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Kurt Pachl

SOKO Puppenmann

Kriminalroman

© 2017 Kurt Pachl

Umschlag, Illustration: Kurt Pachl

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback978-3-7439-5935-4
Hardcover978-3-7439-5936-1
e-Book978-3-7439-5937-8

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Montag, 23. Januar 2017

Es waren grauenvolle Bilder, die Dirk Epplau seiner Seele zugemutet hatte. Er hätte alle Menschen verstehen können, die ihn dafür hassten, diesem widerlichen Treiben nicht schon vor Wochen ein jähes Ende gesetzt zu haben. Doch: Jede Entscheidung, die er getroffen hatte, war richtig und falsch gleichermaßen. In den letzten Wochen befand er sich zwischen vielen Höllen.

Dirks Kollegin, Hauptkommissarin Astrid Stark, war Mutter von zwei süßen Mädchen. Sie hätte keine Sekunde gezögert, um ein Sonderkommando ausrücken zu lassen. Mit Sicherheit hätte sie damit zwei oder drei kleinen Wesen viel Leid erspart. Auch ihr Mann Ralf, der bei der Bereitschaftspolizei arbeitete, wäre durchgedreht, wenn er ansatzweise geahnt hätte, welche Abscheulichkeiten sich im Haus des David Eichhorn zugetragen hatten. Er wäre losgeprescht – wie damals; blind vor Wut. Damals, das war vor drei Jahren, war er Dirks Ausbilder. Sie waren zum Anwesen des Oberstudienrates Eichhorn gefahren. Und es gelang ihnen, die kleine Saskia zu befreien. Zumindest sahen sie das damals so. Doch Staatsanwalt Dr. Adam Bosbach schlug „diese Sache“ kurzerhand nieder. Dies hatte sich abgrundtief in Dirks Seele eingebrannt. Er hatte sich geschworen, dass künftig kein Staatsanwalt die Chance bekommen durfte, noch einmal einen artähnlichen Fall so einfach niederzuschlagen; zumindest nicht solange er Teil der K10 war.

Das Schicksal gab ihm nun die Chance, eine Kinderschänder-Bande und zusätzlich einen Kinderhändler-Ring zu zerschlagen. Damit hätte er einer ungleich größeren Anzahl kleiner Wesen nachhaltig großes Leid erspart und viele Bestien in Menschengestalt für längere Zeit hinter Gitter gebracht. Sein Freund Schorsch, er war zum Leiter einer halboffiziellen Sondereinheit in Frankfurt ernannt worden, hatte es auf den Punkt gebracht. Er brauchte Fakten, Fakten und nochmals Fakten. Und das kostete nun einmal Zeit.

Innerhalb der K10 gab es keinen Kollegen oder Vorgesetzten, mit dem Dirk hätte dieses Problem besprechen können. Das war eine der vielen Höllen, durch die der junge Kriminalkommissar in den letzten Wochen gegangen war.

In den zurückliegenden Nächten zerrten die Bilder wieder einmal unablässig an seiner Seele. Diese Szenen waren grauenvoll und lebendig; zum Greifen nahe.

An diesem 23. Januar, es war ein Montag, atmete Dirk erleichtert auf. Endlich war wieder einmal eine Nacht vorbei. Gott sei Dank. Und in diesen frühen Morgenstunden wurde ihm schlagartig bewusst, dass er diese Last nicht weiter ertragen wollte; nicht weiter ertragen konnte. Er, Ulrich und Schorsch hatten inzwischen ausreichend Fakten zusammengetragen. Noch heute würde er diesem Schrecken ein Ende bereiten!

Als er unter der Dusche stand, um den Seelenschrott, zusammen mit dem Schweiß der Nacht, in den Gully zu spülen, konnte er nicht ahnen, dass das Schicksal bereits andere Pläne geschmiedet hatte; weitreichendere Pläne und Szenarien – jenseits seines Vorstellungsvermögens.

Ihm war, als hätte er durch seinen Entschluss sich selbst einen riesigen Teil der Last genommen. Angesichts der riesigen Tragweite, den dieser Fall auslösen würde, musste Dirk über die Trivialität lachen, dass er plötzlich Hunger verspürte. Ausgesprochen selten frühstückte er allein in seinem Zweizimmer-Appartement in einem modernen Hochhaus auf der Rückseite des Luisen-Centers. Im Sommer fuhr er mit dem Fahrrad in die Klappacher Straße. Das Prä-sidium konnte er auf diese Weise in knapp zwölf Minuten erreichen. Im Winterhalbjahr hatte er sein geländegängiges Fahrzeug bei seinem Lieblingscafé am Ende der Rheinstraße abgestellt.

Tamara war Russlanddeutsche und kam aus Kasachstan. Der Zufall wollte es, dass Dirk sich gezwungen sah, die attraktive und impulsive Betreiberin dieses wohlig duftenden Cafés von ihrem rabiaten Verlobten zu befreien. Genau genommen war es Schorsch, der Vitali „überzeugt“ hatte, dass es gesünder sei, künftig um Darmstadt einen großen Bogen zu machen. Wie auch immer: Für Tamara war Dirk ihr Retter. Und dafür wollte sie sich bedanken. Zwischenzeitlich war der junge Kommissar jedoch davon überzeugt, dass diese überaus anstrengende Frau diesen „Dank“ genoss – und brauchte; möglichst viele Male in der Woche. Bereits um vier Uhr ging sie mit ihren Helferinnen, sie kamen ausnahmslos ebenfalls aus Kasachstan, in die Backstube, um viele unvergleichliche Köstlichkeiten zu backen und für die Stammkundschaft vorzubereiten. Gegen 7:15 Uhr pflegte sie sich zu duschen. Unter ihrer weißen Kittelschürze trug sie danach nur noch die nackte und erwartungsvolle Haut.

Für Dirk hätte die Problemlösung natürlich darin bestehen können, um Tamaras Reich ebenfalls einen großen Bogen zu machen. Dagegen sprachen jedoch zwei gravierende Punkte. Zum einen machte Tamara das beste Frühstück weit und breit. Darüber hinaus lenkte sie ihn mit diesem Frühsport der besonderen Art von seinen schlimmen Träumen ab.

Spätestens wenn sie ihn auf den Stuhl ohne Lehne drückte – zum Bett war es ihr meistens zu weit gewesen – und sich die Kittelschürze hastig vom Leib riss, steckte sie auch ihn mit ihrer Begierde an. Auf diese Weise konnte Dirk sich die Zeit ersparen, irgendwelchen Frauen hinterherzulaufen; die ihn zum Schluss an sich binden wollten. Diese Sorge musste er bei Tamara nicht haben. Bislang fanden sie noch nie die Gelegenheit, über dieses Thema zu sprechen. Genau genommen war das auch nicht notwendig.

Grinsend stapfte Dirk die Rheinstraße entlang und blickte dabei kurz auf seine Armbanduhr. Es war 7:30 Uhr. Er zog seine Wollmütze tiefer ins Gesicht und klappte den Kragen seines Parkas nach oben. Die üppige Beleuchtung schickte um diese Uhrzeit nur dämmriges Licht in die größte Einkaufsmeile Darmstadts. Heute wollte es nicht hell werden. Nach dem Wetterbericht war es in der vergangenen Nacht fünf Grad unter Null gewesen. Ein eisiger Wind jagte durch die Straßen und obendrein war noch Schneesturm angesagt.

»Mami. Püppi. Da da … Püppi«, hörte er eine helle Kinderstimme.

»Ist ja schon gut. Wir sind gleich im Kindergarten. Dort warten deine Püppis schon auf dich. Komm. Trödle nicht«, schimpfte die Mutter und zog das kleine Mädchen hinter sich her.

Dirk hatte inzwischen viele solcher Szenen um diese Uhrzeit gesehen. In der Nähe befand sich ein großer Kindergarten.

»Püppi. Püppi«, jammerte die Kleine weiter. Sie blickte dabei unentwegt in Richtung des Ludwigsmonumentes, an dem sie gerade vorbeigekommen waren.

Instinktiv folgte Dirk dem Blick des kleinen Mädchens. Dort, am Monument, in der Mitte des Luisenplatzes, knapp vierzig Meter vom Eingang des Luisen-Centers entfernt, erregten jetzt vier Jugendliche seine Aufmerksamkeit. Bewaffnet mit ihren Smartphones eilten sie die drei großen Stufen des Monumentsockels nach oben. Ihre Bewegungen verrieten höchste Aufgeregtheit. Der Wind trug ihre primitiv anmutenden „Ouhhs, Wows und Hejiis“ bis zu ihm her-über.

Während Dirk sich mit schnellen Schritten aufmachte, den Sockel des Monumentes zu erreichen, zog er instinktiv den Reißverschluss seines Parkas nach unten, tastete nach seiner Pistole und seinem Smartphone. Alles war griffbereit.

Schon von Weitem versuchte er herauszufinden, worauf sich diese Jugendlichen konzentrierten.

Im Näherkommen machte er eine Person aus, die an den riesigen Sandsteinquadern des Monumentes angelehnt kauerte.

Die Jugendlichen, sie mochten zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt sein, bemerkten Dirk erst, als er vor den drei langgezogenen Stufen aus Sandstein stand.

»Hej, der ist alle. Hundertpro. Muckst sich nicht mehr«, hörte er einen der Jugendlichen krächzen.

Er war spindeldürr und fast zwei Meter groß.

Sein Begleiter, ein fettes Wesen, das trotz der Kälte nur eine dünne, helle Windbluse trug, stupste den Kauernden mit seinen klobigen Stiefeln an.

»Steif. Muss schon länger hier sitzen«, knurrte er sachkundig und ohne erkennbare Regung.

Seine Kumpels waren gierig, jede Szene mit ihren Smartphones festzuhalten.

Erst als einer der Fotogaffer seine Position änderte, hatte Dirk eine ungehinderte Sicht auf die Person – oder Leiche?

Er erstarrte augenblicklich. Bei dem offensichtlich leblosen Körper handelte es sich zweifellos um einen Mann.

Was Dirk nun sah, ließ ihm den Atem stocken.

Dieser höchstwahrscheinlich steifgefrorene und leblose Mann umklammerte mit seinem linken Arm eine riesige Puppe.

Fast reflexartig zog Dirk mit einer geübten Bewegung seinen Dienstausweis aus der Tasche, und streckte diesen den Burschen deutlich sichtbar entgegen.

»Polizei! Schluss jetzt mit der Knipserei! Ihr macht euch jetzt vom Acker. Und das plötzlich«, befahl er mit lauter und bestimmender Stimme.

Ein stämmiger und breitschultriger Bursche, der sich bislang im Hintergrund gehalten hatte, schob seine Kumpels beiseite, um sich drohend vor Dirk aufzubauen.

»Wenn du uns hier verarschen willst, gibt’s gleich Spiegeleier.«

Seine drei Kollegen quittierten dies mit einem breiten und blöden Grinsen.

Dirk schob den rechten geöffneten Teil seines Parkas zur Seite. Fast gleichzeitig legte er seine rechte Hand drohend auf den Griff seiner P30. Danach zog er seine rechte Augenbraue nach oben.

»Es ist saukalt. Ich bin hungrig. Und heute Morgen verdammt schlecht gelaunt. Ist das bei Euch angekommen – ihr Spastis?! Legt sofort eure Smartphones auf den Boden, und tretet einen Schritt zurück!«

»Scheiße«, schnarrte der Spindeldürre, und starrte auf Dirks Waffe.

»Arschloch«, grunzte der Stämmige giftig. Er zog es jedoch vor, gleichzeitig seine rechte Hand nach oben zu schieben, um eine nach vorn winkende Bewegung folgen zu lassen.

»Abmarsch!«, sagte er tonlos.

Augenblicklich setzen sich die vier Jugendlichen in Bewegung.

Fluchend stapften sie die Stufen hinunter und schlurften mit hängenden Schultern über den Luisenplatz in Richtung des Einkaufs-Centers.

Routiniert steckte Dirk seinen Ausweis zurück, griff nach seinem Smartphone, um fast gleichzeitig auf eine Taste zu drücken.

»Hallo Astrid. Hier Dirk. Ich stehe auf dem Sockel vom Ludwigsmonument. Hier sitzt ein inzwischen steifgefrorener Mann. Achtung: Mit einer riesengroßen Puppe im Arm! Das riecht nach Ärger. Wir brauchen mit Sicherheit eine Hundertschaft, um den ganzen Platz abzusperren. Muss es kurz machen. Hier wird gleich der Teufel los sein. Veranlasse alles Weitere. Ende.«

Dirk wusste, dass er tatsächlich keine Zeit verlieren durfte. In unmittelbarer Nähe befanden sich unzählige Haltestellen. Die vielen Busse würden in Kürze hunderte von Menschen ausspucken, um die wichtigste Einkaufsmeile Darmstadts mit Leben zu füllen. Und viele von ihnen waren es höchstwahrscheinlich gewohnt, die Abkürzung am Ludwigsmonument vorbei zu nehmen.

„Du solltest zunächst einige Aufnahmen für dein Protokoll machen“, schoss es durch Dirks Kopf. Die vier Jugendlichen hatten mit Sicherheit bereits kostbare Spuren vernichtet. Falls er allein eine große Anzahl Neugieriger nicht abhalten konnte, einen Blick auf die Leiche zu nehmen, war es mit Sicherheit wichtig, zuvor jedes kleinste Detail gespeichert zu haben.

Als er sich nun mit seinem Smartphone langsam der Leiche näherte, notierte er für sich: Der Mann war zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt und trug einen langen, dunkelblauen Mantel. Auffällig war ein breiter, weißer Schal, den er um den Hals geschlungen hatte. Sein breitkrempiger Hut war ihm ein Stück ins Gesicht gerutscht, und seine silberfarbene Brille hing locker über der Nase. Und das Gesicht … oh Gott … sein Gesicht … war mit weißem Puder dick überzogen. Die Haut darunter war ungewöhnlich runzelig … oder gar verdreckt? Jetzt erst konnte er erkennen, dass die Leiche unter dem Puder einen weißen Bart trug.

Als Dirk im Begriff war, eine Nahaufnahme des Gesichts zu schießen, begannen seine Hände unwillkürlich zu zittern.

Er war wie gelähmt; unfähig zu einer weiteren Bewegung. Verdammt - er kannte dieses Gesicht. Unfassbar. In der letzten Nacht war ihm dieser Teufel sogar in einem seiner Träume erschienen. Dirk hatte das Gefühl, als würden seine Beine jeden Moment ihren Dienst versagen.

»Dirk, du bist Polizist«, schrie er in sich hinein. »Zittern darfst du später! Jetzt nicht!! Jetzt musst du dieses Schwein aufnehmen. Das ist David Eichhorn - dieses Tier.«

Langsam, ganz langsam, wurden seine Hände ruhiger -und das Blut pulsierte wieder durch sein Gehirn. Fast wie in Trance versuchte er nun, mit ruhigeren Händen weitere Aufnahmen zu machen - von der Puppe, vom kleinen Kinderslip, den jemand zwischen den Fingern der rechten Hand drapiert hatte. Jaja, drapiert! Daran gab es keinen Zweifel! Nicht im Geringsten! Jemand, wer auch immer, hatte diesen David Eichhorn mit großer Sorgfalt zur Schau gestellt. Das war ein grauenhaftes Kunstwerk, ein hässliches Spektakel, ein Signal - oder gar ein Fanal?

So ein Mist, schoss es erneut durch seinen Kopf. Jeden Moment würde Ralf hier auftauchen. Und er würde einen Blick auf die Leiche werfen wollen. Verdammt. Wollte ihn dieser Traum … von heute Nacht … vorwarnen? Auch bei Ralf würden wieder diese teuflischen Erinnerungen von damals wach werden … Oh Gott … Ralf!

Das lag nun schon lange zurück. Zwei Jahre? Nein. Das musste mittlerweile zweieinhalb Jahre her sein. Dabei begannen die ersten Tage mit Ralf, seinem Ausbilder, ausgesprochen unspektakulär. Damals konnte niemand ahnen, was einige Tage später auf sie beide zukommen sollte. Und dieser Polizeihauptmeister der Bereitschaftspolizei, dem der Ruf eines „Schleifers“ vorauseilte, reagierte damals völlig anders, als Dirk – aber sicher auch als Ralf selbst - dies für möglich gehalten hatte.

Donnerstag, 16. Juli 2015

Der VW-Tiguan erwies sich als erstaunlich geländegängig. Die Feldwege des Hessischen Riedes im Bereich des Landschaftsschutzgebietes Kühkopf-Knoblauchsaue waren mit dicken Schichten feinem Sand eingepudert. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet. Das Polizeiauto wirbelte unablässig riesige Staubwolken auf. Polizeihauptmeister Ralf Stark hatte Dirk angewiesen, an diesem Tag das Steuer zu übernehmen. Das konnte man von einem Trainee im fünften Semester erwarten.

Dieser dritte Tag bei der Schutzpolizei in der Polizeidirektion Darmstadt begann schwül. Bereits gegen 11.00 Uhr kletterte das Thermometer über die Dreißig-Grad-Marke.

Erst am späten Nachmittag drehte der letzte Hubschrauber ab, der das BTI gegen die Schnakenplage im Bereich des Naturschutzgebietes Kühkopfaue versprüht hatte. Ralfs Aufgabe war es gewesen, dass sich während dieser Ausbringungsphase keine Hobbyfotografen oder Naturbegeisterte in den genau festgelegten Planabschnitten befanden. Dafür rächten sich allerdings die Schnaken an den beiden Polizisten. Noch schlimmer als die juckenden Stiche, welche rote Quaddeln hinterließen, war dieses unablässig nervige „Tssss … Tssssss“ - und Ralfs Fluchen.

Der drahtige und hochgewachsene Polizist blickte verstohlen zu seinem Fahrer hinüber, während er sich mit einigen Tempotaschentüchern den Nacken, die Stirn und zum Schluss den kahlgeschorenen Schädel abtrocknete. Irgendwann hatte er sogar sein Fluchen eingestellt. Dieser junge Bursche am Steuer zeigte nicht die geringste Spur von Müdigkeit. Lediglich sein blaues Hemd war unter den Achseln leicht verschwitzt. Fast hatte es den Anschein, dass er diese teuflische Hitze genoss. Und er grinste leise vor sich hin. Grauenhaft.

Noch vor wenigen Tagen hatte er mit Hans Ondrasch über diesen Burschen gesprochen. Er wollte wissen, worauf er sich einzustellen hatte.

Nach Astrids Schilderungen musste es sich hier um eine Ausnahmeerscheinung handeln. Noch nie zuvor hatte seine Frau einen Menschen mit so vielen Vorschusslorbeeren bedacht.

»Diese Jüngelchen von heute kommen doch schon ins Schwitzen, wenn sie ihr Smartphone stemmen. Bei einem Klimmzug oder einem Hundertmeterlauf brechen sie zusammen«, hatte Ralf leicht abschätzig geprustet.

»Wenn du dich da mal nicht irrst. An Dirk beißt du dir die Zähne aus«, sagte Kriminalhauptkommissar Ondrasch schmunzelnd.

Ralf schüttelte ungläubig den Kopf.

»In allen Fächern soll er einer der Besten seines Jahrganges in Wiesbaden sein, hat mir Astrid erzählt. Okay, okay. Aber gleichzeitig noch eine Sportskanone? Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Stimmt trotzdem. Er ist auch einer der besten Schützen. Und zu einem Dreißigkilometerlauf solltest du ihn ebenfalls nicht herausfordern.«

»Dein Kollege lehnt sich da aber verdammt weit aus dem Fenster«, hatte daraufhin Ralf am Abend zu Astrid gesagt.

»Irgendwie kann ich ihn ja verstehen. Sein Sohn und dieser Dirk sind zusammen aufgewachsen. Er soll ja sogar lange bei den Ondraschs gewohnt haben. Darum wird Hans niemals sagen, dass es sich bei diesem Kerl um ein Weichei handelt – zugegeben ein intelligentes Weichei.«

Astrid kannte die Weltanschauung ihres Mannes zur Genüge.

Mit einem Lächeln drückte sie dem kopfschüttelnden Hünen einen Kuss auf die Stirn.

»Lass dich doch einfach überraschen. Du sollst ihn ja einige Wochen unter deine Fittiche nehmen.«

Ralf musterte noch einmal abschätzend seinen Auszubildenden. Danach entschied er sich mit mürrischer Miene seinen Blick über die Landschaft schweifen zu lassen.

Von Stockstadt aus nahmen sie einen Schleichweg am Wiesenhof und der Hainlache vorbei bis zur Bruchmühle. In den Feldern standen noch die Skelette von verfallenen Bohrtürmen. Hier, im Ries, wurden bis in die Sechziger klägliche Mengen Erdöl gefördert. Neuerdings begann man wieder darüber zu diskutieren, mit Bohrungen zu beginnen.

Gott bewahre. Ralf liebte das Hessische Ried. In diesem fruchtbaren Schwemmland wurde früher sogar Tabak angebaut. Er konnte sich noch an die rosafarbenen blühenden Felder erinnern. Und später waren hier riesige Spargelplantagen. Erst in den letzten Jahren entschied man sich, Gemüse und Getreide anzubauen. Doch von Jahr zu Jahr drohte hier alles auszutrocknen.

Nach einer Viertelstunde überquerten sie die A67. Wie im Schlaf fuhr Dirk durch Pfungstadt, und überquerte schließlich die A5. Langsam hellte sich Ralfs Miene auf, während er begann, seinen Fahrer mit knappen Worten durch Eberstadt zu lotsen. Unmittelbar hinter dem Friedhof wies er seinen Fahrer an, vor einem älteren Gebäude mit einem sehr großen Garten zu parken.

»So, das ist unser Zuhause. Im Erdgeschoss wohnen wir. Das Obergeschoss wird bald frei. Das soll dann das Reich von meiner Mutter werden. Wirst sie gleich kennenlernen. Komm rein.«

»Papaaaa.« Der Schrei eines Kindes war schon von Weitem zu hören. Mit schnellen tippelnden Schrittchen eilte ein kleines Mädchen heran. Es trug ein kurzes, weißes Kleidchen. Die langen und blonden Haare wehten, und es begann, die kleinen Ärmchen weit auszubreiten. Mit einem Jauchzer ließ sie sich in die Arme des Vaters fallen. Dieser hob sie nun hoch in die Luft, drehte sich dabei einige Male um die eigene Achse, um sie danach erneut in die Arme zu nehmen. Schließlich drückte Ralf seinem Töchterchen ein Küsschen auf die kleine Wange. Das Mädchen lachte hell auf.

»Iiiiii, du kratzt abba.«

»Uahhhh. Und ich bin dein großer Teddybär. Die kratzen nun mal ein bisschen.«

Der Vater setzte der Kleinen seine Dienstmütze auf und brummte: »So, jetzt bist du der Chef. Okay?«

Erst jetzt nahm die Kleine, von oben herab, Notiz vom Gast des Vaters. Sie neigte den Kopf langsam von links nach rechts. Dabei rutschte die Dienstmütze tief ins Gesicht, worauf Ralf die Mütze wieder an sich nahm.

»Und wer bist du denn?«, wollte das Mädchen mit heller Stimme wissen.

Dirk blinzelte die Kleine mit einem zugekniffenen Auge an.

»Wenn du mir sagst, wer du bist, verrate ich dir auch meinen Namen.« Dabei streckte er dem Mädchen seine Hand entgegen. Dieses legte sein kleines Händchen in Dirks große Hand. Es fühlte sich kühl und weich an, zerbrechlich.

»Lara«, hauchte die Kleine leise.

»Hm. Lara gefällt mir … gefällt mir sogar sehr gut. Und ich bin der Dirk.«

In diesem Moment trat eine schlanke Frau aus dem Haus. Sie mochte knapp einhundertfünfundsiebzig Zentimeter groß sein und hatte ihre blonden Haare zu einem Knoten gebunden. Auffallend war ihr schlanker Hals. Die Haut wirkte sehr hell und kontrastierte zu ihrer schwarzen Bluse.

Hans hatte Astrid Stark ebenfalls beschrieben. Doch diese Frau sah nicht im Entferntesten wie eine Polizistin, wie eine Kriminaloberkommissarin aus. Sie soll sehr sportlich sein, sogar Trägerin des schwarzen Gürtels. Völlig unmöglich dachte Dirk. Unfassbar. Als sie lächelnd näherkam, blickte er in ein ebenmäßiges Gesicht; wie in das eines Models. Frappierend waren vor allem ihre sehr großen braunen Augen. Für einen kurzen Moment kroch Neid in Dirk hoch.

»Dieser Polizist muss doch vor Glück zerbersten«, sagte seine innere Stimme:

»Dieses kleine, wunderbare und zerbrechliche Mädchen – und diese attraktive Frau.«

Ihre Stimme war erstaunlich dunkel für eine so schlanke Frau. Doch da schwang etwas mit. Nein, als Härte konnte man es nicht einstufen. Aber es war weit entfernt von einem nichtssagenden Plauderton.

»Geht schon mal rein, ihr beiden Hübschen«, sagte sie mit einem freundlichen und leicht bestimmenden Ton, der wenig Widerspruch zuließ. Dabei setzte sie ein freundliches, jedoch leicht unterkühltes Lächeln auf.

Wortlos schnappte sich Ralf sein Töchterchen, setzte es auf seine Schultern, und stapfte ins Haus.

»Hans hat mir schon viel über Sie erzählt«.

Sie reichte Dirk die Hand und blickte ihn dabei mit ihren großen braunen Augen an.

»Vor meinem geistigen Auge habe ich sie mir anders vorgestellt.«

»Bevor ich darauf antworte, habe ich eine Bitte.«

»Eine erste Bitte sollte man nicht abschlagen. Bin gespannt.«

»Ralf hatte darum gebeten, dass wir uns duzen. Wenn wir nachher miteinander Gespräche führen, wird es etwas kompliziert …«

Die schlanke Frau legte Dirk ihre Hand sanft auf seinen Unterarm.

»Das ist eine gute Idee. Ich heiße Astrid. Und deinen Namen kenne ich ja schon - seit Jahren.«

Sie lachte. Dabei ließ sie ihre strahlend weißen Zahnreihen blitzen. Raucherin ist sie auf alle Fälle nicht, dachte Dirk.

»Komm bitte rein. Ich freue mich, meinen künftigen Kollegen kennen zu lernen. Bin doch neugierig. Wie alle Frauen. Wann fángst du bei uns an?«

Naja. Typischer Smalltalk dachte Dirk, aber antwortete brav und freundlich lächelnd:

»Am ersten Oktober.«

»Wahnsinn. Das sind ja nur noch einige Wochen.«

»Anstrengende Wochen. Abschlussprüfungen. Den ganzen September über.«

Astrid lächelte.

»Wie ich hörte, machen Sie … oh … daran muss ich mich noch gewöhnen … machst du das mit links.«

Sie wartete keine Antwort ab, sondern ging leichtfüßig voran ins Haus.

Am Anfang des Gespräches, im sehr großen und modern eingerichteten Wohnzimmer, legte die kleine Lara allergrößten Wert darauf, als absoluter Mittelpunkt zu gelten.

Nach etwa zehn Minuten stieß Ralfs Mutter hinzu. Die Frau eines ehemaligen Polizisten war natürlich neugierig, den Mann kennen zu lernen, der künftig mit ihrer Schwiegertochter zusammenarbeiten würde. Ihr Händedruck glich eher dem eines Boxers. Sie war fast einhundertachtzig Zentimeter groß, stämmig, aber nicht dick. Und sie hatte einen offenen Gesichtsausdruck.

»Ich bin eitel«, sagte sie. »Sag‘ Bettina zu mir. Sonst fühle ich mich zu alt. Ich muss mich jung halten.« Dabei streichelte sie kurz über den Bauch ihrer Schwiegertochter.

Monate später würde sich Dirk an diese Geste erinnern – und sich darüber ärgern, dies nicht instinktiv eingeordnet zu haben. Ein guter Polizist hätte sofort die richtigen Schlüsse ziehen müssen. Allerdings reagierte Astrid ausgesprochen raffiniert.

»Mama, lass diese Anzüglichkeiten. Kümmere dich lieber um deine eigene Figur. Als ob ich dick wäre.« Dabei drehte sie sich vor Dirk einmal um ihre eigene Achse. »Bin ich etwa dick?«

»Es … es ist alles am richtigen Platz«, stotterte Dirk, und fügte hinzu: »Mit meinen Komplimenten sollte ich aufpassen, sonst bekomme ich Ärger mit deinem Mann.«

Alle lachten.

Lara, die sich plötzlich nicht mehr im Mittelpunkt des Geschehens wähnte, zupfte an Dirks Hose.

»Psssst. Hej«, flüsterte sie.

Dirk ging in die Knie, damit sich sein Gesicht mit dem des Mädchens auf gleicher Augenhöhe befand.

»Willst du mir was sagen?«

Das Mädchen nickte mehrere Male wortlos. Sie neigte leicht ihr Köpfchen und lächelte den Gast mit großen, hellblauen Augen an.

Alle im Raum verfolgten diese Szene aufmerksam. Es lag offensichtlich die Frage im Raum, was die kleine Lara wieder einmal zum Besten geben würde.

»Diaak. Du gefällst mia.« Dabei blickte sie den Vierundzwanzigjährigen mit dem gepflegten Vollbart und seinen freundlichen, dunkelblauen Augen interessiert an.

Ihre Zuhörer und Zuschauer entschieden sich, an dieser Stelle nicht zu lachen. Mal schauen, was jetzt noch kommt, dachten sie wohl.

Lara vergrub ihre kleinen Fingerchen in die wuschelige, dunkelblonde Haarpracht des Gastes. Und dabei legte sie nach:

»Bist du schon veahairatet?«

»Nööö. Hab noch keine gefunden, die mich wollte.«

»Na gut. Dann hairate ich dich. Morgen, wenn ich grö-ßer bin.« Mit einem leichten Achselzucken blickte sie zu Ralf hinüber.

»Papa kann ich ja nicht hairaten. Dea hat ja schon Mama.«

Jetzt lachten alle.

Dirk grinste zu Astrid hinüber. Danach blickte er wieder in Laras großen hellblauen Augen.

»Aber ein Küsschen darf ich dir heute schon geben. Hm? Als Vorschuss. Das macht man so.«

Das Mädchen nickte wieder einige Male wortlos, worauf sie ein zartes Küsschen auf die Wange gedrückt bekam.

Mit einem »Iiiii, du kratzt ja auch«, rannte sie zu Bettina und drückte sich an deren Beine. Aus dieser Perspektive blickte sie in die Runde. Ihr Gesichtsausdruck verriet, was sie offensichtlich dachte:

»Warum lachen die denn alle so doof?«

Es waren diese Szenen, die sich bei Dirk tief und fest eingruben.

Niemals zuvor hatte er solche Bilder, Gefühle und Stimmungen erlebt. Wie musste man sich als Vater oder Mutter eines solch liebenswerten kleinen Wesens fühlen. Das war der kleine … oder vielleicht sogar der große … Himmel auf Erden.

Zu diesem Zeitpunkt konnten weder er noch Ralf ahnen, dass sie sich bereits morgen … in noch nicht einmal sechzehn Stunden … im Vorhof zur Hölle befinden würden.

»So, meine Hübsche«, sagte Bettina bestimmend und nahm Lara in die Arme.

»Ich war vorhin in deinem Zimmer. Balthasar hat fast geweint. Der ist soooo traurig und allein. Dein süßer Teddy hat nach dir gefragt. Jetzt putzt du dir deine Zähnchen. Sag‘ schön tschüss.«

Das kleine Mädchen schien wie auf Kommando tatsächlich müde zu sein. Es steckte einen Daumen in den Mund und winkte mit dem kleinen Fingerchen. Kurz darauf war Bettina mit ihr verschwunden.

Der Abend wurde lang. Astrid und Ralf hatten sich offensichtlich zuvor abgesprochen. Sie stellten keine Frage in Richtung des privaten Umfeldes ihres Gastes. Dafür wollten sie möglichst alles wissen, was Dirk während seiner Ausbildung erlebt hatte.

Freitag, 17. Juli 2015

Am anderen Morgen war Ralf wie ausgewechselt.

»Du hast gestern zwei große Fans gewonnen, mein Freund«, begann er mit leuchtenden Augen.

Dirk blieb natürlich nicht verborgen, dass ihm sein Ausbilder mit „mein Freund“ ansprach.

»Lara plappert unentwegt von ihrem „Diaak“. Und meine Mutter wird nicht müde festzuhalten, dass du mit Sicherheit eine steile Karriere vor dir hast.«

Er schnaufte mehrere Male hörbar.

»Und es kommt noch schlimmer.«

Er machte eine kurze Pause.

»Astrid freut sich auf ihren künftigen Kollegen. Was soil ich dazu sagen? Mal ehrlich.«

»Lad‘ mich einfach nicht mehr ein. Dann gibt sich das schon wieder«, lachte Dirk.

Der Kahlgeschorene zuckte mit den Schultern und blickte hilfesuchend nach oben – als wolle er die Götter dort oben um Rat bitten.

»Geht nicht. Kannste vergessen. Wie soll ich das der kleinen Lara beibringen. Die will dich so bald wie möglich wiedersehen.«

Dirk musste nicht mehr antworten.

Ein Anruf der Leitstelle meldete einen Unfall am Stadtrand von Pfungstadt. Fast übergangslos wurden sie anschließend zu einem eskalierenden Ehestreit gerufen.

Gegen elf Uhr hatte Ralf plötzlich Hunger auf eine Currywurst.

An der Würstchenbude wurde er freundlich empfangen. Offensichtlich war der drahtige und hochgewachsene Polizist dort Stammgast.

Und dann, es war 11:17 Uhr, und das Thermometer schickte sich an, wieder die Dreißig-Grad-Marke zu überschreiten, hörten sie eine Stimme aus dem Dienstfahrzeug, das er mit offenen Türen wenige Meter entfernt geparkt hatte.

Mit großen Schritten eilte Ralf zum Fahrzeug.

Sekunden später winkte er mit großen und hastigen Bewegungen.

Dirk sah in ein aschfahles Gesicht.

»Komm. Abmarsch. Wir müssen nach Walldorf.«

Mit einer verzerrten Grimasse warf sich Ralf hinter das Lenkrad.

Dirk hatte Mühe, die Beifahrertür zu schließen.

Ralf war völlig aufgelöst.

Er begann auf sein Lenkrad einzutrommeln.

»Diese Schweine. Oh, diese Schweine. Man sollte sie kastrieren. Quatsch. Man sollte sie umlegen. Alle.«

Ralf hatte Blaulicht und Martinshorn eingeschaltet und fuhr bei Rot über die nächste Ampel.

Bremsen quietschten.

Rasch hatte er die A5 erreicht. Ein Lkw setzte zum Überholen an. Offensichtlich hatte er das rasch heranrasende Polizeifahrzeug nicht gesehen, das Radio eingeschaltet, und deshalb auch das Martinshorn nicht gehört. Ralf schoss auf dem Standstreifen an den beiden Lkws vorbei.

»Lass mich fahren. Halt an. Komm‘ mal langsam runter. Was ist in Walldorf?«

Doch Ralf schien die Worte seines Beifahrers noch nicht einmal ansatzweise aufgenommen zu haben. Deshalb schrie Dirk aus Leibeskräften:

»Wenn du nicht sofort rechts ranfahrst, und mich fahren lässt, muss ich dich dazu zwingen. Haben wir uns verstanden! Du bringst dich und auch mich in Gefahr! Wenn du nicht an mich denkst, so denke doch wenigstens an Astrid und an deine kleine Lara.«

„Lara“. Dieses Wort war für Ralf wie ein Signal. Er trat auf die Bremse und fuhr auf den rechten Standstreifen. Dort bremste er abrupt ab, ließ sich über das Lenkrad fallen, und begann zu schluchzen.

»Das ist es ja. Genau. An Lara muss ich denken. Diese gottserbärmlichen Schweine.«

»Ist was mit Lara? Was hat das mit Walldorf zu tun?«, stammelte Dirk - nun ebenfalls aufgeregt.

»Quatsch. Aber das Mädchen … das er entführt hat … soll ungefáhr so alt sein wie Lara. Ich kenne ja dieses Schwein.«

Während Dirk ausstieg sagte er mit ruhiger Stimme:

»Zunächst nimmst du hier Platz. Ich fahre weiter. Los. Los.«

Als Ralf mühsam auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, sackte er in sich zusammen.

»So habe ich dich ja noch nie gesehen«, sagte Dirk leise, während der Wagen Fahrt aufnahm.

»Jetzt erzählst du mir langsam, Stück für Stück, was eigentlich Sache ist. Sonst kommen wird dort an, und ich verstehe immer nur Bahnhof. Wo müssen wir eigentlich genau hin.«

»Zur Schule. Du weißt, wo die ist?«

»Klar.« Dirk hielt es plötzlich für angebracht, zu schweigen. Sein Freund brauchte eine Minute, um sich zu sammeln.

»Also. Der Scheißkerl heißt David Eichhorn«, begann Ralf mit leiser Stimme.

»Er war Lehrer in Gelnhausen. Dort ist er übergriffig geworden. Seine Auflage bestand darin, sich therapieren zu lassen. Außerdem wurde er nach Mörfelden-Walldorf versetzt.«

Er lachte bitter und schüttelte dabei den Kopf.

»Sag mal einem Wolf, dass er ab sofort nicht mehr jagen darf. Stattdessen soll er Schafe hüten. Ist das nicht Wahnsinn? Wie blöd kann man nur sein.« Er schnaufte tief durch.

»Vor einem halben Jahr haben wir ihn festgenommen. Er soll wieder kleine Mädchen …« Ralf stierte nach oben und schüttelte hierbei den Kopf.

»Unser lieber Herr Staatsanwalt Dr. Bosbach hat das Verfahren eingestellt. Die Eltern des kleinen Mädchens hatten die Anklage zurückgezogen. Weiß der Teufel warum. So eine Scheiße. Und nun unterrichtet dieser Schäfer an der gleichen Schule weiter. Ist das nicht toll?! Ich fass‘ es nicht.«

»Im Rahmen meines Studiums und bei meiner Ausbildung in Wiesbaden haben wir unzählige solcher Fälle im Nachhinein analysiert«, versuchte Dirk fortzufahren.

»Was heißt hier analysiert«, schrie Ralf. »Sie analysieren, labern und labern. Doch wer denkt an die Eltern? Wer denkt an die Kinder? An die Spätfolgen? Wie sollen die sich später wieder in unsere Gesellschaft einfügen, sich einem Partner anvertrauen oder gar Kinder kriegen? Und was ist dann mit deren Kindern? Und so geht es weiter und immer weiter.«

»Wülst du vielleicht eine Sondereinheit aufstellen? Alle zusammenschlagen? Oder willst du diese Typen gar eigenhändig um die Ecke bringen? Als Polizist?«

Für schätzungsweise zwei Minuten war Stille im Auto. Nur das Fahrgeräusch war zu hören. Dirk fuhr rasch und routiniert. Die Minuten wirkten auf die Männer wie Stunden.

»Oh Gott. Oh Gott«, schnaufte schließlich Ralf.

»Du hast ja recht.« Er machte eine Pause.

Danach fuhr er leise und fast bittend fort:

»Die Eltern warten vor der Schule. Sie heißen Marquardt. Ihr Töchterchen Saskia ist sechs Jahre alt. Man hat gesehen, wie sie mit diesem Eichhorn mitging. Kannst du das übernehmen? Weißt du jetzt, worum es geht?«

»Klar. Verstanden.«

»Danke mein Freund«, schnaufte Ralf sichtlich erleichtert.

Inzwischen hatten sie die Autobahnausfahrt Langen erreicht. Bis zur Schule waren es nur noch knapp drei Minuten.

Vor dem langgezogenen, dreigeschossigen Bau hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet.

Ein Mann und eine Frau eilten sofort auf das Polizeifahrzeug zu. Die beiden Beamten setzten ihre Dienstmützen auf.

»Mein Name ist Dirk Epplau und das ist Polizeihauptmeister Ralf Stark. Sie sind Frau und Herr Marquardt?«

»Jaja Herr Kommissar. Oh Gott. Unsere Kleine …«, schluchzte die Frau. Dirk nahm sie in die Arme. Für ihn war es in dieser Sekunde sekundär, dass dies nicht den Dienstvorschriften entsprach.

»Wenn wir Ihre kleine Saskia rasch finden sollen, müssen wir uns jetzt gemeinsam auf das Wichtigste konzentrieren. Es geht jetzt nicht um Sie oder Ihren Mann. Es geht um ihre Saskia. Nur um Saskia! Sehen Sie das auch so?!«

»Jajaja, Herr Kommissar. Jaja.«

»Also. Jede Minute kann kostbar sein. Wer hat was und wann gehört und gesehen?«

Bereits nach zwei Minuten konnten Dirk und Ralf wieder in das Polizeiauto steigen. Ralf hatte zuvor die Adresse und die Telefon-Nummer der Marquardts notiert. Dirk gab den beiden Eltern zu verstehen, dass man sie auf keinen Fall mitnehmen dürfe. Er versprach, sie unverzüglich anzurufen und ihnen Saskia zuhause zu übergeben.

»Du weißt, wo der Kerl wohnt?«, fragte Dirk, während er sich wieder hinter das Lenkrad setzte.

Ralf nahm seine Dienstmütze ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Fahr die Rüsselsheimer Straße durch Walldorf in Richtung Mönchbruch. Knapp hundert Meter hinter dem Ortsende fährst du rechts in eine kleine Straße. Er wohnt in einem ehemaligen kleinen Hotel am Rande eines Naturschutzgebietes.« Er hob kurz seinen Zeigefinger.

»Kein Blaulicht. Kein Martinshorn. Bleib stehen, sobald du das Haus siehst.«

Das Haus war zweigeschossig und mit Holz verkleidet. Es hatte ein Flachdach mit Sedumgewächsen und Magerrasen. Hier war es fast unheimlich still. Nur Vogelgeräusche waren zu vernehmen.

Dirk klingelte einige Male. Der Hall im eindeutig großen Flur war deutlich zu hören. Ein Überhören der Glocke war unmöglich. Als nach wenigen Sekunden niemand die Tür öffnete, klingelte Ralf Sturm. Mit verzerrten Gesichtsausdruck musterte er dabei die Tür. Es war eine Holztür aus dicken Eichenbrettern, die entsprechend der Vorschrift für Gaststätten, nach außen zu öffnen war. Fluchend rannte Dirk zum Auto und kam mit zwei Brechstangen zurück. Eine davon drückte er Dirk in die Hand.

»Los. Pack mit an. Das haben wir gleich.«

Wortlos setzte Dirk dicht unterhalb der Türklinke an, während Ralf mit einem »Wart‘ nur Bursche. Ich schneid‘ dir die Eier ab« oberhalb der Türklinke das Eisen in den Türspalt rammte. Bereits nach wenigen Sekunden öffnete sich die Tür splitternd.

Ein korpulenter Mann mit graumelierten, leicht gelockten und ungepflegten Haaren, weißem Vollbart und Brille stand breitbeinig im Flur.

Dirk schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er war nur mit Hose und Unterhemd bekleidet. Seine Hosenträger hingen seitlich herab.

»Raus. Raus. Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank«, schrie er.

Spucke rann ihm dabei aus den Mundwinkeln.

»Verlassen Sie augenblicklich mein Haus.«

Seine Brille rutschte ihm vom Gesicht und krachte auf den Fliesenboden.

Ralfs kräftiger Fußtritt traf den Mann am Oberkörper. Er achtete nicht weiter darauf, dass das korpulente Wesen den Halt verlor, nach hinten torkelte und an der rechten Wand des Flurs mit einem lauten Stöhnen zu Boden glitt, sondern stürmte weiter in das Haus hinein.

Dirk überlegte eine Sekunde. Sollte er Ralf hinterhereilen, um ihm Schutz zu geben, falls sich im Haus noch mehrere Personen befanden - gar bewaffnet? Er entschied zunächst, seine Waffe zu ziehen. Der Bärtige am Boden wirkte selbstsicher. Die Pistole machte auf ihn nicht den geringsten Eindruck.

Im Bruchteil einer Sekunde realisierte Dirk, dass der Mann neben der Tür einer Toilette zu Boden gegangen war. Mit großen Schritten eilte er zur Tür, riss sie auf und sah, dass das kleine Toilettenfenster vergittert war. Blitzschnell steckte er seine P30 in den Halfter zurück, zog den Schlüssel von der Innenseite der Tür heraus, stieß den verdutzten Mann, der gerade dabei war, sich wieder aufzurappeln, mit einem Tritt in den kleinen Raum - und schloss die Tür von außen zu. Als er im Begriff war in die Richtung zu eilen, in der Ralf zuletzt verschwunden war, hörte er den gellenden Schrei eines Kindes.

Im Türrahmen zum überdimensionierten Wohnzimmer blieb Dirk wie erstarrt stehen. Auf einer großen roten Couch inmitten des Raumes kauerte ein kleines Mädchen. In Bruchteilen von Sekunden registrierte er das weiße Kleidchen über der Couchlehne, den angstverzerrten Gesichtsausdruck des Kindes, das nur noch mit einem kleinen Hemdchen, weißen Söckchen und roten Lackschuhen bekleidet war. Es streckte die kleinen Händchen schützend und abwehrend von sich. Und er sah Ralf, der knapp zwei Meter vom Mädchen entfernt stand - wie angewurzelt … mit weit aufgerissenen Augen … und zitternd.

Es gab keinen Zweifel daran, was sich soeben zugetragen haben musste. Ralf wollte wohl dem Mädchen zu Hilfe eilen, um es vielleicht instinktiv, wie ein treusorgender Vater, an sich zu drücken. Und genau das war in dieser Situation grundfalsch. Sie konnten ja nicht wissen, was das kleine Mädchen wenige Minuten zuvor erlebt hatte. Jeder weitere Mensch, vor allem jeder Mann, in unmittelbarer Nähe, bedeutete für das kleine Wesen allerhöchste Gefahr.

Ralf hatte mittlerweile seine Augen geschlossen, aus denen jetzt Tränen quollen. Dieser Mann hatte in den letzten Jahren unzählige Male bewiesen, dass er ein knallharter Polizist war, dem ein entsprechender Ruf vorauseilte. Doch wenn es um Kinder ging, noch dazu um kleine Mädchen, war er offensichtlich wie paralysiert; unfähig, blitzschnell die situativ richtigen Entscheidungen zu treffen.

Dirk stand immer noch im Türrahmen. Er war bemüht, ganz bewusst nicht in die Richtung des Mädchens zu blicken.

Er deutete auf einen Stuhl, der knapp drei Meter entfernt an der Wand stand.

»Ralf. Setz dich bitte«, sagte er sehr leise.

»Rufe die Kollegen an. Wir brauchen einen zweiten Wagen. Die beiden in einem Auto? Das geht absolut nicht.«

Ralf hatte sich erstaunlich rasch gefangen.

»Wo ist eigentlich dieses Schwein«, wollte er krächzend wissen, während er begann, sich den Schweiß von der Stirn zu wischen.

»Ich hab ihn in die Toilette eingesperrt.«

»Da gehört diese Bestie auch hin«, brummte Ralf wü-tend und gleichzeitig beeindruckt.

Dirk überlegte. Er durfte unter keinen Umständen im Türrahmen stehen bleiben. Damit versperrte er eine mögliche Fluchtmöglichkeit für das Mädchen. In großem Bogen ging er zum halbhohen Fenster. Eine Weile stand er dort und blickte gespielt hinaus. Unmittelbar hinter dem Haus erstreckte sich Wald.

»Du bist sicher die kleine Saskia«, begann er mit leiser und warmer Stimme, ohne sich jedoch umzudrehen. »Hm. Ein schöner Name … Saskia. Und ich bin der Dirk.«

Er mache eine Pause.

»Der Mann dort auf dem Stuhl - das ist mein Polizeikollege Ralf. Der hat ein kleines Töchterchen. Und die heißt Lara. Sie ist etwas jünger wie du. Geht noch in den Kindergarten. Hej, und sie hat einen großen Teddybären. Der heißt Balthasar. Ein komischer Name, gell? Hast du auch einen so großen Teddybären?«

Jetzt erst wagte Dirk seinen Kopf vorsichtig in Richtung des Mädchens zu drehen.

Es saß mit hängenden Schultern, den Blick nach unten. Erst jetzt begann es leise zu weinen.

Es fiel schwer, dieses kleine Wesen nicht in die Arme zu nehmen. Doch sie war noch nicht so weit. Die letzte Frage hatte es wohl nicht erreicht.

»Hast du einen großen Teddybären?«, wiederholte Dirk deshalb.

Ohne aufzublicken, schüttelte Saskia fast unmerklich den Kopf.

»Möchtest du so einen Teddybären haben? Dem kannst du dann alles erzählen. Das macht Lara genauso.«

Das Mädchen nickte nun mehrere Male.

»Na prima. Dann sprech‘ ich mit deiner Mama oder deinem Papa. Oder weißt du was? - ich schenk‘ dir einen. Abgemacht?«

»Hm«, hauchte Saskia und nickte mit dem Köpfchen.

»Ich bin ja gut angezogen. Aber dir wird es vielleicht langsam ein bisschen kalt. Gleich neben dir siehst du dein Kleidchen. Du hast doch sicher gelernt, dich selbst anziehen? Bist ja schon ein größeres Mädchen. Gell?«

Saskia nickte wieder wortlos.

»Der Ralf geht jetzt raus. Soll ich bei dir bleiben? Damit nichts mehr passiert?«

Saskia nickte wieder einige Male. Doch jetzt blickte sie kurz und zaghaft in Richtung des Fensters.

»Gut. Dann bleib ich halt. Ich schau inzwischen, was die Vögelchen da draußen machen.«

Mit diesen Worten blickte Dirk zum großen Fenster hinaus.

»He. Da badet eines. Ich glaub das ist ein kleiner Spatz. Vielleicht ist er noch da, wenn du fertig bist. Du sagst dann, wenn du das Kleidchen angezogen hast.«

Das kleine Höschen erwähnte Dirk wohlwissend nicht.

Ralf erhob sich leise und verließ kopfschüttelnd den Raum.

Wenige Minuten später erschien er wieder, blieb im Türrahmen stehen und winkte Dirk zu sich. In weitem Bogen bewegt sich Dirk langsam zur Tür, ohne Notiz vom kleinen Mädchen zu nehmen.

Bei der Tür angekommen streckte ihm Ralf einen kleinen Zettel entgegen.

»Das ist die Adresse und die Telefonnummer der Eltern. Bring‘ du die Kleine hin. Der Kerl sitzt schon mit Handschellen im Auto. Die Kollegen müssen gleich da sein. Wir sehen uns in Darmstadt. Ich halt‘ das hier nicht mehr aus.

Er hatte Tränen in den Augen. Abrupt drehte er sich um. Nach einer Minute hörte Dirk, wie sich das Fahrzeug rasch entfernte.

Ende August 2015

Nachdem Dirk viele Male mit seiner künftigen Kollegin Astrid und mit Hans Ondrasch gesprochen hatte, wollte er ein klärendes Gespräch mit Kriminalrat Hanika führen.

Bruno Hanika war Teil einer wohlhabenden und einflussreichen Familie. Mit Inbrunst verbrachte den größten Teil seiner Zeit auf dem Golfplatz, während die K10 personell auf eine Katastrophe zusteuerte.

Ohne große Umschweife gab Dirk diesem Lebemann zu verstehen, dass er seine Zusage zurückziehen müsse, ab Anfang Oktober seinen Dienst als Kommissar bei der K10 anzutreten. Kommentarlos übergab er der ratlosen Führungskraft eine Ausarbeitung – und ließ ihn mit dieser DIN A4-Seite in der Hand stehen. Er hatte nichts zu verlieren. Kriminalrat Vlassak in Frankfurt würde ihn gerne in sein Team aufnehmen. In Frankfurt kannte sich Dirk bereits sehr gut aus.

Die restlichen Wochen in Wiesbaden verbrachte er mit Büffeln, Joggen, Judo, Karate und Schießen. Jasmin, seine Jogging-Partnerin aus Hofheim, lud ihn, wie jeden Mittwoch und Samstag, zum Training der besonderen Art ein. Sie wollte die restlichen Tage noch auskosten. Ende dieses Monats würden sich ihre Wege trennen. Das hatten sie von Anfang an so festgelegt. Eine wie auch immer geartete festere Verbindung kam vor allem für Dirk nicht in Frage.

An den Sonntagnachmittagen traf er sich mit dem introvertierten Oswald Hassfurter. Der Fünfunddreißigjährige arbeitete als IT-Spezialist beim BKA in Wiesbaden. Dort galt er als absolute Koryphäe. Über Deutschland hinaus unterhielt er enge Kontakte zu Europol in Den Haag. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich keiner von beiden träumen lassen, dass sich ihre Wege bald wieder kreuzen würden.

In einer Vorlesungspause am Montagvormittag sah Dirk auf seinem Smartphone, dass Hans versucht hatte ihn zu erreichen. Sein „Ziehvater“ bestand darauf, dass er noch am gleichen Abend in Dieburg vorbeischauen solle. Es sei sehr wichtig.

»Du Lausbub«, sagte Mama Ondrasch zur Begrüßung und drückte Dirk fest an ihren warmen Busen. Sie lachte und weinte gleichzeitig.

»Jetzt ist es aber gut. Ich will diesen Kerl auch einmal in die Arme nehmen«, dröhnte die Stimme des Hausherrn.

In den vielen zurückliegenden Jahren hatte Hans seinen Ziehsohn nie umarmt. Aber dafür gab es aus seiner Sicht gute Gründe. Doch heute war dies für ihn ganz offensichtlich zweitrangig.

Dirk hatte das Gefühl, in einen Schraubstock geraten zu sein. Wortlos hatte ihn Hans in seine muskulösen Arme genommen.

»Ich weiß nicht, was ich im Moment sagen soll, du Teufelsbraten.«

Er atmete tief durch.

»Das, oder so etwas Ahnliches, soll ich dir auch von Bruno Hanika ausrichten. So habe ich ihn noch nie erlebt. Was um alles in der Welt hast du mit diesem Burschen angestellt?«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung.

»Ach was. Eigentlich will es nicht wissen. Das soll euer Geheimnis bleiben.«

»Stimmt. Viel wichtiger für mich ist, zu welchen Ergebnissen er gekommen ist«, sagte Dirk grinsend.

Hans gluckste: »Wie ich die Dinge sehe, hast du ihm keine Alternativen gelassen. Halt, wart mal.«

Er eilte in die Diele und kam mit einem Kuvert zurück.

»Das soll ich dir übergeben.«

»Mach‘ du es für mich auf«, bat Dirk.

Mit leicht zittrigen Fingern öffnete Hans das Kuvert und blickte einige Sekunden auf eine handbeschriebene DIN A4-Seite.

»Ach du Scheiße. Das sagt allerdings alles.« Er überreichte Dirk das Papier.

»Das … das war ja mehr als ein Ultimatum von dir. Jetzt weiß ich wenigstens, warum ich nicht dabei sein sollte. Gott, oh Gott.«

Dirk erkannte sofort, dass es sich um seine handbeschriebene Seite handelte. Darauf hatte sein Gesprächspartner vom vergangenen Freitag, ebenfalls per Hand, vermerkt:

„Vollumfánglich einverstanden. Bruno Hanika. Weiteres mit dem neuen EKHK besprechen. Montag, 17. August 2015.“

»Dass … dass ich zum 1.10.2015 zum Ersten Hauptkommissar ernannt werde, hat er mir gesagt. Aber …« Hans riss Dirk das Papier aus der Hand.

»Aber wie er zu dieser Entscheidung gelangte, hat er natürlich ausgelassen. Und über die anderen Dinge haben wir auch noch nicht gesprochen. Das ist wieder einmal typisch für Bruno Hanika.«

Fassungslos stierte er auf die DIN A4-Seite. »Ach du Scheiße.«

»Das hast du jetzt aber schon zum zweiten Mal gesagt. Hans! Ich muss mich doch sehr wundern!« Gerda Ondrasch blickte ihren Mann vorwurfsvoll an.

»Entschuldige mein Schatz.«

Der Hausherr ließ sich in einen der großen und gemütlichen Sessel plumpsen.

»Aber dieser Bursche dort schafft mich heute.«

Erst langsam begann sich der künftige Erste Kriminalhauptkommissar zu erholen. Während Mama Ondrasch das Abendbrot herrichtete, unterhielten sich die Männer angeregt. Der Abend wurde noch lang. Es machte keinen Sinn, jetzt noch nach Wiesbaden zurückzufahren.

Kurz nach Mitternacht lag Dirk in seinem ehemaligen Bett.

Mama Ondrasch hatte nicht die kleinste Kleinigkeit ver-ändert. Alles war noch wie damals - wie im April 2012 … als Dirk keine andere Wahl sah. Innerhalb einer Stunde hatte er das Haus der Familie Ondrasch in Dieburg verlassen.

Dirk Epplau und die Familie Ondrasch

So sehr sich Dirk in den letzten Jahren bemühte: Es gelang ihm nicht, das Gesicht seiner Mutter dem Nebel der Vergangenheit zu entlocken. Viel später, es war kurz nach seinem achtzehnten Geburtstag, fand er einen Leitz-Ordner in seinem Zimmer. Der Ordner trug die Aufschrift „Dirk“. Hans hatte offensichtlich nicht den Mut aufgebracht, ein offenes Gespräch mit seinem Ziehsohn zu führen.

Aus diesem Ordner war zu entnehmen, dass Barbara Epplau, Dirks Mutter, ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte. In ihrem Abschiedsbrief beteuerte sie, bislang alles in ihrer Macht Stehende unternommen zu haben, um den damals vierjährigen Sohn Dirk vor den Übergriffen des Vaters zu schützen.