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Stefan Zweig

Romain Rolland: Der Mann und das Werk

(Biografie)

Books

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musaicumbooks@okpublishing.info
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-272-1435-8

Inhaltsverzeichnis


Lebensbildnis
Kunstwerk eines Lebens
Kindheit
Schuljahre
École Normale
Botschaft aus der Ferne
Rom
Die Weihe
Lehrjahre
Kampfjahre
Ein Jahrzehnt Stille
Bildnis
Der Ruhm
Ausklang in die Zeit

Dramatisches Beginnen
Das Werk und die Zeit
Wille zur Größe
Die Schaffenskreise
Der unbekannte Dramenkreis
Die Tragödien des Glaubens.
St. Louis
Aërt
Die Erneuerung des französischen Theaters
Appell an das Volk
Das Programm
Der Schöpfer
Die Tragödie der Revolution
Der Vierzehnte Juli
Danton
Der Triumph der Vernunft
Die Wölfe
Der vergebliche Ruf
Die Zeit wird kommen
Der Dramatiker

Die heroischen Biographien.
Ex profundis
Die Helden des Leidens
Beethoven
Michelangelo
Tolstoi
Die unvollendeten Biographien

Johann Christof
Sanctus Christophorus
Vernichtung und Auferstehung
Ursprung des Werkes
Das Werk ohne Formel
Geheimnis der Gestalten
Heroische Symphonie
Das Mysterium der Schöpfung
Johann Christof
Olivier
Grazia
Johann Christof und die Menschen
Johann Christof und die Nationen
Das Bildnis Frankreichs
Das Bildnis Deutschlands
Das Bildnis Italiens
Die Vaterlandslosen
Die Generationen
Der letzte Blick

Intermezzo scherzoso (»Meister Breugnon«)
Die Überraschung
Der Bruder aus Burgund
Gauloiserie

Das Gewissen Europas
Die vergebliche Botschaft
Der Hüter des Erbes
Der Vorbereitete
Das Asyl
Menschheitsdienst
Das Tribunal des Geistes
Die Zwiesprache mit Gerhart Hauptmann
Der Briefwechsel mit Verhaeren
Das europäische Gewissen
Die Manifeste
Über dem Getümmel
Der Kampf gegen den Haß
Die Gegner
Die Freunde
Die Briefe
Der Berater
Einsamkeit
Das Tagebuch
»Précurseurs« und »Empedokles«
»Liluli« und »Pierre et Luce«
Clerambault
Die letzte Mahnung
Das Manifest der Freiheit des Geistes
Ausklang

Nachlese


Dieses Buch will nicht nur Darstellung eines europäischen Werkes sein, sondern vor allem Bekenntnis zu einem Menschen, der mir und manchem das stärkste moralische Erlebnis unserer Weltwende war. Gedacht im Geiste seiner heroischen Biographien, die Größe eines Künstlers immer am Maße seiner Menschlichkeit und in der notwendigen Wirkung auf die sittliche Erhebung aufzeigen – gedacht in diesem Geiste, ist es geschrieben aus dem Gefühl der Dankbarkeit, mitten in unserer verlorenen Zeit das Wunder einer solchen reinen Existenz erlebt zu haben. Ich widme es im Gedenken der Einsamkeit jener Tat den wenigen, die in der Stunde der Feuerprobe Romain Rolland und unserer heiligen Heimat Europa treu geblieben sind.

»Bei Behandlung einer mannigfaltig vorschreitenden Lebensgeschichte kommen wir, um gewisse Ereignisse faßlich und lesbar zu machen, in den Fall, einiges, was in der Zeit sich verschlingt, notwendig zu trennen, anderes, was nur durch eine Folge begriffen werden kann, in sich selbst zusammenzuziehen und so das Ganze in Teile zusammenzustellen, die man sinnig überschauend beurteilen und sich manches zueignen mag.«

Goethe (Wahrheit und Dichtung)

Die Mutter
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Schuljahre

Inhaltsverzeichnis


Der Knabe ist noch zu jung, um die Magie von Paris zu erfassen: fremd und fast feindlich mutet den Verträumten diese lärmende und brutale Wirklichkeit an; irgendein Grauen, einen geheimnisvollen Schauer vor dem Sinnlosen und Seelenlosen der großen Städte, ein unerklärliches Mißtrauen, daß hier alles nicht ganz wahr und nicht ganz echt sei, trägt er von diesen Stunden noch weit mit in sein Leben. Die Eltern schicken ihn in das Lycée Louis le Grand, das altberühmte Gymnasium im Herzen von Paris: viele der Besten, der Berühmtesten Frankreichs sind unter den kleinen Jungen gewesen, die man dort mittags, summend wie ein Bienenschwarm, aus der großen Wabe des Wissens herausdrängen sah. Er wird dort in die klassische, französisch-nationale Bildung eingeführt, um ein »bon perroquet Cornélien« zu werden, aber seine wirklichen Erlebnisse sind außerhalb dieser logischen Poesie oder poetischen Logik, seine Begeisterungen glühen längst in lebendiger Dichtung und in der Musik. Aber dort auf der Schulbank findet er seinen ersten Kameraden.

Seltsames Spiel des Zufalls: auch dieses Freundes Namen hat zwanzig Jahre Schweigen benötigt zu seinem Ruhm, und die beiden – die größten Dichter des Frankreich von heute –, die dort gemeinsam die Schwelle der Schule betreten, treten fast gleichzeitig nach zwei Jahrzehnten in den weiten europäischen Ruhm. Paul Claudel, der Dichter der »Annonce faite à Marie«, ist jener Gefährte. In Glaube und Geist hat dies Vierteljahrhundert ihre Ideen und Werke weit entfremdet, des einen Weg führt in die mystische Kathedrale der katholischen Vergangenheit, der des andern über Frankreich hinaus einem freien Europa entgegen. Damals aber gingen sie täglich ihren Schulweg zusammen und tauschten in unendlichen Gesprächen, gegenseitig sich befeuernd, ihre frühe Belesenheit und jugendliche Begeisterung aus. Das Sternbild ihres Himmels war Richard Wagner, der damals über die französische Jugend zauberische Macht gewann: immer hat nur der universale weltschöpferische Mensch, nie der Kunstdichter auf Rolland Einfluß gehabt.

Die Schuljahre sind schnell verflogen, schnell und ohne viel Freude. Zu plötzlich war der Übergang aus der romantischen Heimat in das allzu wirkliche, allzu lebendige Paris, von dem der zarte Knabe vorläufig nur die Härte der Abwehr, die Gleichgültigkeit und den rasenden, wirbelnden, mitreißenden Rhythmus fast ängstlich fühlt. Das Jünglingsalter wird für ihn zu schwerer, beinahe tragischer Krise, deren Widerschein man in mancher Episode des jungen Johann Christof nachleuchten sehen kann. Er sehnt sich nach Anteil, nach Wärme, nach Aufschwung, und wieder bleibt ihm Erlöserin »die holde Kunst in so viel grauen Stunden«. Seine Beglückungen sind – wie schön ist dies in »Antoinette« geschildert – die seltenen Sonntagsstunden in den populären Konzerten, wo die ewige Welle der Musik sein zitterndes Knabenherz aufhebt. Auch Shakespeare hat nichts verloren von seiner Gewalt, seit er seine Dramen auf der Bühne schauernd und ekstatisch gesehen, im Gegenteil, ganz gibt der Knabe ihm seine Seele hin: »Er überfiel mich, und ich warf mich ihm wie eine Blüte hin, zur selben Zeit überflutete mich gleich einer Ebene der Geist der Musik, Beethoven und Berlioz noch mehr als Wagner. Ich mußte es büßen. Unter diesen überströmenden Blüten war ich ein oder zwei Jahre wie ertrunken, gleichsam eine Erde, die sich vollsaugt bis zu ihrem Verderben. Zweimal wurde ich bei der Aufnahmeprüfung in die École Normale dank der eifersüchtigen Gesellschaft Shakespeares und der Musik, die mich erfüllten, zurückgewiesen.« Einen dritten Meister entdeckt er sich später, einen Befreier seines Glaubens, Spinoza, den er an einem einsamen Abend in der Schule liest und dessen mildes geistiges Licht nun für immer seine Seele erhellt. Immer sind die Größten der Menschheit ihm Vorbilder und Gefährten.

Hinter der Schule gabelt sich der Weg ins Leben zwischen Neigung und Pflicht. Rollands glühendster Wunsch wäre, Künstler zu sein im Sinne Wagners, Musiker und Dichter zugleich, Schöpfer des heroischen Musikdramas. Schon schweben ihm einige Tondichtungen vor, deren Themen er im nationalen Gegensatz zu Wagner dem französischen Legendenkreis entnehmen will und von denen er eines, das Mysterium des Saint Louis, später bloß im schwingenden Worte gestaltet hat. Aber die Eltern widerstreben dem zu frühen Wunsche, sie fordern praktische Betätigung und schlagen die »École Polytechnique«, die Technik vor. Endlich wird zwischen Pflicht und Neigung ein glücklicher Ausgleich geschaffen, man wählt das Studium der Geisteswissenschaften, die »École Normale«, in die Rolland 1886 nach schließlich glänzend bestandener Prüfung aufgenommen wird und die durch ihren besonderen Geist und die historische Form ihrer Geselligkeit seinem Denken und Schicksal entscheidende Prägung gibt.

École Normale

Inhaltsverzeichnis


Zwischen Feldern und freien Wiesen burgundischen Landes hat Rolland seine Kindheit verlebt, die erste Jugend der Gymnasiumsjahre in den brausenden Straßen von Paris: die Studienjahre schließen ihn noch enger ein, gleichsam in luftleeren Raum, in das Internat der École Normale. Um jede Ablenkung zu vermeiden, werden die Schüler dort abgesperrt gegen die Welt, ferngehalten vom wirklichen Leben, um das historische besser zu begreifen. Ähnlich wie im Priesterseminar, das Renan so wundervoll in seinen »Souvenirs d'enfance et de jeunesse« beschrieben hat, die jungen Theologen und in St. Cyr die zukünftigen Offiziere, so wird hier ein besonderer Generalstab des Geistes herangezogen, die »Normaliens«, die zukünftigen Lehrer zukünftiger Generationen. Traditioneller Geist und bewährte Methode vererben sich in fruchtbarer Inzucht, die besten Schüler sind bestimmt, an der selben Stelle als Lehrer wieder zu wirken. Es ist eine harte Schule, die unermüdlichen Fleiß fordert, weil sie sich Disziplinierung des Intellekts zum Ziele setzt, aber eben durch die angestrebte Universalität der Bildung gibt sie Freiheit in der Ordnung und vermeidet die gerade in Deutschland so gefährliche methodische Spezialisierung. Nicht durch Zufall sind gerade die umfassendsten Geister Frankreichs, wie Renan, Jaurès, Michelet, Monod und Rolland, aus der École Normale hervorgegangen.

So sehr in diesen Jahren die Leidenschaft Rollands auf Philosophie gerichtet ist – er studiert leidenschaftlich die Vorsokratiker und Spinoza –, so wählt er sich doch im zweiten Jahre Geschichte und Geographie als Hauptfach. Sie bietet ihm die meiste geistige Freiheit, indes die philosophische Sektion das Bekenntnis zum offiziellen Schulidealismus, die literarische zum rhetorischen Ciceronianismus erfordert. Und diese Wahl wird für seine Kunst Segnung und Entscheidung. Hier lernt er zum erstenmal für seine spätere Dichtung die Weltgeschichte als eine ewige Ebbe und Flut von Epochen zu betrachten, für die gestern, heute und morgen eine einzige lebendige Identität bedeuten. Er lernt Überblick und Ferne, und jene seine eminente Fähigkeit, Historisches zu verlebendigen und andererseits die Gegenwart als Biologe des Zeitorganismus kulturell zu betrachten, dankt seine Jugend diesen harten Jahren. Kein Dichter unserer Zeit hat auch nur annähernd ein ähnlich solides Fundament von tatsächlichem und methodischem Wissen auf allen Gebieten, und vielleicht ist im gewissen Sinne sogar seine beispiellose Arbeitsfähigkeit, sein dämonischer Fleiß ein Erlerntes aus jenen Jahren der Klausur.

Auch hier im Prytaneum – das Leben Rollands ist reich an solchen mystischen Sinnspielen – findet der Jüngling einen Freund, und wiederum ist es einer der zukünftigen Geister Frankreichs, wieder einer, der gleich Claudel und ihm selbst erst nach einem Vierteljahrhundert in das Licht des großen Ruhmes trat. Es wäre klein gedacht, dies bloß Zufall nennen zu wollen, daß die drei großen Vertreter des Idealismus, der neuen dichterischen Gläubigkeit in Frankreich, daß Paul Claudel, André Suarès, Charles Peguy gerade in ihren entscheidenden Schuljahren die täglichen Kameraden Romain Rollands gewesen sind und fast zu gleicher Stunde nach langen Jahren des Dunkels Gewalt über ihre Nation gewannen. Hier war längst aus Gesprächen, aus geheimnisvoll glühender Gläubigkeit eine Sphäre gewoben, die den Dunst der Zeit nicht sogleich zu durchdringen vermochte: ohne daß jedem dieser Freunde das Ziel deutlich geworden wäre – und in wie verschiedener Richtung hat der Weg sie getrieben! –, wurde das Elementare der Leidenschaft, der unerschütterliche Ernst zu großem Weltgefühl in ihnen doch gegenseitig bestärkt. Sie fühlten die gemeinsame Berufung, durch Aufopferung des Lebens, durch Verzicht auf Erfolg und Ertrag, ihrer Nation in Werk und Anruf die verlorene Gläubigkeit zurückzugeben; und jeder der vier Kameraden hat – Rolland, Suarès, Claudel, Peguy, jeder aus einer andern Windrichtung des Geistes – ihr Erhebung gebracht.

Mit Suarès verbindet ihn, so wie schon im Gymnasium mit Claudel, die Liebe zur Musik, besonders jener Wagners, dann die Leidenschaft für Shakespeare. »Diese Leidenschaft«, schrieb er einmal, »war erstes Band unserer langen Freundschaft. Suarès war damals noch ganz was er heute, nachdem er durch die vielen Phasen seines reifen und vielfältigen Wesens gegangen, wieder geworden ist – ein Renaissancemensch. Er hatte diese Seele, diese stürmischen Leidenschaften, ja, er sah mit seinen langen schwarzen Haaren, seinem blassen Gesicht und brennenden Augen selbst wie ein Italiener, gemalt von Carpaccio oder Ghirlandajo, aus. In einer der Schulaufgaben stimmte er einen Hymnus auf Cesare Borgia an. Shakespeare war sein Gott, wie er der meine war, und oft kämpften wir Seite an Seite für ›Will‹ gegen unsere Professoren.« Aber bald überflutet eine andere Leidenschaft jene für den großen Engländer, die »invasion scythe«, die begeisterte und wieder durch ein ganzes Leben weitergetragene Liebe zu Tolstoi. Diese jungen Idealisten, abgestoßen von dem allzu täglichen Naturalismus Zolas und Maupassants, Fanatiker, die nur zu einer großen heroischen Umspannung des Lebens aufblickten, sahen endlich über eine Literatur des Selbstgenusses (wie Flaubert und Anatole France) und der Unterhaltung eine Gestalt sich erheben, einen Gottsucher, der sein ganzes Leben auftat und hingab. Ihm strömten alle ihre Sympathien zu, »die Liebe zu Tolstoi vereinte alle unsere Widersprüche. Jeder liebte ihn zweifellos aus anderen Motiven, denn jeder fand in ihm nur sich selbst, aber für uns alle war er ein Tor ins unendliche Weltall aufgetan, eine Verkündigung des Lebens«. Wie immer seit den frühesten Kinderjahren ist die Spannung Rollands einzig auf die äußersten Werte eingestellt, auf den heroischen Menschen, den allmenschlichen Künstler.

In Jahren der Arbeit türmt der Fleißige in der École Normale Buch auf Buch, Schrift auf Schrift: schon haben seine Lehrer, Brunetière und vor allem Gabriel Monod, seine große Begabung für die historische Darstellung erkannt. Der Wissenszweig, den Jakob Burckhardt damals gewissermaßen erst erfindet und benennt, die Kulturgeschichte, das geistige Gesamtbild der Epoche, fesselt ihn am meisten, und unter den Zeiten ziehen ihn vor allem jene der Religionskriege an, in denen sich – wie früh doch die Motive seines ganzen Schaffens eigentlich klar sind! – das Geistige eines Glaubens mit dem Heroismus der persönlichen Aufopferung durchdringt; er verfaßt eine ganze Reihe von Studien und plant gleich ein Riesenwerk, eine Kulturgeschichte des Hofes der Katharina von Medici. Auch im Wissenschaftlichen hat der Beginner schon jene Kühnheit zu äußersten Problemen: nach allen Seiten spannt er sich, aus Philosophie, Biologie, Logik, Musik, Kunstgeschichte, aus allen Bächen und Strömen des Geistigen trinkt er gierig Fülle in sich. Aber die ungeheure Last des Gelernten erdrückt ebensowenig den Dichter in ihm, als ein Baum seine Wurzeln erdrückt. Der Dichter schreibt in weggestohlenen Stunden poetische und musikalische Versuche, die er aber verschließt und für immer verschlossen hat. Und ehe er, im Jahre 1888, die École Normale verläßt, um dem Leben als Erfahrung gegenüberzutreten, verfaßt er ein merkwürdiges Dokument, gewissermaßen ein geistiges Testament, ein moralisch philosophisches Bekenntnis »Credo quia verum«, das auch heute noch nicht veröffentlicht ist, aber nach Aussage eines Jugendfreundes schon das Wesentliche seiner freien Weltanschauung zusammenfaßt. Im spinozistischen Geist geschrieben, fußend nicht auf dem »Cogito ergo sum«, sondern einem »Cogito ergo est«, baut es die Welt auf und darüber ihren Gott: für sich allein legt er Rechenschaft ab, um nun frei zu sein von aller metaphysischen Spekulation. Wie ein versiegeltes Gelübde trägt er dies Bekenntnis hinaus in den Kampf und braucht nur sich selbst treu zu bleiben, um ihm treu zu sein. Ein Fundament ist geschaffen und tief in die Erde gesenkt: nun kann der Bau beginnen.

Das sind seine Werke in jenen Lehrjahren. Aber über ihnen schwebt noch ungewiß ein Traum, der Traum von einem Roman, der Geschichte eines reinen Künstlers, der an der Welt zerbricht. Es ist »Johann Christof« im Puppenstadium, erste verwölkte Morgendämmerung des späten Werks. Aber noch unendlich viel Schicksal, Begegnung und Prüfung ist vonnöten, ehe sich die Gestalt, farbig und beschwingt, dem dunklen Zustand der ersten Ahnung entringen mag.

Botschaft aus der Ferne

Inhaltsverzeichnis


Die Schuljahre sind zu Ende. Und wieder erhebt sich die alte Frage der Lebenswahl. So sehr ihn Wissenschaft bereichert und begeistert, den tiefsten Traum erfüllt sie dem jungen Künstler noch nicht: mehr als je neigt seine Leidenschaft zu Dichtung und Musik. Selbst aufzusteigen in die erhabene Reihe derer, die mit ihrem Wort, ihrer Melodie die Seelen aufschließen, ein Gestaltender, ein Tröstender zu werden, bleibt Rollands brennende Sehnsucht. Aber das Leben scheint geordnetere Formen zu verlangen. Disziplin statt Freiheit, Beruf statt Berufung. Unschlüssig steht der Zweiundzwanzigjährige am Scheidewege des Lebens.

Da kommt Botschaft aus der Ferne zu ihm, Botschaft von der geliebtesten Hand. Leo Tolstoi, in dem die ganze Generation den Führer verehrt, das Sinnbild gelebter Wahrheit, läßt in diesem Jahre jene Broschüre erscheinen »Was sollen wir tun?«, die das fürchterlichste Anathema über die Kunst ausspricht. Das Teuerste für Rolland zerschmettert er mit verächtlicher Hand: Beethoven, zu dem der Jüngling täglich aufblickt in klingendem Gebet, nennt er einen Verführer zur Sinnlichkeit, Shakespeare einen Dichter vierten Ranges, einen Schädling. Die ganze moderne Kunst fegt er wie Spreu von der Tenne, das Heiligste des Herzens verstößt er ihm in die Finsternis. Diese Broschüre, die ganz Europa erschreckte, mochten Ältere mit leichtem Kopfschütteln abwehren – in diesen jungen Menschen aber, die Tolstoi als den Einzigen einer verlogenen und mutlosen Zeit verehrten, wirkt sie wie ein Waldbrand des Gewissens. Furchtbare Entscheidung zwischen Beethoven und dem anderen Heiligen ihres Herzens ist ihnen zugemutet. »Die Güte, Klarheit, die absolute Wahrhaftigkeit dieses Menschen hatten ihn mir zum fehllosen Führer in der moralischen Anarchie gemacht,« schreibt Rolland von dieser Stunde, »aber gleichzeitig liebte ich seit meiner Kindheit leidenschaftlich die Kunst, sie war, insbesondere die Musik, meine lebendige Nahrung, ja, ich kann sogar sagen, daß die Musik meinem Leben so nötig war wie das Brot.« Und eben diese Musik verflucht Tolstoi, sein geliebter Lehrer, der Menschen Menschlichster, als einen »pflichtlosen Genuß«, verhöhnt als Verführer zur Sinnlichkeit den Ariel der Seele. Was tun? Das Herz des jungen Menschen krampft sich zusammen: soll er dem Weisen von Jasnaja Poljana folgen, sein Leben loslösen von jedem Willen zur Kunst, soll er seiner innersten Neigung gehorchen, die alles Leben in Musik und Wort verwandeln will? Einem muß er untreu werden: entweder dem verehrtesten Künstler oder ihr selbst, der Kunst, dem geliebtesten Menschen oder der geliebtesten Idee.

In diesem Zwiespalt entschließt sich der junge Student, etwas ganz Unsinniges zu tun. Er setzt sich eines Tages hin und richtet aus seiner kleinen Mansarde einen Brief in die unendliche russische Ferne hinüber, einen Brief, in dem er Tolstoi die Gewissensnot seines Zweifels schildert. Er schreibt ihm, wie Verzweifelte zu Gott beten, ohne Hoffnung auf das Wunder einer Antwort, nur aus dem brennenden Bedürfnis der Konfession. Wochen vergehen, Rolland hat längst die törichte Stunde vergessen. Aber eines Abends, als er in sein Dachzimmer heimkehrt, findet er auf dem Tisch einen Brief oder vielmehr ein kleines Paket. Es ist die Antwort Tolstois an den Unbekannten, in französischer Sprache geschrieben, ein Brief von 38 Seiten, eine ganze Abhandlung. Und dieser Brief vom 14. Oktober 1887 (der später als das 4. Heft der dritten Serie der Cahiers de la Quinzaine von Peguy veröffentlicht wurde) beginnt mit den liebenden Worten »Cher frère«. Er spricht zuerst die tiefe Erschütterung des großen Mannes aus, dem der Schrei des Hilfesuchenden bis in das Herz gedrungen. »Ich habe Ihren Brief empfangen, er hat mich im Herzen berührt. Ich habe ihn mit Tränen in den Augen gelesen.« Dann versucht er dem Unbekannten seine Ideen über die Kunst zu entwickeln: daß nur jene einen Wert habe, die Menschen verbinde, und daß nur jener Künstler zähle, der seiner Überzeugung ein Opfer bringt. Nicht Liebe zur Kunst, sondern Liebe zur Menschheit sei die Vorausbedingung aller wahren Berufung; nur wer von ihr erfüllt sei, dürfe hoffen, jemals in der Kunst etwas Wertvolles zu leisten.

Diese Worte sind lebensentscheidend für die Zukunft Romain Rollands geworden. Aber was den Beginnenden noch mehr erschüttert als die Lehre – die Tolstoi ja noch oft und in deutlicheren Formen ausgesprochen –, ist das Geschehnis der menschlichen Hilfsbereitschaft, nicht also so sehr das Wort, sondern die Tat dieses gütigen Menschen. Daß der berühmteste Mann seiner Zeit auf den Anruf eines Namenlosen, eines Unbekannten, eines kleinen Studenten in einer Pariser Gasse, sein Tagewerk weggelegt und einen Tag oder zwei darauf verwandt hatte, diesem unbekannten Bruder zu antworten und ihn zu trösten, dies wird Rolland ein Erlebnis, ein tiefes und schöpferisches Erlebnis. Damals hat er in Erinnerung eigener Not, in Erinnerung der fremden Tröstung gelernt, jede Krise eines Gewissens als etwas Heiliges zu betrachten, jede Hilfeleistung als erste moralische Pflicht des Künstlers. Und von jener Stunde, da er das Briefblatt löste, war in ihm der große Helfer, der brüderliche Berater erstanden. Sein ganzes Werk, seine menschliche Autorität hat hier ihren Anbeginn. Nie hat er seitdem, auch in der drückendsten Fülle eigener Arbeit im Gedenken an die empfangene Tröstung, einem Anderen Hilfe in zwingender Gewissensnot verweigert, aus dem Briefe Tolstois erwuchsen unzählige Rollands, Tröstung aus Tröstung weitwirkend über die Zeit. Dichter zu sein, ist ihm von nun ab eine heilige Mission, und er hat sie erfüllt im Namen seines Meisters. Selten hat die Geschichte schöner als an diesem Beispiel bezeugt, daß in der moralischen Welt wie in der irdischen nie ein Atom an Kraft verloren geht. Die Stunde, die Tolstoi wegwarf an einen Unbekannten, ist auferstanden in tausend Briefen Rollands an tausend Unbekannte, unendliche Saat weht heute durch die Welt von diesem einzelnen hingestreuten Samenkorn der Güte.

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Die Weihe

Inhaltsverzeichnis


Die beiden Jahre in Italien, Jahre des freien Empfangens und schöpferischen Genießens, gehen zu Ende. Aus Paris ruft die Schule, die Rolland als Schüler verlassen, ihn nun als Lehrer zurück. Der Abschied ist schwer, und Malvida von Meysenbug, die gütige greise Frau, findet ihm noch einen schönen symbolischen Abschluß. Sie lädt den jungen Freund ein, mit ihr nach Bayreuth zu kommen, in die unmittelbarste Sphäre des Menschen, der mit Tolstoi das Sternbild seiner Jugend war und den er nun lebendiger fühlt aus ihrer beseelten Erinnerung. Rolland wandert zu Fuß durch Umbrien, in Venedig treffen sie zusammen, sehen den Palazzo, in dem der Meister starb, und fahren dann nach Norden in sein Haus zu seinem Werk. »Damit er« – wie sie in ihrer seltsam pathetischen und doch irgendwie ergreifenden Art sagt – »mit diesem erhabenen Eindruck die Jahre in Italien und diese reiche Jünglingszeit beschließe und denselben gleichsam als Weihe auf der Schwelle des Mannesalters mit seiner voraussichtlichen Arbeit und seinen wohl nicht ausbleibenden Kämpfen und Täuschungen empfange.«

Nun ist Olivier in Johann Christofs Land. Gleich am Morgen der Ankunft führt Malvida, noch ehe sie sich bei den Freunden in Wahnfried anmeldeten, ihn in den Garten zu des Meisters Grab. Rolland entblößt wie in einer Kirche das Haupt, schweigend stehen sie lange im Gedenken an den heroischen Menschen, der dieser einen ein Freund, dem andern ein Führer war. Und abends empfangen sie sein Vermächtnis, den Parsifal. Dieses Werk, das geheimnisvoll wie auch die Stunden jener Gegenwart mit der Geburt des Johann Christof verbunden ist, wird eine Weihestunde für seine zukünftige Zeit. Dann ruft ihn das Leben aus so großen Träumen. Ergreifend schildert die Siebzigjährige diesen Abschied: »Durch die Güte meiner Freunde für alle Aufführungen in ihre Loge eingeladen, hörte ich noch einmal Parsifal zusammen mit Rolland, der dann nach Frankreich zurückgehen mußte, um in die große Gewerbstätigkeit als schaffendes Glied einzutreten. Es war mir furchtbar leid um ihn, den Hochbegabten, daß er sich nicht frei zu ›höheren Sphären‹ heben und ganz in der Entfaltung künstlerischer Triebe vom Jüngling zum Manne reifen konnte. Aber ich wußte auch, daß er dennoch am sausenden Webstuhl der Zeit mithelfen würde, der Gottheit lebendiges Kleid zu wirken. Die Tränen, die beim Schluß der Aufführung des Parsifal in seinen Augen standen, verbürgten mir aufs neue diese Annahme, und so sah ich ihn scheiden mit innigem Danke für die poesieerfüllte Zeit, die mir seine Talente bereitet hatten, und mit dem Segen, den das Alter der Jugend mitgibt in das Leben.«

Eine reiche Zeit für sie beide endet in dieser Stunde, aber nicht ihre schöne Freundschaft. Noch durch Jahre, bis zu dem letzten ihres Lebens, schreibt Rolland ihr allwöchentlich, und in diesen Briefen, die er nach ihrem Tode zurückerhielt, ist vielleicht die Biographie seiner eigenen Jugend vollkommener gebildet, als je andere sie werden sagen können. Unendliches hat er gelernt in dieser Begegnung: Weite des Wissens um das Wirkliche ist ihm nun gegeben, Zeitgefühl ohne Grenze, und er, der nach Rom gegangen, um nur vergangene Kunst zu erfassen, fand dort das lebendige Deutschland und die Gegenwart der ewigen Helden. Der Dreiklang aus Dichtung, Musik und Wissenschaft harmonisiert sich unbewußt mit dem andern: Frankreich, Deutschland, Italien. Europäischer Geist ist nun für immer der seine, und noch ehe der Dichter eine Zeile geschrieben, lebt schon in seinem Blute der große Mythos des Johann Christof.

Lehrjahre

Inhaltsverzeichnis


Nicht nur die innere Linie des Lebens, auch die äußere Richtung des Berufes hat in diesen beiden Jahren in Rom entscheidende Form gewonnen: ähnlich wie bei Goethe harmonisiert sich in der erhabenen Klärung südlicher Landschaft das Widerstreitende des Willens. Ein Unsicherer, Unentschiedener war Rolland nach Italien gegangen, Musiker dem Genius nach, Dichter aus Neigung, Historiker aus Notwendigkeit. Allmählich hatte sich dort in magischer Bindung die Musik der Dichtung verschwistert: in jenen ersten Dramen strömt lyrische Melodik in das Wort übermächtig ein, gleichzeitig hatte der historische Sinn das farbige Kolorit großer Vergangenheit hinter diesen beschwingten Worten als eine mächtige Kulisse aufgestellt. Der Heimgekehrte vermag nun die dritte Bindung seiner Begabung und seines Berufes zu vollziehen, er wird nach Erfolg seiner These »Les origines du théatre lyrique moderne« (Histoire de l'Opéra en Europe avant Lully et Scarlatti) Lehrer der Musikgeschichte zuerst an der École Normale, dann von 1903 an der Sorbonne; die »éternelle floraison«, die ewige Blüte der Musik, als eine unendliche Folge durch die Zeiten zu schildern, deren jede doch wieder ihre seelische Schwingung in den Gestaltungen verewigt, ist seine Aufgabe, und er zeigt – zum erstenmal sein Lieblingsthema entdeckend –, wie die Nationen in dieser scheinbar abstrakten Sphäre zwar ihre Charaktere ausprägen, aber doch immer die höhere, die zeitlose, die internationale Einheit unbewußt aufbauen. Fähigkeit des Verstehens und des Verstehenlassens ist ja der innerste Kern seiner menschlichen Wirksamkeit, und hier, im vertrautesten Element, wird seine Leidenschaft mitteilsam. In lebendigerem Sinne als alle vor ihm lehrt er seine Wissenschaft, erzeigt im unsichtbar Seienden der Musik, daß das Große in der Menschheit niemals einer Zeit, einem Volke allein zugeteilt ist, sondern in ewiger Wanderschaft über die Grenzen und Zeiten als heiliges Feuer glüht, das ein Meister dem andern weiterreicht und das nie verlöschen wird, solange noch der Atem der Begeisterung vom Munde der Menschen ausgeht. Es gibt keinen Gegensatz, keinen Zwiespalt in der Kunst, »die Geschichte muß zum Gegenstand die lebendige Einheit des menschlichen Geistes haben, darum ist sie gezwungen, die Bindung aller seiner Gedanken aufrechtzuerhalten«.

Von jenen Vorträgen, die Romain Rolland in der »École des hautes études sociales« und der Sorbonne hielt, erzählen Zuhörer noch heute mit unverminderter Dankbarkeit. Historisch war an jenen Vorträgen eigentlich nur der Gegenstand, wissenschaftlich bloß das Fundament. Rolland hat heute neben seinem universalen Ruhm noch immer den fachlichen in der Musikforschung, das Manuskript von Luigi Rossis »Orfeo« entdeckt und die erste Würdigung des vergessenen Francesco Provencale gegeben zu haben, aber seine menschlich umfassende, wahrhaft enzyklopädische Betrachtung machte jene Stunden über »die Anfänge der Oper« zu Freskobildern ganzer verschollener Kulturen. Zwischen den Worten ließ er die Musik sprechen, gab am Klavier kleine Proben, die längst verklungene Arien in demselben Paris, wo sie vor dreihundert Jahren zum erstenmal aufgeblüht waren, aus Staub und Pergament wieder silbern aufwachen ließen. Damals begann in dem noch jungen Rolland jene unmittelbare Wirkung auf die Menschen, jene erläuternde, fühlende, erhebende, bildende und begeisternde Kraft, die seitdem, durch sein dichterisches Werk immer fernere Kreise erfassend, sich ins Unermeßliche gesteigert hat, im Kernpunkt aber ihrer Absicht treu geblieben ist: in allen Formen der Geschichte und Gegenwart einer Menschheit das Große ihrer Gestalten und die Einheit aller reinen Bemühung zu zeigen.

Selbstverständlich machte seine Leidenschaft für die Musik nicht im Historischen halt. Nie ist Romain Rolland Fachmensch geworden, jede Vereinzelung widerstrebt seiner synthetischen, seiner bindenden Natur. Für ihn ist alle Vergangenheit nur Vorbereitung für die Gegenwart, das Gewesene nur Möglichkeit gesteigerten Erfassens der Zukunft. Und an die gelehrten Thesen und die Bände der »Musiciens d'autrefois«, »Händel« der »Histoire de l'Opéra en Europe avant Lully et Scarlatti« reihen sich die Aufsätze der »Musiciens d'aujourd'hui«, die er als Vorkämpfer für alles Moderne und Unbekannte in der »Revue de Paris« und »Revue de l'Art dramatique« zuerst veröffentlicht hatte. Das erste Porträt Hugo Wolfs in Frankreich, das hinreißendste des jungen Richard Strauß und Debussys ist in ihnen gezeichnet; unermüdlich blickt er nach allen Seiten, die neuen schöpferischen Kräfte der europäischen Tonkunst zu gewahren; er reist zum Straßburger Musikfest, Gustav Mahler zu hören, und nach Bonn zu den Beethovenfesttagen. Nichts bleibt seiner leidenschaftlichen Wissensgier, seinem Gerechtigkeitssinn fremd: von Katalonien bis Skandinavien lauscht er auf jede neue Welle im unendlichen Meer der Musik, im Geist der Gegenwart nicht minder heimisch als in dem der Vergangenheit.

Lehrend in diesen Jahren, lernt er auch selbst vom Leben viel. Neue Kreise tun sich ihm auf in demselben Paris, das er bisher kaum anders als von dem Fenster der einsamen Studierstube gekannt. Seine Stellung an der Universität, seine Verheiratung bringen den Einsamen, der bisher nur mit einzelnen vertrauten Freunden und den fernen Heroen gelebt, in Berührung mit der geistigen und mondänen Gesellschaft. Im Hause seines Schwiegervaters, des berühmten Archäologen Michel Breal, lernt er die Leuchten der Sorbonne kennen, in den Salons das ganze Getümmel von Finanzmännern, Bürgern, Beamten, alle Schichten der Stadt, durchwoben mit den in Paris unvermeidlichen kosmopolitischen Elementen. Der Romantiker Rolland wird in diesen Jahren unwillkürlich Beobachter, sein Idealismus gewinnt, ohne an Intensität zu verlieren, kritische Kraft. Was er an Erfahrungen (oder besser an Enttäuschungen) aus diesen Begegnungen in sich sammelt, dieser ganze Schutt von Alltäglichkeit, wird später Zement und Unterbau für die Pariser Welt in »Der Jahrmarkt« (»La foire sur la place«) und »Das Haus« (»Dans la maison«). Gelegentliche Reisen nach Deutschland, die Schweiz, Österreich, das geliebte Italien bringen Vergleich und neues Wissen; immer weiter spannt sich über dem Wissen der Geschichte der wachsende Horizont der modernen Kultur. Der Heimgekehrte aus Europa hat sich Frankreich und Paris entdeckt, der Historiker die wichtigste Epoche für den Lebendigen: die Gegenwart.

Kampfjahre

Inhaltsverzeichnis


Alles ist nun in dem Dreißigjährigen gespannte Kraft, verhaltene Leidenschaft zur Tat. In allen Zeichen und Bildern, in der Vergangenheit und an den künstlerischen Gestalten der Gegenwart hat sein begeisterter Sinn Größe gesehen: nun drängt es ihn, sie zu erleben, sie zu gestalten.

Aber ein Wille zur Größe findet eine kleine Zeit. Als Rolland beginnt, sind die Gewaltigen Frankreichs schon dahingegangen, Victor Hugo, der unentwegte Rufer zum Idealismus, Flaubert, der heroische Arbeiter, Renan, der Weise, sind tot, die Gestirne des nachbarlichen Himmels, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, sind gesunken oder verdunkelt. Die Kunst, selbst die ernste eines Zola, eines Maupassant, dienen dem Täglichen, schaffen nur Bildnis einer verderbten und verweichlichten Zeit. Die Politik ist kleinlich und vorsichtig, die Philosophie schulmäßig und abstrakt geworden: nichts Gemeinsames bindet mehr die Nation, deren Glaubenskraft in der Niederlage für Jahrzehnte erschüttert worden ist. Er will wagen, aber die Welt will kein Wagnis. Er will kämpfen, aber die Welt will Behaglichkeit. Er will Gemeinschaft, aber die Welt keine andere als die des Genusses.

Da stürzt plötzlich ein Sturm über das Land. Die untersten Tiefen Frankreichs sind aufgewühlt, mit einem Male steht die ganze Nation in Leidenschaft um ein geistiges, ein moralisches Problem: und leidenschaftlich wie ein verwegener Schwimmer stürzt sich Rolland als einer der Ersten in die aufgeregte Flut. Über Nacht hat die Dreyfus-Affäre Frankreich in zwei Parteien zerrissen, es gibt da kein Abseitsstehen, keine kühle Betrachtung, die Besten faßt die Frage am stärksten, für zwei Jahre ist die ganze Nation messerscharf in zwei Meinungen, in Schuldig oder Unschuldig zerrissen, und dieser Schnitt geht erbarmungslos – am besten kann man es im »Johann Christof« und den Memoiren Peguys nachlesen – mitten durch Familien, trennt Brüder von Brüdern, Väter von Söhnen, Freunde von Freunden. Wir von heute können kaum mehr verstehen, daß die Angelegenheit eines wegen Spionage verdächtigten Artilleriehauptmanns für ein ganzes Land zur Krise wurde, aber die Leidenschaft wuchs über den Anlaß hinaus ins Geistige: eine Frage des Gewissens war jedem Einzelnen gestellt, Entscheidung zwischen Vaterland und Gerechtigkeit, und mit explosiver Wucht schmettert sie aus jedem Aufrichtigen die moralischen Kräfte in den Kampf. Rolland war einer der ersten in jenem engen Kreise, der von allem Anfang an für die Unschuld des Dreyfus eintrat, und gerade die Aussichtslosigkeit jener allerersten Bemühungen war für ihn Anreiz des Gewissens; während Peguy mehr von der mystischen Kraft des Problems ergriffen war, von der er eine sittliche Reinigung seines Vaterlandes erhoffte, während er agitatorisch in Broschüren mit Bernard Lazare die Affäre zum Flammen brachte, begeisterte Rolland das immanente Problem der Gerechtigkeit. Mit einer dramatischen Paraphrase »Die Wölfe«, die er unter dem Pseudonym St. Just veröffentlichte und die in Gegenwart Zolas, Scheurer-Kestners, Piquarts unter leidenschaftlicher Anteilnahme der Zuhörer gespielt wurde, hob er das Problem aus der Zeit ins Ewige hinaus. Und je mehr der Prozeß politisch wurde, seit sich die Freimaurer, die Antiklerikalen, die Sozialisten seiner als Sturmbock für ihre eigenen Absichten bedienten, je mehr der tatsächliche Erfolg für die Idee sich kundgab, um so mehr zog Rolland sich wieder zurück. Seine Leidenschaft gilt immer nur dem Geistigen, dem Problem, dem ewig Aussichtslosen – auch hier ist es sein Ruhm, einer der ersten und ein einsamer Kämpfer in einem historischen Augenblick gewesen zu sein.

Gleichzeitig aber eröffnet er Schulter an Schulter mit Peguy und dem alten im Kampf zurückgefundenen Jugendkameraden Suarès einen neuen Feldzug, aber keinen lauten, lärmenden, sondern eine Kampagne, deren stiller verschwiegener Heroismus mehr einem Passionswege glich. Sie spüren schmerzhaft die Korruption, die Verhurtheit, die Banalität und Käuflichkeit der Literatur, die in Paris den Tag beherrscht: sie offen zu bekämpfen wäre aussichtslos gewesen, denn diese Hydra hat alle Zeitschriften in Händen, alle Journale sind ihr dienstbar. Nirgends ist ihre glatte, quallige, tausendarmige Wesenheit tödlich zu treffen. Und so beschließen sie, ihr entgegenzuarbeiten, nicht mit den eigenen Mitteln, dem Lärm und der Betriebsamkeit, sondern mit dem moralischen Gegenbeispiel, der stillen Aufopferung und beharrlichen Geduld. Fünfzehn Jahre lang erscheint ihre Zeitschrift, die »Cahiers de la quinzaine«, die sie selbst schreiben und verwalten. Kein Centime wird für Reklame verausgabt, kaum findet man bei irgendeinem Buchhändler ein Heft, Studenten, ein paar Literaten, ein kleiner enger Kreis sind die Leser, die allmählich erst eine Gemeinde werden. Über ein Jahrzehnt läßt Romain Rolland alle seine Werke in diesen Heften erscheinen, den ganzen Johann Christof, Beethoven, Michelangelo, die Dramen, ohne – der Fall ist beispiellos in der neueren Literatur – einen Franken Honorar zu erhalten (und seine finanziellen Verhältnisse waren damals wahrhaftig keine rosigen). Aber nur um ihren Idealismus zu erhärten, um ein moralisches Beispiel zu schaffen, verzichten diese heroischen Menschen ein Jahrzehnt auf Besprechungen, auf Verbreitung und Honorar, auf diese heilige Dreifaltigkeit aller Literatengläubigkeit. Und als endlich die Zeit der Cahiers gekommen war durch Rollands, durch Peguys, durch Suarès' späten Ruhm, da endet ihre Herausgabe, ein unvergängliches Denkmal des französischen Idealismus und künstlerisch menschlicher Kameradschaft.

Und noch ein drittes Mal versucht sich die geistige Leidenschaftlichkeit Rollands in einer Tat. Noch ein drittes Mal tritt er für eine Lebensstunde in eine Gemeinschaft, um Lebendiges im Lebendigen zu schaffen. Eine Gruppe junger Leute hat in richtiger Erkenntnis des Unwertes und der Verderblichkeit des französischen Boulevarddramas, dieser ewigen Ehebruchsakrobatik einer gelangweilten Bürgerlichkeit, versucht, das Drama wieder dem Volke, dem Proletariat und damit einer neuen Kraft zurückzugeben. In ungestümer Feurigkeit nimmt Rolland die Bemühung auf, schreibt Aufsätze, Manifeste, ein ganzes Buch, und vor allem, er verfaßt aus dem innersten Gedanken heraus selbst eine Reihe von Dramen im Geiste und zur Verherrlichung der französischen Revolution. Jaurès führt mit einer Rede seinen Danton den französischen Arbeitern vor, auch die andern werden gespielt, aber die Tagespresse, offenbar in geheimer Witterung feindlicher Kraft, sucht sorglich die Leidenschaft abzukühlen. Und wirklich, die andern Teilnehmer erkalten im Eifer, und bald ist der schöne Elan der jugendlichen Gruppe gebrochen: Rolland bleibt allein zurück, reicher an Erfahrung und Enttäuschung, aber nicht ärmer an Gläubigkeit.

Allen großen Bewegungen leidenschaftlich verbunden, war Rolland doch immer innerlich frei geblieben. Er gibt seine Kraft in die Bestrebungen der andern, ohne sich willenlos von ihnen mitreißen zu lassen. Alles enttäuscht ihn, was er gemeinsam mit andern schafft: das Gemeinsame wird immer trübe durch das Unzulängliche aller Menschlichkeit. Der Dreyfusprozeß wird eine politische Affäre, das Théatre du Peuple geht zugrunde an Rivalitäten, seine Dramen, die dem Volke bestimmt waren, erlöschen an einem einzigen Theaterabend, seine Ehe zerbricht – aber nichts kann seinen Idealismus zerbrechen. Wenn das gegenwärtige Leben nicht durch den Geist zu bezwingen ist, so verliert er darum nicht den Glauben an den Geist: aus Enttäuschung erweckt er sich die Bilder der Großen, die die Trauer durch die Tätigkeit, das Leben durch die Kunst besiegen. Er läßt das Theater, er läßt den Lehrstuhl, er tritt zurück aus der Welt, um das Leben, das sich den reinen Taten verweigert, in gestaltetem Bilde zu fassen. Enttäuschungen sind für ihn nur Erfahrungen, und über eine kleine Zeit baut er nun in zehn Jahren der Einsamkeit ein Werk, das wirklicher ist im ethischen Sinne als die Wirklichkeit, und das den Glauben seiner Generation in eine Tat verwandelt: den »Johann Christof«.

Ein Jahrzehnt Stille

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Einen Augenblick lang war der Name Romain Rollands dem Pariser Publikum als der eines gelehrten Musikers, eines hoffnungsvollen Dramatikers vertraut gewesen. Dann ist er durch Jahre wieder verschollen, denn keine Stadt besitzt die Fähigkeit des Vergessens so gründlich und meistert sie so schonungslos wie Frankreichs Hauptstadt. Nie mehr wird der Name des Abseitigen genannt, nie selbst in den Kreisen der Dichter und Literaten, die doch die Wissenden um ihre eigenen Werte sein sollten. Man blättere zur Probe nach in allen den Revuen und Anthologien, in den Geschichten der Literatur: nirgends wird man Rolland auch nur verzeichnet finden, der damals schon ein Dutzend Dramen, die wundervollen Biographien und sechs Bände des »Johann Christof« veröffentlicht hatte. Die »Cahiers de la quinzaine« sind Geburtsstätte und gleichzeitig Grab seiner Werke, er selbst ist ein Fremder in der Stadt zur selben Zeit, da er ihre geistige Existenz so bildnerisch und umfassend wie kein zweiter gestaltet. Längst ist das vierzigste Lebensjahr überschritten, noch kennt er kein Honorar, keinen Ruhm, noch bedeutet er keine Macht, keine Lebendigkeit. Wie Charles Louis Philippe, wie Verhaeren, Claudel, Suarès, die Stärksten um die Wende des neunzehnten Jahrhunderts, ist er unwirksam, unbekannt auf der Höhe seines Schaffens. Sein Leben ist lange das Schicksal, das er selbst so hinreißend erzählt: die Tragödie des französischen Idealismus.

Aber eben diese Stille ist notwendig zur Vorbereitung von Werken solcher Konzentration. Das Gewaltige braucht immer erst Einsamkeit, ehe es die Welt gewinnt. Nur jenseits des Publikums, nur in heroischer Gleichgültigkeit gegen den Erfolg wagt sich ein Mensch an ein so aussichtsloses Beginnen wie einen Giganten-Roman in zehn Bänden, der sich überdies in einer Zeit auflodernden Nationalismus gerade einen Deutschen zum Helden nimmt. Nur in solcher Abseitigkeit kann sich eine ähnliche Universalität des Wissens zum Werk entwickeln, nur die ungestörte, vom Atem der Menschen unberührte Stille es ohne Hast in vorgedachter Fülle entfalten.

Ein Jahrzehnt ist Rolland der große Verschollene der französischen Literatur. Ein Geheimnis umgibt ihn: es heißt Arbeit. Ein dunkler Puppenzustand von Unbekanntheit umschließt jahrelang, jahrzehntelang seine einsame Mühe, der sich dann beflügelt das kraftbeschwingte Werk entringt. Viel Leiden ist in diesen Jahren, viel Schweigen und viel Wissen um die Welt, das Wissen eines Menschen, um den niemand weiß.