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Sabine Kulinski

Theodor

oder die Geschichte von einem, der nicht allein bleiben wollte

© 2017 Sabine Kulinski

Verlag und Druck: tredition GmbH, Grindelallee 188, 20144 Hamburg

ISBN
Paperback:978-3-7439-4983-6
Hardcover:978-3-7439-4984-3
e-Book:978-3-7439-4985-0

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Theodor, oder die Geschichte von einem, der nicht allein bleiben wollte

Die Dunkelheit lag sanft, wie eine Daunendecke, über der kleinen Stadt. Ein leichter Wind wehte durch das Blattwerk der knorrigen Eiche, die schon seit über einhundert Jahren im Vorgarten des alten Gründerzeithauses stand und vielen Unwettern und strengen Wintern erfolgreich getrotzt hatte. Durch die schwingenden Äste wurde das Licht der Straßenlaterne gebrochen und malte bizarre Bilder an die Wände des kleinen Schlafzimmers, in dem Theodor versuchte, endlich den ersehnten Schlaf zu finden. Er schaute immer wieder auf das Zifferblatt der Uhr, die auf dem antiken Nachttisch stand, und sah, wie die Zeit erbarmungslos verstrich und der Morgen immer näher rückte. Noch fünf Stunden bis der Wecker mit seinem schrillen Klang die Stille zerreißen würde, und Theodor die unangenehmen Ereignisse des Tages über sich ergehen lassen müsste.

Am liebsten hätte er diesen Tag aus dem Kalender gestrichen, oder lieber gleich verschlafen. Der Gedanke an das bevorstehende Ereignis war es, der Theodor um den wohlverdienten Schlaf brachte.

Die Kleidung, die er am nächsten Tag tragen wollte, hatte er fein säuberlich, wie jeden Abend, auf den Stuhl mit dem Korbgeflecht gelegt, damit er am Morgen nicht Zeit verschwenden musste, etwas Passendes herauszusuchen. Theodor mochte weder Hektik noch Überraschungen, und schon gar nicht am frühen Morgen.

Der Schock, den er vor einer guten Woche erlitten hatte, war noch immer allgegenwärtig und bestimmte seitdem jeden seiner Tage. Er erinnerte sich noch genau daran, als er eines Morgens aufstand und seine Mutter leblos in ihrem Fernsehsessel vorfand. Erst glaubte er, sie wäre vor dem Fernsehgerät eingeschlafen, aber dann merkte er, dass etwas nicht stimmte, denn seine nachdrücklichen Versuche, sie zu wecken, scheiterten kläglich, sodass er besorgt den Notarzt rief.

Obwohl sie schon recht betagt war, hatte Theodor nie wirklich daran gedacht, dass sie eines Tages sterben könnte. Eigentlich hatte er das Thema immer erfolgreich ignoriert und hoffte, dass, wenn er sich nicht darum kümmern würde, der Tod im Gegenzug das Gleiche tun würde. Leider hielt der sich aber nicht an einseitige Abmachungen.

Der Arzt stellte Tod durch Herzversagen fest und ließ somit auch keinen Raum für Spekulationen. Theodor erinnerte sich daran, dass auch das Herz seines Vaters einfach aufhörte zu schlagen, wie eine Uhr, die abgelaufen war. Da war Theodor gerade sechzehn Jahre alt und wurde plötzlich „der Mann im Haus“. Das war nun schon vierzig Jahre her.

Theodor achtete seitdem sehr aufmerksam auf seinen eigenen Herzschlag. Er hatte das Gefühl, seinem Herzen nicht mehr recht trauen zu können. Vielleicht war es ein gesundheitlicher Makel in seiner Familie?

Er sah wieder auf die Uhr. Noch viereinhalb Stunden, bis er aufstehen musste.

Die Beerdigung sollte um zehn Uhr am Vormittag stattfinden. Der Pastor riet ihm, schon zwanzig Minuten vorher dort zu sein, um noch einen Blick auf den Sarg und den Blumenschmuck zu werfen, ob auch alles seinen Wünschen entsprach.

Eigentlich wollte Theodor dem ganzen Geschehen am liebsten fernbleiben. Er wollte niemanden sehen und mit keinem reden. Das Ganze einfach möglichst rasch hinter sich bringen, das wollte er. Allein die Planung war für ihn schon schlimm genug.

Zum Glück ging vieles einfach automatisch. Als Theodor seine Mutter an jenem Morgen fand und der Notarzt eingetroffen war, verständigte der wiederum ein Beerdigungsunternehmen – oder rief er, Theodor dort an? Er wusste es nicht mehr. Die Ereignisse dieses Tages lagen wie im Nebel. Theodor konnte sich nicht mehr an alles klar erinnern. Er suchte den Blumenschmuck aus, der noch günstig war, aber nicht billig aussah. Er wusste auch nicht, welches die Lieblingsblumen der „werten Frau Mutter“ waren. Wenn er sich recht erinnerte, standen manchmal bunte Blumensträuße in Vasen auf dem Wohnzimmertisch, meistens zu Geburtstagen. Aber ob seine Mutter eine spezielle Blume am liebsten mochte, konnte er mit Bestimmtheit nicht sagen. Es erfüllte ihn nur mit noch größerer Trauer, dass sich diese kleine Wichtigkeit seiner Kenntnis so gänzlich entzog. Warum hatte er Mama nicht einmal danach gefragt? Selbst bei der Beerdigung seines Vaters wählte seine Mutter die Blumen nach dem Preis, und nicht nach persönlichen Vorlieben aus. Seine Eltern waren praktische Menschen, die im Krieg Entbehrungen kennengelernt hatten und die elementaren Dinge des Lebens eher schätzten als irgendeinen Luxus.

In diesem Bewusstsein wurde auch Theodor erzogen. Nicht, dass er knauserig war, aber er war ein Mensch, der auch mit wenig schon zufrieden war. Zum Beispiel fand Theodor es unnötig, in einem Restaurant zu essen, wo er sich zu Hause die gleichen Gerichte in größeren Portionen viel günstiger zubereiten konnte.

Er vermutete, dass seine Sparsamkeit wohl auch der Grund war, dass sich Karin, seine einzige feste Freundin, wieder von ihm trennte. Sie waren eigentlich ein ideales Paar. Sie lernten sich in der Firma kennen, wo sie die Arbeit von Frau Schnitzler, einer Kollegin, übernahm, die ein Kind bekam und erst einmal zu Hause bleiben wollte. Sie hatten sich gleich gut verstanden. Sie sprach ihn zuerst an und das war auch gut so, denn Theodor beobachtete sie nämlich schon eine ganze Weile, hatte aber nicht den Mut, den ersten Schritt zu tun. Sie fragte, ob sie sein Telefon benutzen dürfe, da ihres anscheinend gestört war. Und so fing alles an ...

Obwohl Karin fast zwanzig Jahre jünger war, hatten beide viele Gemeinsamkeiten. Sie lasen gern oder gingen gern spazieren. Sie kochte gern, und er aß gern. Sogar Mama mochte sie. Allerdings dauerte es ein Weilchen. Es war wohl auch ein wenig Eifersucht im Spiel, warum sie Karin nicht gleich ins Herz schloss. Und erst nachdem Theodor Mama versicherte, dass sie sich immer auf ihn verlassen könne, und er sie nicht im Stich lassen würde, war Mama beruhigt.

Immer wenn er eine Nacht bei Karin verbringen wollte, rief er Mama vorher an, um sie daran zu erinnern, sich etwas aufzuwärmen, was Theodor fürsorglich bereits in einem Topf auf dem Herd platziert hatte. Selber kochen, das konnte sie nicht mehr. An solchen Tagen ging es Mama meistens schlecht, und Theodor musste noch kurz bei ihr vorbeischauen, um ihr die Tabletten aus dem Schrank zu holen, die merkwürdigerweise ständig so weit oben lagen, dass sie auf einen Stuhl hätte steigen müssen, um sie zu erreichen. Und mit neunundachtzig Jahren klettert man nicht mehr wie ein Äffchen auf den Möbeln herum. Sie war an manchen Tagen schon recht schwach. Theodor hatte häufig ein schlechtes Gewissen, wenn er bei Karin war, aber oft konnte er auch in Momenten völliger Glückseligkeit Mama für kurze Zeit vergessen. Trotzdem versuchte er immer, am Morgen, bevor er zur Arbeit ging, bei Mama vorbeizuschauen, nur um sicher zu sein, dass es ihr auch wirklich gut ging. Karin zu sich einzuladen, um mit ihr dort zu übernachten, war ihm zu unangenehm. Was sollte Mama von ihm denken?

Zu dieser Zeit war Theodor glücklich, wie er glücklicher niemals hätte sein können. Er hätte am liebsten die Zeit anhalten wollen.

Doch dann begann es langsam, zwischen Karin und ihm nicht mehr zu stimmen. Plötzlich machte sie spitze Bemerkungen, wenn er um fünf Uhr morgens seine Sachen leise vom Stuhl nahm und sich anzog, um vor der Arbeit noch bei Mama reinzuschauen. Sie wollte auch nicht mehr so oft zu Theodor nach Hause kommen, obwohl sie sagte, dass ihr Mamas Streuselkuchen besser schmecke als der Streuselkuchen aus jeder Konditorei. Mama hatte es sehr gefreut. Aber jetzt wollte sie noch nicht einmal kommen, wenn es Streuselkuchen gab. Auch anderen Kuchen wollte sie nicht mehr.

Theodor war nicht mehr vollkommen glücklich. Er verstand nicht, warum Karin für Dinge, die sie einmal sehr mochte, plötzlich nicht mehr das Geringste übrighatte. Beschränkte sich ihre Geschmacksveränderung vielleicht nicht nur auf kalorienreiches Backwerk, sondern auch auf zwischenmenschliche Beziehungen? Er nahm sich vor, einfach noch viel netter zu Karin zu sein. Vielleicht könnte er mal eine Nacht bei ihr verbringen und anschließend sogar frühstücken? Ja, dann würde sie ihn bestimmt wieder so gern haben wie früher. Er musste nur vorher Mama Bescheid sagen, damit sie nicht glaubte, ihm wäre etwas passiert. Das nahm er sich fest vor.

Karin war plötzlich wieder viel netter zu ihm, als er ihr von seinem Vorhaben berichtete. Er musste es nur noch Mama schonend beibringen. Mama schien nicht sehr froh darüber zu sein, aber sie war etwas beruhigter, als er ihr versprach, sie am Abend und am Morgen anrufen zu wollen.

Er plante am Freitagabend zu Karin zu fahren und dann bis zum nächsten Morgen zu bleiben. Er freute sich schon darauf, auch wenn er einen kleinen Krampf in der Brust verspürte, von dem er wusste, dass es das schlechte Gewissen war, das sich dort bemerkbar machte.

Er verbrachte mit Mama noch ein paar Stunden, und nachdem sie ihm versicherte, dass es ihr gut ginge und der plötzliche Hustenanfall bestimmt nicht wiederkäme, vergewisserte er sich, dass sie alle nötigen Medikamente erreichen konnte und verabschiedete sich schweren Herzens von ihr.

Auf dem ganzen Weg zu Karin spürte er sein Herz schlagen, aber nicht aus Vorfreude auf den kommenden Abend und die Nacht, sondern weil er nicht sicher war, das Richtige zu tun.

Theodor fühlte sich gar nicht wohl in seiner Haut. Er überlegte sogar, umzukehren und suchte nach einer passenden, plausiblen Erklärung für Karin. Aber da sah er schon den Häuserkomplex, in dem sie eine kleine Mietwohnung hatte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass er schon so weit gefahren war.

Ach was soll’s, sagte er sich, wird schon alles gutgehen.

Als er aus dem Aufzug stieg, stand Karin schon vor der Tür mit zwei Gläsern Sekt in den Händen. Theodor spürte sein Herz wieder schlagen, aber diesmal war es nicht das schlechte Gewissen.

In dieser Nacht hatte Theodor das Gefühl, dass es einen Himmel gab. Er wollte Karin nie mehr loslassen und für immer mit ihr zusammen sein. Theodor war wieder glücklich, so glücklich, wie er immer sein wollte.

Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, stieg ihm der Geruch frisch gebrühten Kaffees in die Nase. Karin war schon auf und bereitete das Frühstück vor. Er stand auf und sah sie in der Küche den Tisch decken. Den Rücken ihm zugewandt vergewisserte sie sich, ob auch alles an seinem Platz lag. Theodor schlich sich langsam zu ihr und schlang von hinten die Arme um sie – das hatte er einmal in einem Film gesehen und probierte aus, ob es auch im richtigen Leben die Wirkung nicht verfehlen würde. Sie schmiegte sich mit ihrem Körper an ihn, und Theodor hatte plötzlich kein Interesse mehr am Frühstück.

Als sie sich später voneinander lösten, hielten sie sich an den Händen und Theodor sagte: „Ich liebe dich“, doch im gleichen Moment verspürte er Scham, weil die Worte einfach unkontrolliert aus seinem Mund schlüpften. Doch noch bevor er versuchen konnte, sich zu erklären, sagte Karin: „Ich liebe dich auch!“ Das machte Theodor sehr glücklich.

Sie standen auf, weil sie jetzt doch merkten, wie hungrig sie waren.

Als sie am Frühstückstisch saßen, fiel Theodor plötzlich Mama ein. Es war schon nach zehn Uhr. Er hatte doch versprochen, sie anzurufen. Das wollte er auch gleich tun, trotzdem zögerte er, wollte er doch auf keinen Fall diese glückliche Stimmung zwischen Karin und ihm in irgendeiner Weise trüben.

Er überlegte, was er am besten tun könne, um sein Versprechen einzuhalten, ohne jedoch Karin zu verärgern. Doch noch während er überlegte, fragte Karin, ob er sich schon bei seiner Mutter gemeldet hätte. Er sah sie erstaunt an, nicht sicher, ob sie es sarkastisch meinte, doch ihr Blick war freundlich und offen. Er verneinte, räumte aber ein, es sofort tun zu wollen.

Er wählte ihre Nummer, doch Mama meldete sich nicht. Das war seltsam, denn meistens war das Telefon immer in ihrer Reichweite. Er versuchte es noch einmal, aber auch diesmal ohne Erfolg. Nun wurde er unruhig. Er wollte aber Karin gegenüber nicht zugeben, dass er am liebsten sofort nach Hause gefahren wäre, um sich von Mamas Unversehrtheit zu überzeugen.

Sie blickte ihn fragend an, und er versuchte, seine Sorge zu überspielen. Sie sei im Garten, oder die Dunstabzugshaube sei zu laut, er wolle es später noch einmal versuchen. Er zwang sich, seine Gedanken zu kontrollieren und einen entspannten Eindruck vorzutäuschen. Er wollte wenigstens noch die angebissene Brötchenhälfte zu Ende essen.

Karin schien ihm seine ruhige, besonnene Art abzukaufen, denn sie unterhielt sich, wie gewohnt, mit ihm und lächelte ihn mit ihren strahlenden Augen glücklich an. Sie schien sich keine Sorgen um Mama zu machen. Er saß innerlich wie auf glühenden Kohlen. Als er den letzten Schluck Kaffee hinuntergespült hatte, räumte er ein, dass er nun aber gehen müsse, denn er hätte noch einen Termin mit einem Schulfreund ausgemacht, um mit dem ein Klassentreffen zu organisieren. Er fühlte sich schlecht, denn Theodor mochte keine Lügen, aber er befürchtete, dass, wenn er Karin sagen würde, wie groß seine Sorge um Mama sei und er nur noch nach Hause wolle, sie vielleicht wieder abweisender ihm gegenüber sein würde, und davor hatte Theodor einfach Angst. Theodor mochte es nicht, nicht gemocht zu werden.

Sie umarmten und küssten sich zum Abschied, und ein Teil von Theodor wäre am liebsten noch geblieben, aber der größere Teil konnte es kaum erwarten, zu Hause zu sein.

Theodor wäre am liebsten schneller gefahren als erlaubt, doch eigentlich tat er so etwas nie. Und doch fuhr er zeitweise fünfundfünfzig km/h, wo nur fünfzig erlaubt waren. Aber für Mama wollte er das riskieren. Er hatte noch nie einen Strafzettel bekommen. Er parkte im Parkhaus, da gab es immer Platz, und zu schnell fuhr er auch nie. Er hielt sich an Regeln, denn dazu waren sie schließlich da. Als er um die Ecke zur Straße bog, war er schon beruhigt, keinen Krankenwagen oder die Feuerwehr zu sehen. Allerdings wäre auch niemand dort gewesen, der sie hätte alarmieren können, es sei denn Mama selbst. Und wenn sie den Notarzt hätte anrufen können, dann hätte sie bestimmt erst Theodor angerufen, denn Karins Nummer hatte er in extra großen Zahlen neben das Telefon gelegt. Für alle Fälle!

Seine Hand zitterte leicht, als er die Haustür aufschloss. Er rief gleich nach ihr, nachdem er einen Fuß ins Haus gesetzt hatte, doch niemand antwortete. Er ging ins Wohnzimmer, doch auch dort war sie nicht. Er klopfte vorsichtig an ihre Schlafzimmertür. Doch auch hier keine Antwort. Er öffnete die Tür leise, aber das Bett war leer. Er suchte im Garten und rief nach ihr wie nach einem Hund, doch sie war weit und breit nicht zu sehen. Er überlegte, was zu tun war. Sollte er die Polizei anrufen? Aber was hätte er sagen können? Wie lange sie verschwunden sei? Das konnte er gar nicht beantworten. Er war nicht da. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen, die ganze Nacht bei Karin zu verbringen. Wenn seiner Mutter wirklich etwas passiert ist – wäre es die ganze Sache wert gewesen? Theodor machte sich immer heftigere Vorwürfe. Zorn auf sich selbst und auf Karin löste sich ab mit dem Gefühl der völligen Hilflosigkeit und Verzweiflung. Er schickte Stoßgebete zum lieben Gott und versprach, ein besserer Mensch zu werden, wenn nur Mama unversehrt sei. Er setzte sich auf die steinigen Treppenstufen der Terrasse und wusste nicht mehr aus noch ein. Er fühlte Tränen der Angst über seine Wangen laufen, und er ließ es geschehen. Warum sollte er sich schämen? Er hatte es verdient. Er hatte sie im Stich gelassen!

Plötzlich öffnete sich das Fenster im Obergeschoss. „Was machst du da unten auf der Treppe?“, rief Mamas Stimme. „Steh auf, sonst erkältest du dir noch die Blase!“ Was hatte Mama dort oben zu suchen? Mit einem Gefühl tiefster Erleichterung und Dankbarkeit stand Theodor auf und rannte um das Haus zur Haustür, um bei Herrn Schultheiß zu klingeln und sich schnellstens von Mamas Unversehrtheit zu überzeugen. Warum war sie bei ihrem Mieter in der Wohnung? Mama konnte es damals kaum ertragen, dass Theodor die Entscheidung traf, ein Zimmer in der unteren Wohnung zu beziehen und die kleine Wohnung im Obergeschoss, in der er wohnte, zu vermieten. Doch das Alter des Hauses und die mangelnde Wärme, die durch die geringe Nutzung einiger Räume im Haus entstand, ließen ihnen keine andere Möglichkeit. Der Schimmelbefall in einigen Wänden verursachte kostspielige Renovierungsarbeiten, und eine Wiederholung dieser Prozedur wollte Theodor auf jeden Fall vermeiden. Fast hätten sie auf die Reserven zurückgreifen müssen, die sie für ihren alljährlichen Norderney-Urlaub gespart hatten. Nur weil sie die Wohnung relativ schnell vermieten konnten, war es für sie doch noch möglich gewesen, in den wohlverdienten Urlaub zu fahren.

Mama hatte nach dem Einzug von Herrn Schultheiß zwei Wochen lang kein Wort mit Theodor gesprochen. Zu sehr war sie gekränkt, weil er einen Fremden in ihr Haus geholt hatte. Sie wollte mit dem Mieter nicht das Geringste zu tun haben.

Umso mehr war Theodor nun erstaunt, sie am Fenster der oberen Wohnung zu sehen, wo sie sich doch entschieden hatte, Herrn Schultheiß nicht zu mögen. Wenn sie ihn sah, tat sie so, als sei er Luft. Sie würdigte ihn keines Blickes. Herr Schultheiß wiederum war ein sehr freundlicher Mann, etwas älter als Theodor selbst. Er arbeitete bei der Zeitung in der Druckerei im Schichtdienst. Darum war er auch meistens nicht zu sehen. Herr Schultheiß war ein sehr ruhiger Mieter. Er hörte nie laute Musik oder schaute Fernsehen bis tief in die Nacht. Mama konnte eigentlich froh sein, so einen Mieter zu haben. Aber sie war es nicht. Sie mochte einfach keine Veränderungen. Bevor Mama für zwei Wochen aufhörte, mit Theodor zu sprechen, erzählte er ihr, dass Herr Schultheiß geschieden sei und keine Kinder hätte, um ihr den Mieter schmackhafter zu machen. Aber Mama schnaubte nur und sagte, dass nun bestimmt die Ruhe vorbei wäre, weil Herr Schultheiß sicher Freundinnen ins Haus brächte, und sie wilde Orgien feiern würden.

Theodor war etwas beunruhigt, dass Mama recht haben könnte. Aus dieser Perspektive hatte er den Einzug dieses eher unscheinbaren, ruhigen Mannes noch gar nicht betrachtet. Zum Glück erwies sich diese Befürchtung aber als falsch. Theodor hatte Herrn Schultheiß bis heute noch nie mit einer Frau gesehen. Er schien eher einen relativ kleinen Freundeskreis zu haben, genauso wie Theodor selbst. Einen Freund von ihm sah man etwas häufiger. Allerdings sah dieser ein wenig aus wie Herr Schultheiß und konnte genauso gut sein Bruder sein. Aber es geschah sowieso nur sehr selten, dass Theodor oder Mama Herrn Schultheiß begegneten.

Herr Schultheiß öffnete die Wohnungstür und ließ Theodor ein. Er bat ihn in das kleine Wohnzimmer, wo Mama bei einer Tasse Kaffee saß und einen ausgesprochen zufriedenen Eindruck machte. Herr Schultheiß räusperte sich ein paar Mal, bevor er Theodor eine Tasse Kaffee anbot, und entschuldigte sich etwas kleinlaut dafür, es versäumt zu haben, sie beide nicht schon längst einmal nach oben eingeladen zu haben. Er war sichtlich beschämt. Mama aber beruhigte ihn gleich und entschuldigte sich ihrerseits dafür, ihm nicht schon eher einen Besuch abgestattet zu haben. Theodor verschlug es die Sprache. Er setzte sich auf den ihm angebotenen Sessel und nahm dankend die volle Tasse entgegen, immer noch die Augen ungläubig auf Mama gerichtet. „Ja, weißt du, Theodor“, fing sie an. „Herr Schultheiß war so überaus freundlich, mir die Blutdrucktabletten aus dem Küchenschrank zu reichen. Stell dir vor, sie waren auf dem obersten Regal. Ich weiß nicht, wie sie dahin gekommen sind.“ Theodor war sichtlich betroffen. Er war sich sicher, dass er, bevor er zu Karin gefahren war, noch alle Tabletten, die Mama für den nächsten Tag brauchte, rausgelegt hatte. Er wollte sich gerade rechtfertigen, denn Herr Schultheiß sollte schließlich nicht denken, er würde sich nicht genügend um Mama kümmern, aber da beschwichtigte sie schon und musste zugeben, dass sie die angebrochene Packung, die Theodor für sie rausgelegt hatte, wohl versehentlich mit ihrer Teetasse vom Tisch gestoßen hätte und sie nicht finden konnte. Na also, dachte Theodor und war erleichtert. Allerdings fügte sie mit einem fast mädchenhaften Lächeln an Herrn Schultheiß gerichtet hinzu, dass sie sehr froh sei, nun zwei Männer im Haus zu haben, was bei Theodor einen Stich in der Magengrube hinterließ. Er war wirklich ein wenig wütend auf Mama, die es sich so gut gehen ließ, während er, Theodor, fast vor Sorge den Verstand verloren hätte, doch das Glücksgefühl, seine Mutter so wohlauf zu sehen, überwog.

Nachdem sie sich von Herrn Schultheiß verabschiedet hatten, gingen sie gemeinsam in ihre Wohnung hinunter. Theodor wollte Mamas gute Stimmung nicht verderben, aber er wollte sie doch wissen lassen, wie sehr er sich gesorgt hatte, nachdem er vergeblich versucht hatte, sie telefonisch zu erreichen. Mama schaute ihn mit verständnislosem Blick an und bemerkte, dass sie Theodor so früh noch gar nicht zurückerwartet hatte. Es war bereits zwei Uhr mittags, wie konnte sie ihn da nicht zurückerwarten? Theodor merkte, wie die Wut heiß in ihm kochte und sich in seiner Brust breitmachte. Er hatte das Gefühl, schnell etwas kaltes trinken zu müssen, um diese innere Hitze wieder herunterzukühlen, bevor er sich noch dazu hinreißen ließe, etwas Unüberlegtes zu sagen, was ihm dann später leidtäte.

Er öffnete die kleine Glastür des alten Küchenschranks und sah dasselbe Päckchen Blutdrucktabletten, das er selbst mit den anderen Medikamenten gestern Abend für Mama bereitgelegt hatte. Nun platzte Theodor endgültig der Kragen. Was für ein Spiel spielte Mama?

Theodor nahm die Tablettenschachtel und ging eiligen Schrittes ins Wohnzimmer, wo Mama inzwischen in ihrem Fernsehsessel Platz genommen hatte und sich voller Erwartung auf ihre Lieblingssendung einstellte. Theodor positionierte sich zwischen Mama und dem Fernseher und blockierte so die Sicht auf das Geschehen. Er wedelte mit der Schachtel. „Was ist das?“, fragte er. Mama sah ihn verständnislos an. „Sind das meine Tabletten?“, echote sie scheinheilig. „Wo hast du sie gefunden?“ „Im Küchenschrank, wo ich sie gestern Abend hingelegt hatte“, erwiderte Theodor mit gepresster Stimme. „Ach, da muss ich sie wohl übersehen haben“, sagte Mama kleinlaut. „Da habe ich ja Herrn Schultheiß ganz umsonst bemüht!“ „Herrn Schultheiß?“, brach es aus Theodor heraus. „Wenn du deine Tabletten einfach von dort genommen hättest, wo ich sie dir hingelegt hatte, dann hättest du nicht Herrn Schultheiß fragen müssen und wärst zu Hause gewesen, als ich versucht hatte, dich anzurufen. Hast du überhaupt eine Ahnung, was ich durchgemacht habe?“, schloss Theodor und konnte kaum die Tränen unterdrücken. Mama sah ihn an, als ob sie nicht wisse, wovon er rede, aber Theodor kannte diesen Blick nur zu genau. „Es tut mir leid, mein Junge, dass du dich sorgen musstest. Hattest du keine schöne Zeit mit deiner Karin?“ „Doch, natürlich hatte ich eine schöne Zeit mit Karin. Leider fand sie ein abruptes Ende, denn ich konnte dich nicht erreichen!“ Mama sah ihn mit schuldbewussten Augen an: „Es tut mir so leid, ich werde versuchen, das nächste Mal genauer zu gucken, bevor ich Herrn Schultheiß um Hilfe bitte, versprochen!“ Theodor bemühte sich, Haltung zu bewahren: „Du brauchst Herrn Schultheiß nicht extra zu bemühen, du kannst das nächste Mal bei Karin anrufen, und dann kann ich dir sagen, wo du deine Tabletten findest. Ich finde es übrigens sehr seltsam, dass du plötzlich Sympathien für Herrn Schultheiß entdeckt hast, obwohl du immer sagst, dass du ihn nicht magst.“ Mama wurde nun ihrerseits ein wenig ärgerlich: „Ich habe nie gesagt, dass ich speziell Herrn Schultheiß nicht mag, sondern dass ich es im Allgemeinen nicht mag, dass wir mit fremden Leuten unter einem Dach wohnen!“ Theodor musste einsehen, dass sie recht hatte. Er war erschöpft. Er hatte keine Lust mehr, sich mit Mama zu streiten. Das Gefühl der inneren Hitze wich und zurück blieb eine innere Leere, die ihn daran erinnerte, dass es schon längst Mittagszeit war, und sie immer noch nichts gegessen hatten. Mama musste immer pünktlich ihre Mahlzeiten einnehmen wegen ihrer Pillen. „Ich mache uns etwas zu essen“, sagte er und merkte erst jetzt, dass Mama in ihrem Sessel eingedöst war. Auseinandersetzungen zwischen ihnen waren immer sehr kräftezehrend, darum gab Theodor auch meistens nach oder versuchte, von vornherein erst gar keine Streitigkeiten aufkommen zu lassen. Er nahm die bunte Häkeldecke vom Sofa – ein Geschenk einer entfernten Tante, die Theodor nie persönlich kennengelernt hatte, deren Leidenschaft für grelle Farben hier aber klar erkennbar waren und bei diesem gehäkeltem Werk ihren Ausdruck fand – und legte sie Mama über die Knie. Dabei bemerkte er, dass sie vergessen hatte, ihre Thrombosestrümpfe anzuziehen. Er fühlte sich plötzlich schuldig. Er hätte Mama nicht allein lassen dürfen. Sie verlässt sich doch so auf ihn. Er ging in die Küche und dachte an die vergangene Nacht mit Karin, während er die Kartoffeln schälte. Vielleicht sollten sie in Zukunft diese langen Nächte mit anschließendem Frühstück einfach erstmal unterlassen und es so belassen, wie es war. Karin würde das schon verstehen, wenn er ihr berichten würde, in welchem Zustand er Mama heute fand. Sie würde bestimmt zustimmen – hoffte er jedenfalls.

Noch zwei Stunden, bis der Wecker klingelte, und Theodor dem Tag nicht mehr ausweichen konnte. Wie wenig Schlaf ein Körper doch braucht, dachte er. Die Erinnerungen waren so klar, als ob alles erst gestern geschehen war. Bei dem Gedanken an Karin fühlte er sich unbehaglich. Das letzte Mal, als sie sich sahen, war auch das Ende ihrer Beziehung. Und den Schmerz spürte Theodor noch nach dieser langen Zeit. Fünf Jahre waren seitdem vergangen. Einmal glaubte er, sie von weitem zu erkennen. Sie hatte sich jedoch sehr verändert. Sie trug ihr Haar kurz geschnitten und schob einen Kinderwagen vor sich her. Anscheinend hatte sie jemanden gefunden, der die Zeit hatte, mit ihr zu frühstücken. Er wollte ihr nicht begegnen und beeilte sich, unerkannt in der Menschenmenge seiner Wege zu gehen.

Als Theodor nach dem Wochenende mit Karin sprach und ihr alle Details seines Erlebnisses schilderte – manches vielleicht auch etwas übertrieben –, sagte Karin kein Wort. Sie sah ihn an, und als er am Ende seiner Schilderungen war, fragte sie: „Und nun?“ Theodor verstand nicht, worauf sie hinauswollte. Es war ja wohl klar, dass sie beide auf die Situation mit Mama Rücksicht nehmen mussten. Karin sah das aber anders. Sie legte die Hand auf Theodors Arm und sah ihm in die Augen. „Glaubst du nicht, dass es langsam an der Zeit ist, für deine Mutter einen Platz zu finden, wo sich jemand vierundzwanzig Stunden um sie kümmert, ohne dass du ein schlechtes Gewissen haben musst, wenn du dein Leben lebst?“ Theodor sah sie an, als ob sie in einer fremden, unverständlichen Sprache zu ihm sprach. Er konnte es gar nicht begreifen. Wollte Karin etwa, dass er Mama in ein Altersheim abschob? Das konnte wohl kaum ihr Ernst sein. Sein langes Schweigen schien Karin zu verunsichern. Sie zog ihre Hand von seinem Arm zurück. Theodor wusste nicht, was er erwidern sollte. Sie konnte unmöglich von ihm erwarten, dass er dieser Idee zustimmen würde. Theodor wollte Mama nicht in ein Altersheim bringen, aber er wollte auch Karin nicht verlieren. „Vielleicht sollten wir zusammenziehen“, schoss es wie ein Geistesblitz aus ihm heraus. Karin sah ihn ungläubig an. „Meinst du wirklich?“, fragte sie. Theodor nickte. Karin umarmte ihn und lachte erleichtert. Sie küssten sich. Theodor war glücklich, und Karin war es auch. „Ich muss nur noch Mama fragen, ob es für sie auch in Ordnung ist, wenn du bei uns wohnst, schließlich ist es auf dem Papier noch Mamas Haus, auch wenn ich derjenige bin, der sich um alles kümmert.“ Karin sah ihn ungläubig an. „Das kann nicht dein Ernst sein“, sagte sie. Sie war ganz steif, und sie starrte Theodor an, als ob sie einen Geist sähe. Theodor hatte einmal einen Bericht über einen Mann gelesen, der seit seiner Geburt blind war und nach einer aufsehenerregenden, komplizierten Operation das Augenlicht wiedererlangte. Er hatte sich gefragt, wie er ausgesehen haben mag, als ihm zum ersten Mal die