dem ich geekelt zurückprallte. Von Schweiß und Schmutz und alten Kleidern und ungewaschener Menschlichkeit. Auf langen Bänken an den Wänden des großen Zimmers saßen Männer, die sich für die Fremdenlegion anwerben lassen wollten und auf den Arzt warteten, der sie untersuchen sollte, ob ihr Körper die fünf Centimes Tagessold noch wert sei. Der eine saß nackt da; seine schmutzigen Beine zitterten in der kühlen Oktoberluft. Man brauchte wahrhaftig kein Arzt zu sein, um ihm den Hunger anzusehen. Ein anderer legte mit rührender Sorgfalt seine Hosen zusammen, die so oft geflickt waren, daß sie des Dienstes überdrüssig wurden und endgültig streikten. Sie hatten in einem wichtigen Bestandteil ein unheilbares, riesengroßes Loch. Vielleicht waren diese Hose und dieses Loch der letzte Grund, der ihren Besitzer in die Legion trieb.

Ein Dritter, ein kräftiger Junge, hatte sich sein Hemd über den Körper gelegt – er schämte sich seiner Männlichkeit. Arme Menschen, denen der nackte Körper etwas Häßliches war, weil sie in ihrem Hungerleben den Begriff der Reinlichkeit verlernt hatten! Jede Bewegung verriet das. Dort in der Ecke schob einer verstohlen seine Stiefel weit unter die Bank, damit man die Löcher nicht sehen sollte, und ein anderer versteckte die schmutzigen Strümpfe unter seinem Kleiderbündel.

Es waren ein Dutzend Menschen. Knabengesichter darunter, mit dem lichten Bartflaum des Achtzehnjährigen; Jünglinge mit tiefliegenden Hungeraugen und harten Entbehrungslinien um den Mund; Männer mit verfallenen, abgelebten Zügen, deren Falten die alte Historie vom Trinken zum Hören deutlich erzählten. Niemand sprach ein lautes Wort. Nur hie und da ein Flüstern. Der Mann neben mir sah mich an und sagte leise, mit wirklicher Angst in seiner Stimme:

»Ich hab' Krampfadern. Wenn sie mich nur nehmen. ...«

Herrgott, diesem Menschen bedeutete die Fremdenlegion eine Hoffnung – die Hoffnung auf regelmäßiges Futter! Die fünf Centimes im Tag mußten ihm erstrebenswert erscheinen!

Ich ekelte mich vor dem Dunst, ich starrte den Schmutz und das Elend an. Ich kam mir vor wie ein Verbrecher, der auf der Armensünderbank sitzt. Meine Kleider erschienen mir wie ein Hohn. ...

Die Offiziere kamen. Ein dicker Stabsarzt, den ich in meinem Ekel zu gern gefragt hätte, warum Rekruten der Fremdenlegion vor der Untersuchung nicht Gelegenheit zu einem Bad bekämen. Ein Assistent war bei ihm und der Leutnant von vorhin. Der Stabsarzt deutete auf mich.

»Ziehen Sie sich aus.«

Während ich meine Kleider abstreifte, flüsterten die Offiziere miteinander, und ich hörte, so leise es auch gesagt wurde, wie der Leutnant irgend etwas über mich sprach. »Officier allemand.«

Trotz allem mußte ich lächeln. Man hielt mich für einen ehemaligen deutschen Offizier, für einen Deserteur vielleicht. Es mußte den Herren ja auch schwer genug fallen, eine Erklärung dafür zu finden, daß ein Mensch mit gutsitzenden Kleidern zur Legion kam.

Der komische Mensch mit den gutsitzenden Kleidern empfand die Neugierde, das offenbare Mitleid als eine ungeheure Beleidigung. Die ganze Prozedur war eine Qual. Die dünne Uhrkette mit dem Goldbehälter, der von der Westentasche losgelöst werden mußte, ehe ich die Weste ausziehen konnte – wie lächerlich war das! Dieses Betrachtetwerden! Die Blicke der Aerzte sagten so deutlich:

»Wahrhaftig, der Mensch trägt feine Wäsche!«

Weshalb mußte man mich beäugeln? Hatte ich nicht genau das gleiche Recht wie die anderen armen Teufel, das Recht, auf meine eigene Façon in die Verdammnis zu gehen? Warum mußte man es gerade mir so schwer machen? Und dann fühlte ich, wie selbstverständlich diese Neugierde war, und wie lächerlich meine Empfindlichkeit. Der erste Schritt war überwunden. Ich fing ganz langsam an, zu begreifen, was es bedeutete, in der Fremdenlegion die letzte Zuflucht zu suchen.

Nackt stand ich vor dem Stabsarzt. Der setzte umständlich seinen Kneifer auf und betrachtete mich von oben bis unten. Ich sah ihm ruhig in die Augen. Sieh mich doch an, dachte ich, du dicker, komischer Mann mit der unempfindlichen Nase. Du wirst dich doch nicht unterstehen, an meinem Körper etwas auszusetzen?

»Bon!« sagte der Militärarzt. »Der nächste!«

Ein Schreiber, der unterdessen hereingekommen war, schrieb irgend etwas in ein Buch. Damit war die Zeremonie beendet. Kein Beklopfen, keine Lungenuntersuchung, keine Herzprüfung, kein Feststellen von Sehkraft und Hörschärfe.

Die Uebrigen kamen daran. Auch hier entschied der Militärarzt mit einem kurzen Blick. Drei wurden zurückgewiesen. Bei denen hätte aber auch ein altes Weib die Diagnose stellen können, daß sie fürs Spital reif waren und nicht für den Truppendienst. Der Mann mit den Krampfadern jedoch wurde mit dem stereotypen flüchtigen » bon!« als tauglich erklärt. Man konnte es ihm förmlich ansehen, wie er sich über dieses Glück freute, und ich beneidete ihn.

Er hatte noch Hoffnungen!

*

Mitten in der Wand des weißgetünchten Korridors war ein Schiebefenster, vor dem wir neun Rekruten warten mußten.

Eine halbe Stunde lang, eine Stunde lang. Endlich schob eine Hand das Fenster zurück, und der Korporal steckte seinen Kopf heraus.

»Schüstör!« rief er.

Niemand meldete sich.

»Schüstör!!« schrie der Korporal.

Keine Antwort.

Da trat der Leutnant neben den Korporal und sah in das Blatt Papier, das dieser in der Hand hielt.

»Oh,« meinte er, »der Mann versteht nicht. Schuster!«

Sofort meldete sich einer meiner neuen Kameraden.

»Sie heißen Schuster?« fragte der Leutnant.

»Zu Befehl.«

»Schön, in der französischen Sprache wird Ihr Name Schüstör ausgesprochen. Merken Sie sich das.«

»Zu Befehl.«

»Unterschreiben Sie Ihren Namen hier.«

Der Mann unterschrieb. Der Reihe nach wurden alle anderen aufgerufen. Jeder unterzeichnete, ohne lange zu fragen, was er eigentlich unterschrieb. Ich war der letzte.

Der Leutnant reichte mir einen Bogen hektographierten Papiers. Ich überflog ihn rasch. Es war ein Kontrakt, durch dessen Unterschrift man sich verpflichtete, fünf Jahre lang in der französischen Fremdenlegion zu dienen. Er enthielt alle möglichen Klauseln: da stand vor allem darin, daß der Angeworbene, falls er militärdienstunfähig würde, keinerlei Anspruch auf Entschädigung habe, und daß erst eine Dienstzeit von fünfzehn Jahren das Recht auf Pension verschaffe.

»Besitzen Sie Papiere?« fragte mich der Leutnant plötzlich.

Die Neugierde in seinem Gesicht war gar zu komisch. In meinem deutschen Reisepaß stand jedoch die Bezeichnung »Redakteur und Schriftsteller« und – na, ich hatte ein Gefühl, als ob mein guter deutscher Paß für diesen Zweck zu schade sei. Ich kramte in meiner Brieftasche herum, fand den ausgefüllten Fragebogen einer deutschen Lebensversicherungsgesellschaft und reichte ihn dem Offizier hinüber, ohne eine Miene zu verziehen.

Der las den Fragebogen verblüfft durch.

»Das genügt ja,« sagte er lächelnd und reichte mir die Feder.

Ich unterschrieb. Unter meinen Namen setzte ich das Datum: 6. Oktober 1905.

»Das Datum war nicht nötig,« sagte der Leutnant.

»Entschuldigen Sie!« antwortete ich. »Ich schrieb es unwillkürlich hin. Mir ist es ein wichtiger Tag.«

»Bei Gott, Sie haben recht!« sagte der Leutnant.

Im Gänsemarsch wurden wir dann zur Kaserne geführt. Es muß kein besonders schönes Bild gewesen sein. Einer der französischen Soldaten, die uns begegneten, blieb stehen und stemmte die Arme in die Hüften.

»Häh!«

Er schnitt eine Grimasse und sang gröhlend: » Nous sommes les légionaires d'Afrique ...«

*

Eine halbe Stunde später saßen drei Fremdenlegionsrekruten, von denen der eine Schuster, der andere Rader und der dritte Carlé hieß, in einem kleinen Mannschaftszimmer in der Kaserne des 31. Linienregiments.

Rader eröffnete die Unterhaltung.

»Ick heiß Rader. Is 'n juter, jediegener Name, aber er stimmt nich janz. Rader! Ick wollt mir eijentlich von Rader nennen – et wär een Aufwaschen jewesen. Ick bin aber nich stolz. Wat nützt dir 'n feiner Name, wenn du nischt zu fressen hast, sag ick. Nee. sie sollen mir nur »Rader« heeßen. Von Rechts wejen is ja Müller mein Name. Aber ick bin jezwungen, Rücksichten zu nehmen auf die hochjeborene Verwandtschaft ...«

»Rücksichten! Vasteht sich!!« wiederholte er, in schallendes Gelächter ausbrechend.

Dann sah er sich prüfend um, nahm ein langes Messer vom Tisch, stellte sich in Positur, machte den Mund auf und schob in aller Seelenruhe das Messer hinein, bis man kaum noch den Griff sah. Er zog das Messer heraus, steckte es in den rechten Rockärmel und brachte es grinsend aus dem linken Hosenbein wieder zum Vorschein.

»Ick bin Artist.« sagte leutselig Herr Rader, respektive von Rader, respektive Müller, »'n juter! Aberst diese Affenjesellschaft von Franzosen hat keen richtijes Verständnis nich' for die Kunst ... Junge, Junge, seit ick damals über die Grenze jeloffen bin und dem deutschen Schandarm hinübergerufen hab', er wär 'n Hornochse, hab' ick jeden Tag rejelmäßig bedeutend wenijer zu fressen jekriegt als for meine Konstitution jut jewesen is. So is der Herr von Rader auf den Hund gekommen, wollt' sagen auf die Fremdenlegion. Schad' nischt. Wenn sie mir nich' sehr höflich und zuvorkommend behandeln, dann empfehl ick mir wieder. Durch die Lappen – aus dem Sinn! Siehst du wohl??«

Herr von Rader kramte geheimnisvoll in seinen Taschen, drehte sich herum, um irgendwelche Vorbereitungen künstlerisch zu maskieren, wandte sich uns wieder zu und – aus dem verzerrten Maul seines grinsenden Satyrkopfes sprang ein gewaltiger Feuerstrahl. Der kleine Schuster (er mochte wenig über zwanzig Jahre sein) saß mit weitaufgerissenen Augen erschrocken da.

»Jroßartig, nich?« sagte Herr von Rader gelassen. »Ick hab' so 'ne Ahnung, als ob ick mir vons französische Afrika jelegentlich ins innerliche Afrika verflüchtijen werde und 'ne jediegene und jeachtete Stellung als Medizinmann und Zauberer bei einem Negerhäuptling akzeptiere. Ick fürchte nur for die Trinkverhältnisse. Palmschnaps, nich? Junge, Junge, wenn sie Kümmel hätten da unten! – – Sag' mal (er wandte sich an mich), du feinjekleidetes Bruderherz, wat sagst du eijentlich zum französischen Absinth?«

Ich brummte irgend etwas.

»Labberig ist er!« stöhnte Kerr von Rader betrübt. »Janz labberig ...«

Wenn der komische Kauz gewußt hätte, daß er mit seinen Schnurren und seinem Gerede mir getreulich half, einen unsäglich schweren Anfang zu überwinden, so würde er sich baß gewundert haben.

Ein großes Erzählen hub an. Von Artistenhunger und Artistenelend und von den tausend kleinen Kniffen und Gaunereien, mit denen sich der immer hungrige und immer durstige Herr von Rader durch ein Landstraßenleben hindurchgeschwindelt hatte. Von »Weibsen« und vom Schnaps und vom Hunger. Besonders viel vom Hunger.

Der Rekrut Schuster erzählte. Seine Geschichte war einfach. Vor wenigen Wochen hatte er noch die Uniform eines in Köln liegenden Infanterieregiments getragen. Er war Rekrut. Ging eines Sonntags mit anderen Rekruten ins Wirtshaus und betrank sich. Als die Wirtshauspatrouille kam, und der führende Unteroffizier grob wurde, stieß er ihn vor die Brust, rannte ein paar Soldaten der Patrouille um, riß sich los und lief davon. In irgend einem Winkel schlief er seinen Rausch aus. Dann kam die Furcht vor Strafe. Ein Trödler gab ihm schlechte Zivilkleider für seine Sonntagsuniform. Dann trieb er sich auf der Landstraße herum, kam zur Grenze, und Handwerksburschen zeigten ihm, wie man sich in einer dunklen Nacht über die Grenze stiehlt. Der Hunger kam im fremden Land und –

»Wir haben immer über die Legion gesprochen. Die anderen Deutschen, mit denen ich auf der Landstraß' gered't hab', haben auch alle in d' Legion wollen. Ich hätt' auch nie wieder nach Haus können. Mein Vater hätt' mich totgeschlagen.«

»Das hätt' er nich' jetan!« meinte Herr von Rader weise. »Du bist 'n dummes Luder jewesen, mein Sohn. Kalbsbraten hättest du jekriegt. Steht schon in der Bibel. Ja-woll!«

Die Tür wurde aufgerissen, und ein Sergeant kam herein.

»Ist der Legionär Carlé hier?«

Ich meldete mich.

»Der Herr Oberstleutnant wünscht, mit Ihnen zu sprechen. Kommen Sie mit auf den Kasernenhof.«

»... Bitte, setzen Sie den Hut auf.« sagte der Oberstleutnant. Er sprach Deutsch ohne den leisesten fremdartigen Akzent. »Nein, Sie brauchen nicht stramm zu stehen. Ich habe von Ihnen gehört und möchte Ihnen ein paar Worte sagen. Ich habe in der Fremdenlegion als gemeiner Soldat gedient. Seien Sie überzeugt, es ist keine Schande, in einem ruhmgekrönten Korps zu dienen. Es kommt alles auf Sie selbst an. Wer in der Fremdenlegion militärisch tüchtig und ein intelligenter Kopf ist, dem steht ein Avancement offen, wie es in keiner Armee der Welt zu haben ist. Gebildete und tüchtige Menschen haben ihren Wert in der Legion, das wollte ich Ihnen sagen. Welchen Beruf hatten Sie?«

»Journalist – – Schriftsteller ...,« stotterte ich.

Mir war erbärmlich zu Mute.

Die klugen Augen sahen mich forschend an. »Na ja, ich würde auch nicht gerne darüber reden an Ihrer Stelle. Aber ich will Ihnen einen Rat geben: Melden Sie sich zum ersten Regiment der Legion. Sie haben dort eine größere Chance auf Felddienst. Dort unten wird ein Kampf für die Zivilisation gekämpft, und schon so manche glänzende Karriere ist dabei gemacht worden. Ich wünsche Ihnen viel Glück.«

Er gab mir die Hand. Ich glaube, dieser Offizier war ein guter Soldat und ein braver Mann. –

*

Der Artist mit dem lustigen Sinn und dem großen Durst schnarchte fürchterlich: der deutsche Deserteur stöhnte dann und wann im Schlaf. Ich wälzte mich gequält auf meinem Bett.

In tollem Wirbel zog mein ganzes Leben an mir vorbei. Erinnerung auf Erinnerung folgte. Bild auf Bild jagte sich. Ich durchlebte wieder die Gymnasialjahre. Ich sah meinen Vater auf dem Quai in Bremerhaven stehen und mich zum letzten Mal grüßen: das Weinen meiner Mutter beim Abschied glaubte ich wieder zu hören. Dann kamen Erinnerungsbilder von dem großen Umherstreifen in Amerika. Ich sah mich als blutjungen Reporter und dachte in Schmerzen an die Begeisterung jener Zeiten – wie stolz ich war, als ich zum erstenmal eine große Sache in die Hand bekam. Wie ich damals von einer Droschke in die andere durch San Franzisko hetzte und interviewte und Details zusammentrug ... Wie ich die Arbeit mit der Feder lieb gewann, und wie der erste Erfolg kam.

Vorbei, alles vorbei!

Wie mich die Bilder quälten! Ich wollte sie gewaltsam wieder abschütteln. Ich dachte daran, wie ich in der allerersten amerikanischen Zeit, unten in Texas, Negeraufseher auf einer riesengroßen Farm gewesen war und den aufsässigen Schwarzen gegenüber meinen Mann gestellt hatte, ich dachte an das tolle Reiten, an die Revolverschießereien, an das harte, brutale Leben, in dem ich mich glücklich gefühlt hatte. Warum sollte es jetzt nicht gehen! In der Legion würde ich bald genug ernsten Dienst sehen, ins Feuer kommen – Aufregung und Kampf haben und ein Vergessen finden.

Hurrah für das alte wilde Leben ...

Es half nicht.

Ruhelos warf ich mich umher – es drängte mich, in bitterer Sehnsucht, einen lieben Namen hinauszuschreien ...

Zum erstenmal seit den Tagen der Kindheit kamen die Tränen.

Nach Afrika!

Inhaltsverzeichnis

Bahntransport der Legionsrekruten. – Der kleine Faden am Bein. – Ein Patriotischer Kondukteur. – Marseille. – Die Pforte zu den französischen Kolonien. – Das Truppenhotel. – Von gelben und blauen Farben und der Symbolik des Herrn von Rader. – Die Zähmung des Schiffskochs. – Die Fama vom preußischen Prinzen der Legion. – Oran. – Algerischer Wein. – Wie der Legionär nach Spanien desertierte.