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www.lenos.ch

Andrea Gerster

Alex und Nelli

Roman

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Die Autorin dankt der Landis & Gyr Stiftung für die Gelegenheit, einige Monate in Berlin arbeiten und leben zu können.

Die Autorin und der Verlag danken der Kulturstiftung des Kantons Thurgau für die grosszügige Unterstützung.

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Der Lenos Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

E-Book-Ausgabe 2017

Copyright © 2017 by Lenos Verlag, Basel

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Nonda Coutsicos, Zürich

Coverillustration: Keystone / Nicola Schaller

eISBN 978 3 85787 959 3

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Über die Autorin

Andrea Gerster hat fünf Romane, drei Erzählbände sowie zahlreiche Erzählungen in Literaturzeitschriften und Anthologien veröffentlicht. Ausserdem schrieb sie Theaterstücke und Textinstallationen für Kunstausstellungen. Für ihr literarisches Schaffen wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Andrea Gerster lebt in der Ostschweiz. Im Lenos Verlag erschienen Dazwischen Lili (2008), Schandbriefe (2010), Ganz oben (2013) und Verlangen nach mehr (2015). www.andreagerster.ch.

Meinen Eltern

wenn einer ein schicksal hat,

dann ist es ein mann. wenn einer

ein schicksal bekommt, dann ist

es eine frau.

Elfriede Jelinek, Die Liebhaberinnen

INHALT

Über die Autorin

1. Teil

Ein Unfall mit Todesfolge

Aus Steiner wird Alex

Knoll drängt sich auf

Sie will wandern, er nicht

Alex besorgt zweimal Bier

Alex trennt sich und geht

2. Teil

Zwei Jahre später

Nelli recherchiert

Nelli wundert sich

Nelli hat eine Begegnung

Nelli erkennt ihn nicht

Alex ist Ale

Ale ist ungeduldig

Ale bestellt Tee

Ale sieht einen Fuchs

Nelli denkt nach

Nelli will das Kind

Nelli ärgert sich

Nelli spricht mit Len

Ursula kommt und geht

Nelli nimmt den Bus

Ale kauft Schokolade

Nelli startet durch

3. Teil

Ursula erschreckt Ale

Ale will Dorit

Ale hat einen Plan

Nelli ist in anderen Umständen

Drei Jahre später

1. Teil

Ein Unfall mit Todesfolge

Der Jaguar schnurrte. Steiner wartete auf Grün.

Am liebsten jetzt die Handschuhe, dachte er, beliess es jedoch beim sehnsüchtigen Blick zum Handschuhfach, wo das schöne Ziegenleder wartete. Die paar Kilometer, Steiner, ausserdem Stadtverkehr – die Handschuhe doch nur bei hohem Tempo, wenn wie fliegend unterwegs. Beim Anblick der Instrumente und der behandschuhten Hände erfasste ihn jedes Mal von Kopf bis Fuss ein Glücksgefühl. Alexander Steiner hatte hässliche Hände, aber mit den Handschuhen waren sie schön.

Wolfgang hatte ihn nie Alexander genannt, sondern konsequent Steiner.

Darf ich vorstellen: Steiner, mein Partner, hatte er jeweils gesagt.

Bis Steiner herausfand, dass Wolfgang, sein Partner bei Architektur Steiner & Berger, Männer bevorzugte.

Daraufhin Steiner zu Wolfgang: Es ist besser, du stellst mich in Zukunft als deinen Geschäftspartner vor.

Und Wolfgang zu Steiner: Am besten, du stellst dich in Zukunft gleich selbst vor.

Und dabei keine Spur von Beleidigtsein. Da war sich Steiner ganz sicher, auch im Nachhinein.

Sofort spülten Wolfgangs letzte Worte durch seinen Kopf und wurden von einem Pfeifton in den Ohren abgelöst: Mach deinen Scheiss doch allein.

Auch Nelli tauchte in seiner Erinnerung auf, eindringlich wie immer: Du musst dich damit auseinandersetzen, Alexander. Keinesfalls darfst du das verdrängen.

»Darf ich vorstellen: meine ehemalige Lebenspartnerin, Nelli Vetterli, Psychologische Beratung und Coaching. Im Kosmetiksalon kennengelernt. Halleluja, dieser Kennenlernort stört empfindlich das Kennenlernbild!«

Er Brusthaare entfernen, sie Bikinizone. Dann hiess es Überbuchung, ein Fehler in der Administration.

Überbucht wie die Air Berlin. Sie lachten, und er überliess ihr den Termin. Dann tauschten sie ihre Visitenkarten. Er machte dabei eine leichte Verbeugung und überreichte seine mit beiden Händen, worauf sie jauchzte und rief: Wie in Japan!

»Natürlich hat sie sich dann zuerst gemeldet.« Steiner führte oft Selbstgespräche, wenn er mit sich allein war. Und jetzt: »Den Jaguar trifft keine Schuld.« Das sagte er nicht zum ersten Mal, und der Satz stand in keinerlei Zusammenhang mit Nelli Vetterli, sondern mit einer anderen Frau.

Ein Jaguar ist mehr als eine perfekte Maschine, er ist genauso lebendig wie die Menschen, die ihn fahren. Steiner liebte sein Schnurren beim Warten, aber auch den fauchenden Schub, wenn er aufs Gaspedal trat. Raubtier, 500 PS, Acht-Gang-Automatik.

Erst spät, anlässlich ihrer letzten Aussprache, erfuhr Nelli, warum sie auf dem Namensschild seiner Wohnung fehlte, obwohl sie bei ihm lebte.

»Was für ein Name! Vetterli geht gar nicht.« Steiner drückte das Kreuz in den geschmeidigen Sitz.

Vier Jahre lang hatten sie Aussprachen geführt, nie hatten sie Auseinandersetzungen gehabt. Beziehungsarbeit nannte sie das. Die Panikattacken suchten Nelli für gewöhnlich erst in der Nacht heim, unabhängig von eventuell vorangegangenen Aussprachen.

»Damit hättest du dich auseinandersetzen sollen, Nelli.« Die lange Rotphase liess Steiner ungeduldig werden.

Dann das Beziehungsaus.

Dein Streben, einem Bild zu entsprechen, das du dir von dir selbst machst, wird dich zerstören, hatte Nelli abschliessend ruhig gesagt.

»Ein letztes Aufbäumen und noch ein bisschen Voodoo, Frau Vetterli.« Steiner fuhr sich mit der rechten Hand über das Kinn. Ein Blick in den Rückspiegel bestätigte ihm, dass an diesem Morgen eine Rasur angebracht gewesen wäre. Er tippte aufs Gaspedal, der Jaguar jaulte beleidigt auf, und die Lenkerin des Kleinwagens auf der Nebenspur musterte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. Das auf der Rückbank festgezurrte Kind plärrte. Steiner grinste.

Natürlich macht man sich ein Bild von sich. Auch Nellis Beratungen zielten im Grunde genau darauf ab. Nur dass sie das Bild von ihm machte und er dann versuchen sollte, diesem zu entsprechen. Sie erklärte Alexander, dass bei ihm Selbst- und Fremdbild zu weit auseinanderklafften. Nach Wolfgangs Abgang wurden Selbst- und Fremdbild zum Dauerthema zwischen ihnen. Sie sagte unter anderem: Du opferst deine Identität, Alexander.

Er sammelte ihre Zitate und notierte sie auf ein Blatt Papier. Wenn es voll sei, werde er sich von ihr trennen, so sein Plan. Es war dann auch ganz leicht. Eines Tages zeigte er Nelli das Blatt und erklärte, was es damit auf sich habe. Danach sagte sie jenen abschliessenden Satz, der aber mangels Platz nicht mehr notiert werden konnte. Am Abend war sie weg. Spurlos verschwunden. Sie hatte nichts zurückgelassen, was auf ihre vier gemeinsamen Jahre hätte verweisen können. Er hatte über ihre Gründlichkeit gestaunt. Die Endgültigkeit hatte ihn entspannt. Nun vermisste er sie zum ersten Mal, denn sie hätte ihm Mut gemacht. Genau, er fühlte sich mutlos.

Endlich wechselte die Ampel auf Grün. Als Steiner Gas gab, schoss noch ein Taxi von rechts über die Kreuzung. Ehe er abbremsen konnte, tat dies der Jaguar von selbst. Adaptive Geschwindigkeitsregelung. »Warum hast du bei Margarete Palladio nicht genauso reagiert?« Er hörte sich vorwurfsvoll an. Bisher hatte er den Jaguar immer nur gelobt, geliebt, bewundert. Wieder die Lust, die Handschuhe aus dem Fach zu holen. Hatte er sie damals getragen und damit die Frau angefasst? War womöglich noch Blut am Ziegenleder? Der Jaguar hatte eine Delle auf der Motorhaube gehabt. Ihn verletzt zu sehen hatte weh getan.

Steiner drehte die Musik ab. Hatte ihn vor dem Unfall vielleicht das ausgeklügelte Klangsystem abgelenkt, und er hatte mitgesungen und sich dabei im Rückspiegel betrachtet?

Der Stadtbus versuchte von der Haltestelle in den Verkehr einzufädeln, Steiner verlangsamte. Sein Fahrstil war nicht mehr derselbe, er hätte genauso gut in einem Golf sitzen können.

Die Motorhaube des Jaguars war bereits repariert und Wolfgang seit zwei Jahren tot.

Hinter dem linken Ohr hatte er ein grosses Muttermal gehabt, Steiner war das vorher nie aufgefallen. Wolfgang hatte auf dem Bauch gelegen, das rechte Bein angezogen, die Arme angewinkelt, als ob er wegrobben wollte. Steiner hatte auf das Muttermal gestarrt und sich gefragt, ob es noch mehr gab, was er über seinen Geschäftspartner nicht wusste.

Wie viel Mut braucht es, sich aus dem Fenster zu stürzen?

Und Sekunden zuvor: Mach deinen Scheiss doch allein.

In den kommenden Stunden würde von Amts wegen wieder alles durchgekaut. Nicht das mit Wolfgang, das hatte kein Nachspiel für Steiner gehabt, wenn man von den Aussprachen mit Nelli absah. Heute ging es um Margarete Palladio.

Kommen Sie etwas früher, hatte Steiners Anwältin gesagt. Ein Vorbereitungsgespräch, ein Warm-up.

Sie war eine gute Anwältin, doch seitdem die Laborresultate vorlagen, hinterfragte sie jede seiner Antworten.

Das bisschen Alkohol, war Steiners Reaktion auf die Untersuchungsergebnisse gewesen.

Darauf sie: Und was ist mit dem Kokain?

»Mein Gott, Spuren von Kokain können Monate nach dem letzten Konsum in den Haaren nachgewiesen werden. Hätte ich mir den Kopf scheren sollen?«

Er setzte den Blinker, ordnete sich ein, hatte freie Fahrt über den Blumenbergplatz und bremste vor der nächsten Ampel ab.

Seit Margarete Palladio musste sich Steiner immer öfter betrinken, da sein Leben nüchtern nur schlecht auszuhalten war.

Ein Unfall mit Todesfolge, hatte er wenige Tage zuvor einem Fremden an der Bar erzählt. Plötzlich auf die Fahrbahn getreten, dann von der Motorhaube des Jaguars in die Luft katapultiert und wie zu einem Häufchen zusammengekehrt auf der Strasse liegen geblieben. Sie war sofort tot gewesen. Seine Zunge hatte sich geschwollen angefühlt, und er hatte sich kaum mehr auf dem Barhocker halten können.

Die Mörder sind unter uns, hatte der Fremde gesagt. Du bist nicht der Einzige. Tröstend war das nicht gerade.

Margarete Palladio, das Opfer mit dem schönen Namen. Steiner dachte an Andrea Palladio und wäre in diesem Moment lieber ein italienischer Architekt gewesen, der vor langer Zeit gewirkt hatte, hätte es überhaupt vorgezogen, jemand anders zu sein, egal wer, nur nicht Alexander Steiner, Beschuldigter, Täter.

Und schon meldete sich wieder Nelli in seinem Kopf: Methode Frankenstein. Was du da mit dir anstellst, ist die Neuschöpfung einer Kunstfigur unter Verwendung von menschlichen Teilen. Nelli war belesen und konnte sich selbst schiefste Vergleiche gut merken, um sie zu einem geeigneten Zeitpunkt wiederzugeben. Aber als Margarete Palladio durch seinen Jaguar zu Tode kam, waren Nelli und er bereits nicht mehr zusammen. Es war Steiner schleierhaft, wieso sie ihm plötzlich so präsent war. Wahrscheinlich wegen der Geschichte mit Wolfgang.

»Der Beschuldigte ist geständig, er anerkennt die Zivilansprüche.« Steiner redete wieder laut und gestikulierte dazu. Dann hielt er vor einem Zebrastreifen und machte Handzeichen, als ob er die Fussgänger von der einen Seite auf die andere schieben wollte. Eine Gruppe junger Männer starrte ihn oder den Jaguar für Sekunden an und ging dann vorüber. Steiner schwitzte und sagte: »Auch die Zivilparteien stimmen dem Urteilsvorschlag zu.«

Einsturz eines Rohbaus. Acht Monate bedingt. Einen Hilfsarbeiter hatte es erwischt. Die Angehörigen einigten sich mit der Versicherung. Steiner & Berger drückten ihr Bedauern auf Anraten ihres Anwaltes lediglich mit einem gefühlvollen Schreiben aus. Mehr wäre gefährlich, könnte schlafende Hunde wecken und die Gier nach Wiedergutmachung jahrelang wachhalten, so die Befürchtung. Flachbau, kaum Stützpfeiler, Steiner hatte Kosten sparen wollen und deshalb keinen Statiker hinzugezogen. Als Wolfgang in Urlaub war, zog er einen entsprechenden Auftrag zurück. Dann unüblich starker Schneefall, das Gewicht drückte auf das Flachdach, und das Unglück geschah. Steiner verschwieg seinen Anteil, und Wolfgang wurde zum Beschuldigten, da verantwortlicher Projektleiter. Er wehrte sich nicht.

»Rational betrachtet habe ich mich richtig verhalten, denn ich war auf der Höhe meines Schaffens, während Wolfgang auf die sechzig zuging und als Architekt nie über das Mittelmass hinausgekommen war. Hätte ich wissen können, dass er zu Kurzschlusshandlungen neigte? Nein, ich wusste ja nicht einmal, dass hinter seinem rechten Ohr ein Muttermal hockte.«

Steiner fuhr in die Tiefgarage und parkte zwischen einem Fiat und einem Toyota. Normalerweise suchte er so lange, bis sich der Jaguar in ebenbürtiger Gesellschaft befand. Des Bildes wegen. »Vielleicht des Arschlochs wegen, das ich bin. Von aussen gesehen bin ich ein arrogantes, Jaguar fahrendes Arschloch.«

Ihm war, als ob er aus sich heraustreten und sich von aussen sehen würde, und er wusste: Diesem Bild würde er auch heute nichts entgegenhalten können.

Steiner ging durch die Altstadt und betrat das Café, in dem er mit der Anwältin verabredet war. Sie sass bereits an einem der kleinen Tische am Fenster und hatte einen Espresso vor sich stehen.

»Wozu die Handschuhe?«, fragte sie, nachdem sie sich begrüsst hatten.

»Ich habe hässliche Hände«, sagte Steiner.

»Sie machen Witze, ziehen Sie die Dinger sofort aus!«

Er gehorchte.

»Sie reden während der Verhandlung nur, wenn Sie gefragt werden, ansonsten Pokerface. Möglicherweise werden Margarete Palladios Angehörige der Verhandlung beiwohnen.«

»Ich kann das nicht«, sagte er.

»Was können Sie nicht?«

»So weitermachen; ich kann das nicht.«

»Darüber können Sie morgen nachdenken. Heute geht es ausschliesslich darum, zu beweisen, dass der Unfall auch ohne Alkohol- und Drogeneinfluss nicht hätte verhindert werden können.«

»Ich hatte nicht …«

»Wie gesagt«, fiel die Anwältin ihm ins Wort, »Sie reden nur, wenn Sie gefragt werden. Sie klären keine Sachverhalte, ziehen keine Rückschlüsse, erklären nichts. Sie geben nur kurze Antworten auf Fragen, die Ihnen gestellt werden. Ausserdem: Erwähnen Sie Ihr Auto nicht, reden Sie nicht von Ihrem Jaguar. Es gibt nur einen Unfallwagen und sonst gar nichts.«

Den Jaguar verleugnen, die Handschuhe weglassen – Steiner überkam ein Zittern von innen.

»Man wird wissen wollen, warum Sie nicht aus dem Unfallwagen ausgestiegen sind, warum Sie sich nicht um die Frau gekümmert haben.«

»Ich sah, dass sie tot …«

»Falsch«, unterbrach ihn die Anwältin. »Ihre Antwort lautet: Ich stand unter Schock. Kein Wort mehr und keines weniger.«

»Sie hassen mich«, sagte Steiner.

»Das kann man so nicht sagen, aber mögen wird Sie bestimmt niemand im Gericht.«

»Ich meinte Sie«, flüsterte er. »Sie hassen mich.«

»Wir müssen los«, sagte die Anwältin.

Aus Steiner wird Alex

Zwei Jahre Führerscheinentzug, halbjährliche Abstinenznachweise sowie therapeutische Gespräche bei jemandem wie Nelli Vetterli. Den Anspruch auf Wiedergutmachung würden Margarete Palladios Angehörige, die nicht zum Gerichtstermin erschienen waren, auf zivilem Weg geltend machen müssen. Steiner hatte seiner Anwältin gehorcht und während der Verhandlung nur das Allernötigste gesagt. Er hätte auch nicht mehr vermocht; unerklärliche Anwandlungen von Gleichgültigkeit befielen ihn von Zeit zu Zeit, so dass er sich wie betäubt fühlte. Die Anwältin war zufrieden und sagte: Wir haben gewonnen.

In den darauffolgenden Nächten träumte Steiner von den Angehörigen. Er sah sie nicht, hörte sie nur: ein Stimmengewirr hinter einem dunklen Vorhang. Immer wieder schreckte er aus dem Schlaf und erwachte am nächsten Morgen völlig durchgeschwitzt.

Den Führerschein hatte er nicht wie üblich bereits auf der Unfallstelle abgeben müssen, da ein Zeuge aufgetaucht war, der behauptet hatte, von der gegenüberliegenden Strassenseite aus den Unfall beobachtet zu haben. Der Mann nahm kurz darauf Kontakt zu Steiner auf. Unvermittelt habe Margarete Palladio die Strasse betreten, sagte er später mit fester Stimme vor Gericht, und mit keinem Blick den Verkehr beachtet. Er deutete sogar an, dass es für ihn einen Moment lang nach Absicht ausgesehen habe. Zu jenem Zeitpunkt hatte ihm Steiner die ersten zehntausend Franken bereits übergeben. Der zweite Teil folgte wenige Tage nach der Verhandlung.

Steiner mietete einen Stellplatz in einer Tiefgarage unweit seines Büros und parkte rückwärts ein. Ohne Nummernschilder war der Jaguar noch schöner. Allerdings wirkte er jetzt so, wie sich Steiner seit dem Unfall fühlte: wie ein Hund ohne Halsband und Leine – frei, aber auch nirgends mehr zugehörig.

Nach Wolfgangs Tod hatte es kaum mehr nennenswerte Aufträge gegeben. Und seit Margarete Palladio ging praktisch nichts mehr. Wolfgangs Verhandlungsgeschick und seine Kontakte fehlten, was Steiner lange nicht wahrhaben wollte. Ausserdem hasste er es, sich mit Bauvorhaben beschäftigen zu müssen, die ihn nicht interessierten. Seine Verachtung für die Kunden verbarg er nicht, und wenn er während der Mittagspause im Jaguar sass, statt an die frische Luft zu gehen, schimpfte er sie mutlose Langweiler.

Den Motor zu starten, hatte sich Steiner nur in den ersten Tagen getraut. Er befürchtete, irgendwann nur noch ein müdes Klacken zu hören, weil die Batterie sich entladen könnte.

Zur Kontrolle in die Rechtsmedizin ging er nur ein einziges Mal; die lauwarme Freundlichkeit, mit der man ihm dort begegnete, hielt er nicht aus. Ausserdem trank er jeden Abend Wein. Dafür würde er strafende Blicke ernten und sich von der Mitarbeiterin in ernstem Tonfall anhören müssen, dass ihm die Ergebnisse der Proben schriftlich mitgeteilt würden, obwohl sie sie bereits kannte.

Die therapeutischen Gespräche wurden von praktischen Aufgaben begleitet. So sah sich Steiner dabei zu, wie er wie auf Geheiss die Wohnung verliess und am Flussufer entlangspazierte. Die Hände in den Hosentaschen vergraben, begegnete er Menschen, die endlos Zeit zu haben schienen. Ziel der Aufgabe war es, den Kopf zu leeren. Er sah sich dabei zu, wie er auf dem Markt Gemüse und Früchte befühlte, in der Hand wog, daran roch und je nachdem etwas kaufte. Er lauschte Gesprächen, deren Inhalt nicht im Geringsten mit ihm zu tun hatte und die er als banal empfand. Er kaufte Fisch und Salat. Er sah sich in der Küche stehen, den Salat und das Gemüse rüsten, sah sich am Herd den Fisch braten. In Griffnähe immer ein Glas Wein.