Cover

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Die E-Books des Reclam Verlags verwenden entsprechend der jeweiligen Buchausgabe Sperrungen zur Hervorhebung von Textpassagen. Diese Textauszeichnung wird nicht von allen Readern unterstützt.

Enthält das E-Book in eckigen Klammern beigefügte Seitenzählungen, so verweisen diese auf die Printausgabe des Werkes.

Fußnoten

1

Wie alle von Hartknoch in Riga zwischen  1781 (Kritik der reinen Vernunft) und  1787/88 (Kritik der praktischen Vernunft) verlegten Werke Kants ist auch die Grundlegung in Halle gedruckt worden. – Für eine nähere Beschäftigung mit der Grundlegung sind zwei studentische Nachschriften von Kants Vorlesungen über Naturrecht (Naturrecht-Feyerabend; 27:13171394 und Kant  20102014) vom Sommer  1784 und über Moralphilosophie (Moral Mrongovius II; 29:595642) vom Winter  1784/85 hilfreich.

2

19:141142. In einer seiner Vorüberlegungen zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783) wiederholt er diese Frage: »Es haben schon längst Moralisten Eingesehen daß das Princip der Glückseeligkeit niemals eine reine Moral sondern nur eine Klugheitslehre die sich auf ihren Vortheil versteht, gebe. […] daß aber der moralische Imperativ unbedingt seyn müsse […]. Nun ist die Frage wie ist ein categorischer Imperativ möglich wer diese Aufgabe auflöset, der hat das echte Princip der Moral gefunden. […] Ich werde die Auflösung in Kurzem darlegen« (23:60; vgl. 27:1324).

3

KrV A 807 / B 835. In einer Logik-Vorlesung (1782) drückt Kant seine Vermutung aus, dass wir in der Moral »nicht weiter […] gekommen« sind »als die alten Stoiker« (1998, 302; vgl. 529, 5:126127 und  9:32).

4

Im engeren Sinne handelt es sich nur um einen einzigen Begriff, nämlich den Freiheitsbegriff (die Idee der Freiheit), dem die Naturbegriffe gegenüberstehen (vgl. 328 ff., 5:134, 5:171172).

5

5:31. Kant führt in diesem Zusammenhang seine Unterscheidung zwischen der Freiheit als der »ratio essendi des moralischen Gesetzes« und dem moralischen Gesetz als der »ratio cognoscendi der Freiheit« (5:4 Anm.) ein. Zu dieser Unterscheidung siehe bereits Baumgarten (2004, § 216).

6

Siehe Baumgarten  1751, § 1 und  1760, § 1; vgl. Kant  2:298300.

7

Siehe auch Kants »Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten. (Philosophia practica universalis.)«, in: Metaphysik der Sitten (6:221228).

8

Siehe auch Baumgarten  2011, §§ 499, 510.

9

Ich erkenne einen Gegenstand klar, wenn ich ihn von anderen Gegenständen unterscheiden kann. Ich erkenne ihn deutlich, wenn ich seine inneren Merkmale erkenne bzw. bezeichnen kann. Beispiel: Ich erkenne klar, dass eine Katze (und nicht etwa ein Hund) vor meiner Eingangstür liegt. Ich erkenne die Katze deutlich, wenn ich ihre Merkmale erkenne und sie als Katze meiner Nachbarin zu identifizieren vermag. Die Unterscheidung zwischen »klar« und »deutlich« kann auch auf unsere Zwecke übertragen werden: Ich erkenne klar, dass der Genuss des Brotes gut für mich ist. Ich erkenne dies deutlich, wenn ich die Merkmale benennen kann, aufgrund derer der Genuss des Brotes gut für mich ist.

10

7:251. Siehe auch  5:9, 4:412 sowie Meier  1765, § 708.

11

Zur Differenz zwischen innerer und äußerer Moralität einer Handlung siehe auch Ludwig Julius Friedrich Höffner (17431797): »Wenn die Folgen einer freyen Handlung aus ihrer Natur fließen: so hat die Handlung eine innere Moralität. Sind sie aber von einem vernünftigen Wesen von aussen her an die Handlung geknüpft worden: so hat sie eine äussere Moralität.« (1780, § 14)

12

Eine ausführliche Diskussion diverser Interpretationen dieser Problematik findet sich bei Milz  1998.

13

1781, iv. Vgl. Zedler  17321754, Bd. 2, Sp. 3839 und Bd. 20, Sp. 13301333.

14

Siehe Cicero, De finibus III, 277, 281.

15

493. Kant definiert (wie Wolff) den Begriff der Person durch den der Zurechnungsfähigkeit: »Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind« (6:223). Zum Begriff der Zurechnung vgl. Blöser  2014.

16

Siehe auch Meier  1766, § 814.

17

Meier  1764, § 72; vgl. 1765, § 696.

18

Vgl. Baumgarten  2004, § 216; 2011, § 307.

19

»Gott hat keine Achtung fürs Gesetz, denn er hat keine Neigung, die die Achtung einschränken soll« (27:1326).

20

401 Anm.; vgl. KrV A 829 / B 830 und A 857858.

21

In der Reflexion  6856 unterscheidet Kant zwischen der Würde der »Menschlichen Natur«, die in seiner Freiheit »liegt«, und der Würde des »Menschen«, die »auf dem Gebrauch der freyheit [beruht], da er sich alles Guten würdig macht« (17:181; vgl. 6:434435).

22

Vgl. u. a. Rousseau  2001, 368369.

23

In der zweiten Kritik korrigiert Kant seine Position. Nicht die reine praktische Vernunft, sondern die praktische Vernunft bedarf der Kritik (vgl. 5:3).

24

405; vgl. ähnlich Meier  1764, §§ 2021.

25

416. In der Kritik der Urteilskraft unterscheidet Kant zwischen »technisch-praktischen« Prinzipien, die auf der Kausalität der Natur beruhen und zur theoretischen Philosophie gehören, und den »moralisch-praktischen« Prinzipien, die auf dem Freiheitsbegriff gründen und Teil der praktischen Philosophie sind (vgl. 5:171173).

26

Crusius  1767, § 52, S. 6465; vgl. Klemme  2013.

27

413; vgl. 5:32 und  29:605 (»Die practische Vernunft afficirt den Willen und zeigt daß wir nicht wirklich und von Natur so handeln; sondern daß wir so handeln müssen.«). Gegen Baumgarten betont Kant, dass es keine »größere und kleinere Verbindlichkeit« (29:614) geben kann.

28

414. Während Baumgarten nur eine Verbindlichkeit kennt (vgl. Schwaiger  1999, 168), unterscheidet Crusius zwischen der »gesetzlichen Verbindlichkeit« und der »Verbindlichkeit der Klugheit« (1753, § 131).

29

414; vgl. 420 und Wolff  1720, § 400.

30

416. Wir müssen demnach zwischen einer weiten und einer engen Definition des praktischen Gesetzes bei Kant unterscheiden. War er zunächst (vgl. 414) einer weiten Definition gefolgt, wird diese nun zugunsten einer engen abgelöst.

31

439. Hypothetische Imperative nötigen zwar, drücken aber keine Verbindlichkeit aus (vgl. Jakob  1794, § 216). »Verbindlichkeit« bezieht sich bei Kant auf das Gesetz der reinen praktischen Vernunft, nicht (wie bei Wolff) auf alle Prinzipien der Willensbestimmung.

32

Vgl. Zedler  17321754, Bd. 9, Sp. 1500.

33

Vgl. Baumgarten  2011, § 40, und Walch  1775, 1. Theil, Sp. 13381341.

34

Auch in der Kritik der praktischen Vernunft hebt Kant die Fasslichkeit der Naturgesetzformel selbst für den »gemeinsten Verstand« (5:70) hervor.

35

In einer Vorarbeit zur Tugendlehre der Metaphysik der Sitten schreibt Kant: »Die Maxime Meiner Willkühr kann nun als zugleich allgemein gesetzgebend gedacht werden oder blos mein Wille dadurch ich die Maxime für mich selbst bestimme so zu handeln welche auch für jedermann gilt ohne seine Freyheit einzuschränken, folglich als bloß gesetzlicher aber nicht durch diesen meinen Willen anderen gesetzgebender Willen« (23:376).

36

»So stellt sich notwendig der Mensch sein eigenes Dasein vor; sofern ist es also ein subjektives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objektives Prinzip, woraus als einem obersten praktischen Grunde alle Gesetze des Willens müssen abgeleitet werden können.« (429) Kant weist darauf hin, diesen »Satz […] hier als Postulat« aufgestellt zu haben. Die »Gründe dazu« (429 Anm.) fänden sich in Abschnitt III.

37

Ein ähnlicher Gedanke findet sich bei Wolff: Jeder »Mensch [ist] einem jeden, er sey wer er wolle, eben das schuldig, was er sich selbst schuldig ist«. Die »Pflichten des Menschen gegen andere [sind] mit den Pflichten gegen sich selbst einerley«. Der Mensch ist »verbunden«, die Vollkommenheit des Anderen, wenn er Hilfe benötigt, »so viel als ihm möglich« (1754, § 133, vgl. § 136) ist zu befördern.

38

Vgl. Löwith  2013, § 40, bes. S. 242246.

39

431. Genau dies hatte Rousseau mit Blick auf die politische Gesetzgebung behauptet: »nur die Beobachtung der Gesetze, die man sich selbsten vorschreibet, [ist] Freyheit« (1763, 72). Hierin besteht ein signifikanter Unterschied zu Crusius, der den Menschen aufgrund seiner Freiheit dem Gesetz unterworfen denkt, ohne ihn zugleich zum Gesetzgeber zu machen (vgl. Crusius  1767, § 38).

40

439; vgl. 29:609, 29:611, 27:13261327 und  6:222Verbindlichkeit ist die Nothwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft.«)

41

1764, § 66; vgl. 1765, § 694 ff. (»Von der Freyheit des Willens«). Meier folgt Baumgarten, der »moralische Nötigung« (necessitatio moralis) und »sittlichen Zwang« (coactio moralis) (2011, §§ 324, 723, 724) als zwei Formen der Verbindlichkeit interpretiert. Zu Kants Kritik an Baumgarten vgl. 27:1326.

42

Vgl. Meier  1764, § 67.

43

Vgl. u. a. Eberhard  1781, § 90.

44

Zu verschiedenen Interpretationen zur dieser Unterscheidung vgl. Horn/Mieth/Scarano  2007, 231233.

45

Die Unterscheidung zwischen einem Widerspruch im Denken und im Wollen ist in Wolffs Logik angelegt. Es gibt einen Widerspruch im absoluten Sinne (analytisch), wenn einem Seienden ein Prädikat abgesprochen wird, welches ihm absolut zukommt. Dem steht der Widerspruch »sub data conditione« (unter einer gegebenen Bedingung) (synthetisch) entgegen. In diesem Fall kommt das Prädikat dem Seienden nicht absolut zu (vgl. Schröer  1988, 174175).

46

Siehe dazu umfassend Brandt  2014.

47

Im Rahmen seiner Ausführungen im Kontext der Menschheitsformel verweist Kant auf die »eigentliche Moral« (wir würden heute von »angewandter Ethik« sprechen): »(Die nähere Bestimmung dieses Grundsatzes zur Vermeidung alles Mißverstandes, z. B. der Amputation der Glieder, um mich zu erhalten, der Gefahr, der ich mein Leben aussetze, um mein Leben zu erhalten etc., muß ich hier vorbeigehen; sie gehört zur eigentlichen Moral.)« (429)

48

1750, § 215; vgl. 29:610611 und Wolff  1754, § 73.

49

»Das Sollen drückt eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. Der Verstand kann von dieser nur erkennen, was da ist, oder gewesen ist, oder sein wird. […] das Sollen [hat], wenn man bloß den Lauf der Natur vor Augen hat, […] ganz und gar keine Bedeutung.« (KrV A 547 / B 575)

50

Leider hat es Kant in der Grundlegung versäumt, zwischen »Wille« und »Willkür« zu unterscheiden (vgl. dazu Klemme  2013). Weil Kant »freier Wille« und »Wille unter sittlichen Gesetzen« miteinander identifiziert, vertreten einige Interpreten die (m. E. nicht haltbare) Ansicht, dass es nach der Grundlegung gar nicht möglich ist, dass sich ein »freier Wille« gegen den Vollzug seiner Pflichten entscheidet.

51

In der Literatur wird auch von der »Reziprozitätsthese« (Allison  1990, 201213) und der »Analytizitätsthese« gesprochen; vgl. Schönecker  1999, 147195 sowie die Beiträge von Larissa Berger und Jochen Bojanowski in Schönecker (Hrsg.) 2015.

52

Es liegt also eine Art von ›metaphysischer‹ Identität von reiner Vernunft und freiem Willen vor. Der freie Wille ist genau dann frei, wenn er sich durch reine Vernunft bestimmt. Lässt sich der Mensch durch die Naturgesetze zum Handeln bestimmen, ist dieser Wille in seiner Wirkungsweise (in seiner Anwendung) zwar nicht mehr frei, denn er folgt dem Gesetz der Natur. Er bleibt jedoch auf der intelligiblen Ebene ein freier Wille: Obwohl der Mensch sich durch seine Neigungen (bzw. die auf ihnen beruhenden Maximen) zum Handeln bestimmen lässt, besitzt er das Vermögen, jederzeit nach Maximen zu handeln, die sich zu einer allgemeinen Gesetzgebung qualifizieren. Es ist für den Menschen möglich, jederzeit einen guten Willen zu begründen, wenn er dies denn will. Kurz: Er hat einen freien Willen.

53

Zu der von Kant  1783 verfassten Schulz-Rezension siehe Klemme  2015a.

54

451; vgl. u. a. Schönecker  1999 und Timmermann  2007, 131134.

55

450. Später formuliert er den Zirkel so, als ob dieser darin bestehen würde, dass wir die Idee der Freiheit »nur um des sittlichen Gesetzes willen zum Grunde legten, um dieses nachher aus der Freiheit wiederum zu schließen« (453).

56

Garve schreibt in seiner Ferguson-Ausgabe: »Der Unterschied zwischen der Maschine und dem lebendigen Wesen, soll in den Schulen das Wort Spontaneität, und den Unterschied zwischen dem Thier und dem Menschen soll das Wort Freyheit ausdrücken.« (1772, 291) Anders als beispielsweise Meier identifiziert Kant die Selbsttätigkeit nicht mit der Substantialität: »Eine selbstthätige Handlung einer Substanz ist eine Handlung, welche diese Substanz selbst thut« (Meier  1765, 3. Theil, § 697).

57

In den Prolegomena greift Kant wie bereits erwähnt auf den Gedanken zurück, dass die Verstandeswelt der Sinnenwelt »zum Grunde« liegt. Wenn der Verstand die Gegenstände unserer Sinne als »bloße Erscheinungen« (314) ansieht, dann muss es auch Dinge geben, die »den Erscheinungen zum Grunde liegen« (315). – In der Kritik der praktischen Vernunft führt Kant aus, dass die Erkenntnis des moralischen Gesetzes »der Grund von der Existenz der Gegenstände selbst werden kann und die Vernunft durch dieselbe [Erkenntnis, H. K.] Kausalität in einem vernünftigen Wesen hat«. Die »reine Vernunft« kann »als ein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögen angesehen werden« (5:46). – In der Kritik der Urteilskraft nennt Kant das »Übersinnliche im Subjekt« die »Kausalität aus Freiheit […], deren Wirkung diesen ihren formalen Gesetzen gemäß in der Welt geschehen soll, obzwar das Wort Ursache, von dem Übersinnlichen gebraucht, nur den Grund bedeutet, die Kausalität der Naturdinge zu einer Wirkung […] zu bestimmen« (5:195).

58

In der Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant z. B. deutlich zwischen freier Willkür und Wille (vgl. 6:213214, 226227 und Klemme  2013).

59

Siehe Klemme  2014.

60

Kants in der Kritik der praktischen Vernunft geübte Kritik an der »vergeblich« (5:47) gesuchten Deduktion kann m. E. aus diesem Grunde nicht als Selbstkritik, nicht als Kritik an der Position der Grundlegung gemeint sein.

61

»Das menschliche Gemüt nimmt (so wie ich glaube, daß es bei jedem vernünftigen Wesen notwendig geschieht) ein natürliches Interesse an der Moralität, ob es gleich nicht ungeteilt und praktisch überwiegend ist.« (KrV A 829830 / B 857858 Anm.)

[7]Vorwort

»Ich kann einen andern niemals überzeugen
als durch seine eigenen Gedanken.«

(Immanuel Kant, um  1765)

Der Herbst  1784 hat in der Philosophie Epoche gemacht. Fast zeitgleich schließt Kant seine Arbeiten an zwei Manuskripten ab. Mit ihrer Publikation verändert sich die philosophische Signatur der Moderne. Bereits im Dezember des Jahres erscheint in der Berlinischen Monatsschrift der Aufsatz »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«. Anscheinend ein Satz für die Ewigkeit: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« (8:35). Wir können diese Definition problematisieren, ablehnen, zu widerlegen versuchen, aber wir können sie nicht ignorieren. Auch deshalb nicht, weil uns Aufklärung nach Kant geboten ist: »Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung!« (Ebd.) Doch was geht mich heute noch der »Wahlspruch der Aufklärung« an, möchte man fragen. Was kümmert mich meine Unmündigkeit, wenn die Stimmung gut, die Familie gesund und die Felder bestellt sind?

Doch unter dem Banner der Aufklärung sind auch diejenigen Menschen verpflichtet sich zu versammeln, denen ihre »selbst verschuldete Unmündigkeit« lieb und teuer geworden ist. Das begründet sich durch ein Prinzip, das Thema von Kants zweitem Manuskript ist. Es erscheint mit einiger Verzögerung im April  1785 unter dem Titel Grundlegung zur Metaphysik der Sitten im Druck.1 Das Thema dieses Buches ist der [8]kategorische Imperativ. Dieser Imperativ stellt das Prinzip der Moralität dar. Er gebietet uns, ausschließlich nach solchen Regeln (Maximen) unseres Wollens zu handeln, die sich zu einer (gedachten) allgemeinen Gesetzgebung auf bestimmte Weise verhalten. Unter einem Gesetz versteht Kant eine praktische Regel, die aufgrund ihrer Vernünftigkeit von allen Vernunftwesen gebilligt werden kann. Ein Gesetz gilt allgemein und notwendig.

Was wie das Organisationsprinzip einer preußischen Garnisonsstadt klingt, steht in Wahrheit im Dienste der Freiheit und markiert einen radikalen Bruch mit der moralphilosophischen Tradition. Der Mensch ist nach Kant nur denjenigen Gesetzen im Gebrauch seines freien Willens unterworfen, die er sich als Vernunftwesen selbst gibt. Weder Gott, noch Natur, noch Fürst, sondern die reine (empirisch unbedingte) Vernunft selbst ist der Grund unserer Pflichten. Der kategorische Imperativ erhebt die Pflicht nicht auf die Ebene eines Fetischs. Er ist vielmehr das Prinzip eines Willens, der nur deshalb ein eigener Wille sein kann, weil er sich durch die eigene (und zugleich allgemeine) Vernunft bestimmt. Die reine Vernunft gibt uns das Gesetz, sie ist unser »eigentliches Selbst« (457, vgl. KrV B 158). Nach ihrer Façon sollen wir als Menschen in der Welt tätig werden.

Mit dem kategorischen Imperativ ist ein neuer Begriff von Autonomie und Selbstbestimmung, der Achtung vor dem moralischen Gesetz und der Würde des Menschen, des Reichs der Zwecke und eben auch der Aufklärung verbunden. Ähnlich, [9]wie ich nach dem kategorischen Imperativ handeln soll, weil ich dies als reines Vernunftwesen immer schon will, soll ich mich meines »eigenen Verstandes« bedienen. Die Vernunft ist etwas Allgemeines, aber sie muss sich in dem Gebrauch konkretisieren, den jeder einzelne Mensch von diesem Vermögen macht. Die reine Vernunft will praktisch, sie will im Gebrauch unseres freien Willens erhalten werden. Sie ist der Grund, warum wir als Endzwecke der Natur existieren. Wenn es keine Vernunft gibt, dann gibt es auch keine Freiheit. Wenn es keine Freiheit gibt, dann gibt es keine Unmündigkeit und kein vernünftiges Verlangen danach, diesen Zustand in einem Prozess der selbstinitiierten Aufklärung zu überwinden. Wir wären nur ein Stück Natur. Nicht der Rede wert. Mit der reinen Vernunft setzt die Natur dem Menschen die Krone auf. Jetzt muss er sich ihrer auch würdig erweisen.

Der vorliegende Kommentar möchte einführend mit der Grundlegung und mit der in ihr entwickelten Lehre vom kategorischen Imperativ als dem Grundprinzip von Kants gesamter Philosophie der Freiheit vertraut machen. Dies geschieht in enger Auseinandersetzung mit den Begriffen und Methoden, die er in dieser Schrift selbst zur Anwendung bringt. Hinweise auf die äußerst umfangreiche Sekundärliteratur können nur hin und wieder gegeben werden. Die Diskussion der heute teilweise äußerst spezialisierten Forschung hätte den Rahmen der vorliegenden Einführung gesprengt. Zudem birgt ein Zuviel an Sekundärliteratur die Gefahr, den Blick für das Wesentliche zu verlieren: Kants philosophisches Anliegen und die Art und Weise, in der er seine Argumentation entwickelt. Eine Auswahl an informativen Publikationen findet sich in den Literaturhinweisen.

Der Kommentar ist aus der Perspektive der Grundlegung, nicht (beispielsweise) der Analytischen Philosophie und Metaethik geschrieben worden. Aus diesem Grunde werden auch [10]keine Begriffe zur Anwendung gebracht, die dieser Schrift äußerlich und fremd sind. Erfahrungsgemäß stiften sie mehr Verwirrung als Klarheit. Ist Kants Ethik deontologisch oder teleologisch? Vertritt Kant einen Internalismus oder Externalismus moralischer Gründe und Motive? Über Fragen wie diese lässt sich trefflich streiten. Der Kommentar beteiligt sich nicht an diesem Streit, sondern thematisiert die Voraussetzungen, unter denen ein solcher Streit erst geführt werden kann.

In der »Einleitung« wird zunächst über einige philosophische Motive informiert, die Kant mit und in dieser Schrift verfolgt. In Teil I werden Grundlagen und Voraussetzungen historischer und philosophischer Art angesprochen, die für das Verständnis der Grundlegung von erheblicher Relevanz sind. Eine erschöpfende Erörterung der Quellen von Kants Ethik hätte dabei natürlich auch den Rahmen des vorliegenden Kommentars gesprengt. Die Teile II–IV folgen der Gliederung von Kants Schrift. Der abschließende Teil V ist einigen Gedanken zum philosophischen Charakter von Kants reiner Moralphilosophie vorbehalten.

Für die Lektüre früherer Fassungen dieses Kommentars (oder Teile von ihm), für hilfreiche Hinweise und Kritik danke ich vor allem Manfred Baum (Wuppertal), Reinhard Brandt (Marburg), Gabriel Rivero (Mannheim) sowie Antonino Falduto, Katerina Mihaylova und Falk Wunderlich (Halle).

Zur Zitierweise

Die Grundlegung wird (mit kleineren Korrekturen) nach der von Theodor Valentiner (Stuttgart  1961 u. ö.) auf der Grundlage von Band 4 (S. 385463) der Akademie-Ausgabe von Kants Gesammelten Schriften (Berlin  1900 ff.) veranstalteten [11]Ausgabe unter Angabe der Seitenzählung der Akademie-Ausgabe zitiert. Die Kritik der reinen Vernunft wird wie üblich nach der Paginierung der ersten und zweiten Originalausgabe von  1781 (A) und  1787 (B) zitiert. Zitate aus anderen Schriften Kants werden durch Verweis auf die Band- und Seitenzählung der Akademie-Ausgabe belegt.

[12]Einleitung

Die Grundlegung ist das Resultat einer mehrere Jahrzehnte umfassenden Beschäftigung Kants mit dem Problem der moralischen Verbindlichkeit: Wie ist es möglich, dass wir in unserem Wollen durch die Vernunft selbst zum Vollzug konkreter Handlungen (Pflichten) verbunden oder verpflichtet werden? Pointiert formuliert, löst Kant dieses Problem unter Rückgriff auf eine Auffassung von Freiheit und Gesetz, wie sie zuvor Jean-Jacques Rousseau (17121778) im Bereich der politischen Philosophie vertreten hat: Die Gesetze, die wir uns selber geben, widersprechen unserer Freiheit nicht, sie heben sie nicht auf. Wir bedürfen dieser Gesetze vielmehr, um unsere »sittliche Freyheit« zu erlangen. In den Worten der deutschen Originalübersetzung des Contrat social (1762) ausgedrückt: Die »sittliche Freyheit« allein macht »den Menschen zum Wahren Herrn über sich selbst […]; dahingegen die Leitung der Begierden Sclaverey, und nur die Beobachtung der Gesetze, die man sich selbsten vorschreibet, Freyheit ist.« (1763, 72; II 8) Freiheit ist nicht irgendeine Eigenschaft des Menschen. Sie erhebt ihn über alles andere in der Natur. Die Freiheit befreit den Menschen von der Herrschaft der Natur. An seiner Freiheit ist dem Menschen als Vernunftwesen am meisten gelegen. Da Freiheit eine Befugnis, das Gesetz aber eine Notwendigkeit ausdrückt, durch die diese Befugnis begrenzt wird, ist das Gesetz nur dann mit dem Gedanken einer Herrschaft über sich selbst vereinbar, wenn wir uns dieses Gesetz selbst geben. Wir sind zugleich Adressaten und Ursprung des Gesetzes, nach dessen Vorstellung wir als reine Vernunftwesen handeln. Es ist diese Idee, die Idee einer Vermittlung von Freiheit und Gesetz, die den Menschen zum Souverän seines Freiheitsgebrauchs erklärt, die Kant seit seiner Lektüre von Rousseau nicht mehr losgelassen hat. In »der Herrschafft über sich selbst«, führt [13]Kant in einer Vorlesung über Moralphilosophie aus, besteht die »unmittelbare Würde« (2004, 205) des Menschen. Sie macht ihn von allen Dingen unabhängig. In einer Vorlesung über Anthropologie vom Winter  1781/82 spricht er von der »Maxime« und dem »Grundsatz« der »Selbsterhaltung der gesunden Vernunft, nicht des Menschen sondern der Vernunft, d. i. ich muß nichts annehmen, was den freien Gebrauch der Vernunft unmöglich machen würde.« (25:10491050)

Zwar hatte bereits ein Philosoph wie Christian Wolff (16791754) betont, dass der Mensch aufgrund seiner Freiheit »vermittelst seiner Vernunfft« sich selbst »ein Gesetze« (1720, § 24) sei, vom »Richterstuhle der Vernunft« (1754, Vorrede, iii) gesprochen und mit Cicero darauf hingewiesen, »daß die Rechtswissenschaft nicht aus den zwölf Tafeln, noch aus den Befehlen der Prätoren, sondern allerdings aus dem innersten der Philosophie herzuholen sey.« (1754, Vorrede, IV) Und Kants hallescher Kollege Georg Friedrich Meier (17181777) nannte den freien Willen »die Krone aller Kräfte der menschlichen Seele« (1764, I, § 8). Aber kein Philosoph der Moderne hatte die Freiheit so sehr in den Mittelpunkt der Bestimmung des Menschen gestellt wie Rousseau. Keiner war auf die Idee gekommen, den Menschen zum Urheber sittlicher Gesetze zu machen. Mit Rousseau beginnt der moralische Kosmos sich um den Menschen und der Mensch sich um seine Freiheit und Selbstgesetzgebung zu drehen.

Kant zeigt sich seit seiner Lektüre von Rousseaus Schriften Anfang der  1760er Jahre vom Freiheitspathos des Genfer Philosophen beeindruckt. Erst in seiner Schrift von  1785 gelingt ihm jedoch der große theoretische Wurf: Autonomie ist der Schlüssel zum Verständnis unserer Pflichten. Der Ursprung und die Quelle des uns zu bestimmten Handlungen verpflichtenden moralischen Gesetzes ist die reine Vernunft. Als vernünftige Wesen verpflichten wir uns selbst. Die Freiheit in [14]das Zentrum der Bestimmung des Menschen zu stellen, bedeutet für Kant zweierlei: Dass die Freiheit des Menschen sein »eigentliches Selbst« ausmacht, und dass der Mensch im Gebrauch seiner Freiheit verbunden ist, sich einem Gesetz zu unterwerfen, welches er sich selbst gibt.

Wie aber können wir einem Gesetz unterworfen sein, welches wir uns selbst aufgrund unserer vernünftigen Natur geben? In welchem Verhältnis steht das moralische Gesetz (das Gesetz der Freiheit) zu den Gesetzen der Natur? In welchem zu unseren Gefühlen und Begierden? Was ist der Ursprung der Notwendigkeit? Welches ist die Quelle der moralischen Verbindlichkeit? Wie verhält sich die Notwendigkeit zur Verbindlichkeit? Wie können wir das moralische Gesetz erkennen? Gibt es einen freien Willen?

In der Grundlegung wendet sich Kant der Beantwortung dieser und anderer Fragen im Rahmen von Überlegungen zu, die der »Aufsuchung und Festsetzung des obersten Prinzips der Moralität« (392) dienen. Das »oberste Prinzip der Moralität«: das ist der kategorische Imperativ. Rousseau spricht vom allgemeinen Willen (»volonté générale«), Kant vom Willen als Grund einer allgemeinen Gesetzgebung. Dass die Frage nach dem kategorischen Imperativ als Frage nach seiner Möglichkeit formuliert werden muss, notiert Kant bereits in einer aus dem Jahr  1772 stammenden Reflexion:

»Die Gantze Schwierigkeit bey dem Streit über das principium der moral ist: wie ein categorischer imperativus möglich sey, der nicht conditional ist, weder sub conditione problematica noch apodictica (der Geschicklichkeit. Klugheit). Ein solcher imperativus sagt, was ursprünglich, primitive Gut ist.«2

[15]Kant beansprucht nicht, das Prinzip der Moral erfunden oder konstruiert zu haben. Es liegt dem moralischen Selbstverständnis der Menschen seit alters her zu Grunde. Die Philosophie kann aufklären und entdecken, sie kann im Bereich der Moral aber nichts erfinden. In seiner Vorlesung über Anthropologie (1772/73) schreibt er, dass »die ganze Moral nur eine analysis des vorraths von Begriffen und Reflexionen« ist, »die der Mensch im dunckeln schon hat. Ich lehre da nichts neues« (25:20). In der Kritik der reinen Vernunft heißt es entsprechend:

»Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit,) das Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt bestimmen […]. Diesen Satz kann ich mit Recht voraussetzen, nicht allein indem ich mich auf die Beweise der aufgeklärtesten Moralisten, sondern auf das sittliche Urteil eines jeden Menschen berufe, wenn er sich ein dergleichen Gesetz deutlich denken will.«3

[16]Die Prinzipien der praktischen Vernunft haben in ihrem praktischen Gebrauche »objektive Realität« (KrV A 808 / B 836). Wir erkennen also ihre »objektive Realität«, sobald wir sie uns »deutlich denken«.

Dass die Grundlegung trotz aller Vordenker und aller Erbschaften, die sie antritt, »eine neue Epoche in der Geschichte der Philosophie« (Stäudlin  1824, 96) eröffnet, ist seinen Lesern von Anfang an bewusst gewesen. Dies hängt einerseits mit den in ihr entfalteten neuartigen Begriffen von reiner praktischer Vernunft und Gesetz, andererseits mit seiner radikalen Kritik am ethischen Eudämonismus, d. h. also an der Lehre vom Glück als dem höchsten Gut oder Zweck unseres Handelns, zusammen. Gingen die maßgeblichen Philosophen vor Kant davon aus, dass Tugend und Pflicht als Funktionsbegriffe des (wahren) menschlichen Glücks zu verstehen sind, vertritt der Königsberger Philosoph die Ansicht, dass die Moralität unseres Handelns durch die einseitige Berücksichtigung unseres Glücks untergraben wird. Die einzige Quelle der Verbindlichkeit ist die reine Vernunft.

Fragen wir nach den Bedingungen, unter denen eine praktische Regel ein moralisches Gesetz sein kann, stoßen wir auf die reine Vernunft mit ihren Begriffen a priori. Diese Begriffe4 bestimmen unseren Willen, d. h. sie machen ihn zu dem, was dieser Wille seinem Wesen nach ist. Das moralische Gesetz ist die sich selbst durch ihre eigenen Begriffe zum Handeln bestimmende reine Vernunft. Freiheit und Notwendigkeit widersprechen sich nicht. Ohne Notwendigkeit gibt es keine Freiheit, weil sich die Freiheit ohne das Gesetz selbst zerstört. Die Form, das Wesentliche der Vernunft, ist die [17]Notwendigkeit (vgl. 17:312). Wenn es überhaupt ein moralisches Gesetz gibt, dann muss es »absolute Notwendigkeit bei sich führen« (389; vgl. 463). Die Notwendigkeit einer Handlungsregel macht diese zu einem Gesetz. Ein Gesetz gilt allgemein, für alle Vernunftwesen.

Kant unterscheidet zwischen der Eigenschaft des moralischen Gesetzes, von »absoluter Notwendigkeit« zu sein, und seiner Funktion als »Grund einer Verbindlichkeit« (389). Grund einer moralischen Verbindlichkeit kann das moralische Gesetz zwar nur deshalb sein, weil es von »absoluter Notwendigkeit« ist (vgl. 19:142). Aber das moralische Gesetz kann nur diejenigen Wesen verpflichten, die ihrer eigenen Natur nach diesem Gesetz nicht mit Notwendigkeit folgen. Ein reines Vernunftwesen handelt mit Notwendigkeit nach dem moralischen Gesetz. Aber es ist nicht verpflichtet (verbunden), dies zu tun. Es muss zur Befolgung des Gesetzes nicht genötigt werden. Die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes wird in einem kategorischen Imperativ ausgedrückt. Es verwendet sich an Wesen, die ihrer eigenen Natur nach auch unvernünftig handeln könnten. Die reine Vernunft verpflichtet den Menschen jedoch, nach Prinzipien zu handeln, nach denen reine Vernunftwesen mit Notwendigkeit handeln, bloß weil sie vernünftig sind. Der Mensch aber strebt immer auch nach seiner eigenen Glückseligkeit. Das Verlangen nach ihr motiviert ihn, Handlungen zu vollziehen, die mit der Idee einer allgemeinen Gesetzgebung nicht vereinbar sind.

Kant mutet seinen Lesern einiges zu. Nach einer programmatischen, Inhalt, Methode und systematischen Kontext erläuternden Vorrede präsentiert er seine Überlegungen in drei Abschnitten. Niemals zuvor ist in der Geschichte der Ethik der Versuch unternommen worden, den Bedeutungsgehalt eines praktischen Prinzips aus verschiedenen epistemischen Perspektiven zu beleuchten, die nach einer bestimmten Logik [18]aufeinanderfolgen: Alle sittliche Erkenntnis ist entweder bloß »gemeine« oder schon »philosophische« Vernunfterkenntnis. Und die »philosophische« Vernunfterkenntnis ist entweder »populäre Moralphilosophie«, »Metaphysik der Sitten« oder »Kritik der reinen praktischen Vernunft« (392). Und niemals zuvor hat ein Autor sich zu schreiben erlaubt, dass die Analyse der »gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis« in eine »Kritik der reinen praktischen Vernunft« münden wird, in der das, was die gemeine Vernunft dunkel denkt, zur begrifflichen Deutlichkeit gebracht werden wird. Kant nimmt sich die Freiheit, den Egalitarismus von Rousseau, der in seinem Emile (1762) die natürliche Sittlichkeit des Menschen betont hat, mit der Metaphysik von Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten (17141762) zusammenzuführen. Jeder Mensch, ob Bauer oder Bettelmann, hat Einsicht in die ihn in seinem Wollen verbindende Kraft und Würde des moralischen Gesetzes. Jedoch kann es uns nur als Metaphysiker und Vernunftkritiker gelingen, dieses Gesetz auf den Begriff zu bringen. Wir können die Moral »gar nicht fühlen« (29:625). Wir müssen sie denken, in Begriffe fassen. Gelingt dies, dann erweist uns die Theorie der Moral auch einen praktischen Dienst, werden wir uns im Leben besser moralisch orientieren können.

Dass keine Interpretation und kein Kommentar die eigenständige Lektüre eines philosophischen Textes ersetzen können, mag eine Binsenweisheit sein. Für die Grundlegung bestätigt sie sich auf nachdrückliche Weise. Die in ihr entfaltete Dynamik des Denkens kann in keinem Meta-Text simuliert werden. Dieser kann immer nur Hilfestellungen von der Art geben, die in Anspielung auf Kants Aufsatz »Was heißt: sich im Denken orientieren?« (8:131147) als Orientierung im eigenen Denken über das Denken Kants bezeichnet werden könnte. Im Denken über Kants Denken sollte zweierlei nicht vergessen werden:

[19]Erstens wird schnell klar, dass Kants eigenes Denken von begrifflichen Voraussetzungen lebt und mit philosophischen Erwartungen einhergeht, die sich in der Übernahme und in der Auseinandersetzung mit bestimmten Philosophen und Traditionen zeigt. Es scheint deshalb hilfreich zu sein, in einem Kommentar wie dem vorliegenden zumindest gelegentlich die Kontexte zu erläutern, in denen sich Kant orientiert.

Zweitens kann dies mit gleichem Recht von uns Interpreten gesagt werden. Was dies für die Interpretation eines philosophischen Textes im Einzelnen bedeutet, bedürfte vieler Worte, für die hier nicht der Ort ist. Für die vorliegende Interpretation gilt zumal, dass sie nach dem Prinzip hermeneutischer Angemessenheit geschrieben ist. Sie wendet sich an Leser, die auf die Gründe und Argumente neugierig sind, die Kant im Rahmen der Grundlegung einer Disziplin vorträgt, die er »Metaphysik der Sitten« oder (in einer Vorlesung) »Metaphysic der Freyheit« (29:599) nennt.

Ob die Grundlegung den Leser philosophisch zu überzeugen vermag, steht selbstverständlich auf einem anderen Blatt. Aber er sollte über sie nicht urteilen, ohne sie zuvor durchdacht zu haben. Und er wird diese Schrift kaum mit Gewinn lesen können, wenn er sie von vornherein aus der Perspektive einer sich selbst gewissen (Post-)Moderne beurteilt, die die Rede von der Vernunft im Singular für ein zweckfreies Sprachspiel hält. Der Schatten der Vernunft ist die Kontingenz, der Zufall, die Beliebigkeit, die Subjektivität unseres Glaubens und Meinens. Bewegen wir uns im Schatten der Vernunft, orientieren wir uns nicht an Gründen. Wir wollen überreden, manipulieren, Macht ausüben, Interessen realisieren. Die Vernunft hat ihre Grenzen, aber sie ist für uns alternativlos. Davon jedenfalls ist Kant überzeugt.

[20]Trotz aller berechtigten relativistischen Einsprüche und Bedenken sind wir gut beraten, das normative Potenzial von Kants praktischer Philosophie nicht zu unterschätzen, seine Auffassungen nicht von vornherein historisierend zu entschärfen. Wir sollten uns auch im Klaren darüber sein, dass im Namen von Tradition und Konvention, Gefühl und Erfahrung geübte Vernunftkritik und Metaphysikverachtung Größen sind, die Kant sehr gut vertraut waren. Wir sollten dem Philosophen aus Königsberg die Chance geben, uns zu überzeugen. Ob Metaphysik vielleicht doch als Wissenschaft möglich ist? Und ob eine Vernunft praktische Wirklichkeit hat, die der Ursprung von Regeln des Wollens ist, die für alle Vernunftwesen gelten? Sollte es keine unseren Willen unbedingt bindenden Regeln (praktische Gesetze) geben, würde die Moral jedenfalls eine Angelegenheit von Anthropologie und Psychologie sein. Moral würde nichts anderes sein als ein System von hypothetischen Imperativen. Wenn es überhaupt einen moralischen Standpunkt gibt, dann wird er Kants Auffassung nach durch die reine Vernunft definiert. Sie ist die Quelle der Notwendigkeit, die »das Eintrittsbillett in die Kantische Philosophie« (Brandt  2014, 352) darstellt. Es gehört zu den Erwartungen, die wir an Kants Grundlegung stellen, dass sie uns zu verstehen hilft, wie die ihrem Begriff nach auf das Unbedingte und Notwendige zielende reine Vernunft praktisch werden kann.

[21]I. Grundlagen und Voraussetzungen