3Didier Eribon

Gesellschaft als Urteil

Klassen, Identitäten, Wege

Aus dem Französischen von Tobias Haberkorn

Suhrkamp

Für G., natürlich.

Ouvertüre

Nun muss ich also auf sie zurückkommen.

Vorgehabt hatte ich es nicht. Ich wollte diese Rückkehr nach Reims, die mich so viel Mühe gekostet hatte, hinter mir lassen, sobald sie erschienen war. Veröffentlichen und vergessen, das war mein Wunsch gewesen – und dann endlich jene Arbeiten wiederaufnehmen, die ich, wie ich zuvor gedacht hatte, nur kurz hatte ruhen lassen, um einer Abschweifung nachzugehen.

Hatte ich wirklich geglaubt, so könne das laufen? War das wirklich denkbar gewesen? Bald schon hatte ich begriffen, dass eine »Rückkehr« niemals abgeschlossen, ja gar nicht abzuschließen ist. Dies gilt für die Bewegung im Raum ebenso wie für die Reflexion, die diese begleitet und bis zu einem gewissen Punkt möglich, weil verstehbar macht. Reflexion und Rückkehr sind nicht voneinander zu trennen, sie gehören zusammen und vermischen sich. Aus dieser Reflexivität entstehen Komplexität und Unsicherheit. Anfangs war der Weg, den ich zu beschreiten gehabt hatte, schwierig gewesen – nun war er chaotisch geworden. Schon bald stand fest, dass ich nicht darum herumkommen würde, das, was ich erzählt und analysiert hatte, fortzuschreiben. Dieses Buch zu verfassen war eine Notwendigkeit gewesen. Es weiterzuführen war nun nicht weniger notwendig.

10In einer warmherzigen Besprechung von Rückkehr nach Reims schreibt Annie Ernaux, mein Buch sei eine »bis zum Äußersten getriebene Selbstanalyse«. Dieser Satz hat mich tief berührt. Ich hatte mein Schreibprojekt tatsächlich so angelegt, dass es die Erkundung meines Selbst und damit auch der sozialen Welt meiner Kindheit und Jugend so weit treibt, dass es die Prozesse, die mich auf eine Bahn der Abweichung und des Aufstiegs geführt, die mich von meinem zugewiesenen Schicksal, von meiner Familie und meinem Herkunftsmilieu entfernt hatten, mit größtmöglichem Aufwand untersuchen sollte. Es ging in diesem Buch weniger um »mich selbst« als um die soziale Wirklichkeit, die überall ihre Urteile spricht und ihre Markierungen hinterlässt, das heißt um die Gewalt, die der Gesellschaft innewohnt und sie sogar definiert. Welche Risiken man bei so einem Unterfangen eingeht, kann die Autorin von Büchern wie Gesichter einer Frau, La Honte, L’Événement oder La Femme gelée wohl am besten beurteilen, hat sie doch oft behauptet, sie wolle nur Bücher schreiben, die sie selbst in Gefahr bringen und nach deren Erscheinen man den anderen nicht mehr ins Gesicht zu blicken wagt, weil man weiß, welche Angriffsflächen man geboten hat.

Aber jede Radikalität ist provisorisch. Man erringt sie durch eine geduldige, schmerzhafte Arbeit an sich selbst, man macht Krisen durch, in denen man ans Aufhören denkt oder schon aufgehört hat, bevor man sich doch noch zum Weitermachen zwingt. Und doch wird sie, hat man sie erst einmal erreicht, zu etwas, das es seinerseits zu überschreiten gilt. Man spürt die Verpflichtung, immer weiterzugehen, immer tiefer in die Geheimnisse der sozialen Magie einzudringen, die mit furchtbarer Effizienz dafür sorgt, dass Herrschaftsmechanismen fortbestehen und dass die politische Ordnung sich hält. Man möchte einfach 11verstehen, wie und warum das alles auch weiterhin »funktioniert«. Wenn diese Ordnung besteht, bedeutet das dann nicht auch, dass jeder von uns auf eine bestimmte Weise an ihrer Reproduktion beteiligt ist? Welche Art der Zustimmung zu den ererbten sozialen und mentalen Strukturen, die sich tief in unsere Körper und Subjektivitäten einschreibe, ja die unser soziales Handeln hervorbringen und vorherbestimmen, setzt das voraus? Die Zustimmung mag stillschweigend oder ausdrücklich sein. In jedem Fall ist sie stärker, als man glaubt oder möchte.

Ich muss also auf meine Rückkehr zurückkommen. Dabei werde ich mich erneut auf eine Methode verlassen, die ich, wenn mir dieses Oxymoron gestattet ist, als »soziologische Introspektion« bezeichnen möchte. Meine Befunde erlangen ihren Sinn, wenn sie mit literarischen und theoretischen Texten in Resonanz treten, die sich mit ähnlichen Problemen befasst haben. Begonnen habe ich dieses Buch als einen Dialog mit den Schriften Annie Ernaux’ und Pierre Bourdieus. Bald gesellten sich weitere Autoren dazu. Aus dem Wechselspiel zwischen diesen entschiedensten Stimmen der literarischen und wissenschaftlichen Kultur und den losesten Elementen des gewöhnlichen Lebens ist etwas entstanden, das, so hoffe ich, einer kritischen Erkenntnis recht nahekommt, in der der Wunsch, die soziale Welt zu verändern, erste Mittel zu seiner Realisierung findet.

I. Hontoanalyse