Über Mich Vraa

Foto: Simon Nørlev Nyberg

Mich Vraa, geboren 1954, lebt als Journalist, Schriftsteller und Übersetzer mit seiner Familie in Odense, Dänemark. Er übertrug u.a. Jonathan Franzen, Ernest Hemingway und Don DeLillo ins Dänische. Sein Roman Die Hoffnung wurde von der Kritik hochgelobt und ist für zahlreiche Preise nominiert.

 

 

Der Übersetzer Ulrich Sonnenberg lebt und arbeitet als freier Herausgeber und Übersetzer aus dem Dänischen und Norwegischen in Frankfurt am Main. 2013 erhielt er den Übersetzerpreis des Staatlichen Dänischen Kunstrats.

 

 

 

Sie alle sind von Natur aus böse, und von Gott wohnt auch nicht viel in ihnen. Ja, wenn ich das sagen darf, glaube ich wirklich, dass ihre schwarze Haut ein Zeugnis ihrer Boshaftigkeit ist, sie sind für die Sklaverei bestimmt und sollten keinerlei Freiheit haben.

 

Pflanzer J.R. Haagensen, Sankt Croix

 

 

 

Man kann Menschen vieles nehmen, aber nicht alles, auch dem Neger nicht. Wie bescheiden sie auch sein mag, so muss doch immer ein bisschen Hoffnung bleiben, dass das Leben besser werden kann. Also gebe ich sie ihnen. Ich gebe ihnen Hoffnung.

 

Pflanzer Jan Marcussen, Plantage Solitude, Sankt Thomas

Notiz in Kapitän Frederiksens Logbuch, 21. September 1788

Es ist jetzt Herbst, und ich führe mein Schiff Hoffnung von Sankt Thomas zurück nach Dänemark. Heute Nacht jedoch wurde ich wieder an unsere Abreise im vergangenen Jahr erinnert. Als wir eine Stunde nach Mitternacht den 54. kreuzten, legte sich der Wind. Ich stand am Ruder und war ganz allein auf dem Achterdeck. Es war so still an Bord, dass ich die Wellen gegen den Rumpf schlagen hörte; ein Mann drehte sich in seiner Koje unter Deck, ein anderer schnarchte wie ein blasender Wal, meine kleine, erst zwei Monate alte Tochter erwachte und weinte unten in der Koje, bis meine Frau sie trösten konnte.

Wenn Schiffe von den portugiesischen Inseln vor der afrikanischen Küste in Richtung Westen segeln, treffen sie zu Beginn der Atlantiküberquerung auf den Kalmengürtel. Die Stille, die dort herrscht, ist erschreckender als die meisten Unwetter. Das Schiff schwimmt mit der Äquatorialströmung, und doch sieht und spürt man keine Bewegung; Schiff und Strömung sind gleich schnell, die Segel hängen schlaff herab, die Sonne brennt, Durst und Wahnsinn breiten sich unter der Mannschaft aus. Man sehnt sich danach, aber man weiß nie, wann der Nordostpassat kommt.

Ich musste heute Nacht an den Kalmengürtel denken, und plötzlich wusste ich mit absoluter Sicherheit, dass ich die Stille dort nie wieder erleben werde. Genauso wie ich nie wieder sehen werde, wie Afrikas Küste sich aus dem Meer erhebt – oder die von Westindien. Denn als ich in der Stille der Nacht unter Deck meine Familie und meine Mannschaft hörte, begriff ich mit einem Mal, dass die Geräusche, die ich damals in der Nacht im Kalmengürtel gehört hatte – ein leises Murmeln aus dem Zwischendeck der Hoffnung, ein Wimmern, Jammern und Weinen –, auch von Menschen stammten. Unserer Ladung. Es waren Menschen, mit denen wir gesegelt sind.

Brief: Maria an ihre Mutter Ane Frederiksen, 20. November 1802

Liebe Mutter,

 

ich werde mit der Hoffnung in See stechen!

Ich kann mich nicht erinnern, jemals einen Satz geschrieben zu haben, der mich mit größerer Freude erfüllte: Ich werde mit der Hoffnung in See stechen! Zusammen mit Vater, der, seitdem ich auf der Welt bin, nie mehr gesegelt ist. Schon bald werden wir beide an Bord der Fregatte gehen und Kopenhagen verlassen. Wie Du weißt, habe ich Vater immer wieder bestürmt, mich mitzunehmen. Und sollte ich nun endlich die erste Frau – oder das erste Mädchen – sein, die zur See fährt, wem würde es schaden? Ich könnte nach und nach Vaters Geschäfte übernehmen und die Reederei weiterführen. Das habe ich ihm auch erklärt und ihn im selben Atemzug daran erinnert, dass er keinen Sohn hat. Er hat ein wenig betrübt und ernst gelächelt, aber ich weiß, dass er durchaus über meine Worte nachdenkt.

Wie ich Dir so oft geschrieben habe, hatte ich schon immer das Gefühl, nicht richtig hierher zu gehören. Ich sehe nicht aus wie die anderen Kinder, und ich habe mich ihnen auch nie zugehörig gefühlt. Und ich weiß, dass es mir als Erwachsene nicht besser ergehen wird. Meine Haare und meine Haut sind so anders, dass jeder, der mir begegnet, mich eigenartig findet. Auf dem Meer jedoch kann man sein, wer man will.

Kürzlich bekam Vater einen Brief aus Rotterdam in Holland. Die Fregatte ist nach einer weiteren Atlantiküberquerung nach Europa zurückgekehrt. Beladen mit Tabak, Gewürzen und Zucker von den westindischen Plantagen! Und eben da fragte Vater, ob ich mitfahren wolle, wenn sie im Frühjahr wieder in See sticht. Nur nach Jütland zunächst – Frederikshavn oder Skagen –, aber mein Herz beginnt schon bei dem Gedanken daran heftig zu schlagen. Es kommt mir vor, als hätte ich mein ganzes Leben darauf gewartet, ihn diese Worte sagen zu hören.

Ich weiß, dass Du diese Reise kaum befürworten wirst, Mutter, doch ich bitte Dich sehr, Dich für mich zu freuen. Und bestimmt werden wir uns im Frühjahr sehen – die Hoffnung läuft den Asiatisk Kompagnis Plads an, und das ist ja fast um die Ecke von Tante Inges Haus!

 

Liebe Grüße

Maria

Brief: Ane Frederiksen an Marias Vater, November 1802

Overgaden Oven Vandet, Christianshavn

Lieber Anton,

 

ich muss Dir sagen, dass ich tief erschüttert und unendlich traurig bin über das, was ich just habe erfahren müssen: Dass Du unserer Tochter, meinem Kind, erlauben willst, ihre unschuldigen Füße auf das Deck dieses hässlichen Schiffs zu setzen und sie sogar mit dieser verfluchten Fregatte bis an den fernsten Rand unseres Reiches reisen lassen willst. Hältst Du das für eine gute Idee, Anton? Willst Du unsere Tochter, die gerade einmal vierzehn Jahre alt ist, wirklich dieses unglückseligen Schiffs betreten lassen?

Maria hat mir geschrieben, dass sie mit der verbrecherischen Fregatte bis in den Norden Jütlands reisen wird. Aber Du kennst ihre kindlichen Träume, Du weißt, wohin es führen wird: zu weiterer Quengelei, zu weiterem Gerede über die unseligen Weltmeere (ist Wasser denn nicht bloß Wasser, und sind die Weltmeere nicht bloß umso mehr aus diesem Element, in dem jedwede Menschlichkeit ertrinkt? So kommt es mir jedenfalls in meinen Erinnerungen vor). Hier in Christianshavn begegnen mir immer wieder diese Träume, jede Woche laufen Schiffe vom Asiatisk Kompagnis Plads aus. Und die jungen Menschen drängen sich um den Teergestank der Schiffe und das Geräusch der schlagenden Taue, die Prahlereien der Seeleute und ihre gottlosen Flüche. Aber was wissen denn diese jungen Träumer, die sich so gern verlocken lassen, schon darüber, was dort draußen auf den Meeren zu finden ist? Ebenso wenig wie unsere Tochter, fürchte ich, und das heißt: nichts!

Ich weiß, ich selbst trage einen großen, vielleicht sogar den größten Teil der Schuld, weil ich die letzten Jahre nicht mit Dir und unserer Tochter geteilt habe, und ich bin Dir dankbar, dass Du Dich gut um sie gekümmert hast, das weißt Du. Und doch belasten mich diese verfluchte Fregatte und die Zeit vor der unglücklichen Trennung unserer Familie noch immer – wie oft hatte ich nicht das Gefühl, allmählich den Verstand zu verlieren? Ja, so ist es, Anton Frederiksen, ich hätte im Irrenhaus enden können, wenn ich mich nicht jeden Tag gezwungen hätte, stark zu sein und zu kämpfen, um zu vergessen.

Ich weiß, die Zeiten haben sich geändert, und die Fregatte transportiert Waren nach Westindien; und doch stellt sich mir die Frage, ob nicht Dinge – und Menschen – so von Boshaftigkeit durchdrungen sein können, dass man sie ihnen nie mehr austreiben kann. In meinen düsteren Stunden fürchte ich, dass es sich so verhält. Dieses Schiff und mit ihm viele andere Schiffe, die Inseln und die Orte in Afrika, und ja, auch die Menschen, werden für immer böse sein. Ich kann all das Unheil, das ich gesehen habe, nicht vergessen. Mehr Unglück, als irgendein Mensch ertragen könnte, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren. Ich beweine es noch immer, und ich bitte Dich inständig, Maria nicht an Bord dieses teuflischen Schiffs zu lassen!

 

Deine Ehefrau

Ane Frederiksen

Brief: Wilfred Bernt, angemusterter Skipper der Fregatte Hoffnung, an den Reeder Anton Frederiksen, Oktober 1802

Hochverehrter Schiffsreeder Anton Frederiksen,

 

es ist mir eine Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass Ihr Schiff Hoffnung Kopenhagen mit Mannschaft und Ladung in ungefähr zwei Wochen anlaufen wird. Die Seereise von Westindien ist ohne Kalamitäten verlaufen, und unsere Ladung aus Rohzucker, Kaffee, Tabak und diversen anderen Gütern sowie Rum befindet sich wohlbehalten an Bord.

 

Ihr ergebener

Wilfred Bernt

Brief: Anton Frederiksen an Wilfred Bernt, Asiatisk Plads, Christianshavn, November 1802

Mein braver Kapitän Bernt,

 

indem ich Ihnen für Ihren Brief aus Rotterdam danke und hoffe, dass Sie mein Schreiben wohlbehalten entgegennehmen können und dass Sie bei Ihrer Ankunft in unserer Hauptstadt guten Mutes sind, muss ich Ihnen hiermit eine Nachricht von gewisser Bedeutung zukommen lassen: Ich gedenke, an der ersten Etappe der nächsten Reise der Hoffnung teilzunehmen, das heißt von der Hauptstadt nach Frederikshavn oder Skagen, je nachdem, welchen Hafen wir vor der Umrundung von Skagens Riff anlaufen werden.

Wie Sie wissen, bin ich seit dem Jahre des Herrn 1788 nicht mehr auf See gewesen, nun aber hat mich meine Tochter Maria, die, wie Sie sich sicher erinnern werden, als Säugling von Westindien nach Dänemark kam, so lange Zeit bedrängt, auf einer Reise der Fregatte mitfahren zu dürfen, dass ich es ihr schließlich versprochen habe. Sie ist in ihrem fünfzehnten Lebensjahr und eine vernünftige junge Frau.

Ich erwarte Sie und die Hoffnung am Asiatisk Plads und werde mich sehr bald aus diesem Grund in die Hauptstadt begeben.

 

Mit großer Hochachtung

Anton Frederiksen

Schiffsreeder

Brief: Professor Mikkel Eide an den Verlagsredakteur Thomas de Souza, Dezember 1823

Charlotte Amalie, Sankt Thomas, Dezember 1823

Mein lieber Herr Redakteur de Souza,

 

nur eine kurze Notiz, dass ich auf den Westindischen Inseln angekommen bin, genauer gesagt auf der Plantage Solitude nordwestlich von Charlotte Amalie, Sankt Thomas. Die Insel, oder das Wenige, was ich bisher von ihr sehen konnte, wirkt auf mich wie ein sehr schöner Ort; es ist angenehm, hier zu sein, das Klima ist außerordentlich behaglich, und ich wurde überaus freundlich empfangen.

Es war eine Erleichterung, nach einer Seereise an Land zu kommen, die bestenfalls mit der Fahrt eines Dichters in die innersten Kreise der Hölle verglichen werden kann. Ich werde sehr bald schon versuchen, ausführlicher über die Reise von Guinea zu diesen paradiesischen Inseln zu schreiben, es muss indes warten, bis ich meine Gedanken geordnet habe; im Übrigen bin ich sicher, auch der Dichter Dante musste erfahren, dass es nicht so einfach ist, über das Leben in der Hölle zu berichten! Lassen Sie mich nur erwähnen, dass für einen Mann, der beabsichtigt, die Wahrheit über das Leben der Sklaven zu schreiben, allein die Seereise über den Atlantik eine Bestätigung meiner schlimmsten Ahnungen war.

Und dabei trat ich diese Reise im Jahre des Herrn 1823 an, mehr als zwanzig Jahre also, nachdem die Sklaventransporte per Verordnung abgeschafft wurden; können Sie sich vorstellen, wie schockiert ich war, als unser Schiff, das Paketschiff Kong Frederik, mehr als einhundert schwarze Sklaven an Bord nahm? Wir legten irgendwo an der Küste Guineas an, der Name des Orts ist mir unbekannt, und kauften Sklaven von einem der dort ansässigen Häuptlinge. Aber, und das schockierte mich am meisten, gut zwanzig Schwarze kamen aus dem dänischen Fort Christiansborg, wo derartige Gepflogenheiten laut dem Gesetz längst hätten unterbunden werden müssen.

Wenn man ihre grausame und verbrecherische Geschichte nicht kennt, sehen die Westindischen Inseln oberflächlich betrachtet aus, als wären sie ein heiterer und durchaus zivilisierter Ort. Ich habe mich in einer einfachen, aber komfortablen Hütte eingerichtet, die auf dem Grund der Plantage Solitude steht, direkt an der nördlichen Küste der Insel. Der Pflanzer ist ein guter Freund von Gouverneur Bardenfleth, der ihn mir empfahl. Er hat mir zugesagt, dass ich die Hütte als Wohnstatt nutzen darf, solange ich möchte.

Hier ist es in der Tat sehr schön. Diese Inseln ähneln wahrlich dem Paradies, es ist so, wie sie daheim beschrieben werden. Am Vormittag weht ein sanfter, ein wenig kühler Wind vom aquamarinblauen Meer her, eine regelmäßige Brise, die bewirkt, dass die Luft über den Bergmassiven der Insel in der Wärme aufsteigt und durch die weitaus angenehmere Seeluft ersetzt wird. Am Abend geschieht das genaue Gegenteil, wenn es nach dem plötzlichen Sonnenuntergang abkühlt und Dunkelheit sich über die Insel legt, als hätte jemand die Lampe des Karibischen Meers ausgeblasen. Die Luft wird nun von dem noch lauen Meer angesogen, vom dunklen Spiegel der Lagune, die so hübsch im Mondlicht glänzt. Die Neger und auch einige Weiße nennen diesen Wind den Totengräberwind, weil sie meinen, dass er alles Tote und Schlechte von der Insel bläst. Vermutlich gibt es auch für den Wind, der zu Beginn des Tages die Insel mit salziger, balsamischer Meeresluft erfüllt, einen Namen, der mir noch nicht bekannt ist. Wie Sie aus diesen Zeilen lesen können, bin ich in gewisser Hinsicht hingerissen von diesem Ort! Nach Monaten auf See – der grausame Ozean hat während der Überfahrt so viele Menschenleben gefordert – erheben sich diese Inseln aus dem leuchtenden Meer, und wäre man nicht ein verknöcherter und gottloser Skribent, würde man bei diesem wunderbaren Anblick die Hand eines göttlichen Geistes spüren, denn es ist kaum zu beschreiben, welch herrlichen Anblick diese Inseln bieten. Plötzlich tauchen sie auf, wie eine Flottille von Schiffen mit Schaum vor dem nach Osten weisenden Bug; schmale leuchtende Streifen mit dem weißesten Sand zwischen dem Blau des Meeres und den üppigen, grünen Bergmassiven. Und dazu der Himmel mit seinen weißen und bisweilen aschgrauen Haufenwolken, die schwer über den Gipfeln der Berge hängen. Nach Monaten auf dem düsteren, bleigrauen Meer … ich sage Ihnen, es ist ein Anblick, der sich nicht beschreiben lässt.

Ich stelle mir vor, dass all die armen Teufel, die Tausende und Abertausende von Mitmenschen, die von zynischen Kapitänen seit mehr als hundertfünfzig Jahren hierher transportiert wurden, gedacht haben müssen, nun seien sie endlich im Paradies angekommen, in einem Garten Eden in der Fremde. Vielleicht haben sie für einen kurzen Moment ein wenig Hoffnung empfunden bei der Aussicht auf das Leben, das sie hier auf den Inseln erwartet. Ich glaube es, und alles in mir zieht sich zusammen, wenn ich an die Enttäuschung denke, die sie erleben mussten. Denn dies ist keineswegs der Garten Eden, wie Sie sicher wissen. Mein ganzes Leben als erwachsener Mann habe ich mich danach gesehnt, der Welt erzählen zu können, was hier seit über einhundertfünfzig Jahren vor sich geht, auf diesen dänischen (sic) Inseln. Die Geschichte, deren Veröffentlichung Sie mir so großzügig ermöglichen, wird Ihre Leserschaft erschüttern. All diese Schicksale! All diese Menschen! All dieser Tod und all dieses Unheil! Und begonnen hat das Ganze mit dem Glauben frommer Männer, mit dem christlichen Glauben und Gottesfurcht. Nichts könnte fataler sein. Gottesfurcht? Ja, ich glaube gern, dass man diese Furcht tatsächlich spürt, wenn man auf einem Sklavenschiff festgebunden am Besanmast hängt und die blutige Peitsche in der Hand eines frommen Nächsten einem die Haut vom Rücken reißt!

Seit Jahrhunderten leiden die Menschen und werden grausam ausgenutzt, mal im Namen des einen, mal des anderen Gottes. Aber was ist mit der Nächstenliebe, die diese frommen Männer stets predigen und in deren Namen sie ihre Wechsel ziehen? Wenn es darauf ankommt, regiert das Geld. Hier auf den Inseln ist der weiße Mann wegen des Zuckers, und wegen des Zuckers mussten auch die Schwarzen kommen. Doch während die ersten Siedler als Abenteurer und Auswanderer hier landeten, um den Reichtum der Inseln zu ernten, kamen die anderen gegen ihren Willen hierher, als die erbärmlichsten aller Wesen, kaum noch als Menschen, schufteten sich zu Tode und mussten zusehen, wie ihre Kinder und Liebsten für die goldenen Kragenknöpfe der Weißen gezwungen wurden, dasselbe zu tun.

Ich schaue in den Spiegel und sehe einen weißen Mann. Und es widert mich an.

 

Hochachtungsvoll

Mikkel Eide

Brief: Thomas de Souza an Mikkel Eide, August 1822

Kopenhagen, 7. August 1822

Mein lieber Professor Eide,

 

ich schreibe, um Ihnen mitzuteilen, dass ich mit dem allergrößten Interesse Ihre kürzlich verschickte Streitschrift über die Sklaverei in den Kolonien gelesen habe. Wie scharfsinnig und kühn formuliert, und wie wahrhaftig! Es ist eine eigentümliche Geschichte, dass Dänemarks König bereits vor dreißig Jahren den Handel mit Menschen verboten hat, während wir noch immer, so viele Jahre danach, in unseren Kolonien Sklaven halten. Unter allerlei Vorwänden hat man nun mehrere hundert Jahre mit schwarzen Menschen gehandelt, sie ausgenutzt und sich dazu berechtigt gefühlt, nur weil ihre Erscheinung den Augen weißer Europäer primitiv vorkommt. Sind sie nicht auch Menschen? Wenn man sie peitscht, bluten sie dann nicht? Wenn man sie erschießt, sterben sie dann nicht?

Ich bin ganz sicher, dass diese schändliche Praxis schon bald ein Ende haben wird. Einflussreiche Kräfte in mehreren europäischen Ländern sind hinsichtlich dieser Forderungen aktiv, England wird die Sklaverei vermutlich in wenigen Jahren verbieten. Möglicherweise müssen die reichen Pflanzer Westindiens ein wenig von ihrem Reichtum lassen, wenn sie bei ihren Geschäften nicht länger von unentgeltlicher Arbeitskraft profitieren, aber ich weiß, dass diese Menschen zu den wohlhabendsten Dänen überhaupt gehören. Die Plantagen werden nicht unrentabel, selbst wenn ihre Besitzer für die Arbeit auf den Zuckerrohrfeldern und in den Zuckermühlen bezahlen müssen. Sind die Zeitungen der Hauptstadt etwa eingegangen, nur weil die Lohnschreiber und Drucker für ihre Arbeit bezahlt werden wollten? Ist es unrentabel für freie dänische Bauern, ihre Ernten einzubringen, nur weil Knechte und Tagelöhner einen anständigen Lohn für ihre Arbeit bekommen? Nein, es wird weiterhin profitabel sein, Zucker auf den dänischen Inseln unter dem Wind anzubauen; die anhaltende Sklavenarbeit lässt sich nur durch Gier und Trägheit erklären.

Ich las Ihre Schrift und musste leider von den vielen Drohungen gegen Ihre Person hören, die der Veröffentlichung folgten, doch sehe ich all dies als ein Signal, dass der Wind sich allmählich zu drehen beginnt: Immer mehr verantwortungsbewusste Landsleute haben einen bitteren Geschmack im Mund, wenn ihnen die Verhältnisse zu Ohren kommen, die wir unseren schwarzen Mitmenschen noch immer zumuten. Und doch scheint mir, dass die wenigsten – und dazu gehören auch diejenigen, die sich so lebhaft an der Debatte beteiligen – eine genauere Kenntnis der Verhältnisse auf den karibischen Inseln haben. Ja, ich selbst weiß kaum etwas darüber, allerdings bin ich auch niemals dort gewesen. Und Sie vermutlich auch nicht!

Damit komme ich zu meinem eigentlichen Anliegen, mein lieber Herr Professor Eide. Wäre es denkbar, dass Sie die Zeit fänden, eine Reise zu diesen Inseln zu unternehmen? Gern über die alte Route von einem dänischen Hafen nach Guinea und von dort mit einem passenden Schiff nach Westindien. Ich weiß, dass die weitaus meisten Schiffe heute die schnellere Passage westlich der Kanarischen Inseln bevorzugen, und vielleicht wird man auch irgendwann in der Zukunft vom Englischen Kanal direkt in die Neue Welt segeln, aber ich denke, dass es für einen Kritiker der Sklaverei nützlich sein könnte, dem alten Sklavenweg von der afrikanischen Goldküste zu folgen.

Ich möchte Sie bitten, ein Buch über Westindien und die tatsächlichen Verhältnisse dort zu schreiben. Ein Werk über die Schande der Sklaverei, über die Grausamkeiten, über den Strom des Zuckers und den unmäßigen Reichtum der Pflanzer. Ein gefährliches und schwieriges Stück Arbeit, das ist mir klar, die Pressefreiheit hat bekanntlich enge Grenzen, und Sie müssen behutsam vorgehen, nicht zuletzt, während Sie sich in den Kolonien aufhalten. Aber ich sehe in Ihnen einen Mann, der dennoch ein Auge wagt, wenn es der richtigen Sache dient.

Würde es Ihr Interesse erregen, Herr Professor Eide? Fänden Sie die Möglichkeit, sich ein oder zwei Jahre für ein derartiges Unterfangen zur Verfügung zu stellen? Wollen Sie dafür arbeiten, den schwarzen Mann zu befreien?

 

Meine ehrerbietigsten Grüße

Thomas de Souza

Redakteur

Verbot des Sklavenhandels von 1792

Königliche Verordnung über den Handel mit Negern

Wir, Christian VII., von Gottes Gnaden König von Dänemark und Norwegen, machen hiermit geltend: Wir haben mit Hinsicht auf den Sklavenhandel an Guineas Küste und den Transport der dort gekauften Sklaven zu den dänischen Westindischen Inseln untersuchen lassen, ob auf die Zuführung neuer Neger aus Guinea mit der Zeit verzichtet und der Anbau auf den Westindischen Inseln danach von Arbeitern wahrgenommen werden kann, die auf den Inseln geboren und aufgewachsen und seit ihrer Jugend die Arbeit und das Klima gewohnt sind. Diese Untersuchung hat gezeigt, und dies ist über jeden Zweifel erhaben, dass es möglich und vorteilhaft ist, den Ankauf von neuen Negern zu vermeiden, wenn die Plantagen einmal mit einer angemessenen Anzahl von Negern und Negerinnen für die notwendige Negerzucht versorgt sind.

Um also die Plantagenbesitzer auf den Westindischen Besitztümern von der Abhängigkeit der Negerzuführungen zu befreien und schließlich die Zuführung von Negern nicht mehr notwendig werden zu lassen, tun wir hiermit Folgendes kund:

  1. Mit Beginn des Jahres 1803 bestimmen wir, dass jedweder dänischer Negerhandel an den afrikanischen Küsten aufzuhören hat – und wo er sonst noch stattfindet außerhalb Unserer Besitztümer in Westindien. Nach Ablauf dieses Zeitraums darf kein Neger und keine Negerin, weder an der Küste noch an anderen fremden Orten von Unseren Untertanen gekauft, in Schiffen Unserer Untertanen transportiert oder auf den Westindischen Inseln zum Verkauf eingeführt werden. Jede gegen dieses Verbot verstoßende Handlung wird nach Ablauf dieser Zeit als rechtswidrig angesehen.

  2. Unterdessen muss es von nun an und bis zum Ausgang des Jahres 1802 allen Nationen ohne Unterschied und unter allen Flaggen erlaubt sein, Neger und Negerinnen von der Küste in Unsere Westindischen Inseln einzuführen.

Unter Unserer Königlichen Hand und Unserem Siegel

Christian VII.

16. März 1792

Mikkel Eides Tagebuch von der Überfahrt mit dem Paketschiff Kong Frederik, September bis November 1823

2. Oktober

Alle, die mit Sklaven zu tun haben – das heißt, mit ihrem Fang, dem Transport, dem Handel und der Ausnutzung auf dem Feld und im Haus –, halten es für normal, die Schwarzen nicht als Menschen anzusehen. Ich habe heimgekehrte Pflanzer sagen hören, Neger hätten durchaus eine menschliche Gestalt, jedoch keine Seele, keine Intelligenz und keine anderen Gefühle als die, die sich auch bei jeder anderen Kreatur finden lassen, etwa einer Ziege oder einem Huhn.

Allerdings wird behauptet, es gäbe durchaus gerechte und sogar humane Pflanzer und Sklavenschiffer; Männer, die ihre Macht und Gewalt nur einsetzen, wenn es unbedingt notwendig ist, einem anderen Menschen den eigenen Willen aufzuzwingen. Ich wollte es gern glauben, denn Menschen sind sicher nicht boshaft um der Boshaftigkeit willen. Davon war ich zumindest überzeugt, als ich an Bord der Kong Frederik ging.

Der Kapitän heißt Barnes, und obwohl der Name englisch klingt, bin ich sicher, dass er kein Engländer ist. Seine Syntax und Grammatik sind eigentümlich, im Englischen und Dänischen ebenso wie bei dem bisschen Französisch, das er spricht. Je länger wir auf See sind, je mehr Zeit ich in Gesellschaft von ihm und seinen Männern verbringe, desto häufiger drängt sich mir der Gedanke auf, dass sie in ihren Herzen bloß einfache Piraten sind; Männer, die zu anderen Zeiten als im zivilisierten Jahr des Herrn 1823 nach stattlichen Handelsschiffen auf der Lauer gelegen hätten, um sie zu kapern, die Ladung zu erbeuten und Mann und Maus zu töten.

Ihr Verhalten gegenüber den armen schwarzen Menschen, die wir illegal im stinkenden Bug der Fregatte mit uns führen, ist grauenerregend. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als mich abzuwenden und in meine Kajüte zu gehen, wenn sich eine üble Episode nach der anderen an Bord ereignet. Wie gestern – einer der schlimmsten Zwischenfälle bisher.

 

Der Erste Steuermann, ein wahrer Satan von einem Mann, der häufiger als der Kapitän das Kommando innehat und sich der Abstrafungen an Bord annimmt, hatte einige schwarze Männer an Deck befohlen. Das Wetter war ruhig, wie so oft zu Beginn der Reise – den größten Teil der Zeit schien es, als flögen wir auf einem glasklaren, beinahe stillstehenden Strom dahin –, und die Schwarzen kamen in einer Gruppe aus dem Laderaum und wurden gezwungen, zu tanzen und sich zu bewegen. Hin und wieder goss einer der ewig betrunkenen Seeleute kaltes Meerwasser über sie, um den grauenhaften Gestank wenigstens ein bisschen zu vertreiben – diese Menschen liegen Wochen und Monate in ihrem eigenen Dreck. Wenn sie ans Licht und an die Luft kommen, haben sie mittschiffs in einer breiten Vertiefung zu bleiben, wo ein Teil des Hauptdecks entfernt wurde. Diese Vertiefung wird als »Kuhl« bezeichnet. Auf diese Weise lassen sich die männlichen Neger leichter kontrollieren, das Risiko ist deutlich geringer. Mehrere kleine Handkanonen, sogenannte Drehbassen, sind geladen aufs Sklavendeck gerichtet, falls es zu Aufruhr oder Unruhen kommen sollte.

Die Furcht vor einem Aufstand ist deutlich spürbar. Nur ein Fünftel der schwarzen Männer dürfen gleichzeitig in die Kuhl.

Anders verhält es sich mit den Frauen und Kindern, die sich häufig auf dem Achterdeck aufhalten dürfen, dem Teil des Schiffs, der von der Mannschaft Schanze genannt wird. Alle Schwarzen sind nackt, wie Gott sie schuf, und es gibt viele junge Frauen an Bord. Das hält die Seeleute nicht davon ab, sie täglich auf übelste Weise zu demütigen oder sich geradezu an ihnen zu vergehen.

Auch der Vorfall gestern hatte mit dieser Unsitte zu tun. Ungefähr zwanzig Männer saßen geduldig in der Kuhl und warteten darauf, dass ihnen befohlen würde, zu tanzen oder umherzugehen. Auf der Schanze, deren Deck ein wenig über dem schwarz gekräuselten Haar der Männer liegt, hielten sich wie gewöhnlich einige Frauen und junge Mädchen in der Sonne auf. Ich stand am Fockmast auf dem Vordeck des Schiffs und rauchte meine Tonpfeife, als eine der Frauen, eine große, vollkommen ebenholzschwarze Statue einer Negerin, plötzlich so verzweifelt schrie, als hätte sie jemand mit einer Ahle gestochen. Mit einer eigentümlichen Mischung aus Weinen und Wonne erhob sie ihre Stimme und übertönte mit ihren verzweifelten Schreien sämtliche anderen Geräusche auf dem Schiff.

Ich kniff in dem scharfen Licht über dem Meer die Augen zusammen, schaute hinüber und sah, wie die Frau sich an das niedrige Geländer presste, das die Schanze von der Kuhl trennt, und eine Hand in Richtung der Männer unter ihr ausstreckte. Und ich sah einen der Männer einen Arm in die Luft recken, um ihre Hand zu erreichen. Ich sah die glänzende schwarze Haut seines Rückens in der Sonne schimmern, und seinen muskulösen und verblüffend langen Arm, der sich der jungen Frau entgegenstreckte. Und ich sah, wie hübsch sie war. Ja, und er ebenfalls!

In der nächsten Sekunde hob einer der Seeleute einen langen Stock und schwang ihn über den Mann in der Kuhl, sodass er von einem heftigen Schlag am Hals und am Kopf zu Boden geworfen wurde. Er fiel zwischen die anderen Neger und blieb benommen auf den Planken des abgesenkten Decks sitzen. Blut rann ihm über die Schulter.

Der Mann, der mit dem Stock zugeschlagen hatte, drehte sich eben zu der Frau um, als sie versuchte, über das Geländer in die Kuhl zu springen. Im letzten Moment packte er sie und schleuderte sie in Richtung des Besanmasts. Sofort wurde sie von zwei seiner Kameraden ergriffen und festgehalten. Der Mann warf den Stock beiseite und griff laut lachend an seinen Hosenlatz, und einen Augenblick später drängte er sich der Frau auf, die seine Kameraden am Besan festhielten. Sie schrie ein paar Mal und versuchte, sich loszureißen, doch die Männer schlugen sie, bis sie still war.

Ich konnte es nicht mitansehen, die Szene zerriss mir das Herz. Ich war an Bord der Kong Frederik gegangen, ohne zu ahnen, was dort auf mich zukommen würde, und nun … nun überkamen mich Ekel, Angst und noch etwas anderes – eine seltsame Erregung, die ich weder wahrhaben noch näher untersuchen wollte. Ich schlug den Blick nieder, hörte aber noch immer das lüsterne Grunzen des Mannes und das leise Jammern der Frau, bis ich schließlich die Hände auf meine Ohren presste und unter Deck Zuflucht suchte.

Und doch kann ich den Anblick nicht vergessen, als ich mich ein letztes Mal umwandte: Der junge Mann in der Kuhl saß, noch immer benommen von dem Schlag mit dem Stock, auf den verdreckten Planken und schaute hinauf zu seiner Liebsten in den groben Händen der weißen Männer. Er saß vollkommen reglos da, als würde er erst in diesem Moment jegliche Hoffnung fahren lassen.

Persönlicher, vertraulicher Brief: Christian VII. an seinen Berater in Westindien-Fragen Johan Carstens, Januar 1741

Schloss Christiansborg, Januar 1741

Mein braver Herr Carstens!

 

Es sollte Uns freuen, wenn Wir so rasch als möglich eine kleine Unterhaltung über Ihre Erfahrungen auf den Westindischen Inseln führen könnten. Wir haben Uns mit Interesse über Ihre langjährige Tätigkeit als Pflanzer auf Sankt Thomas unterrichten lassen, und Wir wissen, dass Sie, obwohl Sie nun heimgekehrt sind und sich in Kopenhagen niedergelassen haben, noch wichtige Interessen auf Sankt Thomas haben und als Reeder im Dreieckshandel tätig sind.

Wie Ihnen bekannt ist, haben Wir vor gut einem Jahrzehnt von der französischen Krone eine dritte Insel im Archipel erworben, die etwas weiter entfernt liegende Insel Sankt Croix. Somit gehören Uns, der dänischen Krone, ausgedehnte Zuckerrohrplantagen, und in diesem Zusammenhang ergeben sich einige Fragen: Sind Unsere Sklaven auf Sankt Thomas nach Ihrer erfahrenen Meinung gut genug und geeignet für diese harte Arbeit? Oder sind weitere Sklaven vonnöten, und würde man diese problemlos in ausreichender Menge beschaffen können, ohne sie den weiten Weg von Afrika transportieren zu müssen? Hiermit meinen Wir eigentlich, dass die Schwarzen gezüchtet werden sollten, wie man hierzulande Haustiere züchtet, Schweine und Vieh.

 

Christian R.

Brief: Maria an ihre Mutter, April 1803

Thurø im April

Liebe Mutter,

 

wie schwer fällt es mir doch zu verstehen, warum Du es vorziehst, in Kopenhagen zu wohnen, statt bei Deiner eigenen Familie. Sicherlich ist Tante Inge verwitwet, aber es muss doch nicht Deine Aufgabe sein, ihr Gesellschaft zu leisten. Du sollst wissen, dass ich niemals die Hoffnung aufgegeben habe, dass Du eines Tages zurückkehrst und wieder meine Mutter wirst.

Als kleines Mädchen kämpfte ich damit zu verstehen, warum Du uns überhaupt verlassen hast. Ich bildete mir ein, es sei nötig gewesen und Du hättest es am besten gewusst, weil Du erwachsen warst und ich eine kleine dumme Gans. Ich betete sogar zu Gott, um es zu verstehen. Ich betete nicht nur darum, dass Du heimkommst, weil ich Dich so vermisste, dass es mir das Herz brach, sondern auch darum, Dich verstehen zu können. Ist Dir bewusst, was das bedeutet – ein kleines Mädchen vermisst seine Mutter so herzzerreißend und sehnt sich gleichzeitig danach, sie zu verstehen? Jetzt bin ich so gut wie erwachsen und weiß, was ich erwarten kann. Ja, in der Schule hat Lehrer Martens eines Tages gesagt, dass er mich »fast zu erwachsen« fände – das waren seine Worte – und es gern sähe, wenn ich etwas mehr mit den anderen Kindern spielte. Jetzt ist es jedoch zu spät, um zu spielen, und ohnehin bin ich nicht wie die anderen Kinder. Außerdem habe ich die Schule beendet.

Aber ich liebe Thurø, die Insel, auf der ich aufgewachsen bin, und bin sehr glücklich zusammen mit Vater. Bald stechen wir mit der Hoffnung in See, und obwohl es nur eine kurze Reise wird, weiß ich, dass ich mein Zuhause vermissen werde.

Der Frühling ist in diesem Jahr früh gekommen. Die Vögel singen, alles ist bereits grün. Auf ganz Thurø duftet es nach Frühjahr, die Erde dampft in der Sonne, alle sind beschäftigt. Es ist so offensichtlich, dass wir eine Insel von Seeleuten sind; überall herrscht Betriebsamkeit, auf der Werft sind neue Spanten aufgelegt, die aussehen wie ein ausgekochtes Walskelett, überall riecht es nach Teer und Hobelspänen. Vor den kleinen schwarzen Häusern sitzen die Fischer und flicken ihre Netze in der Frühlingssonne. Ernste Männer, die ausnahmsweise bei der Arbeit lächeln.

Im Thurøbund machen die Schonerkapitäne ihre Schiffe für die Sommerreisen klar. Könnte man unsere Insel von oben sehen, hätte sie die Form eines Hufeisens: An der nördlichsten äußeren Spitze des Hufeisens liegt Vaters Haus. Die Fenster im ersten Stock sehen aus wie Augen, die über dem Sund nach den vielen Schiffen Ausschau halten, die auf dem Weg nach Svendborg sind oder in die weite Welt hinausfahren. An der anderen Spitze des Hufeisens gelangt man nach Grasten, wohin wir manchmal mit Vaters Jolle segeln. Dort liegen im Winter die großen Schiffe, die nicht auf Langfahrt sind, im Windschatten, ganz innen im Bogen des Hufeisens.

Vater hat mir einmal von seinem Besuch auf einer französischen Insel in der Karibik erzählt, die die Form eines Schmetterlings hat – so als hätte Gott ein von der Sonne beschienenes Insekt aufs blaue Meer gelegt, um die Seeleute aufzumuntern! Aber die Insel, auf der ich geboren wurde, wo Du mich geboren hast, Mutter, hat die Form eines Schiffs, das in östlicher Richtung fährt; der ewige Wind, den sie Passat nennen, wirbelt weißen Schaum vor ihrem Bug auf und zieht einen Kielwasserstreifen hinter ihrem Achterspiegel her. Diese Insel würde ich so gern einmal sehen! Ich erinnere mich ja nicht an sie. Aber Du müsstest Dich doch noch erinnern können, Mutter, nicht wahr? Erzählst Du mir davon? Erzähl mir von Sankt Thomas! Ich bitte Dich, ich würde so gern mehr wissen. Vielleicht würde ich dann besser verstehen.

Ich weiß, dass Neger auf Sankt Thomas leben, schwarze Menschen mit dichtgekräuselten Haaren, fast so wie meine. Ich habe in der Schule von Negern gehört, aber nie jemanden mit schwarzer Haut gesehen. Vater, mit dem ich sonst eigentlich über alles reden kann, erzählt gern von den fremden Ländern, die er gesehen hat, von Pflanzen und merkwürdigen Tieren, aber über die Menschen, die er dort gekannt hat, über die Neger, spricht er nur sehr ungern. Du hast doch auch eine Weile auf Sankt Thomas gelebt, Mutter. Du hast doch sicher auch Neger getroffen, oder?

 

Liebe Grüße

Maria

Bericht des Hafenkapitäns von Sankt Thomas an den Generalgouverneur der Westindischen Inseln Heinrich Ludwig Ernst von Schimmelmann, Dezember 1787

Bericht über die gestrige Ankunft der in Not geratenen Sklavenfregatte Hoffnung in Charlotte Amalie

Eure Exzellenz,

 

die Fregatte Hoffnung aus Kopenhagen unter Kapitän Anton Frederiksen aus Thurø ist am 4. Dezember in Charlotte Amalie mit einer Ladung von achtundachtzig Negern angekommen, viele davon nach mehreren unglückseligen Ereignissen während der Überfahrt aus Accra in elender Verfassung. Die Fregatte ist schwer beschädigt, an mehreren Stellen sind Löcher in die Schanzverkleidung gesprengt worden, auf der Steuerbordseite des Fockmasts wurde die Bordwand ebenso wie das Deck zerstört und mehrere andere Stellen wurden mit Äxten und anderen Werkzeugen beschädigt. Das Rigg wurde von Schusssalven und Feuer an Bord in Mitleidenschaft gezogen.

 

Der Kapitän gibt an, dass die Fregatte Hoffnung in Accra am 12. September den Anker lichtete, an Bord befanden sich zweihundertachtzehn Neger und sechsundzwanzig weiße Besatzungsmitglieder und Passagiere. Nach ungefähr sechswöchiger Reise, die durch eine langanhaltende Flaute im Kalmengürtel erschwert wurde, gelang es einer Gruppe Neger, aus dem Laderaum zu entkommen und den Rudergänger und mehrere weiße Besatzungsmitglieder zu überwältigen. Kapitän Frederiksen gewann rasch die Kontrolle über die Fregatte zurück und tötete viele der Neger, die sich zu diesem Zeitpunkt an Deck befanden.

 

Leider hatten andere Schwarze die Gelegenheit genutzt, um sich im Laderaum mit einer Partie Flinten zu verschanzen, die fahrlässigerweise in einem der vorderen Stauräume gelagert waren. Die aufrührerischen Neger verschafften sich zudem Zugang zur Pulverkammer des Schiffes.

 

Vier Besatzungsmitglieder kamen um, weitere vier wurden verletzt. Es waren zwei Frauen an Bord der Fregatte Hoffnung – die Ehefrauen von Kapitän Frederiksen und des Schiffsarztes. Beide Frauen befanden sich in Kajüten im Achterschiff und fielen den Aufrührern in die Hände.

 

Nach einem Tag gelang es der Besatzung, wieder die Kontrolle über das Schiff zu gewinnen. Viele Neger waren tot oder so schwer verletzt, dass sie unverzüglich getötet werden mussten. Die Leiche der Ehefrau des Schiffsarztes wurde im hintersten Laderaum gefunden, Kapitän Frederiksens Ehefrau entkam hingegen nach vielen Stunden in der Gewalt der Neger unverletzt.

 

Die Schiffswerft in Charlotte Amalie geht davon aus, dass es einige Wochen, vielleicht sogar Monate dauern wird, die Fregatte Hoffnung wieder instand zu setzen.

 

Hochachtungsvoll

Jan Meyer

Kapitän Anton Frederiksens Logbuch, Fregatte Hoffnung, November 1787

1. November 1787

2° 31′N

32° 14′W

 

Wir haben einen schicksalsschweren Fehler begangen!

 

Die Flinten, die wir als Bezahlung für einen Teil der Schwarzen aus Accra mitgenommen hatten, waren von so geringer Qualität, dass nicht einmal die Häuptlinge sie akzeptieren wollten. Wir verstauten den Plunder daher in dem kleinen Laderaum vor der Verankerung des Fockmasts und vergaßen das Ganze.

 

Heute Nacht, vier Glasen während der Hundewache, gelang es einigen Negern, sich aus ihren Fußfesseln zu befreien, kurz darauf ertönte der erste Schuss. Glücklicherweise hatten die Schwarzen nicht die Geduld, einen Angriff aus dem Hinterhalt zu planen; ein eifriger Neger betätigte den Abzug, sobald die erste Muskete mit Schießpulver geladen war, und das ganze Schiff war alarmiert.

 

Einige Neger drängten auf Deck und übernahmen kurzzeitig die Kontrolle über das Schiff, das sie offensichtlich zu wenden versuchten, mitten im Passatgürtel natürlich ein unmögliches Unterfangen. Mehrere Männer, darunter ich selbst, erreichten das Achterdeck, von dort aus gelang es uns, die meisten Neger zu erschießen, die das Ruder umstanden. Ein paar flohen unter Deck, worauf wir die Luken verschlossen. Danach stand mir eine erschreckende Entdeckung bevor. Meine Ehefrau, Ane, befindet sich noch unter Deck, ich vermute sie in der Gewalt der Neger. Der Gedanke ist unerträglich. Es ist jetzt die Zeit der Vormittagswache, ich muss die Situation lösen, kann aber an nichts anderes denken als an sie …

Marias Tagebuch, Montag, 9. Mai 1803

Heute habe ich die Fregatte Hoffnung zum ersten Mal gesehen, seit ich ein kleines Mädchen war. Sie liegt am Asiatisk Plads in Kopenhagen, wo sie ungefähr zehn Monate auf ihre nächste Reise gewartet hat. Und auf mich.

Vater und ich kamen vor vier Tagen mit einer Galeasse aus Svendborg in der Hauptstadt an. Er wohnt in einer Seemannspension in der Bådsmandsstræde und ist sehr mit den Vorbereitungen beschäftigt. Ich habe ihn seit unserer Ankunft kaum gesehen. Erst heute fand er die Zeit, mich bei Mutter und Tante Inge in Christianshavn abzuholen und mich mit auf die Hoffnung zu nehmen.

Ich würde lügen, wenn ich nicht zugeben würde, dass ich es kaum abwarten konnte, bis er mich holte! Die Zeit in Tante Inges Haus war schwierig. Sie ist eine strenge Frau, die ihrer jüngeren Schwester überhaupt nicht ähnlich ist. Oder vielleicht sollte ich sagen, dass Mutter ihr nicht ähnlich ist, aber ich spüre etwas an meiner Mutter, das mich durchaus an Tante Inges Bitterkeit erinnert. Eine gewisse Verschlossenheit, eine Unfreundlichkeit. Als ob wir uns überhaupt nicht kennen und es möglicherweise nie getan haben. Es tut mir unsagbar weh.

Wenn Tante Inge spricht, und das passiert nicht sehr häufig, redet sie so gut wie immer über Gott. Sie ist die Witwe eines Seemanns und tief gläubig, und doch würde ich mir ein wenig mehr Freude in ihrem Leben wünschen. Und ich fürchte, dass ihr düsteres Gemüt Mutter ansteckt.

Vater hat mich zu Tante Inges vornehmem kleinen Haus am Kanal gebracht und geklopft. Noch bevor die Tür geöffnet wurde, hob er die Hand und zog seinen Hut. Er hielt ihn in den Händen und sah mit einem Mal recht verlegen aus.

Allerdings wurde uns nicht von Tante Inge, sondern von ihrem Hausmädchen geöffnet. Sie lächelte mich an, hatte uns offensichtlich erwartet und trat zur Seite, um uns einzulassen. Ich sah zu Vater auf, der seinen Hut wieder aufsetzte und nickte.

»Geh ruhig hinein, Maria«, sagte er. »Es ist besser, wenn ich jetzt zur Fregatte gehe.«

Ich sah seinem Gesicht an, wie erleichtert er war.